Trocken, aber nicht geheilt - Richard Müller - E-Book

Trocken, aber nicht geheilt E-Book

Richard Müller

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Beschreibung

Richard Müller hat 14 Jahre Abstand zum ­Alko­­­hol, als er diesen schonungslos offenen und persön­lichen Bericht über seinen Weg aus der ­Alko­hol­sucht schreibt. 30 lange Jahre, in denen der Autor zunehmend abhängig wurde, weit abgestürzt »hart« aufschlägt und sich über drei stationäre und verschiedene ambulante Thera­pien langsam und mit diversen Rückschlägen ins Leben zurückkämpft. Irgendwann trifft er die wichtigste Entscheidung für sein weiteres Leben und das seiner Familie: die Entscheidung gegen den Alkohol. Mit dem Ziel, anderen Suchtkranken eine Hilfe aus ihrer Sucht anzubieten, beschreibt er die ver­schie­de­nen Ausprägungen seiner Erkrankung, versucht die Ursachen der Sucht zu ergründen und stellt Faktoren zusammen, die zum Erreichen und Bewahren einer Langzeitstabilität beitragen können.

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Richard Müller

Trocken, aber nicht geheilt

Richard Müller

Trocken,aber nichtgeheilt

Mein Weg aus der Alkoholsucht

R. G. Fischer Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2025 by R. G. Fischer Verlag

Sontraer Str. 13, D-60386 Frankfurt/Main

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Bergamo 11pt

Herstellung: rgf/1A

ISBN 978-3-8301-1958-6 EPUB

Widmung

Dieses Buch ist den Menschen gewidmet, die mich auf meinem schweren Weg liebevoll begleitet haben, die mir immer wieder Kraft gegeben haben, die durch meine Erkrankung unvorstellbaren Schmerz durchlitten haben und dennoch bei mir geblieben sind. Meine Ehefrau und meine beiden Kinder haben mir immer wieder Halt gegeben und sind auch in einer im Grunde völlig hoffnungslosen Situation einfach nur dagewesen. Die Belastung, bedingt durch die vielfältigen Facetten der fortschreitenden Erkrankung hat oftmals den Rahmen des Erträglichen weit überschritten.

Heute, mit einem Abstand von ca. 14 Jahren und einer Genesung in einem zum damaligen Zeitpunkt nicht zu erwartendem Ausmaß, geht es uns allen wirklich sehr gut und ich hoffe, den drei wichtigsten Menschen in meinem Leben im Laufe der kommenden Jahre aktiv wenigstens einen Teil dessen zurückgeben zu können, was uns letztlich unser Überleben als Familie ermöglicht hat.

In Liebe und Dankbarkeit für meine Ehefrau, meinen Sohn und meine Tochter.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Teil I – Meine eigene Geschichte

Ein Blick zurück in die schmerzvolle Zeit

Wie konnte es zur Alkoholabhängigkeit kommen?

Was ich versuche, für jeden verständlich weiterzugeben

Glaubenssätze und deren Auswirkungen

Meine erste Liebe und der Schmerz

Der erste gravierende Fehler in meinem Leben

Der Einstieg in die stoff liche Abhängigkeit

Ein Mittel, mit dem es mir schlagartig besser geht

Eine erste rückblickende Einordnung

Bundeswehr und Wechsel zum Elektrotechnikstudium

Der zweite gravierende Fehler in meinem Leben

Meine erste Arbeitsstelle ohne wirkliche Chance

17 Jahre beruf liche Entwicklung mit Alkohol

Ein überforderter Therapeut kann den Tod bedeuten

Teil II – Die Facetten meiner Erkrankung

Der weitere Inhalt und meine Probleme damit

Mediziner, Suchttherapeut und Betroffener

Unsere Grenzen realistisch einschätzen

Die Anonymen Alkoholiker

Die Selbsthilfegruppe

Meine eigenen Erfahrungen

Eine Online-Selbsthilfegruppe als Perspektive?

Ich bin Alkoholiker

Der Schwarze Panther – ein Teil von mir?

Das 12-Schritte-Programm

Mein 7-Punkte-Konzept

Sucht und was das bedeutet

Wie überhaupt entwickelt sich eine Sucht?

