True North - Du bist alles für immer - Sarina Bowen - E-Book
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True North - Du bist alles für immer E-Book

Sarina Bowen

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Beschreibung

Immer wenn sie mich berührte, hatte ich das Gefühl, sie mehr zu lieben als alles andere auf der Welt

Lark Wainwright hat Schreckliches erlebt. Um Abstand zu bekommen, verbringt sie den Sommer auf der Farm der Familie Shipley - doch ihre Albträume begleiten sie bis nach Vermont. Ihr einziger Halt ist Farmarbeiter Zach. Völlig abgeschottet von der Außenwelt aufgewachsen fühlt sich der schüchterne Bio-Farmer auch nach vier Jahren auf dem Hof nicht wirklich angekommen. Jeder Tag ist eine Herausforderung, zu vieles ist neu für ihn, was für andere ganz normal ist. Und als Lark und Zach sich in einer Sommernacht näher kommen als geplant, spüren sie augenblicklich, dass sie ihre Vergangenheit nur gemeinsam hinter sich lassen können ...

"Fantastisch!" USA Today

Band 3 der gefeierten True-North-Reihe von USA-Today-Bestseller-Autorin Sarina Bowen

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Seitenzahl: 508

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Inhalt

TitelZu diesem BuchTeil eins123456789Teil zwei10111213141516171819202122Teil drei2324252627282930313233343536Die AutorinImpressum

SARINA BOWEN

TRUE NORTH

Du bist alles für immer

Roman

Ins Deutsche übertragen vonWanda Martin

Zu diesem Buch

Lark Wainwright kannte keine Angst – bis sie auf einem Auslandseinsatz für eine Hilfsorganisation in Südamerika Schreckliches erlebte. Panikattacken und Albträume haben sie seither fest im Griff. Als ihre beste Freundin ihr vorschlägt, den Sommer bei deren Familie in Vermont zu verbringen, zögert Lark deshalb keine Sekunde. Denn wenn es etwas gibt, wodurch sie wieder zur Ruhe kommen würde, dann durch lange Tage voll harter Arbeit auf einer Obstplantage und das gute Essen der Familie Shipley. Und als sie dort Farmarbeiter Zach begegnet, spürt sie sofort, dass sie nicht die Einzige ist, die bei den Shipleys Erlösung sucht. Zach wuchs völlig abgeschottet von der Außenwelt auf. Auch nach vier Jahren auf dem Hof ist zu vieles neu für den schüchternen Bio-Farmer, was für andere ganz normal ist. Jeder Blick, jedes Lächeln von Lark lässt sein Herz aussetzen, eine so intensive Anziehungskraft zu einem anderen Menschen hat er noch nie gespürt. Und als sie sich in einer Nacht näher kommen als geplant, weiß er augenblicklich, dass ihm ein Sommer mit Lark niemals genug sein wird …

TEIL EINS

Frühsaison

Ginger Gold

Paula Red

Zestar

1

Lark

Per Luftlinie ist Tuxbury in Vermont gar nicht so weit weg von Boston. Allerdings legte ich nicht die Luftlinie zurück, sondern fuhr die Strecke in meinem in die Jahre gekommenen VW Beetle. Und im ländlichen Teil von Vermont führen die Straßen meistens nicht direkt dorthin, wo man hinmuss. Also brauchte ich zweieinhalb Stunden für die Fahrt.

Die Spätsommersonne war bereits untergegangen, als ich die lang gezogene Schottereinfahrt der Shipleys entlangfuhr. Das Geräusch von Kieselsteinchen, die gegen den Unterboden meines Autos klackerten, verkündete: Du bist raus aus der Stadt.

Zum Glück. Die letzten Monate zu Hause bei meinen Eltern in Boston waren kaum auszuhalten gewesen.

