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Christiane Florin

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Beschreibung

Warum zum Teufel bin ich so geduldig mit dieser Kirche?

Die Kirche besteht nicht nur aus Machtmissbrauch, sexueller Gewalt und Frauenverachtung, es gibt darin so viele Menschen, die Gutes tun. Bei diesem Satz ist die Geduld von Christiane Florin schnell am Ende. Ja, es gibt diese Menschen, die Gutes tun. Aber auch sie haben viel zu lange zu Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und Frauenverachtung geschwiegen. Vielleicht, weil sie sich ihre Heimatidylle nicht kaputt machen lassen wollten. Denn Katholizität ist nicht nur ein Glaube, es ist auch ein Heimatgefühl. Betroffene sexueller Gewalt, Opfer lehramtlicher Strafaktionen und Analytiker des Machtapparats stören im Gefühlsablauf.

Aber: Damit machen sich die Gutgläubigen zu Komplizen. Zu Komplizen, die sich nicht gegen ein autoritäres System wehren, das Gläubige kleinhält. »Trotzdem! Warum ich versuche, katholisch zu bleiben« ist Anklage, Selbstanklage und Bekenntnis einer Sehnsucht.

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Die Kirche besteht nicht nur aus Machtmissbrauch, sexueller Gewalt und Frauenverachtung, es gibt darin so viele Menschen, die Gutes tun. Bei diesem Satz ist die Geduld von Christiane Florin schnell am Ende. Ja, es gibt diese Menschen, die Gutes tun. Aber auch sie haben viel zu lange zu Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und Frauenverachtung geschwiegen. Vielleicht, weil sie sich ihre Heimatidylle nicht kaputt machen lassen wollten. Denn Katholizität ist nicht nur ein Glaube, es ist auch ein Heimatgefühl. Betroffene sexueller Gewalt, Opfer lehramtlicher Strafaktionen und Analytiker des Machtapparats stören im Gefühlsablauf.

Aber: Damit machen sich die Gutgläubigen zu Komplizen. Zu Komplizen, die sich nicht gegen ein autoritäres System wehren, das Gläubige kleinhält. »Trotzdem! Warum ich versuche, katholisch zu bleiben« ist Anklage, Selbstanklage und Bekenntnis einer Sehnsucht.

Christiane Florin

Trotzdem!

Wie ich versuche, katholisch zu bleiben

Kösel

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Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25516-9V002

www.koesel.de

Inhalt

Ich bin ein Schaf, holt mich hier raus

Im Anfang war das Nein und das Nein war bei Marx: das MHG-Beben

Déjà-vu-Erlebnisse: 2010, 2018, 202 …

Unsere Schafsgeduld, unsere Schuld

Macht gibt es nicht: Im Reich der Bescheidenheitsbrutalität

Kein Sex, davon aber viel

Von Wolllust, Weibern und Wahrheit

Mein Wille geschehe. Katholische Streitkultur

Sind wir Kirche?

Was vom Glauben übrig bleibt

Literatur

Ich bin ein Schaf, holt mich hier raus

Dieses Buch besichtigt eine Sonderwelt. Dort tragen Männer Kleider, mit Gold und Spitze. Es riecht nach Weihrauch und nach Schaf. Der Weihrauch duftet zur Ehre Gottes. Was Gott ist, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Von Weitem betrachtet, bewegen sich die Schafe in einer Herde. Aus der Nähe besehen, bewegen sich einige schnell, einige langsam, einige gar nicht. Manche sind nur schemenhaft zu erkennen. Die Felle sind unterschiedlich dick. Männliche und weibliche Schafe laufen mit. Wer länger hinschaut, erkennt irgendwo vor, mitten in und hinter der Herde Männer in besonders goldig bestickten Kleidern. Sie tragen eine spitze Mütze. Diese Männer werden Hirten genannt. Manchmal haben sie einen Schäferhund dabei.

Es gibt mehr weibliche Schafe als männliche, aber die Hirten kennen die weiblichen nicht so gut. Mutterschafe haben sie am liebsten.

Diese Sonderwelt hat eigene Rituale, es gilt ein eigenes Recht. Strenger als ein Schaf riechen kann, dürfen Hirten handeln. Sie haben immer recht, denn sie machen die Gesetze, über die sie wachen.

Was sehr besonders ist: Auch Hirten waren einmal Schafe. Gott selbst hat ihnen gesagt, dass sie aus der Herde herausragen. Das nennt man Berufung. Nur männliche Schafe können diesen Ruf hören, bei weiblichen muss es Einbildung sein. Wenn ein hoher Hirte einem werdenden Hirten die Hand auflegt, nennt man das Weihe. Dieses Ritual zeigt den Schafen drumherum: Der ist keiner mehr von euch, der passt jetzt auf euch auf. Wenn die Weihe wirkt, kann der Hirte unterscheiden, was richtig und was falsch ist. Dabei hilft ihm der Heilige Geist. Dass der versagt, ist ausgeschlossen.