Suchtdruck und Wohlbefinden

Ein Blick von außen auf unsere Gesellschaft

Mein Einstieg in die ambulante Therapie

Meine erste stationäre Therapie

Mein katastrophaler Rückfall nach drei Wochen

Der Verlust meiner Fahrerlaubnis

Der Verlust meiner Familienbindung

Meine zweite stationäre Therapie

Hart aufgeschlagen

Die Tür ist zu – Geschlossene Abteilung

Jetzt lebe ich allein – ist das noch lebenswert?

Meine Fahrerlaubnis ist zurück

Meine dritte stationäre Therapie

Mein Überlebenstherapeut

Im Stadtpark

Therapieeinrichtung oder Luxushotel?

Teil III – Mein Ausstieg ins Leben

Der letzte Alkoholeinkauf

Woher kommt die Kraft gegen den Alkohol?

Zwei Wochen zwischen Leben und Tod

Jetzt habe ich meinen einzigen Feind erkannt

Erst einmal keine Perspektive

Die Chance für einen Wiedereinstieg

Viele Dinge gehen mir durch den Kopf

Einmal Alkoholiker – immer Alkoholiker

Der Alkohol wird mir fehlen

Dankbarkeit dafür, dass ich überleben durfte

14 Jahre Abstand und unser Leben ist lebenswert

Teil IV – Was uns vielleicht helfen kann

Was mich vor einem Rückfall schützt

Gesund, aber nicht geheilt

Der zeitliche Abstand schützt nicht vor einem Rückfall

Nicht jeder wird zwangsläufig alkoholsüchtig

Schuld haben die anderen?

Wer zum Therapeuten geht, ist verrückt

Welcher Therapeut kann das Alkoholthema überhaupt therapieren?

Die Hilfsbedürftigen sind eher außerhalb der Klinik

Sind wir als Alkoholiker weniger wert?

Wo finden wir andere, denen es geht wie uns?

Die Online-Selbsthilfegruppe als echte Alternative?

Muss ich in der Selbsthilfegruppe etwas sagen?

Mich meinem Thema zu stellen, bedeutet Selbstachtung

Ist es von Bedeutung, dass andere auf mich herabsehen?

Wenn wir über die Brücke gehen, lassen wir andere zurück

Ich gebe meine Erfahrungen weiter – wenn gewünscht

Ich bin gesund, aber nicht mehr der »Alte«

Vorwort

Die Entstehung dieses Buches hat sich über etwa 14 Jahre erstreckt. Zeit, die ich benötigt habe, um die vielen Erlebnisse, Eindrücke, Situationen und Gefühle zusammenzutragen und in einen schriftlichen Rahmen zu bringen, welcher das möglichst unverfälscht und vor allem nachvollziehbar wiedergibt, was über den Zeitraum von gut 30 Jahren passiert ist. Zeit, die erforderlich war, um im Rückblick auf mein gesamtes Leben die zurückliegenden Ereignisse bzw. Entwicklungen Stück für Stück zu verstehen und mit dem Wissen zu beleuchten, das sich nach und nach durch mein Leben, meine stationären und ambulanten Therapien und die Informationen aus verschiedenen Büchern entwickelt hat.

Dass ich noch am Leben bin, verdanke ich, neben meinem ersten und zweifelsohne wichtigsten Therapeuten, vor allem meinem langjährigen Kardiologen (im Weiteren nenne ich ihn deshalb »Überlebenstherapeut«), der sich im Rahmen unserer Zusammenarbeit für mich zum zweiten Suchttherapeuten entwickelt hat. In der kritischen Phase meines Lebens ist mein Kardiologe vorbehaltlos bei mir geblieben und das als Einziger, nachdem alle anderen aufgegeben hatten. Mehr als einmal bin ich in einem schlimmen Zustand in seiner Praxis aufgeschlagen und er hat sich viel Zeit genommen und versucht, mich zu verstehen. Im Blick hatte er damals sicher auch unsere Familie als Ganzes.

Eine der Facetten meiner damaligen Erkrankung war das Lügen. Heute weiß ich, dass Lügen Bestandteil der Erkrankung ist und ein erfahrener Therapeut damit umgehen können muss und insbesondere Lügen nicht persönlich nehmen darf. Leider waren nicht alle meine Therapeuten auf diesem Stand. Rückblickend weiß ich heute, dass ein Suchttherapeut, der das Lügen persönlich als Vertrauensbruch deutet und damit nicht zurechtkommt, weil er sich hintergangen fühlt, nicht die Fähigkeit besitzt, diesen Patienten erfolgreich aus seiner Lebenskrise herauszuführen. Mehr noch wäre es sicher überlebenswichtig für den betroffenen Patienten, wenn derartige Therapeuten sich auf die Behandlungsbereiche beschränken würden, in denen sie aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrungen nicht überfordert werden und somit auch keinen Schaden anrichten können.