Ich parkte mein Schätzchen und stellte den Motor ab. Dann saß ich einen Augenblick lang da und betrachtete das gedämpft erleuchtete Farmhaus der Shipleys. Gelächter wehte durch die mit Fliegengittern versehenen Fenster herüber. Und durch die Spitzengardinen erblickte ich flüchtig mehrere Gestalten, die sich bei den Vorbereitungen fürs Abendessen durchs Esszimmer bewegten.

Das Essen würde jeden Moment auf den Tisch kommen, und mir war klar, dass ich hineingehen sollte. Doch ich verharrte noch einen Augenblick länger hinter dem Steuer und setzte mein Pokerface auf. Es gab keinen Ort, an dem ich jetzt lieber gewesen wäre als auf der Shipley Farm. Nur hatte ich vergessen, dass die Erntezeit auf einem bewirtschafteten Hof mit sich brachte, dass Tausende Leute dort waren. Okay – nicht Tausende. Aber Dutzende. Und in letzter Zeit fühlte ich mich unter vielen Menschen nicht sonderlich wohl.

Du schaffst das schon, coachte ich mich selbst. Diese Menschen haben dich gern. Sie würden es verstehen, wenn ich ein wenig neben der Spur sein sollte.

Ich stieg aus meinem Wagen aus und holte meine Reisetasche vom Rücksitz. Noch ehe ich die Autotür zugemacht hatte, ertönte ein spitzer Schrei aus Richtung der Küchentür. »Sie ist daaaaaa!«

Lächelnd machte ich mich auf die Umarmung meiner Freundin gefasst. Ich hatte May vor fast genau sieben Jahren kennengelernt, als die Boston University uns als Erstsemesterstudentinnen ein gemeinsames Wohnheimzimmer zugeteilt hatte. Somit hatte ich schon viele von Mays Umarmungen abbekommen.

Diese jetzt war der Hammer. Meine beste Freundin war schon unter normalen Umständen ein herzlicher Typ. Dass sie – und alle anderen Menschen in meinem Leben – vor Kurzem meinetwegen einen Haufen Stress gehabt hatten, bedeutete allerdings, dass sie jetzt, da ich wieder sicher auf amerikanischem Boden gelandet war, einen Versuch unternahm, mir die Rippen zu brechen.

»Es tut gut, hier zu sein«, brachte ich mit zusammengepressten Lungenflügeln hervor. Eine Sekunde darauf ließ May mich los, nur um dann meine Hände zu nehmen und mich mit wässrigem Blick anzuschauen. »Gott, es tut gut, dich gesund und munter zu sehen. Ich hab mir solche Sorgen gemacht, als es keinerlei Nachrichten mehr gab …«

»Es tut mir leid«, sagte ich sofort. Das hatte ich diesen Monat schon oft gesagt.

Sie atmete einmal tief durch. »Ich bin einfach froh, dass du hier bist. Aber ich werde mich jetzt zusammenreißen, damit wir essen können, ja?«

Ich folgte ihr zur Küchentür und ging hinein. Als die Fliegengittertür hinter uns zuknallte, ließen wir den schönen Augustabend draußen.

Ich hatte gehofft, leise reingehen zu können, doch es sollte nicht sein. In der Küche waren lauter Familienmitglieder der Shipleys, die sich bemühten, ein Essen auf den Tisch zu bringen. Und die plötzliche Menschenansammlung ließ meinen Blutdruck in die Höhe schießen.

»Lark!«, riefen mehrere Stimmen.

»Du kommst gerade rechtzeitig zum Abendessen!«, setzte Mrs Shipley hinzu. In den Händen hielt sie eine riesige Schüssel voll gehäuft mit Kartoffelbrei.

»Ich bin schnell gefahren«, erklärte ich. Es war keine besonders kluge Antwort, aber wenigstens konnte ich mich so weit zusammenreißen. Ich hatte die letzten drei Wochen damit zugebracht, Trübsal blasend in dem knarzenden alten Haus meiner Eltern in Beacon Hill zu hocken, Fragen zu meinem Martyrium auszuweichen und ganz allgemein zu versuchen, mich daran zu erinnern, wie sich das Leben anfühlte, wenn man nicht mit Gott darum feilschte, dass er einem den erbärmlichen Arsch retten möge.