Hirten wissen durch die Weihe immer, was gut ist für die Herde. Manche Schafe denken trotzdem, sie wüssten es selbst besser und blöken. Das stört die Hirten. Manche nicken milde, manche lassen den Hund von der Leine. Das Blöken stört auch einige in der Herde. Dann beißt ein Schaf das andere und der Hund kann Pause machen.

Über allem und allen steht ein Mann in Weiß. Der wird nicht Höchster Hirte oder Oberstes Schaf genannt, sondern Heiliger Vater. Menschen von draußen bezeichnen ihn als Papst. Für die Schafe ist der Heilige Vater zugleich Stellvertreter Christi auf Erden. Christus hieß einmal Jesus, bevor er von den Toten auferstand. Jesus ist der Sohn Gottes und der Sohn einer Jungfrau namens Maria. Auch dabei hat der Heilige Geist geholfen. Diese Jungfrau war mit einem Zimmermann verheiratet. Josef, so sein Name, war – damals ungewöhnlich – bei der Geburt dabei und nahm Jesus wie ein eigenes Kind an. Als Jesus in einem Stall zur Welt kam, schauten Hirten und Schafe zu. Die Hirten trugen abgeschabte Kleider ohne Gold und Spitze.

Was Jesus beruflich machte, ist unbekannt. Er befasste sich viel mit Religion, diskutierte mit Schriftgelehrten und ging in den Tempel. Vielleicht arbeitete er als Zimmermann wie Josef. Als Hirte arbetete er nicht, Vater wurde er nicht, Mützen trug er nicht. Aber alle Hirten mit spitzen Mützen und alle Heiligen Väter berufen sich auf ihn.

Schafe, Hirten, Väter, Söhne, Jesus, Jungfrau, Josef, Stall, Tempel, Auferstehung, Christus, Gott – selbst im Erklärbär-Tonfall des Kinderfernsehens bleibt viel Unerklärliches und Unvereinbares. Die Bildausschnitte fügen sich nicht wie ein Puzzle ineinander. Hirten nennen das gern »das Unverfügbare«.

Man muss verrückt sein, um zu sagen: Diese Sonderwelt ist meine Welt.

Das Katholische ist komisch. Ich bin eine dieser komischen Figuren. Nicht Jungfrau, nicht Hirtin, nicht Heilige. Ich schreibe es ungern: Ich bin ein Schaf. Je nach Perspektive ein blökendes, bissiges, verlorenes, verirrtes, blödes, treudoofes. Wie auch immer – ich gehöre zur Herde. Noch.

Diese Sonderwelt ist meine Welt – das sagen längst nicht mehr so viele wie vor 50 Jahren. Aber laut jüngster Mitgliederstatistik sind es in Deutschland noch immer 23 Millionen. Die Marke »katholische Kirche« kennen 100 Prozent der Deutschen, sie ist damit so bekannt wie Coca-Cola. »Das erfrischt richtig«, warb der Getränkehersteller in den 1960er-Jahren, dem Jahrzehnt des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auch das sollte erfrischen.

Gut 50 Jahre später ist das Image von »katholisch« mit dem Wort »abgestanden« freundlich umschrieben.

Die Moral, das Frauenbild, die Solange-du-die-Füße-unter-meinen Tisch-stellst-Autorität – alles randständige Überbleibsel einer verflossenen Zeit. So appetitlich wie ein Colaglas, aus dem die Brause verdunstet ist. Nur noch ein klebriger Rest am Rand lässt die einstige Füllmenge erahnen.

Die katholischen Markenzeichen galten nicht immer als sonderbar. Sie waren so mehrheitsfähig wie das Jägerschnitzel mit Pommes und Cola, das ich, Jahrgang 1968, als Kind sonntagsabends zwischen meinen Eltern im gutbürgerlichen Lokal unseres Dorfes verspeiste. Die Gaststätte liegt nur wenige Schritte von der Kirche entfernt. Um 19.30 Uhr, nach dem letzten von vier gut besuchten Gottesdiensten, füllten sich die Tische des Restaurants. Wenn die Schwingtür zur Küche aufging, war über der Herdlandschaft ein Plakat der Agrarmarketinggesellschaft CMA zu sehen. »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft«, behauptete es. Das glaubten die im Gastraum Versammelten aufs Wort. Genauso glaubten sie den Satz, den der Priester kurz zuvor in der Messe gesagt hatte: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.« In unserem Dorf gab es keine Vegetarier und keine Atheisten, jedenfalls keine bekennenden.

