Trinkerinnen und Trinker - Oliver Käsermann - E-Book

Trinkerinnen und Trinker E-Book

Oliver Käsermann

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Beschreibung

Mitglieder von Mäßigkeits- bzw. Abstinenzvereinen, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum aktiv waren, deklarierten das Trinken als Ursache praktisch aller Übel. Die soziale Ungleichheit, der moralische Zerfall sowie körperliche und psychische Krankheiten wurden fortan durch den Alkoholkonsum erklärt. Von dieser Antialkoholrhetorik blieb die Literatur nicht unberührt. So zeigen sich in vielen Lebensbeschreibungen trinkender Figuren Einflüsse des außerliterarischen Alkoholdiskurses. Oliver Käsermann untersucht solche Lebensbeschreibungen in 13 Novellen – von J. Gotthelf, A. von Droste-Hülshoff, Th. Storm, P. Heyse, A. Schnitzler u.a. – und rekonstruiert daraus ein übergeordnetes Erzählmuster, das er "Biographisches Narrativ der Trinkerinnen und Trinker" nennt. Mit diesem Narrativ als Schnittstelle kann eine Methode zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen literarischen und außerliterarischen Diskursen aufgezeigt und exemplarisch erprobt werden.

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Seitenzahl: 701

Veröffentlichungsjahr: 2023

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BIOGRAPHIK. Geschichte – Kritik – Praxis

Herausgegeben von Joachim Grage, Melanie Unseld und Christian von Zimmermann

Band 6

Oliver Käsermann

Trinkerinnen und Trinker

Zum Wandel eines biographischen Narrativs in Novellen des 19. Jahrhunderts

Publiziert mit der Unterstützung der Pädagogischen Hochschule Bern sowie der Burgergemeinde Bern

Inauguraldissertation der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, vorgelegt von Oliver Käsermann von Fraubrunnen (BE)

Von der Philosophisch-historischen Fakultät auf Antrag von PD Dr. Christian von Zimmermann (Erstgutachter) und Prof. Dr. Arnd Beise (Zweitgutachter) angenommen

Bern, den 19. März 2021

Die Dekanin: Prof. Dr. Elena Mango

Für die Drucklegung wurde das Manuskript leicht überarbeitet und gekürzt.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;

Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Albert Anker (*01.04.1831, Ins, †16.07.1910, Ins), Der Trinker, 1869, Öl auf Leinwand, 69 × 52 cm, Kunstmuseum Bern, Legat Hermann Bürki, Bern und Siders; © Kunstmuseum Bern

Korrektorat: Sara Horn, Düsseldorf

Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien

Satz: Michael Rauscher, WienEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52874-4

Inhalt

1. Einleitung

2. Methodische und historische Grundlegung

2.1 Narratologie

2.2 Biographische Narrative

2.3 Anthropologische Konzepte der Mäßigkeitsbewegung

2.3.1 Religiöse Konzepte

2.3.2 Medizinische Konzepte

2.3.3 Bürgerlich-ethische Konzepte

3. Trinkende Figuren in Novellen des 19. Jahrhunderts

3.1 Wurzel allen Übels – Schnaps in Die Brannteweinpest (Zschokke), Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen (Gotthelf), Dursli der Brannteweinsäufer (Gotthelf), Rudolph der Branntweinsäufer (Scheuß) und Die Judenbuche (von Droste-Hülshoff)

3.1.1 Zschokkes außerliterarischer Kampf gegen die Branntweinpest

3.1.2Die Brannteweinpest,Fünf Mädchen,Dursli und Rudolph

3.1.2.1 Unvernünftige

3.1.2.2 Kranke

3.1.2.3 Sündhafte

3.1.3 Auch Friedrich Mergel war ein Trinker

3.1.4 Zwischenfazit zu den untersuchten Novellen vor 1848

3.2 Nebensächliches bis amüsantes Übel – Trunkenheit in Schnock (Hebbel) und Der letzte Centaur (Heyse)

3.2.1 Eine verblendete Darstellung des Trinkens

3.2.2 Eine verklärte Darstellung des Trinkens

3.3 Krankheit und Folge verschiedener Krankheiten – Trunksucht in John Riew’ (Storm), Reichtum (Schnitzler), Er laßt die Handküssen (von Ebner-Eschenbach), Die Troglodytin (von Saar) Die Pfadfinderin (Heyse) und Fasching (Hauptmann)

3.3.1 Sucht

3.3.2 Flucht

3.3.3 Sünde

4. Zusammenfassung und Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

5.1 Texte aus dem Untersuchungszeitraum und historisch-kritische Kommentare

5.2 Neuere Forschungsliteratur

Dank

Personenregister

für Myrtha und Ida

1. Einleitung

Ich weiß wohl, sonst war ich ein braver Kerl, so gut wie irgend einer. Das Schnappstrinken aber hat mich endlich, ich weiß es wohl, zum Vieh gemacht; hat meiner armen Frau schon tausend Thränen gekostet; und meine Kinder gehören leider zu denen, die auch nackt und blos gehen. Ich habe seitdem weder Muth noch Lust etwas zu schaffen; bin weder krank noch gesund und ein elender, bedauernswürdiger Kerl geworden.1

Es fällt nicht schwer, sich den Mann vorzustellen, dessen Leben Heinrich Zschokke (1771 – 1848) in seiner 1837 in Aarau erschienenen Novelle Die Brannteweinpest2 beschrieben hat. Auch wenn wir aus dem obenstehenden Zitat kaum Informationen über die hier erzählende Figur erhalten, entsteht vor unserem inneren Auge ein Leben, das anfänglich vielleicht nicht ganz sorglos, aber zumindest anständig war – eine Hochzeit, drei oder vier Kinder, ein Einkommen, das die nötigsten Bedürfnisse zu befriedigen vermochte, vielleicht ein kleines Haus. Und dann der Abstieg. Der Vater beginnt zu trinken3 – vielleicht aus Kummer oder verführt von Kollegen –, arbeitet immer weniger, das Geld für die Familie wird knapp, Hunger macht sich breit und die Familie endet schließlich in gänzlicher Verarmung.

Dass die meisten Lesenden4 sich dieses Leben anhand lediglich dreier Sätze so, oder jedenfalls ähnlich, ergänzend zusammenbauen und vorstellen, ist kein Zufall: Wir kennen uns mit dem Muster von Biographien bestens aus, denn fast täglich begegnen wir dieser Form des Erzählens.

Bereits bei kurzen Vorstellungsrunden werden uns Ereignisse aus fremden Leben in mehr oder weniger zusammenhängenden Geschichten anvertraut, die uns Einblick in die Biographie unseres Gegenübers geben. Etwas ausführlichere Biographien werden bei Vorstellungsgesprächen oder beim Zusammentreffen mit Freunden erzählt. Institutionalisierte Lebenserzählungen kennen wir aus Laudationes oder Nekrologen. Auch in schriftlicher Form begegnen uns Lebenserzählungen immer wieder. Begonnen bei Kleinstformen in Motivationsschreiben über Beschreibungen von Mitarbeitenden auf Webseiten von Institutionen bis hin zu mehreren hundert Seiten umfassenden Büchern über berühmte Personen.

So unterschiedlich solche Lebenserzählungen sein mögen, haben sie eine relevante Gemeinsamkeit. Sie zeichnen Bilder, welche die Rezipierenden als bestimmte Typen von Menschen erkennen können – im Fall des eingangs beschriebenen »Sauf-Jochen[s]«5 das Bild eines elenden, verkommenen Trinkers. Je nach Bild, das von dem beschriebenen Menschen entstehen soll, finden andere und unterschiedlich gewichtete Lebensereignisse Platz in der Biographie. Wird beispielsweise das Leben einer erfolgreichen Forscherin beschrieben, werden die akademischen Leistungen, die verfassten Publikationen sowie Auszeichnungen hervorgehoben und in Beziehung zueinander gesetzt, während die Biographie einer Trinkerin eher von Schicksalsschlägen und Fehltritten geprägt ist, welche den devianten Werdegang erklären.

Eine Laudatio auf einen Wissenschaftler, die Fehltritte und Niederlagen betonte, wäre hingegen ebenso seltsam wie eine Trinkerbiographie, welche ausschließlich erfolgreiche Taten hervorheben würde. Um ein bestimmtes Menschenbild6 zu zeichnen, das die Mitglieder einer Kultur als solches erkennen können, braucht es also eine Biographie, die bestimmte Lebensereignisse selegiert, spezifisch kombiniert und entsprechend gewichtet. Diese Auswahl, Gewichtung und Ordnung sind nicht zufällig, sondern folgen bestimmten Erzählmustern, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft nicht nur verstanden, sondern mitgetragen und angepasst werden. Diese Muster nenne ich ›biographische Narrative‹, in Anlehnung an Christian von Zimmermanns Artikel »Der Schimmelreiter«. Theodor Storms Spiel mit biographischen Narrativen.7

Biographische Narrative sind, so meine Annahme, nicht nur für die Erzählung von realen Leben wegweisend, sondern sie stecken auch den Rahmen für das Leben literarischer Figuren ab. Autoren und Autorinnen können die in die Fiktion transferierte Realität zwar leicht konfigurieren, wie es Paul Ricoeur (1913 – 2005) vorschlägt,8 ein zu starkes Abweichen von den biographischen Narrativen hätte jedoch zur Folge, dass das beabsichtigte Menschenbild von den Lesenden nicht erkannt würde.