So ist es früher nicht gewesen. So bin ich früher nicht gewesen.

Vor einem Jahr hatte ich sowohl einen Freund als auch einen Job gehabt, den ich liebte. Der Freund hatte sich zuerst verabschiedet, weil er unglücklich über meine Entscheidung gewesen war, eine auf zwölf Monate befristete Stelle in Guatemala anzunehmen. Und dann hatte der Job mich beinahe umgebracht. Ich war technisch gesehen immer noch bei der Non-Profit-Organisation angestellt, die mich nach Guatemala geschickt hatte. Aber nach den unglücklichen Ereignissen südlich der Grenze war ich nun »zur psychischen Genesung« krankgeschrieben.

Unter den wachsamen Augen meiner Eltern in Boston hatte ich (vergeblich) versucht, zu verbergen, wie sehr mich dieses Erlebnis erschüttert hatte. Meine Eltern waren mit mir zu Psychiatern und Fachärzten marschiert, die mir viel zu viele bohrende Fragen gestellt hatten.

Einige dieser Fragen führten zu keinen Antworten. Es gab einige Schlüsselmomente kurz vor meiner Rettung, an die ich mich nicht erinnern konnte. Und das machte alle nervös.

Nachdem May mich also tags zuvor angerufen hatte, um mich für die gesamte Apfelpflücksaison nach Vermont einzuladen, legte ich das Telefon weg und packte eine Tasche.

»Wie kann ich beim Abendessen helfen?«, fragte ich jetzt und schaute dabei zu, wie die achtzehnjährigen Shipley-Zwillinge – Dylan und Daphne – mit Tellern und Servierplatten durch den Raum sausten.

»Hol dir ein Getränk und setz dich«, antwortete Ruth Shipley. »Wir essen in zehn Minuten.«

May nahm mir die Reisetasche von der Schulter und verfrachtete sie ins Fernsehzimmer im hinteren Teil des Hauses. »Komm mit durch ins Esszimmer«, sagte sie. Dann hielt meine Freundin inne, eine Hand an der Esszimmertür. »Ich wünschte, ich könnte dir einen ruhigeren ersten Abend bieten«, entschuldigte sie sich. »Aber wir haben die Abrahams und die Nickels donnerstagabends meistens bei uns zu Gast, wenn wir uns nicht gerade bei einem von ihnen zu Hause treffen.«

»Ist schon okay.« Und wirklich, das würde es auch sein. Ich war noch nicht so ein schlimmes Nervenbündel, dass ich nicht mehr an einem voll besetzten Tisch essen konnte. Oder?

Auf alle Fälle konnte ich besser darin werden, so zu tun, als ob.

Sie drückte die Tür auf, und mein Magen krampfte sich zusammen, als ich die Gesichter dahinter zählte. Die alte Lark hätte keine Angst davor gehabt, einen Raum voller Leute zu begrüßen. Ich konnte das exakte Datum benennen, wann ich aufgehört hatte, furchtlos zu sein. Es lag siebenundsechzig Tage zurück.

Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder dieselbe sein würde. Schon während ich jetzt nur hier stand, auf denselben breiten Dielenbrettern wie schon Dutzende Male zuvor, wenn ich die Shipleys zu Collegezeiten besucht hatte, brach ich in Schweiß aus.

Ich konnte nur eins machen, und zwar eine Imitation meines normalen Ichs zu geben. Beim Betreten des Esszimmers senkte ich die Schultern und hob das Kinn.

Zehn Köpfe wandten sich in meine Richtung. Nein – sogar noch mehr. Dort war Grandpa Shipley, dessen wettergegerbte Hände um einen Kaffeebecher lagen. Und dann rief Mays älterer Bruder etwas Wohlbekanntes, wobei er den Spitznamen benutzte, den er mir vor sieben Jahren verpasst hatte, als May und ich im ersten Semester gewesen waren. »Hey! Der Wildfang ist da!«

»Hi Griffin«, brachte ich hervor. Er schlang einen Arm um seine lächelnde Freundin Audrey, die uns gerade aus der Küche herübergefolgt war.