Der Besuch am Tisch des Herrn war sonntags so selbstverständlich und gleichzeitig so besonders wie das Schnitzel mit Pilzsauce danach. Kommunion mit Champignons, Kummion mit Schammpijongs, sagte man im Rheinland. Die Schafsaugen glänzten, wenn einfache Menschen sonntags feine, fremde Wörter aussprechen durften.

Mittlerweile flößt die Dreifaltigkeit aus Moral, Männlichkeit und Machtanspruch auf dem Dorf kaum mehr Respekt ein. Das Lokal meiner Kindheit gibt es immer noch. Wir gehen ab und an dorthin, wenn meine Mutter etwas zu feiern hat. Schon lange bekommt die neubürgerliche Kundschaft dort auch Vegetarisches; die Küche ist regional und frisch. Das Jägerschnitzel steht wie übrig geblieben auf der Karte.

Die katholische Kirche tischt weiterhin Fleischliches auf, zäh gebraten, vorgekaut und vorverdaut, mit aufgewärmten Pilzen. Sex ist ihr Stück Lebenskraft, Keuschheit ihr Ideal. Dieser Widerspruch zeitigt bei gnädiger Betrachtung skurrile Folgen, bei ungnädiger gefährliche, giftige.

Eine Besichtigung der Sonderwelt könnte man als ethnologische Feldstudie verstehen, als teilnehmende Beobachtung eines seltsamen Völkchens in einem abgelegenen Dorf. Ohne Sinn für Realsatire und Selbstironie lässt sich das Herdendasein nicht aushalten, erst recht nicht als weibliches Schaf. Herden-Hierarchen sagen Sätze wie: »Jesus hat bewusst nur Männer ausgewählt«. Wer so blasiert daherredet, blamiert sich, jedenfalls in meinen Ohren. Die komisch-katholische Seite habe ich in meinem Buch »Der Weiberaufstand« beschrieben. Auch in diesem Essay kann ich vom Spott nicht lassen.

Bei aller Lebenskraft, die ich aus der ironischen Distanz beziehe, genügt diese Perspektive nicht. Sie wird weder den Beobachteten noch den Teilnehmenden gerecht. Denn es ist ernst: Damit meine ich nicht die Lage der katholischen Kirche. Ich meine die Lage katholischer Menschen. Die meisten grasen nicht wie eine Schafherde auf entlegenen Weiden. Sie haben sich nicht in eine Sonderwelt zurückgezogen. Sie leben und lieben so plural, so gut und schlecht bürgerlich, so irdisch und höllisch wie der Rest der Gesellschaft. Sie ignorieren nachsichtig bis offensiv, was das katholische Lehramt ihnen Ungenießbares zu Verehrung und Vermehrung auftischt. Die wenigsten gehen regelmäßig in die Messe, viele haben regelmäßig Sex ohne Ehe. Die Schafe stellen sich taub, wenn die Hirten Anweisungen geben. Sie folgen lieber ihrer inneren Stimme oder anderen, schwer zu fassenden Autoritäten.

Viele scheren aus. Rund 216 000 sind 2018 ausgetreten, fast ein Drittel mehr als im Vorjahr, der zweithöchste Wert seit Aufzeichnung der Mitgliederstatistik. In Scharen laufen die Schafe den Hirten nicht davon, es reicht noch immer für ein Herdengefühl. Nicht diejenigen, die weg sind, geben Rätsel auf. Mysteriöser ist, warum so viele bleiben, obwohl für viele von ihnen die Schmerzgrenze überschritten sein müsste.

Der Katholizismus ist berühmt für seine eingängige Bilderwelt, für das gläubige und ungläubige Staunen, das sie hervorruft. Die beiden wichtigsten Bilder – die Schafherde und die Familie – sind zwiespältig und doppelbödig. Die Idylle der Kuscheltruppe täuscht ebenso wie das Lächeln auf Festtagsfotos. Familie und Herde sind komplizierte Gebilde, in denen Geborgenheit mit Gehorsam, Freiheit mit Abhängigkeit, Gleichberechtigung mit Unterordnung erkauft werden. Familie und Herde können schön sein und schrecklich, heilsam und verletzend.

Ich bin ein Schaf, holt mich hier raus. Ich bin ein Schaf, holt mich zurück. Ich bin zerrissen katholisch. Ich bin viele – wie viele andere auch.