Im Weiteren verdanke ich meine heutige Stabilität meiner langjährigen aktuellen Therapeutin, die mich bis heute unermüdlich, aber auch mit einer gewissen konsequenten Strenge begleitet und mir auch jetzt noch, in einem etwas weiter gesteckten zeitlichen Rahmen, das Gefühl einer sicheren Anlaufstelle gibt. Nach der Gesundung bzw. Genesung von einer Suchterkrankung ist ein wesentlicher Teilaspekt zum Erreichen einer Langzeitstabilität eine begleitende Unterstützung über einen gewissen, im Einzelnen möglicherweise sehr unterschiedlich langen, Zeitraum.

Den Einstieg in die ambulante Therapie verdanke ich meinem ersten Therapeuten, der mich mit sehr viel Liebe und Geduld an einen Punkt geführt hat, an dem ich das erste Mal in meinem Leben in der Lage war, mich behutsam zu öffnen. Er hat mit mir zusammen die ersten beiden stationären Therapien vorbereitet und auch mein Totalversagen in der ersten Therapie aufgearbeitet. Er war immer für mich da und das, obwohl ich immer wieder gelogen habe, lange die Wahrheit nicht erkannt habe und ihm gegenüber im Verhalten ungerecht und manchmal auch respektlos war. Mehr möchte ich an dieser Stelle dazu nicht vorwegnehmen. Die Früchte der Arbeit mit diesem in Bezug auf das Suchtthema wichtigsten Menschen in meinem Leben spiegeln sich in vielen Kapiteln wider, in denen ich versuchen will, die Erfahrungen, das Gelernte, den damit verbundenen Schmerz und viele andere Dinge darzustellen. Mit diesem Menschen über viele Jahre und über lange Strecken meines Abstiegs zusammenarbeiten zu dürfen, ist für mich aus heutiger Sicht das vielleicht größte Geschenk, das ich in meinem Leben erhalten habe. Erkannt habe ich dies erst sehr viel später, als ich, nach meinem Absturz wieder ins Leben zurückgefunden habe.

Die Zeit der ersten gedanklichen Sortierung, des »wieder ins Gedächtnis rufens« vieler Erlebnisse, teils positiv, teils negativ und teilweise schwer belastend, hat bei mir immer wieder sehr schmerzliche Erinnerungen hervorgerufen. Irgendwann, den Zeitpunkt kann ich heute nicht mehr genau bestimmen, habe ich, nach langem Hin und Her, den Entschluss gefasst, meinen Weg in die Erkrankung und meine Genesung schriftlich festzuhalten und damit aufzuarbeiten. Niederzuschreiben, um einerseits das Erlebte intensiv Stück für Stück zu ref lektieren, und andererseits, um direkt betroffenen Menschen oder auch deren Angehörigen die unterschiedlichen Ausprägungen der Alkoholsucht zugänglich zu machen.

Bedingt durch meine langjährige Erkrankung, die damit verbundenen Erfahrungen und die sich durch die konsequente Arbeit sowie eine intensive Unterstützung von außen entwickelnde Heilung bin ich heute gesund, aber nicht geheilt. Was genau diese Unterscheidung bedeutet, erläutere ich in einem separaten Kapitel näher. Die von mir erfahrenen Abläufe und Mechanismen, dessen bin ich mir ganz sicher, können nur von denjenigen Menschen wirklich in der Tiefe verstanden werden, die diesen Weg selbst gegangen sind, und zwar vom ersten Tag der Erkrankung bis hin zur Gesundung.

Viele der vom Zellgift Alkohol stark geschädigten Menschen sind zum Zeitpunkt des Ausstieges, sofern sie diesen überhaupt erleben dürfen, sowohl physisch als auch geistig so sehr zerstört, dass sie ihre eigenen Erlebnisse nicht mehr verständlich nach außen kommunizieren können. Diejenigen, die das Glück haben, noch oder wieder ihren Verstand einsetzen zu können, haben umso mehr die Verantwortung, das Erfahrene weiterzugeben. Im Interesse von uns allen ist es unabdingbar, einen Weg zu finden, der sich nicht schwerpunktmäßig auf die Behandlung bereits eingetretener bzw. fortgeschrittener Erkrankungen konzentriert. Vielmehr ist es an der Zeit, da zu beginnen, wo die Gründe für krankhafte Veränderungen ihren Ursprung haben.