Was die anderen Personen am Tisch anging, so erkannte ich einige von ihnen wieder, brauchte jedoch bei ein paar der Namen eine Auffrischung.

»Das ist Lark, alle miteinander«, sagte May. »Sie wird bei uns wohnen und auf den Bauernmärkten aushelfen.«

»Super«, sagte ein ziemlich junger Kerl am Tisch. »Sie kann die Geldkassette auszählen. Ich hasse es, mit Geld zu hantieren.«

»Genau aus dem Grund hast du auch keins«, sagte Griffin. Er zeigte auf den Kerl. »Das ist mein Cousin Kyle. Und sein Bruder Kieran.« Er zeigte auf einen anderen Kerl.

Ich konnte die Ähnlichkeit erkennen. Alle Shipleys waren groß, hatten dunkle Augen und glänzendes braunes Haar. Kyle und Kieran waren ähnliche Typen. Kyle hatte ein leicht dümmliches, schiefes Lächeln, während Kieran ernster wirkte.

»Schön, euch beide kennenzulernen«, sagte ich.

»Und das sind Jude und Sophie. Sie sind gerade aus ihren Flitterwochen auf Martha’s Vineyard zurück.«

Ich hatte Jude noch nie zuvor gesehen. Er trug längeres Haar, und unter seinen Hemdsärmeln ragten einige Tattoos hervor. Sein irgendwie verschlossener Gesichtsausdruck lud mich nicht dazu ein, ihn länger anzusehen, aber seine Frau winkte mir fröhlich zu.

»Und an Zachariah müsstest du dich erinnern.« May deutete auf einen blonden Kerl in der Ecke.

Mein Blick fiel auf den Farmhelfer, den ich, kurz bevor ich im Frühjahr zu meiner Reise aufgebrochen war, kennengelernt hatte. Wie könnte man ihn vergessen? Zachariah war ein Kunstwerk. Er hatte dichtes blondes Haar, und seine gebräunten, muskulösen Unterarme ruhten locker auf dem Tisch vor ihm. Sein abgetragenes T-Shirt spannte an seinen breiten Schultern und über den wohlgeformten Brustmuskeln. Und während ich ihn noch anstarrte, schenkte er mir ein schüchternes Lächeln.

Hallöchen.

»Die Abrahams verkaufen Käse, Bienenwachs und Honig auf dem Bauernmarkt«, sagte May gerade neben mir.

Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Vorstellungsrunde zu richten. Es entstand eine Pause, da alle erwarteten, dass ich etwas sagte. Ich entschied mich für: »Ich liebe Bienenwachskerzen. Die riechen so gut.«

Das Paar, das ich kennenlernen sollte, strahlte mich über den Tisch hinweg an.

»Isaac und Leah wohnen gleich die Straße runter«, erklärte May. »Unsere Farmen arbeiten häufig zusammen, deshalb sind sie wie Familie.«

Man brauchte nur einen einzigen Blick auf die Nachbarn zu werfen, um sie als junge zurück-aufs-Land Öko-Vermonter zu identifizieren. Leahs Haare waren zu Dreadlocks gedreht, und Isaac trug einen selbst gestrickten Pulli. Ein Kleinkind mit einem zerzausten Schopf saß zusammengekuschelt auf Isaacs Schoß.

»Schön, dich kennenzulernen, Liebes«, sagte Leah.

»Ebenso«, erwiderte ich.

Ruth und ihre Helfer hatten den Tisch mit Essen voll gestellt, und nun quetschten sich Mays Teenager-Geschwister auf die Plätze rechts und links neben Zu-schön-um-wahr-zu-sein-Zachariah. Daphne warf ihm einen anerkennenden Blick zu, bevor sie ihre Serviette in ihren Schoß fallen ließ.

