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"Ich glaube, du kannst eine Freundin gut gebrauchen." Eine sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Mein Name ist Tristia, ich bin deine kleine Traurigkeit." Ungläubig schaute ich sie an. Ein zehnjähriges Mädchen sitzt, nachdem die Schule zu Ende ist, an einem schönen Frühlingstag allein auf dem Schulhof. Trotz des Glitzerns der Sonnenstrahlen auf der Oberfläche eines Flüsschens und des sprießenden Grüns um sie herum, empfindet sie eine seltsame Traurigkeit. Was ist es, das diese Traurigkeit, inmitten von blühenden Blumen und wärmenden Sonnenstrahlen, so mächtig sein lässt, dass das Mädchen all das gar nicht wahrnimmt? Warum sitzt sie allein dort auf dem Schulhof? Die Ich-Erzählerin lässt uns in ihrer autobiografischen Geschichte Einblicke nehmen in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Kindes, welches sich als Außenseiter wahrnimmt, weil es anders ist als andere, nämlich dick und das aus diesem Grund von seinen Mitschülern gemobbt wird. Sie erzählt berührend und eindrücklich, wie eine anfangs kleine Traurigkeit in ihr langsam größer wird und nach und nach immer mehr Raum in ihrem Leben einnimmt schließlich irgendwann die Fähigkeit, Freude zu empfinden, gänzlich verdrängt. Sie erzählt aber auch von der Möglichkeit, dies selbst zu überwinden und macht uns Mut, an diese innere Kraft zu glauben, es zu versuchen und niemals aufzugeben.
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Katha Seyffert
Tristia, meine kleine Traurigkeit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1
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4
5
6
7
8
9
10
Fragen zur Geschichte
Ansprechpartner
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Impressum neobooks
Ich erinnere mich noch genau, wie mir Tristia zum erste Mal begegnete. Es war eine Zeit noch ohne Computer und Handy. Ich war 10, ging in die 5. Klasse, lebte mit meiner Mutter allein in einer mittelgroßen Stadt, und - ich war dick.
Wie so oft saß ich nach dem Unterricht noch am Rand des Schulhofs auf meiner Lieblingsbank. Es war der erste warme Frühlingstag, einige Blumen blühten schon und die Bäume trugen zarte Blattspitzen. Normalerweise genoss ich das erste Grün, die ersten Farben des Frühlings und das Zwitschern der Vögel. Aber heute konnte mich nicht einmal das Glitzern der Sonne auf den Wellen des vorbeifließenden Flüsschens erfreuen, welches ich durch den Zaun sehen konnte.
Eine seltsame Traurigkeit erfüllte mich. Seltsam, weil es zum traurig sein eigentlich keinen Grund gab.
Es ist ein guter Schultag gewesen, einer, an dem mich meine Klassenkameraden in Ruhe gelassen hatten. Niemand hatte mich geärgert, gehänselt oder ausgelacht, ich hatte keine schlechte Note bekommen, und ich war am Nachmittag mit meiner Freundin Lisa verabredet. Warum also fühlte ich mich dann so betrübt?
„Ich glaube, du kannst eine Freundin gut gebrauchen.“ Eine sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Neben mir saß plötzlich eine kleine dunkle Gestalt, die wie verschwommen wirkte. Ich rieb mir die Augen. Da formte sich die Gestalt zu einem Mädchen, einem Mädchen, das aussah wie ich, nur dass sie viel kleiner und ganz grau war. Es kam mir vor, als schaute ich in einen Spiegel, dem die Farben fehlten. Ihre Kleidung, Haare, Haut, Lippen - alles grau in grau und irgendwie halb durchsichtig. Einzig ihre Augen waren wie meine, blau. Merkwürdigerweise beunruhigte sie mich nicht. Im Gegenteil: Als sie leicht lächelte, spürte ich eine Vertrautheit, eine eigenartige Verbundenheit.
„Mein Name ist Tristia, ich bin deine kleine Traurigkeit.“ Ungläubig schaute ich sie an.
„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie eine Reaktion erwartete.