Katholiken sind Individuen und Herdenmenschen, Demokraten und Untertanen, treu und treudoof. Katholikinnen waren erst recht Untertaninnen. Die katholische Konditionierung hat vor allem Frauen zu Dauerdemut verdonnert. Deutsche Katholikinnen und Katholiken leben politisch in einer Demokratie, kirchlich in einer Monarchie. Die Gesellschaft hat mühsam gelernt, Nicht-Männern und Nicht-Heterosexuellen gleiche Rechte zu geben. Die römisch-katholische Gemeinschaft verlangt von ihren Angehörigen, solche Gedanken zu vergessen. Wer als Bürgerin im Schafspelz lebt und sowohl die Kirche als auch den Staat ernst nimmt, spürt die Spannung. Die treuesten Schafe halten seit vielen Jahrzehnten den Dehnungsschmerz aus, nicht klaglos, aber duldsam.

Dass sich die Kirche emanzipatorischen und demokratischen Entwicklungen anpasst, wird von einem Teil der Herde seit Jahrzehnten ersehnt, vom anderen gefürchtet. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein Systemwandel bevorsteht. Die Drohkulisse ist jedoch schon aufgebaut: Wenn die Staatsbürger im Schafspelz ihre Vorstellungen von Kirche durchsetzen, wenn sich tatsächlich etwas ändert, dann stiebt die Herde angeblich auseinander, dann verschwindet die Una Sancta.

Was trotz aller Verbrechen und Skandale Millionen zahlende Mitglieder in der katholischen Kirche hält, lässt sich mit rationalen Mitteln nicht erfassen. Dabei ist die Herde gut erforscht. Manche pflegen eine Vernunftbeziehung zur Kirche. Sie lassen sich monatlich scheren und erwarten für ihre Kirchensteuer eine Gegenleistung: den Kindergartenplatz, den Arbeitsplatz bei der Caritas, das Gymnasium mit gutem Ruf, die schöne Hochzeitskulisse, die feierliche Beerdigung mit Jenseitsoption.

Weniger nutzwertorientiert sind die Phantom-Schafe. Sie bilden die größte Gruppe, aber man übersieht und überhört sie leicht. Sie erwarten weder regelmäßigen spirituellen noch sozialen Service, beteiligen sich nicht an Debatten über Hirten, Weiden und Wege. Sie lächeln milde, wenn sie auf Skandale angesprochen werden. Kondomverbot und Frauendiskriminierung lassen sie kalt. Das unsichtbare Schaf unterstellt sanftmütig, dass selbst die schlechteste Kirche noch für etwas gut sein könnte in dieser Gesellschaft. Kirche bedeutet: irgendwas mit Nächstenliebe, irgendwas für die Armen, Mühseligen und Beladenen. Ohne Kirche wären Menschen am Rande der Gesellschaft verloren, glaubt das Phantom-Schaf.

Das kirchliche Management ist reich an Beratern. Milieustudien verbuchen diesen wohlmeinenden Schaftypus unter »randständig« und schwach gebunden. Dabei fühlt sich das Phantom-Schaf nicht verloren, es will nicht zurückgeholt werden, denn es ist nicht weg. Es hält freundliche Distanz und weidet sich an dem, was aus der Ferne positiv erscheint. Ein pflegeleichteres Tier können die Hirten kaum finden.

Mehr Mühe machen die Treuesten der Herde: Diese Schafe engagieren sich in Gemeinden und Verbänden. Manche sind früher still mitgelaufen und schlagen jetzt Krach, weil sie entweder aufgewühlt sind vom Ausmaß sexualisierter Gewalt oder vom Ausmaß der Kritik an der Kirche.

Die treuen Schafe gibt es mit links- und rechtsgebürstetem Fell. Beide Gruppen können nicht ohne-, aber auch nicht miteinander. Beide trauern um eine Kirche, die es nie oder nur kurz gab: die Rechtgläubigen um das Haus voll Glorie des 19. Jahrhunderts, die Liberalen um den Hüttenzauber der 1970er-Jahre.

Die rechten Schafe treiben die anderen vor sich her. Sie haben die Wahrheit im Kopf und wichtige Hirten im Rücken. Sie betonieren ihre Wege und nennen das Tradition. Ganz gleich, welches Problem am Wegesrand auftaucht, stets lautet ihre Formel: Wenn sich alle an die Lehre gehalten hätten, wäre das nicht passiert. Sie achten besonders auf das Triebleben der anderen. Wer katholisch ist, bestimmen sie, ganz gleich, wer unter ihnen als Heiliger Vater dient. Wer ihnen nicht folgt, kann in ihren Augen kein Schaf sein, jedenfalls kein weißes. Sie träumen von der kleinen, reinen, folgsamen Herde. Wenn die Lauen und Grauen endlich gingen, so wäre das würdig und recht.