Will ein Autor wie Zschokke also seinen Lesenden das Bild eines finanziell und gesellschaftlich verwahrlosten Trinkers vermitteln, muss er sich eines fiktionsüberschreitenden biographischen Narrativs bedienen, das ein Bild eines Menschen in den Köpfen der Lesenden entstehen lässt, das jenem eines übermäßigen Trinkers entspricht. Biographische Narrative, die ein solches Bild entstehen lassen, nenne ich ›Biographische Narrative der Trinkerinnen und Trinker‹.9

Die Häufung von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die nach demselben biographischen Narrativ wie jene Sauf-Jochens aufgebaut sind und eine abschreckende Intention mehr oder weniger deutlich erkennen lassen, korreliert mit den Bestrebungen der Mäßigkeitsbewegung,10 die Mitte der 1830er-Jahre, ausgehend vom nordamerikanischen Temperance Movement, im deutschsprachigen Raum aktiv wurde und das Trinken als Ursache praktisch aller Übel deklarierte. Sowohl die soziale Ungleichheit, der moralische Zerfall als auch körperliche und geistige Erkrankungen wurden im 19. Jahrhundert fortan von großen Teilen des Bürgertums auf den übermäßigen Konsum starkalkoholischer Getränke zurückgeführt.11

Der Alkohol wird jedoch in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht immer so negativ beschrieben wie in Zschokkes Brannteweinpest. Vielmehr findet sich ein Darstellungsspektrum von der angsteinflößenden Warnung bis zur gänzlichen Verharmlosung, von der Diabolisierung in Gestalt eines Branntweinteufels bis zum Lobgesang auf den göttlichen Rausch, von der erdrückenden Sozialstudie bis zur amüsanten Anekdote. Diese Perspektivenvielfalt zeigt sich insbesondere in den Leben der Figuren, die einem bestimmten biographischen Narrativ der Trinkerinnen und Trinker folgend aus der Sicht einer Erzählinstanz dargestellt werden.

Solche fiktionalen Biographien von Trinkerinnen und Trinkern analysiere und kategorisiere ich in 13 Novellen des 19. Jahrhunderts, was die Rekonstruktion text- beziehungsweise fiktionsüberschreitender biographischer Narrative der Trinkerinnen und Trinker erlaubt, die einen Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung und Bewertung des Trinkens und dessen Wirkung auf das Leben von Menschen ermöglicht. Die Rekonstruktion biographischer Narrative in meiner Arbeit bietet also nicht nur Einblick in literarische Erzählmuster von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien, sondern auch in den sich verändernden Alkoholdiskurs des 19. Jahrhunderts.

Bei der Analyse der Novellen stehen folgende Forschungsfragen im Zentrum: Welche biographischen Narrative der Trinkerinnen und Trinker lassen sich in den untersuchten Novellen finden? Wie verändern sich diese Narrative während des 19. Jahrhunderts? Welche Gemeinsamkeiten beziehungsweise Abweichungen zeigen sich zwischen den biographischen Narrativen und dem außerliterarischen Diskurs?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden die Novellen hinsichtlich medizinischer,bürgerlich-ethischer und religiöser Diskurse untersucht, welche auch den außerliterarischen Antialkoholdiskurs des 19. Jahrhunderts prägten.

Weitestgehend ausgeklammert wird in meiner Untersuchung die Rolle des Trinkens im Leben beziehungsweise in Lebensbeschreibungen der Autorinnen und Autoren selbst. Zudem beleuchtet meine Studie ausschließlich die Gattung der Novelle. Obwohl auch in Romanen, in Dramen und in der Lyrik – insbesondere in Trinkliedern – des 19. Jahrhunderts trinkende Menschen thematisiert werden, bietet sich die Novelle insbesondere als Gattung zur Rekonstruktion biographischer Narrative der Trinkerinnen und Trinker an. Das wird deutlich, wenn geklärt wird, was in dieser Arbeit unter Novelle verstanden wird. Diese Klärung ist unerlässlich, denn selten wurde und wird eine literarische Gattung so unscharf und vielfältig definiert wie die Novelle.12

Das erste Kriterium für die Texte, die in dieser Arbeit als Novelle bezeichnet werden, entwickelt sich aus der inhaltlichen Programmatik. Laut Ludwig Tieck (1773 – 1853) thematisiert die Novelle des 19. Jahrhunderts stärker als andere Gattungen das Leben der Menschen:

[Die Novelle kann] Widersprüche des Lebens lösen, die Launen des Schicksals erklären, den Wahnsinn der Leidenschaft verspotten, und manche Räthsel des Herzens, der Menschenthorheit in ihre künstlichen Gewebe hinein bilden, daß der lichter gewordene Blick auch hier im Lachen oder in Wehmuth, das Menschliche, und im Verwerflichen eine höhere ausgleichende Wahrheit erkennt.13

Theodor Mundt (1808 – 1861) bestätigt diesen thematischen Fokus: Die Novelle eigne sich bestens, »die Lebensperspectiven […], welche die Poesie vor den Augen der Zeit aufthun soll«,14 darzustellen. Auch für Theodor Storm (1817 – 1888) ist die Darstellung des Lebens das wichtigste Merkmal der Gattung: Die Novelle des 19. Jahrhunderts zeichne sich primär durch die Darstellung der »tiefsten Probleme des Menschenlebens« aus.15

Texte, die das menschliche Leben in solcher Weise beschreiben, eignen sich bestens zur Untersuchung anthropologischer Konzepte und damit verbundener biographischer Narrative der Trinkerinnen und Trinker.

Das zweite Kriterium für die Konstituierung des Untersuchungskorpus ist die Nähe zum zeitgenössischen außerliterarischen Diskurs. Obwohl sich die Semantik des Novellenbegriffs seit der Verwendung Boccaccios im 14. Jahrhundert veränderte, blieb auch im 19. Jahrhundert die ursprüngliche Bedeutung der Neuheit (lateinisch novus) erhalten.16Novus bedeutet in diesem Zusammenhang nicht zwingend ›noch nie Gehörtes‹, sondern vielmehr eine »zeitgenössische Aktualität«.17 Das novus in der Novelle ist quasi die Antwort auf die Frage quid novi? (Was gibt es Neues?).18 Die Erzählungen, die für das Untersuchungskorpus dieser Arbeit ausgewählt wurden, beschäftigen sich also mit zeitgenössischen Aktualitäten und transferieren den außerliterarischen (Alkohol-)Diskurs in die Fiktion.

Die zeitnahe literarische Verarbeitung relevanter Aktualitäten ist produktionsästhetisch an einen gewissen maximalen Umfang gekoppelt, der ein zügiges Fertigstellen der Texte zulässt. Diese Bedingung mündet im dritten Kriterium der untersuchten Texte, das auch Wolfgang Lukas für die Novelle des 19. Jahrhunderts festlegt:

Unter »Novelle« sei derjenige Erzähltext von mittlerer Länge verstanden, der in einer nichtselbständigen Publikation erschienen ist, sei es als Beitrag für Zeitschrift, Almanach, Taschenbuch etc., wie für die Erstpublikation meist üblich, sei es innerhalb einer Sammlung von Novellen/Erzählungen. Ausnahmen von dieser Regel sind zumindest nach 1830 eher selten.19

Während sich die ersten beiden Kriterien auf inhaltliche Merkmale beziehen, die auch für andere Gattungen zutreffen können, charakterisiert das dritte Kriterium den Untersuchungsgegenstand am treffendsten. In konzentrierter Form von kurzen Erzählungen vermag es die Novelle, bürgerliche Werte zeitnah und in für das Zielpublikum ansprechender Weise zu verbreiten.

Von den 13 in dieser Arbeit behandelten Novellen erfüllen neun das Kriterium, erstmals in einer Zeitschrift erschienen zu sein. Dies ist für die vorliegende Studie, abgesehen von der Aktualität, insofern relevant, als dass die Zeitschriften im 19. Jahrhundert als wichtiges Medium der Wissensdistribution fungierten (vgl. Kap. 2.2). Die vier ältesten Novellen des Untersuchungskorpus fallen bezüglich des Kriteriums ›Erstpublikation in einer Zeitschrift‹ allerdings aus dem Rahmen. Dennoch sind sie den Texten, die erstmals in Zeitschriften erschienen sind, sehr ähnlich. Hugo Aust, der ebenfalls eine mögliche Gattungseingrenzung über die Distributionsgeschichte vorschlägt, trägt dieser Ähnlichkeit Rechnung, indem er nicht die tatsächliche Publikation in Zeitschriften, sondern die potenzielle Eignung dafür als Kriterium nennt.20

Die für diese Arbeit ausgewählten Novellen erfüllen also folgende Kriterien: Sie sind so kurz, dass sie sich für die Publikation in Zeitschriften oder Anthologien eignen würden, und doch lang genug, dass sie als selbstständige Publikationen erscheinen könnten. Sie erzählen zumindest einen Teil eines »Menschenlebens«,21 das in irgendeiner Weise vom Alkohol geprägt ist. Sie weichen nur so stark von der außerliterarischen Realität ab, dass die Rezipierenden sowohl die behandelten Themen als Teil der aktuellen Diskurse wie auch die Figuren als typische Zeitgenossinnen und -genossen wiedererkennen können. Folgende 13 Novellen wurden nach diesen Kriterien ausgewählt und bilden das Untersuchungskorpus dieser Arbeit:

1837 Heinrich Zschokke: Die Brannteweinpest

1838 Jeremias Gotthelf:22Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen23 (im Folgenden Fünf Mädchen genannt)

1839 Jeremias Gotthelf: Dursli der Brannteweinsäufer24 (im Folgenden Dursli genannt)

1841 Adrian Scheuß: Rudolph der Branntweinsäufer25 (im Folgenden Rudolph genannt)

1842 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche26

1847 Friedrich Hebbel: Schnock27

1860 Paul Heyse: Der Centaur28 bzw. 1870 – Der letzte Centaur29 1871 Paul Heyse: Die Pfadfinderin30

1885 Theodor Storm: John Riew’31

1886 Marie von Ebner-Eschenbach: Er laßt die Hand küssen32 1887 Gerhart Hauptmann: Fasching33

1887 Ferdinand von Saar: Die Troglodytin34

1891 Arthur Schnitzler: Reichtum35

Weder die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Lebensbeschreibungen noch die geschichtswissenschaftliche Untersuchung der Alkoholfrage im 19. Jahrhundert sind neu, wie der folgende Forschungsüberblick zeigt. Eine Studie jedoch, die nach einer werk- und autoren- beziehungsweise autorinnenübergreifenden Typologie von biographischen Darstellungen trinkender Figuren sucht und diese in Bezug zum außerliterarischen Alkoholdiskurs stellt, fehlte bisher.