Einleitung

In meiner Kindheit und auch in meiner Jugendzeit gab es einige Erlebnisse, die mein ganzes weiteres Leben zentral beeinf lusst haben. Dinge, über deren Tragweite ich mir zunächst nicht im Ansatz im Klaren war und die erst viel später Folgeereignisse ausgelöst haben, deren Ursachen mir dann zum jeweiligen Zeitpunkt ebenso wenig bewusst waren. Erst heute, nach einem langen, manchmal sehr schmerzhaften und teilweise lebensbedrohlichen Weg, bin ich (aus dem Zustand der Gesundung heraus) in der Lage, Ursachen und Wirkungen in ihrem Zusammenspiel zu verstehen und auch die daraus gezogenen Erkenntnisse für mich umzusetzen. Über lange Zeit hinweg habe ich nach und nach gespürt, dass ich den Kontakt zu mir selbst irgendwann verloren habe. Durch meine stark technikorientierte Ausbildung und die damit einhergehende Lebenssichtweise war mir lange Zeit der Zugang zu meiner eigenen Gefühlswelt komplett versperrt. Für mich ist so eine Situation entstanden, in der es mir nicht möglich war, bei mir zu bleiben und auf diese Weise mein eigenes erfülltes Leben zu entwickeln.

Heute, da ich all diese Dinge niederschreibe, ist mir klar, dass jeder Mensch nur dann wirklich (über)leben kann, wenn er die Chance bekommt, seinen eigenen Weg zu finden und diesen dann auch zu gehen. Was mich betrifft, so war ich nicht in der Lage, bei mir zu bleiben, weil ich nicht gelernt hatte, an erster Stelle zu mir zu finden und mich so zu akzeptieren, wie ich bin (also erst einmal den liebevollen Umgang mit mir selbst zu erlernen). Den liebevollen Umgang mit mir selbst zu erlernen ist etwas, für das ich etwa 50 Jahre benötigt habe. Jahre, in denen ich immer wieder mehr bei all den anderen als bei mir selbst war oder auch geblieben bin.

Meine Entwicklung war geprägt von Zeiten der Liebe, der Freunde und Glückseligkeit, aber auch, von einem gewissen Zeitpunkt an, von Zeiten der Sehnsucht, der tiefen Traurigkeit und dem Gefühl einer unerträglichen Einsamkeit. Bedingt durch mein Elternhaus und, wie mir erst heute klar ist, durch mein eigenes Wesen im Zusammenwirken mit meinem Umfeld, haben sich frühzeitig feste Verhaltensmuster bei mir eingestellt. Verhaltensmuster, die ich zum einen aus der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, zum anderen aus dem Willen zum Überleben heraus entwickelt habe.

Wir alle, dessen bin ich mir ganz sicher, sind erfüllt von einer tiefen Sehnsucht nach Liebe, Wärme und Geborgenheit. Das Nichterreichen oder auch Bewahren dieser wertvollen Güter ebnet den Weg in eine Erkrankung, die sich schleichend und somit oftmals unbemerkt entwickelt. Wenn wir den Kontakt zu uns selbst verloren haben, dann sind wir naturgemäß auch nicht in der Lage, einen wirklichen Kontakt zu anderen Menschen bzw. Lebewesen aufzubauen. Die zwangsläufig daraus entstehende Isolation zu uns selbst und zu anderen Lebewesen macht uns einsam und verletzbar. Wir sind soziale Wesen und können deshalb auf Dauer in der Einsamkeit nicht überleben.

Aus dieser Situation heraus, gekoppelt mit der sich abzeichnenden Perspektive, dass unser Zustand womöglich so bleiben wird, entwickeln wir Mechanismen, um den Schmerz abzustellen oder zumindest ein Stück weit zu lindern. Aus der Sehnsucht (nach Lebensqualität) heraus suchen wir uns Methoden bzw. Hilfsmittel, die uns dahin bringen können. Hilfsmittel, die uns Besserung versprechen oder in Aussicht stellen … scheinbar.