Die Linksgebürsteten tun seit Jahrzehnten so, als bereiteten sie einen Ausbruch vor und bleiben doch. Es könnte ja sein, dass der ersehnte Hirte mit Hüftschwung vorbeikommt, der Triebkontrolle für überholt und Frauen für Menschen hält. Feuchte Augen bekommt das linksdrehende Schaf, wenn es vom Essener Katholikentag 1968 erzählt, dem katholischen Woodstock. In einer Resolution wurde damals der Rücktritt des Papstes gefordert, sexuelle Revolution auf Katholisch hieß: Eheleuten sollten Pille und Kondom erlaubt sein. Mit Wehmut denken sie an die Würzburger Synode. Anfang der 70er-Jahre machten sich deutsche Bischöfe ein bisschen locker.

»Würzburger Was?«, fragen die wenigen Schafe unter 30, wenn Opa aus der Zeit erzählt, als der Katholizismus in Deutschland jung und wild war. Aus der Revolte wurde eine Reformkonferenz. Deren Ergebnisse verschwanden hinter den sieben Hügeln Roms.

Im Jahr 1995 unterschrieben in Deutschland mehr als 1,8 Millionen Menschen ein Kirchenvolksbegehren. Gleichberechtigung der Geschlechter, Freistellung des Zölibats, mehr Partizipation für Laien: Keine Forderung wurde Wirklichkeit, die Schafe schrieben geduldig weitere Reformkataloge. Die endeten wie Neckermann und Quelle.

Seit dem Frühjahr 2019 protestieren unter dem Namen Maria 2.0 Frauen und Männer. Als im Mai 2017 »Der Weiberaufstand« erschien, habe ich den Anfang vom Aufstand vermisst. Jetzt ist er unübersehbar.

Was bedeutet Kirche den Hochverbundenen? Eine Familie mit einem Vater in Rom und einem Vater im Himmel. Eine Herde von rund 1,2 Milliarden römisch-katholischen Schafen weltweit, auf die weltweit 414 000 Pastores – Priester – und 5200 Oberhirten – Bischöfe – aufpassen. Ein rechtliches Gebilde, dargelegt im Codex Iuris Canonici CIC, theologisch gedeutet in Millionen Schriften.

Fragt man die Mitglieder, antworten sie weder mit kirchenrechtlichen Bestimmungen noch mit ekklesiologischen Fachbegriffen. In einer Austrittsstudie des Bistums Essen steht, fast nebenbei, der verblüffende Satz: »Der Gottesglaube ist für die Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken wichtig.« Die Mehrheit antwortet auf die Frage, was Kirche ist: irgendwas mit Gott und irgendwas mit Glauben.

Fragt man die Nicht-mehr-Katholischen nach den Gründen dafür, die Kirche zu verlassen, spielt Glaubensverlust eine untergeordnete Rolle. Der Austritt stehe am Ende eines langen Entfremdungsprozesses von der Institution, erklären verschiedene Studien einhellig. Die Kirche könne die Frage nicht mehr beantworten: Was bringt es mir, Mitglied zu sein?

Das Gegenteil von Entfremdung ist Vertrautheit. Katholizität ist für die Treuen nicht nur eine Lehre, nicht nur eine Herde, nicht nur ein Glaube. Es ist ein Gefühlsgemisch: Gottvertrauen, Dankbarkeit, Sentimentalität, Nostalgie, Geborgenheit, Unwohlsein, Trotz, Wut. Was Max Weber 1922 über charismatische Herrschaft schrieb, stimmt auch fast 100 Jahre später: »Der Herrschaftsverband Gemeinde: ist eine emotionale Vergemeinschaftung.«

Der Hauptgrund für die Schafsgeduld der Zerrissen-Katholischen dürfte die Liebe zu einer Kirche sein, die so edel, hilfreich und gut nur in der Fantasie existiert. Die Liebe gilt einer Sehnsucht. Die Kirche sei »Heimat für die Seele«, sagt Lisa Kötter, eine der Initiatorinnen von Maria 2.0. Der Blogger Thomas Wystrach nennt diesen komplizierten Beziehungsstatus in einem Beitrag für das Online-Magazin »Die Eule« ein »masochistisch gepflegtes Leiden an der Kirche, ein fast pathologisch gewendetes sentire cum ecclesia«. Den Schmerz zeigte eine Ausgabe der Schweizer Fernsehsendung »Sternstunde« mit dem Titel »Kirchenaustritt: Befreiungsakt oder Verzweiflungstat?« besonders deutlich. Von »Liebeskummer« und »Trauerarbeit« sprachen Ausgetretene wie Nicht-Ausgetretene. Die katholische Trennlinie verläuft nicht zwischen drinnen und draußen, sie verläuft innerhalb der Herde: zwischen rechts und links, autoritär und plural, monolithisch und zerrissen.