Überhaupt sind Arbeiten, welche sich mit fiktionalen Alkoholismusdarstellungen in einem größeren Rahmen als der Einzeltextanalyse auseinandersetzen, selten zu finden. Wenn das Thema in der Germanistik überhaupt textübergreifend untersucht wurde, dann meist in engem Zusammenhang mit den Biographien von Autorinnen und Autoren. So untersucht beispielsweise Alexander Kupfer in seiner Studie Göttliche Gifte36 den Umgang verschiedener Autorinnen und Autoren mit Drogen und Alkohol, wobei er auch literarische Texte als Quellen heranzieht. Der von Markus Bernauer und Mirko Gemmel herausgegebene Sammelband Realitätsflucht und Erkenntnissucht. Alkohol und Literatur37 beleuchtet ebenfalls das Verhältnis der Autoren und Autorinnen zum alkoholischen Rausch. Auf die fiktionale Literatur geht auch Hugo von Keyserlingk in seiner Studie Liebe Leben Alkohol38 ein. Er richtet jedoch den Blick primär auf Parallelen zu den Biographien der Autorinnen und Autoren, deren Suchtkrankheit er beleuchtet.

Eine ausführliche literaturwissenschaftliche Analyse hinsichtlich des Trinkens über mehrere Texte nimmt Bernhard Tempel in Alkohol und Eugenik vor.39 Zwei ganze Kapitel widmet er dem Werk Gerhart Hauptmanns (1862 – 1946). Dennoch kommt auch diese Studie nicht ohne die »alkoholische Biographie«40 des Autors aus. Viel stärker als in der vorliegenden Studie steht bei Tempel das »künstlerische[ ] Selbstverständnis« des Autors und »dessen Implikation für seine Selbstinszenierung«41 im Zentrum des Interessens.

Das verschriftlichte Referat Die Figur des Trinkers in der deutschen Literatur seit dem Naturalismus42 von Joachim Müller ist eine der wenigen Erörterungen, die sich autorenübergreifend43 mit Trinkerinnen und Trinkern in zahlreichen fiktionalen Texten auseinandersetzt, ohne das Leben des Autors oder der Autorin ins Zentrum zu rücken. Müllers Darstellung beginnt bei Lot und seinen Töchtern, streift Dionysos in der Antike und gelangt über die knappe Erwähnung von trinkenden Figuren bei Shakespeare, Goethe, Grabbe, Nestroy und den Brüdern Goncourt zu Gerhart Hauptmann, dessen frühe Dramen er etwas genauer beleuchtet. Nach einer kurzen Charakterisierung der beiden Brecht’schen Stücke Baal und Herr Puntila und sein Knecht Matti wirft Müller einen Blick auf Der Weg zum Friedhof und Der Zauberberg von Thomas Mann, um dann bei Hans Falladas Roman Der Trinker etwas länger zu verweilen, bevor er seinen Vortrag mit einem Blick auf Hermann Brochs Die Schuldlosen abschließt. Dass Müller in seinem Überblick nur oberflächlich auf die einzelnen Figuren eingehen kann, lässt sich durch die Kürze des Textes – es sind gerade mal 13 Seiten – erklären. Insbesondere für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts würde der Vortrag jedoch einen guten Ausgangspunkt für die Untersuchung von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien in der Literatur bieten.

Vertiefte Analysen von trinkenden Figuren, die sich abgelöst von der Biographie des Autors oder der Autorin auf den literarischen Text konzentrieren, sind also selten. Sie finden sich vor allem in Arbeiten zu einzelnen Novellen.44 Zudem beschäftigen sich teilweise auch jene Studien mit trinkenden Figuren, die soziale, wirtschaftliche und politische Verhältnisse in ausgewählten Texten untersuchen. Solche Einzelstudien werden in den entsprechenden Analysekapiteln kritisch gewürdigt.

Die methodische Grundlage für die Typisierung von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien anhand von biographischen Narrativen bildet eine Verschränkung von klassischen und postklassischen narratologischen Theorien, die in Kap. 2.1 behandelt wird. Zentral für das Konzept der biographischen Narrative ist Wolfgang Müller-Funks Studie Die Kultur und ihre Narrative.45 Für Müller-Funk ist die Erzählung eine Gattung, die davon berichtet, »daß die Menschen handelnd in der Welt sind«.46 Sein ›Narrativ‹-Begriff beschränkt sich also nicht auf die Fiktion, sondern meint das Grundgerüst jeder Form von dokumentierter Handlung. Dadurch bietet Müller-Funks ›Narrativ‹ einen idealen Ausgangspunkt, um fiktionale Lebensbeschreibungen mit wissenschaftlichen, pädagogischen und journalistischen Texten zu vergleichen. Mit diesem Verständnis

eines Narrativs, das die Grenzen von Fiktion und Faktizität überschreitet, knüpft Müller-Funk an das Konzept der poststrukturalistischen Narratologie an.

Von Zimmermann orientiert sich bei der Untersuchung von Biographien an Müller-Funks ›Narrativ‹-Begriff und definiert in seinem Artikel »Der Schimmelreiter«. Theodor Storms Spiel mit biographischen Narrativen47 erstmals den für diese Arbeit zentralen Untersuchungsgegenstand – die biographischen Narrative. In seiner Studie Biographische Anthropologie48 untersucht von Zimmermann »biographische[ ] Darstellungsstrategien und deren Rekontextualisierung in anthropologischen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in den Aussage- und Handlungssystemen ihrer Zeit«.49 Sein von der ›literarischen Anthropologie‹ abgeleiteter Begriff der ›biographischen Anthropologie‹ stellt den Ausgangspunkt der Untersuchungen von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien in dieser Arbeit dar.50

Mit anthropologischen Konzepten und damit verbundenen Menschenbildern, die für die Kontextualisierung der biographischen Narrative der Trinkerinnen und Trinker in dieser Arbeit relevant sind, beschäftigen sich die Beiträge in Achim Barschs und Peter M. Hejls Sammelband Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850 – 1914).51 In ihrer Einleitung begründen Barsch und Hejl die Veränderung von Menschenbildern vor dem Hintergrund der Entwicklung außerliterarischer Diskurse.52 Sie gehen davon aus, dass es zum Wesen des Menschen gehört, sich eine Vorstellung davon zu machen, was eigentlich der Mensch ist und was ihn von Tieren und Pflanzen unterscheidet. Dadurch werde das Menschenbild zur Grundlage der eigenen Identität.53 Die vorherrschenden Menschenbilder, die immer auch eine Messlatte für ›normales‹ und ›deviantes‹ Verhalten darstellen, bestimmen auch, ab wann ein Mensch als Trinkerin beziehungsweise als Trinker gilt.

Da die biographischen Narrative der Trinkerinnen und Trinker in dieser Arbeit als Erzählmuster verstanden werden, die maßgeblich von außerliterarischen Diskursen geprägt sind, ist neben der literaturwissenschaftlichen eine geschichtswissenschaftliche Forschungsgrundlage essenziell. Insbesondre sozial-, medizin- und religionshistorische Arbeiten, die sich mit dem Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert auseinandersetzen, werden zur Kontextualisierung der Novellen hinzugezogen.

Im Zentrum der historischen Interessen steht die Geschichte der Mäßigkeitsbewegung im deutschsprachigen Raum, die in diversen Studien bereits beleuchtet wurde. Einen weitreichenden Überblick bietet zum Beispiel Alfred Heggens Monographie Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert.54 Heggen verfolgt das Ziel, die soziokulturellen Ursachen des Alkoholproblems vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts darzustellen. Sowohl wirtschaftliche Faktoren als auch die Haltung des Bürgertums gegenüber dem Trinken vermutet er als Gründe für die Veränderung der Alkoholproduktion, des Alkoholkonsums und der Wahrnehmung des Alkoholproblems.55 Insbesondere seine Unterscheidung zwischen narkotischem, instrumentalem und geselligem Trinken ist bei der Analyse der Novellen in der vorliegenden Studie relevant. Ebenfalls eine wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Alkoholfrage im 19. Jahrhundert stellt Heinrich Tappes Dissertation Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur56 dar, die mit der Entwicklung der Alkoholproduktion und des Trinkverhaltens seit dem 12. Jahrhundert in die Problematik der sogenannten Branntweinpest einführt und einen differenzierten Überblick über das gesamte 19. Jahrhundert bietet. Tappe hinterfragt dabei verschiedene gängige Annahmen, was die Gründe für die Branntweinpest gewesen sein könnten.57

Auch Hasso Spode bietet in Die Macht der Trunkenheit58 einen umfassenden Überblick vom Mittelalter über die beiden Wellen der Mäßigkeitsbewegung bis hin zum fortgeschrittenen 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der These, dass der »Umgang einer Kultur mit dem Alkohol« ein »Schlüssel zum Verständnis der Welt und des Menschen«59 sei, fragt er nach dem Konsum und der Problematisierung des Alkohols in unserer Kultur. Dabei fokussiert er die zunehmende Pathologisierung des Trinkens.60

Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Alkoholdiskurses im 19. Jahrhundert bietet insbesondere die Medizingeschichte. Martin Lengwilers Beitrag Im Zeichen der Degeneration61 verbindet zum Beispiel die Thematik der Abstinenzbewegung mit der entstehenden Psychiatrie und dokumentiert, wie der Alkohol zunehmend als Auslöser der Degeneration verstanden wurde. Ebenfalls wichtige Beiträge zur physischen und psychischen Degeneration leisten Peter Becker in Verderbnis und Entartung62 sowie Horst Thomé in Autonomes Ich und »Inneres Ausland«.63

Während das Alkoholproblem sozial- und medizingeschichtlich bereits gut aufgearbeitet ist, sind religionsgeschichtliche Studien, die sich auf das Trinken konzentrieren, schwieriger zu finden. Eine aufschlussreiche Übersicht über die Rolle der protestantischen Kirche bei den frühen Maßnahmen gegen das Trinken findet sich in Karl Wassenbergs Beitrag Die historischen Wurzeln der Deutschen Mä- ßigkeitsbewegung.64 Zur Rolle der katholischen Kirche finden sich einige Hinweise in Irmtraud Götz von Olenhusens Studie Klerus und abweichendes Verhalten.65 Die Bedeutung des Alkohols in der Bibel thematisiert beispielsweise Manuel Dubach 2009 in Trunkenheit im Alten Testament.66

Neben den hier erwähnten zentralen Titeln sind zahlreiche weitere historische Studien für die Untersuchung von biographischen Narrativen der Trinkerinnen und Trinker relevant, welche einzelne Aspekte und lokale Besonderheiten der Mäßigkeitsbewegung und der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert beleuchten. Solche Studien werden sowohl im Grundlagenkapitel (Kap. 2.3) als auch im Analyseteil (Kap. 3) aufgegriffen und gewürdigt.