Ein Mechanismus, der heute zunehmend zur Anwendung kommt, ist der Konsum unseres »Freundes Alkohol«. Er verspricht eine schnelle, problemlose, für jeden erschwingliche »sofortige Gefühlsaufhellung«. Millionen von Menschen führt er so schleichend, aber ebenso unaufhaltsam in den sicheren Tod oder in ein perspektivloses Dahinvegetieren. Die Angehörigen oder andere direkt und indirekt Betroffene werden auf diese Weise oftmals selbst in eine schwere Lebenskrise geführt, aus der viele nur mit immensen psychischen und physischen Schäden herauskommen – wenn überhaupt.

Bedingt durch einen kurzfristigen Erfolg in Richtung Schaffung oder Verbesserung der ersehnten Lebensqualität durch die schleichende Entwicklung stoffgebundener und nichtstoff licher Abhängigkeiten oder Süchte, gehen wir in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter. Wir gehen weiter, in dem täuschenden Bewusstsein, jederzeit umkehren zu können. Und so überschreiten wir irgendwann den »Point of no Return«.

Wenn wir dann irgendwann vielleicht das Glück haben, zu erkennen, dass wir auf dem falschen Weg sind, dann hat jeder von uns die Möglichkeit umzukehren, zu jedem Zeitpunkt. Wir selbst müssen die Entscheidung zur Umkehr treffen. Die Entscheidung für uns selbst, für unser Leben, denn niemand anderer kann diese Entscheidung für uns treffen. Kein anderer kann diesen, unseren Weg für uns gehen und kein anderer trägt die Verantwortung dafür.

Teil I Meine eigene Geschichte

Ein Blick zurück in die schmerzvolle Zeit

Nach langen Jahren voller Schmerz, Kummer und teilweise unvorstellbarem Leid für mich, aber vor allem für meine Familie stehe ich nun an einem Punkt in meinem Leben, von dem aus ich »aus dem Sonnenlicht zurück in den dunklen Schatten« blicke. Es fühlt sich sehr befremdlich an. Obwohl das Ganze gerade einmal 14 Jahre zurück liegt, kommt es mir so vor, als hätte ich viele Jahrzehnte Abstand, ja, manchmal, wenn meine Gedanken in die Vergangenheit eintauchen, nehme ich mich mehr als einen Beobachter oder eher als fiktiven Zuhörer meiner selbst wahr, der all diese Geschehnisse aus einer sicheren Distanz und vor allem als Unbeteiligter verfolgt.

Beim Schreiben stellt sich, je nach der emotionellen Tiefe, in die ich in mein damaliges Leben eintauche, bei mir vorübergehend manchmal das Gefühl ein, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war. Auch stelle ich mir ab und zu die Frage, ob das alles denn überhaupt jemanden interessiert. Mich daran zu erinnern, dass ich bei weitem kein Einzelfall bin, holt mich dann jedoch wieder zurück. Heute frage ich mich oft, wie es so weit kommen konnte bzw. warum ich die Entwicklung nicht schon viel eher bemerkt habe. Ich frage mich auch, wie es sein konnte, dass mir, trotz vieler, teils deutlicher Hinweise aus meinem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld, meine Veränderungen an meinem eigenen Wesen nicht aufgefallen sind und warum ich die zahlreichen Zeichen nicht annähernd richtig deuten konnte.

Einer der Gründe, dessen bin ich mir heute ganz sicher, war die Tatsache, dass ich damals eine ziemlich stark veränderte Eigenwahrnehmung hatte. Geprägt durch die jahrelange Entwicklung meiner Erkrankung habe ich manches nur so gesehen, wie ich es sehen wollte, nur so wahrgenommen, wie es mir recht war, wie es sich in mein damaliges Weltbild passend eingefügt hat. Alles um mich herum, was nicht passend war, wurde entweder von mir passend gemacht oder einfach ignoriert. In meiner tief eingefahrenen Struktur habe ich mich gut aufgehoben und sicher gefühlt. Ich entwickelte mit der Zeit und dem Voranschreiten meiner Erkrankung eine ausgefeilte Strategie, diesen Zustand, so fatal dies von außen betrachtet auch klingen mag, entsprechend zu schützen. Auf die Idee, mein Leid dadurch vielleicht zu verlängern, bin ich zu diesem Zeitpunkt nicht gekommen und ich habe auch nicht im Ansatz darüber nachdenken wollen, dass es mir dadurch nur immer schlechter ging.