Für das Gros der Schafe, für die smarten Vernunft- und die stillen Phantomschafe wäre das Wort »Liebe« als Kennzeichnung ihres Beziehungsstatus zu pathetisch, zu kitschig. Sie würden auch nicht so weit gehen, die Kirche als Heimat zu bezeichnen. Sie sehen in ihr, laut der Studie des Bistums Essens, eine »Heimat für andere«. Sie haben sich in einer Fernbeziehung arrangiert. Die innerlich Aufgewühlten fühlen sich dagegen wie Heimatvertriebene. »Hau ab«, schallt ihnen aus verschiedenen Etagen der Hierarchie entgegen.

Die Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen, Katharina Ganz, stellte Papst Franziskus bei einer Audienz im Mai 2019 eine kritische Frage zur Diakoninnenmöglichkeitskommission. Franziskus belehrte die promovierte Theologin über die Offenbarung und erklärte, wem das nicht passt, der könne ja gehen. Der Vatikan bemühte sich, die Frauenverachtung zum Scherz umzudeuten. Doch die Wandlungsworte wirken nicht. Franziskus hat nicht das gesagt, was heimatlos Heimatsehnsüchtige von einem Hirten hören wollen: Bitte bleib, damit nicht alles bleibt, wie es ist.

Dieses Buch liefert trotz des Titels keine Durchhalteparolen und kein Beruhigungsfutter. Es ist Anklage und Selbstanklage. Viel zu lange haben wir Schafe mit dem linksgebürsteten, dicken Fell uns abspeisen lassen und uns selbst abgespeist. Wir haben die Schuld dieser Kirche und die tatsächlich Leidtragenden aufgrund unseres eigenen Leidens an der Institution nicht sehen wollen.

Am Ende meiner Weiberaufstand-Lesungen, wenn das Publikum über das Gehörte diskutiert, steht fast immer jemand auf und sagt: »Die Botschaft Jesu ist so fantastisch, die dürfen wir uns doch nicht von den Bischöfen kaputt machen lassen. Der Glaube ist mehr als die Amtskirche.«

Das ist ermutigend gemeint, aber ein billiger Trost. Jesus ist nicht immer die Lösung. Ich kann meinen Glauben, genauer: das, was davon übrig ist, nicht von der Institution trennen. Weder meine Eltern noch ich hätten irgendetwas mit zu Gott zu tun bekommen, wenn er – oder sie – uns nicht durch diese Institution vermittelt worden wäre. Ich bin in die Kirche hineingewachsen, erst fraglos, dann fragend. Von der Pubertät an war meine Beziehungsstatus kritisch-loyal. Ich war nicht kritisch genug, der Kirche meiner Kindheit und Jugend so viel kriminelle Energie zuzutrauen. Strukturfragen sind keine Kleinigkeit, sie lassen sich vom Glauben nicht trennen. Vielleicht stimmt mit der Botschaft etwas nicht, wenn sie eine solche Institution hervorbringt.

Durch die intensive Auseinandersetzung mit Lehre und Realität dieser Kirche ist in mir einiges zerbrochen. Diese Brüche verschwinden nicht durch den Hinweis auf die »eigentlich tolle Message« und die »eigentlich gute Arbeit« von so vielen. Gute Ideen und gute Leute tarnen giftige Gedanken und autoritäre Strukturen.

Meine Beschädigungen sind belanglos verglichen mit dem, was Kindern, Jugendlichen und Ordensfrauen durch sexualisierte Gewalt angetan wurde. Die Kirche war mir nie so nah, dass ihr Gift mir hätte gefährlich werden können. Ich habe ihre Lehre nie so ernst genommen, dass ich unter ihr leiden konnte. Betroffen in diesem Sinne bin ich nicht. Doch auch Schafe haben Verantwortung. Ich vermisse im lauten Blöken die leise Selbstkritik: Was haben die Verbrechen mit uns zu tun? Mit denen, die weder Täter noch Opfer waren? Und: Was sollten wir jetzt tun?

»Nicht die Bischöfe sind Kirche, wir sind Kirche.« Auch dieser Zwischenruf kommt zuverlässig bei jeder Lesung aus dem Publikum. Dahinter steckt die Sehnsucht nach einem Aufstand der Anständigen gegen das Versagen der Zuständigen. Gegen die Täter, die Vertuscher, die Relativierer, die Bagatellisierer. Doch wir, die wir uns für anständig halten, vergessen gern zu erwähnen, dass wir nicht aufmerksam hingeschaut haben. Nicht in der Schule, nicht im Sportverein und erst recht nicht in der Kirche.