Verunsichert wich ich ihrem Blick aus und sah einem vorbeifliegenden Vogel nach.
„Wenn du möchtest, können wir Freundinnen werden, beste Freundinnen, die alles miteinander teilen, die sich alles erzählen, die immer füreinander da sind.“ Ihre Stimme klang, als meinte sie es ernst.
Tristias Worte versetzten mir einen Stich, und ich sprang auf.
„Ich habe eine Freundin!“ rief ich energisch, als wollte ich mich selbst davon überzeugen. Ich schnappte meine Schultasche und machte mich mit schnellen Schritten auf den Heimweg.
„Bist du dir sicher? Warum sitzt du dann allein hier?“ rief mir Tristia nach.
Zu Hause angekommen, wärmte ich mir das vorbereitete Essen auf. Danach erledigte ich die Hausarbeiten, die meine Mutter mir per Zettel aufgetragen hatte. Sie schrieb, dass es am Abend wohl etwas später werden würde und:
„Vielleicht kannst Du bei Lisa Abendbrot essen? Hab einen schönen Tag. Mutti“
Die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um die Begegnung mit Tristia. So beschloss ich, ein Bild von ihr zu zeichnen. Vielleicht, um es jemandem zu zeigen? Sollte, könnte ich jemandem von Tristia erzählen? Meine Mutter war immer sehr müde, wenn sie von der Arbeit kam und hatte sicher keinen Kopf für seltsame Geschichten. Und Lisa? Würde sie mir glauben, wie reagieren?
Ungefähr eine Woche später wartete ich wieder auf meiner Lieblingsbank darauf, dass alle anderen Schüler gegangen waren, um ihnen auf dem Heimweg nicht zu begegnen. Wieder fühlte ich diese tiefe Traurigkeit, aber diesmal hatte ich einen Grund: Es war ein übler Tag, ich hätte allen Grund gehabt, immer noch wütend zu sein. Wut hätte ich irgendwie rauslassen, mich abreagieren können, dann wäre es mir besser gegangen. Aber da war nur diese Traurigkeit.
„Willst du mir erzählen, was geschehen ist?“ Tristia saß plötzlich neben mir.
Ich schüttelte wortlos den Kopf und senkte den Blick.
Tristia rutschte dicht an mich heran. So konnte ich spüren, dass von ihr eine wohlige Wärme ausging. Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Da legte sie ihren Arm um mich, und langsam durchdrang ihre Wärme meinen ganzen Körper.
Sie flüsterte: „Reden befreit, versuch es nur.“
Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus mir heraus, als hätte sie einen Knopf gedrückt:
„Kai hat diesmal angefangen. In der großen Pause stand ich mit Lisa an der alten Eiche. Kai schlich sich von hinten an, riss mir die Schultasche aus der Hand, hielt sie mir hin und sagte: 'Hier, nimm sie dir, wenn du kannst.'
Ich griff nach meiner Tasche. Da rannte er los.
'Na komm schon, hol sie dir!' rief er.
Ich rannte hinterher, aber natürlich, dick wie ich bin, konnte ich ihn nicht einholen.
Immer wieder blieb er stehen und rief:
'Komm schon, Schwabbelschwarte! Schon müde?'
Wenn ich ihn fast eingeholt hatte, rannte er lachend ein Stück weiter. Ich wurde wütend, lief so schnell ich konnte, Tränen liefen mir über das Gesicht.
Ich brüllte: 'Gib mir meine Tasche, du Idiot!'
So ging es immer rund um die Eiche. Inzwischen schauten die anderen meiner Klasse und die Großen aus der 6. zu. Alle lachten und feuerten mich höhnisch an.
'Ja, du schaffst es, gleich hast du ihn eingeholt!
Schneller, Schwabbel, schneller!'
Ich aber, völlig außer Puste, musste stehen bleiben. Kai war inzwischen auf der Höhe von Lisa und warf ihr die Tasche zu. Schwer atmend ging ich auf Lisa zu, die mir meine Tasche reichte.
Alle grölten, riefen: 'Buhh! Schiebung! Specky soll laufen!'