Warum konnte ich mich niemandem gegenüber öffnen? Warum habe ich mich zunehmend vergraben? Aus welchem Grund hat sich bei mir eine zunehmende Aggression gegenüber vielen Menschen und – das ist für mich wirklich erschreckend – vor allem gegenüber meiner Ehefrau entwickelt? Die Ursachen für meine Aggression in Richtung meiner Ehefrau kann ich heute ziemlich genau lokalisieren. Heute gibt es keine Aggression gegen meine Ehefrau mehr, und sie ist und bleibt der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Zu einem gewissen Zeitpunkt stellte sich bei mir das sichere Gefühl ein, meine Gesamtsituation werde bzw. wird ausschließlich durch äußere Einf lüsse, Ereignisse und vor allem durch andere Menschen bestimmt. In der Psychotherapie spricht man hier von der sogenannten »Opferrolle«, in der sich der Patient sieht, sich aber in Wahrheit nicht wirklich befindet. Es ist vielmehr ein geistiges Konstrukt, welches einen wichtigen Teil der Verlagerung der Eigenverantwortung vom Suchtkranken selbst hin zum »Rest der Welt« darstellt bzw. erst ermöglicht. Diese von mir zum Teil auch unbewusst entwickelte Strategie hat mir einerseits Entlastung gebracht und war andererseits zum damaligen Zeitpunkt eine solide Grundlage für meinen Rückzug aus der Eigenverantwortung. Die Opfertheorie, welche durchaus als ein Bestandteil der Suchterkrankung angesehen werden kann, schafft eine solide Basis, mich erst gar nicht mit mir selbst zu beschäftigen, sondern die Schuld – und das ist ja auch viel einfacher und vor allem angenehmer – beim Rest der Welt abzuladen. So brauchen wir auch nicht selbst in den Spiegel zu sehen, denn das, was wir da möglicherweise erkennen würden, wollen wir mit Sicherheit nicht wirklich sehen.

Rückblickend ordne ich heute den Beginn meines Studiums im Herbst 1977 zeitlich in die Nähe meines ersten Tiefpunktes im Leben ein. Darauf komme ich etwas später ausführlich zurück. Dieser Tiefpunkt ist der Beginn einer langen Wellenbewegung nach unten. Im Laufe der Zeit sollten noch weitere Tiefpunkte auf einem deutlich niedrigeren Niveau folgen. In der Suchttherapie ist einer der Erfahrungswerte, dass manche erst einmal auf ihrem Weg nach unten den Boden berühren müssen, bevor sie überhaupt realisieren, wo sie gerade stehen. Das hat bei mir sehr lange gedauert und ich habe mich lange Zeit erfolgreich mit aller Kraft gegen eine realistische Wahrnehmung meiner Situation gewehrt.

Die Geschehnisse der folgenden Jahre sind aus meiner heutigen Sicht derart offensichtlich eindeutig in den Bereich der fortgeschrittenen Erkrankung einzuordnen, dass sich bei mir im Rückblick schon vor vielen Jahren das Erkennen der ernsthaften Erkrankung zwingend hätte einstellen müssen. Allein der Faktor der sich schleichend entwickelnden alkoholbedingten Depression hat jedoch ein Sortieren der Gedanken gravierend erschwert und letztlich die Sicht durch die richtige Brille in eine unerreichbare Ferne gerückt. Erschwerend kam hinzu, dass durch die sich entwickelnde Depression weitere tiefgreifende Veränderungen meines Wesens erfolgten, die eine zusätzliche Verzerrung der Realität bzw. deren zunehmend gestörte Wahrnehmung mit sich brachten. Auf diese Weise sind Ereignisse eingetreten, die stückweise eine Verselbständigung der Krankheit in Richtung Abschottung von jeglicher Möglichkeit zur Besserung bewirkten.

Irgendetwas in mir hat enorme Reserven mobilisiert, den »erreichten« Zustand aufrechtzuerhalten, in dem Bewusstsein, jedwede Veränderung würde zwangsläufig zu einer weiteren Verschlechterung führen. Fatal in dieser Situation war weiterhin das sich mehr und mehr einstellende Gefühl, ich hätte meine eigene Situation zu 100 Prozent unter Kontrolle. Daher war ich mir sicher, dass eine Hilfe von außen nicht erforderlich wäre oder eher schädlich als nützlich sein könnte.