Zu meinen Lesungen kommen die Engagierten, die eher linksgebürstet-liberalen. Sie sind mindestens so alt wie ich, meistens älter und meistens treuer. Sie wollen nicht gehen. Sie möchten hören, wie man katholisch bleiben und heil werden kann. Treu, aber nicht doof. Viele machen trotz aller Wut ein Recht auf Optimismus geltend, ohne genau sagen zu können, wie eine Kirche ohne Zerreißprobe aussieht.

Ich bin bisher bei aller Kritik schafsgeduldig genug gewesen, um Hirten und Heiligen Vätern immer wieder eine Chance zu geben. Vor allem Franziskus weckte Hoffnungen. Sein erstes Schreiben »Evangelii Gaudium« habe ich mit ungläubigem Staunen gelesen und gedacht: Der ist einer von uns. Hätte ein junger Theologe wenige Monate zuvor etwas ähnlich Kirchenkritisches verfasst, hätte er um sein Nihil Obstat fürchten müssen.

Im Februar 2019 ist davon fast nichts mehr übrig. Der freie Franz hat vor dem System kapituliert. Für seine Abschlussrede zum Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan brauchte ich drei Anläufe. Als Kind habe ich traurig endende Bücher mehrmals gelesen, weil ich dachte, beim zweiten oder dritten Mal enden sie freundlicher. Die Papstrede wurde mit jeder Lektüre schlimmer.

Franziskus sieht bei sexualisierter Gewalt die »Hand des Bösen« am Werk. Das muss das Gegenstück zur Hand Gottes sein, mit der Argentinien 1986 Fußball-Weltmeister wurde. Er warnt vor »ideologischen Polemiken und journalistischen Kalkülen«. So immunisiert man sich gegen Kritik von außen. Er hat juristische Selbstverständlichkeiten angekündigt und umgesetzt.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Kardinal Reinhard Marx, und der Präsident des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) haben die Rede gelobt. Es sei ein Anfang, ein Punkt, hinter den niemand mehr zurückkönne, sagten sie.

Früher, in der Katholischen Landjugend, hätten wir an dieser Stelle »Kleines Senfkorn Hoffnung« angestimmt, unser treudoofes Recht-auf-Optimismus-Liedchen.

Ein erster Schritt vom doofen zum denkenden Schaf besteht darin, bei Durchhalte-Schlagern das Mitsingen zu verweigern und Hirten wie hohen Herdenmitgliedern klar zu sagen: Nicht in meinem Namen.

Das Lob des Anfängchens stabilisiert das giftige System wie der Saucenbinder die gefährlich aufgewärmten Pilze. Es kostet nichts, es fordert nichts, was wehtut. Kein Bischof, der wegen sexualisierter Gewalt vor Gericht steht, hat sich selbst angezeigt. Bei der Konferenz im Vatikan ist niemand aufgestanden und hat gestanden, was er getan und was er unterlassen hat, was er wusste und was er vertuschte. Wenn es brenzlig werden könnte, verstecken sich die Männer mit Mütze hinter dem großen, diffusen »Wir«. Franziskus, Ex-Erzbischof von Buenos Aires, hätte vor der versammelten hohen Geistlichkeit »Ich« sagen können, stattdessen sprach er majestätisch von »der Kirche«.

Sein Vorgänger Benedikt XVI. äußerte sich zu vielen Dingen, erst recht seit er offiziell schweigen und beten wollte. Er hätte als ehemaliger Erzbischof von München und Freising, als langjähriger Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst einiges zum Thema aus der Ich-Perspektive beizusteuern. Als er sich kurz vor Ostern 2019 des Themas Missbrauch annahm, gab er den 68ern und einem Teufelsweib namens Käte Strobel die Schuld.

Warum, zum Teufel, gebe ich, warum geben wir Schafe diesem Laden immer wieder eine Chance? Warum bist du noch drin?, werde ich seit der MHG-Studie ständig gefragt. Als Journalistin fällt mir die Antwort leicht. Ich bleibe dran. Je mehr diese Institution den Status Sonderwelt bekommt, desto größer wird die Gefahr, dass der Machtmissbrauch unbeobachtet bleibt.

Aber warum bleibe ich als Schaf drin? Ich stammle etwas von Nostalgie, Biografie und Identität. Mich muss niemand rausholen, ich könnte zum Amt gehen und fertig. Dann trüge ich ein unerträgliches System nicht mehr mit und wäre fein raus.