Der nun gebotene Forschungsüberblick vermittelt einen Eindruck der thematischen Vielfalt der für diese Arbeit herangezogenen Forschungsliteratur. Dank dieses breiten Spektrums wird eine Analyse der biographischen Narrative von Trinkerinnen und Trinkern ermöglicht, die vom literarischen Text ausgeht und durch Bezüge zu außerliterarischen Diskursen gestützt wird. Dadurch wird eine Typologie der Alkoholdarstellungen angestrebt, die Auskunft über die literarische Umsetzung des außerliterarischen Diskurses und dadurch über die zeitgenössische Wahrnehmung der Alkoholthematik gibt.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist zunächst eine methodische und historische Grundlegung (Kap. 2) erforderlich. Ausgehend von einem Verständnis der Narratologie (Kap. 2.1), das sowohl strukturalistische als auch kulturwissenschaftliche Ansätze vereint, werden biographische Narrative (Kap. 2.2) zuerst theoretisch begründet und anschließend hinsichtlich der untersuchten Novellen zu Kategorien geordnet, die eine Typisierung der Darstellung von Trinkerinnen und Trinkern zulassen. Analog zu diesen Kategorien lassen sich anthropologische Konzepte der Mäßigkeitsbewegung (Kap. 2.3) aufzeigen, die den außerliterarischen Kontext der Novellen bilden.

Vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 ausgeführten Methoden und Analysekategorien werden in Kapitel 3Trinkende Figuren in Novellen des 19. Jahrhunderts untersucht. Das Kapitel ist in drei Unterkapitel gegliedert, in denen jeweils eine Darstellungsstrategie des Trinkens behandelt wird. Zunächst werden unter dem Titel Wurzel allen Übels (Kap. 3.1) jene Novellen beleuchtet, die eine offensichtliche pädagogische Intention erkennen lassen. Darauf folgt im Unterkapitel Nebensächliches bis amüsantes Übel (Kap. 3.2) eine Auseinandersetzung mit Novellen, welche das Trinken lediglich als unterhaltsames Moment zu enthalten scheinen. Zuletzt treten unter dem Titel Krankheit und Folge verschiedener Krankheiten (Kap. 3.3) Novellen ins Zentrum, die den durch die Degenerationstheorie und die Psychiatrie geprägten Alkoholdiskurs literarisch verarbeiten.

Die in den Kapiteln 2 und 3 hergeleiteten Erkenntnisse werden im Kapitel Zusammenfassung und Schlussbemerkung (Kap. 4) zusammengeführt und zu Antworten auf die Forschungsfragen verdichtet.

 

1 Heinrich Zschokke, Die Brannteweinpest. Eine Trauergeschichte zur Warnung und Lehre für Reich und Arm, Alt und Jung. Aarau 1837, S. 64. Alle Zitate und Werktitel in dieser Arbeit entsprechen der Originalschreibweise. Abweichungen von der heutigen Orthographie sind weder korrigiert noch markiert. Eingriffe in Zitate sind durch eckige Klammern ausgewiesen.

2 Ebd.

3 Wenn in dieser Arbeit vom ›Trinken‹ gesprochen wird, ist immer das Trinken alkoholischer Getränke gemeint.

4 Für die Bezeichnung aller Geschlechter werden in dieser Arbeit nach Möglichkeit genderneutrale Begriffe verwendet. Wenn das nicht möglich ist, werden sowohl feminine als auch maskuline Formen eingesetzt. Mitgemeint sind jeweils alle Geschlechter.

5 Zschokke, Die Brannteweinpest, S. 63.

6 Zum Konzept des Menschenbildes vgl. Achim Barsch u. Peter M. Hejl, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert. Einleitung, in: Dies. (Hg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850 – 1914). Frankfurt a. M. 2000 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1469), S. 7 – 90.

7 Christian von Zimmermann, »Der Schimmelreiter«. Theodor Storms Spiel mit biographischen Narrativen, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 64/2 (2012), S. 38 – 49.

8 Vgl. Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung. Übersetzt von Rainer Rochlitz. Hg. von Richard Grathoff u. Bernhard Waldenfels. Bd. 1 (Zeit und historische Erzählung). München 1988 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/1), S. 104 – 106.

9 Die Idee, eine Arbeit über biographische Narrative der Trinkerinnen und Trinker zu schreiben, ist aus meiner Masterarbeit entstanden, in welcher Lebensbeschreibungen von suizidgefährdeten Figuren in Novellen Theodor Storms untersucht werden. Auffallend oft wird das Leben dieser Figuren, neben anderen Einflüssen, auch vom übermäßigen Alkoholkonsum geprägt, sodass meine Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen gelenkt wurde. Erste Überlegungen zum Konzept der ›biographischen Narrative‹ finden sich deshalb bereits in meiner Masterarbeit. Das in dieser Studie präsentierte Konzept wurde jedoch gänzlich neu aufgearbeitet, angepasst und ergänzt. Vgl. Oliver Käsermann, Lebensbeschreibungen suizidgefährdeter Figuren in Theodor Storms Novellen nach 1881. Zur Wechselwirkung verschiedener biographischer Narrative in »Schweigen«, »Es waren zwei Königskinder«, »John Riew’« und »Bötjer Basch«. Bern 2014 (Unpublizierte Masterarbeit).

10 Für die Bestrebungen gegen das übermäßige Alkoholtrinken im 19. Jahrhundert verwende ich die vom englischen Terminus Temperance Movement abgeleitete Bezeichnung ›Mäßigkeitsbewegung‹. Die Akteurinnen und Akteure dieser Bewegung propagierten unterschiedliche Grade der Alkoholmäßigkeit: vom mäßigen Konsum aller alkoholischen Getränke über ein Verbot, das sich lediglich auf Schnaps bezog, bis hin zu einer gänzlichen Alkoholabstinenz. An jenen Stellen, an welchen diese Unterscheidung für meine Argumentation relevant ist, gehe ich explizit darauf ein.

11 Zur Mäßigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert siehe Kap. 2.3.

12 Die Geschichte der Novelle und die zahlreichen Beschreibungsversuche werden in verschiedenen Standardwerken dargestellt. Vgl. z.B. Hugo Aust, Novelle. 5., erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2012 (Sammlung Metzler 256); Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle. Stuttgart/Weimar 1993; Winfried Freund, Novelle. Stuttgart 1998 (Reclams Universal-Bibliothek 1706); Albert Meier, Novelle. Eine Einführung. Berlin 2014 (Grundlagen der Germanistik 55).

13 Ludwig Tieck, Sämtliche Werke. Bd. 2. Paris 1837, S. XXXIV.

14 Theodor Mundt, Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers. Leipzig 1834, S. 156.

15 Theodor Storm, Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881, in: Karl Konrad Polheim (Hg.), Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970 (Deutsche Texte 13), S. 119 – 120, hier: S. 119.

16 Vgl. Aust, Novelle, S. 26.

17 Ebd., S. 14.

18 Vgl. ebd.

19 Wolfgang Lukas, Novellistik, in: Gerd Sautermeister u. Ulrich Schmid (Hg.), Zwischen Revolution und Restauration 1815 – 1848. München 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 5), S. 251 – 280, hier: S. 252.

20 Vgl. Aust, Novelle, S. 1.

21 Storm, Eine zurückgezogene Vorrede, S. 119.

22 Pseudonym von Albert Bitzius (1797 – 1854). In dieser Arbeit wird der bürgerliche Name Gotthelfs, Albert Bitzius, nur verwendet, wenn seine Meinung als Pfarrer oder als Privatperson im Vordergrund steht.

23 Jeremias Gotthelf, Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen. Eine merkwürdige Geschichte, in: Ders., Kleinere Erzählungen. Bd. 1. Hg. von Rudolf Hunziker. Erlenbach-Zürich 1928 (Jeremias Gotthelf [Albert Bitzius]. Sämtliche Werke in 24 Bänden 16), S. 7 – 90.

24 Jeremias Gotthelf, Dursli der Brannteweinsäufer oder Der heilige Weihnachtsabend, in: Ders., Kleinere Erzählungen. Bd. 1. Hg. von Rudolf Hunziker. Erlenbach-Zürich 1928 (Jeremias Gotthelf [Albert Bitzius]. Sämtliche Werke in 24 Bänden 16), S. 92 – 212.

25 Adrian Scheuß, Rudolph der Branntweinsäufer. Eine Geschichte aus dem Leben. Hg. von der appenzellischen gemeinnützigen Gesellschaft. Trogen 1841.

26 Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen, in: Dies., Prosa, Versepen, Dramatische Versuche, Übersetzungen. Hg. von Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Frankfurt a. M. 1994 (Annette von Droste-Hülshoff. Sämtliche Werke in zwei Bänden 2), S. 11 – 62.

27 Friedrich Hebbel, Schnock. Ein niederländisches Gemälde, in: Ders., Werke. Bd. 3. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. München 1965, S. 394 – 441.

28 Paul Heyse, Der Centaur, in: Argo. Album für Kunst und Dichtung (1860), S. [10a] – 22.

29 Paul Heyse, Der letzte Centaur, in: Ders., Ein neues Novellenbuch. Berlin 1871, S. 233 – 290.

30 Paul Heyse, Die Pfadfinderin, in: Ders., Novellen. Bd. 3. Berlin 1873 (Gesammelte Werke von Paul Heyse 6), S. 330 – 394.