Das Publikum meiner Lesungen nimmt die hilflosesten Floskeln dankbar entgegen. Manchmal steht jemand auf und erklärt: »Ich bin seit einigen Monaten weg.« Oder: »Ich bin jetzt evangelisch.« Oder: »Ich bin jetzt alt-katholisch.« Dann folgt eine dieser komisch-katholischen Kollektiv-Reaktionen: das nickende Kopfschütteln. Das bedeutet: Wir können deine Entscheidung verstehen, aber für uns kommt sie nicht infrage. Wir bleiben, wir müssen zusammenhalten. Wir können die anderen nicht allein lassen mit denen da oben und den bissigen, rechtsgebürsteten Schafen. Auch Kirchenkritik kann kuschelig-wärmend sein.

Diese Kirche wird noch mehr zerstören und noch mehr Wunden schlagen, wenn wir weiter treu und brav in der Herde trotten. Geduld reimt sich auf Schuld. Wir Geduldigen sind Komplizen.

Im Anfang war das Nein und das Nein war bei Marx: das MHG-Beben

Der Kardinal sagt Nein. Sonst nichts. Es ist das letzte Wort einer denkwürdigen Pressekonferenz.

Der Reihe nach: Am Mittag des 25. September 2018 stellt die Deutsche Bischofskonferenz in Fulda die Ergebnisse einer Studie vor. Der Titel klingt wenig mediengängig, das mediale Interesse ist groß: »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz«. Die beteiligten Forschungsteams arbeiten an Instituten in Mannheim, Heidelberg und Gießen, deshalb wird das Konvolut als MHG-Studie abgekürzt.

Die wichtigsten Ergebnisse hat die Wochenzeitung »Die Zeit« zwei Wochen vorher bekannt gemacht. »Das Ausmaß des Verbrechens« ist der »Zeit online«-Artikel vom 12. September überschrieben. Zwischen 1946 und 2014 gab es laut Aktenlage 3677 Betroffene und 1670 Beschuldigte; gegen 5,1 Prozent der Priester liegen einschlägige Vorwürfe vor. Die Zahlen sind Mindestangaben, tatsächlich dürfte es weit mehr Täter und weit mehr Opfer geben. Kirchliche Dokumente wurden vernichtet oder bereinigt, längst nicht alles ist aktenkundig geworden. Ob man die Zahl mit 10 multiplizieren muss oder mit 100, bleibt offen. Sexueller Missbrauch in Ordenseinrichtungen hat die MHG-Studie nicht erfasst.

Am Tag, bevor das Forschungsergebnis offiziell in Fulda präsentiert wird, schickt mir jemand die gesamte Studie zu. Ich gehe sie in der Nacht vor der Pressekonferenz durch, einmal und noch ein zweites Mal, unterstreiche Passagen, schreibe Zahlen heraus. Das Durchschnittsalter der Betroffenen laut Personalaktenanalyse: zwölf Jahre, Kinder also. Die Durchschnittsdauer des Missbrauchs liegt bei rund 15 Monaten. Für 22,7 Prozent dauerte die Qual drei bis fünf Jahre, für weitere rund 11 Prozent länger als vier Jahre.

Kein Schicksal ist durchschnittlich, kein Mensch möchte auf statistische Mittelwerte reduziert werden. Es ist trotzdem wichtig, einige zu nennen. Denn zwischen der »Zeit« Veröffentlichung und der hoheitlichen Präsentation der MHG-Studie bemächtigen sich Relativierer des Themas. Die Studie sei »spektakulär misslungen«, zitiert das Portal »kath.net« den Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz. Im »Vatican-Magazin« und auf »kath.net« hat schon im August 2018 ein namenloser Autor, der als Missbrauchsopfer vorgestellt wird, das Hohelied auf den Zölibat gesungen. »Er sah aus wie Don Camillo« ist der Text überschrieben, als handele es sich bei sexualisierter Gewalt um eine subsoutane Klerikalposse. »Ich habe ihm verziehen und hoffe auf Gottes Barmherzigkeit«, schreibt der Verfasser. Von weltlicher Gerichtsbarkeit ist nicht die Rede.

Es sind ebenso schwüle wie grausame Verteidigungsstrategien der reinen, Heiligen Kirche. Das rechtskatholische Milieu fürchtet, dass durch die MHG-Befunde der Zölibat abgeschafft und die Sexualmoral der Kirche verändert werden könnte. Entsprechende Medien schwören ihr Publikum darauf ein, dass die wahre Sünde im Sex außerhalb der Ehe lauert. Sexueller Missbrauch schrumpft zum Ausrutscher. Der Mensch ist fehlbar, das klerikale System nicht. »Verfehlung gegen das sechste Gebot« steht bezeichnenderweise auch in kirchlichen Akten.

Eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe ist nicht nötig, um die Brutalität der oben genannten Durchschnittswerte zu verstehen: Angemessen wäre es, über Täter und ihre Strategien zu reden und nicht über »Ausrutscher«, über Kinder als Leidtragende und nicht über die arme, betrogene Kirche.