31 Theodor Storm, John Riew’, in: Ders., Novellen 1881 – 1888. Hg. von Karl Ernst Laage. Frankfurt a. M. 1998 (Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden 3), S. 331 – 388.

32 Marie von Ebner-Eschenbach, Er laßt die Hand küssen, in: Dies., Erzählungen und Aphorismen. Hg. von Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl u. Ulrike Tanzer. Salzburg/Wien 2015 (Marie von Ebner-Eschenbach. Leseausgabe in vier Bänden 4), S. 169 – 190.

33 Gerhart Hauptmann, Fasching, in: Ders., Erzählungen. Theoretische Prosa. Hg. von Hans-Egon Hass. Berlin 1996 (Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke 6), S. 13 – 34.

34 Ferdinand von Saar, Die Troglodytin, in: Ders., Novellen aus Österreich. Hg. von Jakob Minor. Leipzig [1908] (Ferdinand von Saar. Sämtliche Werke in zwölf Bänden 9), S. 117 – 160.

35 Arthur Schnitzler, Reichtum, in: Ders., Die Erzählenden Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970 (Arthur Schnitzler. Gesammelte Werke), S. 47 – 78.

36 Alexander Kupfer, Göttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden. Stuttgart/Weimar 1996.

37 Markus Bernauer u. Mirko Gemmel (Hg.), Realitätsflucht und Erkenntnissucht. Alkohol und Literatur. Berlin 2014.

38 Hugo von Keyserlingk, Liebe Leben Alkohol. Suchtkrankheiten im Spiegel deutscher Literatur. Mit den Lebenswegen der Dichter Reuter, Grabbe und Fallada. Lengerich 2004 (Angewandte Verhaltensmedizin in Forschung und Praxis).

39 Bernhard Tempel, Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis. Dresden 2010.

40 Ebd., S. 7.

41 Ebd., S. 16.

42 Joachim Müller, Die Figur des Trinkers in der deutschen Literatur seit dem Naturalismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 17/2 (1968), S. 255 – 267.

43 Müller beleuchtet in seinem Vortrag nur Texte männlicher Autoren.

44 Studien, die den Alkoholismus explizit als Untersuchungsgegenstand wählen, finden sich zu den untersuchten Novellen nur bei Gotthelfs beiden Texten Dursli der Brannteweinsäufer und Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen. Vgl. z.B. Simon F. Eglin, Gotthelf wider den Alkoholteufel. Der Schriftsteller, Prediger und Pädagoge in der Zeit der »Branntweinpest«, in: Abhängigkeiten 12/2 (2006), S. 78 – 88; Christian von Zimmermann, Wie man (k)ein Volksbuch schreibt. Beobachtungen zu Gotthelfs »Dursli, der Brannteweinsäufer«, in: Text + Kritik 178/179 (2008), S. 43 – 55; Gunther Hirschfelder u. Susanne Krüger, Dursli, der Branntweinsäufer und fünf Mädchen, die im Branntwein jämmerlich umkommen – Aspekte des Schweizer Elendsalkoholismus im Spiegel der Novellen des Jeremias Gotthelf, in: KulTour. Mitteilungsblatt des Volkskundlichen Seminars der Universität Bonn. 4/2 (1993), S. 5 – 18.

45 Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarb. u. erw. Aufl. New York/Wien 2008.

46 Ebd., S. 12.

47 Von Zimmermann, Der Schimmelreiter.

48 Christian von Zimmermann, Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicherDarstellung (1830 – 1940). Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 41).

49 Ebd., S. 4.

50 Wegleitend für die Untersuchung von Biographien ist auch das 2009 von Christian Klein herausgegebene Handbuch, welches diese Textsorte ausgesprochen umfänglich beleuchtet. Vgl. Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009.

51 Achim Barsch u. Peter M. Hejl (Hg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850 – 1914). Frankfurt a. M. 2000 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1469).

52 Barsch u. Hejl, Zur Verweltlichung.

53 Vgl. ebd., S. 7.

54 Alfred Heggen, Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur deutschen Sozialgeschichte. Berlin 1988 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 64).

55 Vgl. ebd., S. 6.

56 Heinrich Tappe, Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten undTemperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1994 (Studien zur Geschichte des Alltags 12).

57 Vgl. ebd., S. 114.

58 Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen 1993.

59 Ebd., S. 10.

60 Vgl. ebd.

61 Martin Lengwiler, Im Zeichen der Degeneration. Psychiatrie und internationale Abstinenzbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Judith Große, Francesco Spöring u. Jana Tschurenev (Hg.), Biopolitik und Sittlichkeitsreform. Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880 – 1950. Frankfurt a. M./New York 2014 (Reihe »Globalgeschichte« 18), S. 85 – 110.

62 Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176).

63 Horst Thomé, Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914). Tübingen 1993 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge 70).

64 Karl Wassenberg, Die historischen Wurzeln der Deutschen Mäßigkeitsbewegung, in: Sabine Schaller u. Karl Wassenberg (Hg.), Der Geist der Deutschen Mäßigkeitsbewegung. Debatten um Alkohol und Trinken in Vergangenheit und Gegenwart. Halle (Saale) 2010 (Magdeburger Reihe 22), S. 12 – 37.

65 Irmtraud Götz von Olenhusen, Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert. Die Erzdiözese Freiburg. Göttingen 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 106).

66 Manuel Dubach, Trunkenheit im Alten Testament. Begrifflichkeit – Zeugnisse – Wertung. Stuttgart 2009 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament. Zehnte Folge 4). Ebenfalls mit Alkoholdarstellungen in der Bibel beschäftigen sich die Lexikonartikel von Manfred Görg, Augustin R. Müller oder Nils G. Holm. Vgl. Manfred Görg, Trunkenheit, in: Ders. u. Bernhard Lang (Hg.), Neues Bibel-Lexikon. Bd. 3. Düsseldorf/Zürich 2001, S. 925 f.; Nils G. Holm, Alkoholgenuß/Alkoholverbot. Religionsgeschichtlich, in: Hans Dieter Betz et al. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (RGG4). Bd. 1. 4., bearb. Aufl. Tübingen 1998, S. 299 – 300; Augustin R. Müller, Wein, in: Manfred Görg u. Bernhard Lang (Hg.), Neues Bibel-Lexikon. Bd. 3. Düsseldorf/Zürich 2001, S. 1071 – 1074.

2. Methodische und historische Grundlegung

Biographische Narrative1 von Trinkerinnen und Trinkern sind intersubjektiv akzeptierte Erzählmuster, welche sowohl literarische als auch außerliterarische Lebenserzählungen von alkoholtrinkenden Menschen organisieren und strukturieren. Sie geben Auskunft darüber, welche Ereignisse in eine Trinker- bzw. Trinkerinnenbiographie einfließen, in welcher Reihenfolge diese erzählt werden, welche Gewichtung ihnen zukommt und welche Kausalitäten zwischen ihnen bestehen. Die Rekonstruktion und Abstraktion solcher biographischen Narrative ermöglicht einen Einblick in die Wahrnehmung und Bewertung des Alkoholproblems im 19. Jahrhundert sowie in die vorherrschenden Erklärungen dafür beziehungsweise Maßnahmen dagegen.

Mit dem Ziel, die einzelnen Komponenten dieser verdichteten Definition zu beleuchten, wird im Folgenden das Konzept des ›Narrativs‹ dargelegt, zum Begriff des ›biographischen Narrativs‹ spezifiziert und in die drei Analysekategorien unterteilt, die sich bei der Lektüre der untersuchten Trinkerinnen- und Trinkernovellen abgezeichnet haben (Kap. 2.2). Weiter werden anthropologische Konzepte der Mäßigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts dargestellt, welche den drei Analysekategorien entsprechen und bei der Untersuchung der Novellen als außerliterarischer Kontext beigezogen werden (Kap. 2.3). Zuerst jedoch wird die entwickelte Methode, die textimmanente Erzählstrukturen nicht nur intertextuell vergleicht, sondern auch kontextuell begründet und dadurch kulturwissenschaftliche Erkenntnisse erwarten lässt, durch eine Situierung in der Narratologie erläutert und legitimiert (Kap. 2.1).

2.1 Narratologie

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Erzählen hat sich im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts stark verändert beziehungsweise diversifiziert.2 Die entstandene methodische Pluralität lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass die Narratologie längst nicht mehr nur in der Literaturwissenschaft Anwendung findet. »[M]any scholars in different disciplines are interested in the processes, results and functions of storytelling«,3 halten Sandra Heinen und Roy Sommer fest. Disziplinen wie die Soziologie, die Geschichtswissenschaft, die Medizin oder die Psychologie rechnen die Untersuchung des Erzählens längst zu ihren Forschungsinstrumenten. Diese Interdisziplinarität bringt für die vorliegende Untersuchung von biographischen Narrativen, welche von literarischen Texten ausgehend vielerlei Bezüge zu zeitgenössischen außerliterarischen Diskursen herstellt, Vorteile und Risiken mit sich. Einerseits lassen sich Biographien von Trinkerinnen und Trinkern über die narratologischen Methoden bestens disziplinübergreifend untersuchen. Andererseits bergen Methoden, die sowohl bei literarischen Texten als auch bei Dokumentationen realer Ereignisse Anwendung finden, eine gewisse Gefahr, die »Unterscheidung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung«4 zu negieren. Diesem Risiko wird in dieser Studie durch eine klare Trennung zwischen literarischen und außerliterarischen Texten begegnet.

Voraussetzung für den kulturwissenschaftlichen Einsatz narratologischer Methoden ist die Akzeptanz eines postklassischen Erzählbegriffs, der sich nicht auf fiktionale Texte beschränkt, sondern im Sinne Roland Barthes’ (1915 – 1980) all das umfasst, was Menschen über sich und ihre Wahrnehmung der sie umgebenden (Gedanken-)Welt erzählen: »Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.«5 Barthes’ Verständnis von Erzählung überschreitet nicht nur die Grenzen der Epik, sondern jene der verbalen Sprache an sich und endlich auch jene der Fiktionalität. Damit öffnet er, avant la lettre, den Weg zu einem Unternehmen, das sich heute Kulturwissenschaft nennt.6 »[D]ie Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen«, schreibt Barthes.7

Auch wenn für Barthes die Erzählung ubiquitär wie das Leben sei, setze er Fiktion und Realität nicht gleich, schreibt Müller-Funk. Er sage lediglich, »daß die Erzählung einen Grundbestand des Menschen darstell[e] wie das Leben«.8

Müller-Funks Auffassung der Erzählung, welche für die vorliegende Studie wegweisend ist, lehnt sich an Barthes’ Theorie an. In seiner Studie Die Kultur und ihre Narrative untersucht er zwar auch, wie schon in der klassischen Narratologie, was eine Erzählung ist und wie diese definiert werden kann. Er stellt aber zudem »Fragen nach Wesen, Bedeutung und Funktion des Erzählens«9 für eine Kultur. Dabei orientiert er sich unter anderem an Ideen Clifford Geertz’ (1926 – 2006).

Geertz geht davon aus, »daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist«.10 Dieses Bedeutungsgewebe, das er Kultur nennt, ist gewissermaßen eine große Erzählung, mit der die Geschichte jedes Individuums verknüpft ist. Die individuelle Lebensgeschichte wird nach der Vorlage des Bedeutungsmusters erzählt und dieses konstituiert sich aus den typischen Ereignissen vieler einzelner Leben.11 Oder anders gesagt: Menschen erzählen ihre Lebensgeschichte nach dem Vorbild einer prototypischen Biographie und geben dadurch dem Erzählten Sinn.

Die Bedeutungsmuster werden in Erzählungen, die innerhalb der Kultur mehr oder weniger bewusst erzählt werden, konserviert und transportiert. Obwohl die große Erzählung niemandem, nicht einmal den Mitgliedern der entsprechenden Kultur selbst, vollumfänglich bewusst ist, ist sie vorhanden und kann gelesen werden. Ethnologie gleiche dadurch, dass sie dieses Bedeutungsmuster entziffere, »dem Versuch, ein Manuskript zu lesen«,12 schreibt Geertz.

Die Methode, die Geertz zur Erforschung von Kulturen vorschlägt, sei eine narratologische, bemerkt Müller-Funk und baut auf ihr zwei Argumente auf, weshalb Kulturwissenschaft und Narratologie vereint werden müssten. Diese zwei Argumente sind zentral für die Legitimierung der gewählten Methode der vorliegenden Arbeit, wie im Folgenden gezeigt wird.

Erstes Argument: Die Erzählung sei eine Gattung, die davon berichte, »dass die Menschen handelnd in der Welt sind«.13 Daraus kann geschlossen werden, dass eine Erzählung, die nicht von handelnden Individuen berichtet, unvorstellbar ist. Figuren in Erzählungen, samt ihrem Handeln und Denken, finden ihre Vorbilder, so die Annahme in der vorliegenden Studie, immer in handelnden Menschen der realen Welt. Deshalb können Schlüsse vom kulturellen Kontext auf literarische Texte gezogen und mit literarischen Texten das Handeln realer Personen erklärt werden. Dies trifft auch auf übermäßig trinkende Figuren zu. Ihr Leben wird entlang von in der Kultur und somit in den Köpfen der Autorinnen und Autoren vorhandenen biographischen Narrativen der Trinkerinnen und Trinker konstruiert.

Zweites Argument: Erzählungen hätten eine identitätskonstruierende Funktion. »Märchen, Bildungs- und Entwicklungsromane sind als Geschichten zu verstehen, in denen Identität ge- und erfunden wird und in denen Identität nachträglich und sinnstiftend festgelegt wird«,14 schreibt Müller-Funk. Die gestiftete Identität sei auf drei Ebenen zu suchen:

Erstens auf der Ebene des einzelnen Subjekts, das seine Identität konstruiere, indem es über sein bisheriges Leben nachdenke und sich so eine Lebenserzählung zurechtlege, die es seinen Mitmenschen mitteilen könne. Oder um es in den Worten Mark Curries zu sagen: »[T]he only way to explain who we are is to tell our own story, to select key events which characterise us and organise them according to the formal principles of narrative«.15 Dadurch erhalte das Subjekt eine für seine Umwelt wahrnehmbare Identität.

Zweitens sei die gestiftete Identität auf der Ebene der Gesellschaft zu suchen, die Narrative zur Verfügung stelle, an denen sich das Individuum bei der Identitätskonstruktion orientieren könne. Müller-Funk sieht die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen den Identitäten des Individuums und der Kultur darin, »daß es nicht der und die einzelne ist, die die Erzählmuster erfinden«, sondern das Kollektiv.16 Die Kultur stelle diese biographischen Narrative aber nicht nur zur Verfügung, sondern fordere auch, dass sich das Individuum dieser Muster bediene und sich anhand dieser eine möglichst genaue Identität konstruiere, die den Vorstellungen der Gesellschaft entspricht.17 Die biographischen Narrative, welche die Kultur zur Verfügung stelle, orientierten sich an vorhandenen Identitäten einzelner Subjekte. Diese Wechselwirkung zwischen individuellen Lebenserzählungen und den von der Gesellschaft akzeptierten und vorgegebenen biographischen Narrativen sei für eine funktionierende Kultur essenziell.18

Es sei grundsätzlich bemerkenswert, dass wir unser Leben überhaupt in Geschichten denken, schreibt Michael Bamberg.19 Es wäre durchaus auch möglich, dass wir die einzelnen Ereignisse als solche akzeptierten, ohne nach einer Kausalität zu suchen. Und doch täten wir es. Wir hätten die Vorstellung einer Lebensgeschichte, die einen Anfang, einen Schluss und verschiedene Schlüsselereignisse beinhalteten, die alle zusammen einen Sinn ergäben. Bamberg geht davon aus, dass alles menschliche Denken in Geschichten funktioniere und wir so auch das Bedürfnis hätten, dass nicht nur die eigene Biographie einen Sinn ergibt, sondern auch das ganze soziale Gefüge.20

Bei der Entstehung von Narrativen, welche die Kultur als Muster für die individuelle Identitätsfindung anbiete, spielten fiktionale Texte eine wichtige Rolle, denn sie hätten »the potential of opening up territory for exploring identity, reaching beyond traditional boundaries, and testing out novel identities«,21 schreibt Bamberg weiter.

Die identitätsstiftende Wirkung findet sich in Zusammenhang mit dem Trinken insbesondere in jenen untersuchten Novellen, die eine klare pädagogische Funktion erkennen lassen. Aber auch weniger moralische Texte bieten eine Identifizierung mit dem Leben der Figuren an. Die Rezipierenden erkennen ihre eigene alkoholgeprägte Biographie in den Texten wieder oder können sich im Sinne einer Anti-Identifikation von dem Leben trinkender Figuren distanzieren. Eine wichtige Funktion spielen dabei auch die Biographien jener Figuren, die mäßig leben oder gar die Trinkerinnen und Trinker positiv beeinflussen.

Die dritte Ebene der Identitätsstiftung, die Müller-Funk nennt, betrifft die Identität der Kultur selbst. Die Kultur stelle nicht nur identitätsstiftende Narrative für die einzelnen Subjekte bereit, sondern konstruiere eine eigene Identität, die sowohl von Subjekten anderer Kulturen wie auch von jenen der eigenen Kultur wahrgenommen werde. Müller-Funk geht davon aus, dass die Identität solcher abstrakter Megasubjekte »wie Gesellschaft und Nation dadurch in den Status der Erfahrbarkeit versetzt werden, daß sie ›körpernah‹ und alltagsgerecht konstruiert werden«.22 Diese Nähe erfordere eine Abstimmung der Identität des Megasubjekts und jener des Individuums.

Dies trifft auch auf Autorinnen und Autoren der in dieser Arbeit untersuchten Novellen zu. Sie sind Teil der Kultur und ihre Wahrnehmung des Alkoholproblems ist von den übersubjektiv vorhandenen Narrativen geprägt. Die Biographien der Trinkerinnen und Trinker in den Novellen sind also nicht frei erfunden, sondern visualisieren gewissermaßen ein kulturell vorhandenes biographisches Narrativ.

Die beiden Argumente, die Müller-Funk vorbringt, illustrieren, wie fiktionale Texte über die Kultur von Lebenserzählungen realer Personen geprägt werden, wie Lebenserzählungen realer Personen sich über die Kultur an fiktionalen Texten orientieren und wie die Kultur eine eigene Identität aus der Pluralität fiktionaler und realer Lebenserzählungen deriviert. Dass »zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig ist, sondern eine Form der Notwendigkeit darstellt«,23 beschreibt auch Paul Ricoeurs Kreislauf der dreifachen Mimesis: Die Mimesis I zeigt sich in den »symbolischen Vermittlungen der Handlung«.24 Die Erzählung mimt die aus der paradigmatischen Ebene selegierten Handlungen der Realität. Die Mimesis II setzt die einzelnen Handlungsnachahmungen in einem »Konfigurationsvorgang[ ]«25 auf der syntagmatischen Ebene zu einer »intelligiblen Totalität«26 – einer stringenten, verständlichen Erzählung – zusammen, die so konfiguriert wird, dass die Erzählung »in das Reich des Als ob«27 eintritt. In der Mimesis III – und das ist das Spannende an Ricoeurs Modell – wirkt die Erzählung auf die Rezipierenden und löst bei ihnen eine Reaktion aus. So refiguriert die konfigurierte Handlung die reale Handlung der Rezipierenden, die erneut von einer Erzählung gemimt werden kann. Die Erzählung – namentlich auf der Stufe der Mimesis II – wird dadurch zum Mittler zwischen jener Realität vor der Konfiguration und jener danach.

Abb. 1: Paul Ricoeurs Kreislauf dreier Formen der Mimesis. Vgl. Ricoeur, Zeit und Erzählung, S. 87 – 135.

Wie bis hierher gezeigt wurde, eignet sich ein postklassischer Erzählbegriff, der die Grenze der Fiktion überschreitet, für die Untersuchung von biographischen Narrativen der Trinkerinnen und Trinker. Nur wenn davon ausgegangen wird, dass eine Verbindung zwischen den Narrativen in literarischen und jenen in außerliterarischen Texten besteht, können anthropologische Erkenntnisse aus den untersuchten fiktionalen Trinker- und Trinkerinnenbiographien abgeleitet werden. Dennoch dürfen die Methoden der postklassischen Narratologie nicht unreflektiert eingesetzt werden, denn während die klassische Narratologie durch ihre Nähe zum Strukturalismus den Kontext der literarischen Texte ignoriert, muss sich die postklassische Narratologie der Gefahr bewusst sein, textimmanente Strukturen zu Gunsten des kulturellen Kontextes zu vernachlässigen.28 Außerdem könnte unter einer zu offenen Herangehensweise die wissenschaftliche Präzision leiden. Prince beschreibt diese Ausuferungsgefahr der postklassischen Narratologie folgendermaßen: »Du moins pour certains de ses promoteurs et de ses partisans les plus fervents, il semblerait même qu’aucune question, que rien dans les récits ou dans leurs multiples contextes ne lui soit étranger.«29 Kritik an der postklassischen Narratologie beobachtet auch Doris Bachmann-Medick. Der Literaturwissenschaft werde vorgeworfen, »sie würde in Kulturwissenschaft aufgehen«,30 während die Kulturwissenschaften »ihren eigentlichen Gegenstandsbereich« verlören, »ja sie würden in Literaturwissenschaft aufgelöst«.31

Um diesen Gefahren auszuweichen, wird in dieser Studie ein Mittelweg zwischen klassischer und postklassischer Narratologie verfolgt, der es erlaubt, außerliterarische Kontexte mit textimmanenten Strukturen zu verbinden und fiktionale mit außerliterarischen Texten zu vergleichen. Dieser Vergleich bedeutet jedoch nicht die Gleichsetzung von Fiktion und Realität. Tatsächlich finden sich zwar, ebenso wie in literarischen auch in außerliterarischen Texten, »literarische Strategien, Metaphern, Plots und literarische[ ] Genres […], die jeglicher kultureller Wahrnehmung und jeder Kulturbeschreibung, ja allen wissenschaftlichen Untersuchungsprozessen vorgelagert sind«,32 wie Bachmann-Medick schreibt. Die literarischen Merkmale, die seit dem literary turn der Kulturwissenschaften als prägend für praktisch jede Art von Texten angenommen worden seien, fänden sich jedoch nur auf der Textoberfläche. Auch wenn die Wirklichkeit in jedem, auch außerliterarischen Text gewissermaßen konstruiert sei, bedeute das nicht automatisch »eine Literarisierung von Wirklichkeit«.33

Es wird zwar auch in dieser Studie davon ausgegangen, dass, im Sinne des kulturwissenschaftlichen reflexive turns, jede »kulturelle Wahrnehmung und Darstellung«34 von vorherrschenden Erzählmustern geprägt wird und somit ein Konstrukt der Wahrheit ist. Dennoch wird die Grenze zwischen fiktionalen und außerliterarischen Texten klar gezogen. Die biographischen Narrative der Trinkerinnen und Trinker werden textimmanent analysiert, typisiert und mit außerliterarischen Texten sowie Kontexten verglichen. Obwohl dadurch zahlreiche Verbindungen zur außerliterarischen Wirklichkeit hergestellt werden, befindet sich der literarische Text immer im Zentrum der Analysen. Welche Rolle das biographische Narrativ bei dieser Analyse spielt, ist Thema des nächsten Kapitels.

2.2 Biographische Narrative

Der Terminus ›biographisches Narrativ‹, der Christian von Zimmermanns Aufsatz »Der Schimmelreiter«. Theodor Storms Spiel mit biographischen Narra tiven35entnommen ist, wirft zunächst die Frage auf, was in dieser Arbeit unter einem Narrativ verstanden wird. Wolfgang Müller-Funk, auf den sich von Zimmermann in seinem Aufsatz bezieht, ordnet den Narrativen eine sinnstiftende Funktion zu, die sich »nicht auf Grund ihrer jeweiligen Inhalte, sondern auf Grund der ihnen eigenen strukturellen Konstellationen«36 erklären lasse. Das Narrativ ist also jene »Kategorie, die auf das Muster«37 einer Erzählung abzielt, wobei sich die Erzählung – wie im letzten Kapitel gezeigt wurde – nicht nur in der Literatur findet, sondern »ubiquitär in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens«.38 Das »literarische Erzählen«39 stellt dabei lediglich »eine Ausdifferenzierung, den Sonderfall«40 des in einer Kultur allgegenwärtigen Erzählens dar.

Durch die strukturelle Konstellation grenzt Müller-Funk das Narrativ von der ›Narration‹ ab, die sich auf »den Akt und das Prozessuale«41 des Erzählens beziehe. Die ›Erzählung‹ hingegen verwendet er in einem »formal unproblematisierten Allerweltssinn«42 als Überbegriff von Narration und Narrativ. Mit dieser offenen Definition distanziert sich Müller-Funk von der »definitorische[n] Wut«,43 welche die Narratologie teilweise prägte.44 »Einengung schmälert die Ein-Sicht«,45 ist dabei seine Devise.

Auf das literarische Erzählen bezogen erinnert das so definierte Narrativ an den vor allem in der Anglistik verwendeten Terminus ›Plot‹, den der US-amerikanische Autor Edward Morgan Forster (1879 – 1970) etablierte. Die ›Story‹, die Forster als »narrative of events arranged in their time-sequence«46 definiert, erweitert er mittels Kausalität zum Plot: »A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality.«47 Forsters Plot unterscheidet sich jedoch von Müller-Funks Narrativ insofern, dass er sich auf nur genau eine Erzählung bezieht, während das Narrativ ein erzählungsübergreifendes Muster darstellt.

Der in dieser Arbeit verwendete, an Müller-Funk angelehnte Narrativ-Begriff abstrahiert also die konkreten Ereignisse, die vom Plot organisiert werden, zu erzählungsübergreifenden ›Platzhaltern‹, die mit Ereignissen eines bestimmten Typs gefüllt werden können.

Beispielsweise könnte ein basales medizinisches Narrativ die Platzhalter ›Erkrankung‹, ›Behandlung‹ und ›Genesung‹ enthalten. Die Platzhalter ließen sich mit verschiedenen krankheitsspezifischen Ereignissen füllen, die Reihenfolge und die kausalen Bezüge bleiben jedoch immer gleich. Eine Umkehrung der Reihenfolge würde keinen Sinn oder wenigstens eine ganz andere Art von Erzählung ergeben. Die Ereignisse, die in die einzelnen Platzhalter eingesetzt werden können, sind zwar vielfältig, aber nicht beliebig. Sie werden durch die Beschreibung des Platzhalters determiniert.

Solche Platzhalter werden im Folgenden als ›Motive‹ bezeichnet. Dabei wird zwischen Motiven unterschieden, die in einem bestimmten Narrativ unbedingt präsent sein müssen, und anderen, die optional dazukommen können, ohne das Narrativ zu verändern.

Je nach Anzahl vorgegebener Motive lässt sich ein Narrativ in einer größeren oder kleineren Zahl von Erzählungen finden. Das Motiv der ›körperlichen Schädigung‹, um ein Beispiel aus der Novellenanalyse vorwegzunehmen, ist im medizinischen biographischen Narrativ von Trinkerinnen und Trinkern zwingend vorgegeben, der Tod durch übermäßigen Alkoholkonsum hingegen muss nicht in allen Biographien von Trinkerinnen und Trinkern erscheinen. Obwohl der Plot jener Erzählung, die mit dem Tod endet, vom Plot einer Erzählung, in welcher die trinkende Figur den Ausweg aus dem Alkoholelend findet, entschieden abweicht, können beide Erzählungen demselben medizinischen Narrativ folgen.

Dank der flexiblen Anzahl von Motiven eines Narrativs eignet sich dieses Modell, um verschiedene Erzählungen miteinander zu vergleichen. Während die gemeinsamen obligatorischen Motive den Vergleich legitimieren, erlauben fakultative Ereignisse die Differenzierung und Kategorisierung der Erzählungen innerhalb des gewählten Narrativs.

Somit übernehmen Narrative eine doppelte Funktion. Einerseits sind sie intertextuell vorhandene Muster, die in einer Kultur übersubjektiv vorhanden sind und vorgeben, welche Ereignisse in welcher Reihenfolge mit welcher Kausalität in welche Erzählungen integriert werden können. Dadurch geben die Narrative dem Erzählten einen für die rezipierenden nachvollziehbaren Sinn.48 Andererseits bilden die Narrative Analysekategorien, die es erlauben, Erzählungen miteinander zu vergleichen, was bei der Analyse von Trinkerinnen- und Trinkerbiographien relevant ist.

Bevor aber konkret auf die Funktion der Narrative bei der Analyse eingegangen werden kann, muss die zweite Frage geklärt werden, die sich in Bezug auf von Zimmermanns biographisches Narrativ stellt. Was haben Narrative mit Biographien zu tun?

Narrative und Biographien

Dass es sich bei der Biographie um eine Erzählung handelt, wird schon durch die synonyme Verwendung mit der Lebenserzählung deutlich. Ebenso wie bei nicht biographischen Erzählungen sind die selektiven und ordnenden Funktionen des Narrativs bei Biographien erkennbar.

Die sinnstiftende Selektion der Ereignisse anhand eines Narrativs führt unvermeidlich zur Interpretation des beschriebenen Lebens und »nicht selten«, bemerkt Helmut Scheuer, »schreibt sich der Biograph selbst in das fremde Leben ein«.49 Allerdings ist es fraglich, wie stark Biographen oder Biographinnen selbst bestimmen können, welche Narrative ihre Erzählungen organisieren. Sie sind selbst Teil der Kultur, in der ein Narrativ der Biographie vorhanden ist. Ein Verstoß dagegen würde dazu führen, dass die Erzählung nicht mehr als Biographie wahrgenommen würde. Dennoch sind Biographien immer – auch wenn das Erzählmuster nicht frei gewählt werden kann – Interpretationen des Lebens durch die Selektion, Ordnung und Bewertung der Ereignisse anhand eines kulturell bedingten Narrativs. Wie Maria Osietzki aufzeigt, folgen sogar wissenschaftliche Biographien, welche die Entwicklung des Wissens einer biographierten Person akribisch genau rekonstruieren, »einer spezifischen Epistemologie, die sich ihrerseits historisch wandelt[ ]«50 und somit je nach Zeitpunkt der Entstehung die Fakten anders beleuchtet.

Um der dadurch entstehenden Verfälschung der Realität vorzubeugen, und um die »Orientierung an den Interessen einer jeweiligen Gegenwart«51 zu vermeiden, gab es im 19. Jahrhundert die Bestrebung, Lebensdarstellungen vollständig faktenbasiert und wertfrei zu gestalten.52 Das Ergebnis waren schier endlose Faktensammlungen, die zwar eine objektive Wiedergabe vieler Quellen leisteten, das Leben als Ganzes aber dennoch nicht authentischer zu beschreiben vermochten.53 Die Idee eines vollständigen, interpretationsfreien Lebensarchivs, welches objektiver ausfallen würde als selektive und interpretative narrative Biographien, scheitert bereits an den Grenzen der Dokumentation. Denn alles, was auf irgendeine Weise dokumentiert wurde – als Brief, Tagebuch oder amtliches Dokument –, ist bereits das Ergebnis einer Selektion. Ebenso verhält es sich mit menschlichen Zeitzeugen: Sie dokumentieren ausschließlich, was sie miterlebt haben, und auch das nur partiell.

Den Vollständigkeitsbestrebungen entgegengesetzt stehen die Verfechter des Plutarch’schen Biographieverständnisses. Plutarch (45 – 120) betont in der Lebensbeschreibung Alexandros’, dass er »Biographien, aber keine Geschichte«54 schreibe. In der Biographie Nikias’ bemerkt er, dass er nur jene Ereignisse – die Thukydides und Philistos bereits unübertrefflich und objektiv geschildert hätten – wiedergeben werde, die »den Charakter und die unter einer Menge großer Schicksalsschläge versteckte Gesinnung des Mannes am besten enthüllen«.55 Seinen Fokus aber richtet er auf noch unbekannte Zeugnisse, welche der »Beurteilung des Charakters und der Haltung«56 dienen. Die »Beurteilung« ist also die zentrale Intention solcher Biographien. Sie sollen ein Menschenleben so darstellen, dass es entweder nachahmenswert oder abschreckend wirkt. Das Conversations-Lexikon von 1816 schreibt dazu:

Was ist geschickter, uns zu belehren, uns gegen die Lockungen des Lasters zu verwahren, und in der Noth und Gefahr zu erheben und zu ermutigen, uns zu edlen Thaten anzufeuern, als die Beispiele, welche die Geschichte uns aufstellt?57

Diese Belehrung funktioniert über die Auswahl von Lebensereignissen, die eine moralische Wertung oder allgemeiner eine ethische Reflexion begünstigen. Das ist nur möglich, wenn die Biographie von einem Narrativ organisiert wird, das aktuell in der Kultur akzeptiert wird. Gemäß diesem Narrativ wählt der Autor oder die Autorin, mehr oder weniger bewusst, die beschriebenen Lebensereignisse und präsentiert den Rezipierenden, die mit diesem biographischen Narrativ vertraut sind, jene Ereignisse, die sie für nachahmungs- beziehungsweise ablehnungswert empfinden.

Jede Biographie, welche das Leben realer Menschen erzählt, selegiert also die erzählten Ereignisse anhand eines bestimmten in der Kultur vorherrschenden biographischen Narrativs. Dies gilt ebenso für Biographien von fiktiven Figuren. Diese werden durch dieselben biographischen Narrative organisiert und unterscheiden sich nur dadurch von den Biographien realer Menschen, dass sie keinen Wahrheitsanspruch durch Faktizitätssignale suggerieren. Ebenso wie Biographien realer Personen bieten sie den Rezipierenden über das kulturell akzeptierte biographische Narrativ eine Identifikationsmöglichkeit.

Betont die Biographie ehrenhafte Taten, wie zum Beispiel jene Fridolin Walters, der in Zschokkes Brannteweinpest58 eine ganze Gemeinde zur Abstinenz überredet (vgl. Kap. 3.1.2), soll sie jene Rezipierenden bestärken, die sich mit der Biographie identifizieren können, und alle anderen zur Nachahmung motivieren. Negativ konnotierte Biographien hingegen, wie zum Beispiel jene der Frauen in Gotthelfs Fünf Mädchen,59 warnen jene Rezipierenden, die sich nicht mit der Biographie identifizieren können, und rütteln jene wach, die sich darin wiedererkennen. Die positive oder negative Konnotation der Biographien lässt sich in den untersuchen Novellen auf zwei Ebenen beobachten:

1. Es existiert eine textimmanente Instanz – meist eine Autorität wie der Pfarrer, der Gemeindeschreiber oder der Arzt –, welche die Biographie kommentiert. Oft ist es auch die Erzählinstanz selbst, die diese Aufgabe übernimmt.

2. Es werden Ereignisse betont, von denen der Autor oder die Autorin vermutet, dass die Rezipierenden diese entweder als anständig und der Norm entsprechend oder als unanständig und deviant empfinden. Bei der Auswahl solcher Ereignisse ist das biographische Narrativ entscheidend.

Narrative und Menschenbilder

Wenn nun jede Lebensgeschichte – die eigene, jene anderer Menschen sowie jene literarischer Figuren – in Relation zu anderen Biographien konstruiert wird, stellt sich die Frage nach dem Ursprung der nachahmenswerten oder abschreckenden biographischen Narrative. In diesem Zusammenhang sprechen Barsch und Hejl von Menschenbildern.

Zum Mensch-Sein gehört es offenbar, daß wir eine Vorstellung davon haben, was »den Menschen« – und damit auch uns – »eigentlich« kennzeichnet. Die Vorstellung, die wir von uns haben – unser Menschenbild –, ist eine fundamentale Grundlage unseres Selbstverständnisses und jeder bewußten Gestaltung unseres Soziallebens. Mit unserem Menschenbild bestimmen wir, was wir als unsere fundamentalen Eigenschaften annehmen, d.h. vor allem, welche Bedürfnisse und Handlungstendenzen wir uns zuschreiben, evtl. auch, worin die Ziele menschlichen Lebens bestehen […] und welche Werte Menschen als fundamental ansehen (oder ansehen sollten).60

Je nach vorherrschendem Menschenbild ändert sich die Vorstellung davon, was einen ›guten‹ Menschen ausmacht und welche Ereignisse das Individuum so beeinflussen, dass das angestrebte Idealbild erreicht werden kann. Das Menschenbild ist gewissermaßen das Bild, das anhand eines biographischen Narrativs von einem typischen Menschen gezeichnet wird.

Das Menschenbild sei ein von einer Gruppe als richtig akzeptiertes Vorstellungssystem und entspreche nie einer Einzelmeinung, schreiben Barsch und Hejl.61 Jedes Individuum trägt mit seiner Vorstellung zum Menschenbild bei, während umgekehrt jedes Individuum seine Vorstellung des Menschen am kulturellen überindividuellen Vorstellungssystem orientiert. Das Menschenbild ist somit Teil jenes »Bedeutungsgewebe[s]«,62 das Geertz als Kultur definiert und an dem jedes Individuum mitwebt.

So determiniert das Menschenbild für das Individuum auch scheinen mag, ist es doch konstant in Bewegung und wird – »wie andere Wirklichkeitskonstrukte, die in den kulturellen Prozeß eingehen – im Handeln erprobt, mit anderen Wirklichkeitskonstrukten verglichen und dabei verändert«.63

Diese unbewusste Veränderung findet ständig statt – seit sich der Mensch als Mensch wahrnimmt. Barsch und Hejl nennen drei Gruppen von Faktoren, welche die Diversifikation des Menschenbildes aktiv beeinflussen: 1. Das vorherrschende Menschenbild verliert an Überzeugungskraft. 2. Es entstehen neue Ideen, welche als relevanter für das Verständnis des Menschen angesehen werden als die alten. 3. Die Mitglieder einer Gruppe entfernen sich ideologisch so weit voneinander, dass das alte Menschenbild nicht mehr konsensfähig ist.

Insbesondere die Etablierung neuer Ideen kann aktiv durch Mitglieder der Gruppe akzeleriert werden. Damit diese in das allgemein akzeptierte Bedeutungsgewebe einfließen können, bedarf es jedoch einer Autorität. In der christlichen Welt oblag diese lange der Kirche. Erst das entstehende Bürgertum, das mit der Aufklärung und der Industrialisierung einen erheblichen Machtzuwachs erfuhr, vermochte die Dominanz der Kirche in Frage zu stellen und ebnete den Weg für neue rationalistische Menschenbilder.64

René Descartes’ (1596 – 1650) Bild eines mechanischen Menschen zum Beispiel wurde von der Kirche nur deshalb akzeptiert, weil sie den Dualismus von Körper und Seele nicht in Frage stellte. Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751) hingegen, der Descartes’ Mechanismus in seiner erstmals 1747 anonym erschienenen Abhandlung L’homme machine weiterentwickelt, der Seele jedoch einen rein biologischen Ursprung zuschreibt, musste vor der Kirche aus Frankreich fliehen.65 Seine Schrift sei als »durchweg skandalöses Pamphlet« abgelehnt worden, das »eine gefährliche Attacke gegen die Allianz von Kirche, Staat und Gesellschaft darstellte«,66 schreibt Claudia Becker in der Einleitung zu ihrer 2009 erschienenen Übersetzung Die Maschine Mensch.

Erst die Theorie Franz Joseph Galls (1758 – 1828), die Emotionen und kognitive Funktionen im Gehirn – einem körperlichen Organ – verortet, und jene Johann Caspar Lavaters (1741 – 1801), die einen direkten Zusammenhang zwischen sichtbaren körperlichen Merkmalen und dem Zustand der Seele annimmt, konnten den Dualismus von Körper und Seele ernsthaft in Frage stellen.67