Ich musste mir angesichts ihrer schlecht verhohlenen Teenie-Schmachte-Miene ein Lächeln verkneifen. Natürlich schwärmte sie für Zachariah. Er sah nicht nur gut aus, sondern hatte auch liebe Augen.

Wir suchten uns ebenfalls freie Stühle. Ich setzte mich zwischen Griffins Freundin und May. Und schlussendlich nahm auch Ruth Shipley ihren Platz am Kopfende des Tischs ein. Früher hatte ihr Ehemann immer dort gesessen, doch Auggie Shipley war verstorben, als wir noch aufs College gingen.

Die arme May war nach ihrer letzten Prüfung in unserem zweiten Collegejahr nach Hause gekommen, um dann zu erfahren, dass ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte und, noch bevor er auch nur im Krankenhaus ankam, gestorben war. Das war eine düstere Zeit für meine beste Freundin gewesen.

Am gegenüberliegenden Ende des Tischs faltete Grandpa Shipley die Hände und senkte den Kopf. Alle verstummten, damit er sein Gebet murmeln konnte. Nach einem »Amen« beförderte er mit der Gabel ein Stück Schmorbraten auf seinen Teller und reichte dann die Servierplatte weiter. Die Beilagen wurden genommen und weitergereicht, und um mich herum begann die Gesprächskulisse anzuschwellen. Ich nahm mir jeweils einen Löffel gekochter Kartoffeln, Rosenkohl und Kartoffelgratin, während ich zuhörte, was May über die Bauernmarkttermine erzählte.

»Freitags sind wir auf keinem Markt«, sagte sie. »Deshalb machen wir unser großes Gemeinschaftsessen donnerstagabends. Keiner muss sich am nächsten Morgen hochquälen.«

Plötzlich ertönte ein Scheppern, und ich merkte, wie ich auf meinem Stuhl zusammenfuhr. Doch es war nur ein Servierlöffel, der von einer Platte auf eine andere gefallen war.

Mein Zusammenzucken musste aufgefallen sein, denn gegenüber murmelte Dylan: »Sorry.«

Tief durchatmen, coachte ich mich selbst. Ich war seit vier Wochen aus Guatemala zurück, aber meine Schreckhaftigkeit wollte einfach nicht nachlassen. Ich gabelte einen weiteren Happen Essen von meinem Teller auf. »Wer hat den Rosenkohl zubereitet?«, fragte ich. »Der ist wunderbar. Ist da … Speck dran?«

»Oh ja«, meldete sich Audrey zu Wort. »Ich mache überall Speck dran.«

»Ich wusste doch, dass du mir sympathisch bist.« Na also. Ich konnte das hier. Smalltalk und Essen. Kein Ding.

»Leute?«, fragte Griffin. »Audrey und ich haben Neuigkeiten.«

»Dumeinegüte!«, kreischte May neben mir. »Du bist schwanger!«

Audrey verschluckte sich an ihrem Wasser. »Nein!«, prustete sie. »Aber sollte ich dieses Oberteil vielleicht verbrennen?« Sie blickte hinunter auf ihre Bluse. Alle lachten.

»Was sind denn die Neuigkeiten, Kinder?«, fragte Grandpa Shipley mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund.

»Audrey geht diesen Herbst nach Frankreich«, sagte Griffin. »Für zehn Wochen. Ihr werdet also für eine Weile keinen Speck an eurem Rosenkohl haben.«

Es gab ablehnendes Gemurmel. »Was?« »Niemals!« »Wieso?«

»Ich mache in Paris einen Kurs zum Fermentieren, die Esskultur dort wollte ich schon immer genauer kennenlernen«, sagte Audrey freudestrahlend. »Meine Mutter hat mir etwas Geld gegeben, und Griff und ich haben den Plan ausgeheckt, dass ich einen Kurs bei berühmten Winzern und Brauern belege. Damit wir die Ciderproduktion ausbauen und nächstes Jahr noch mehr Auszeichnungen gewinnen können.«

»Audrey, nein«, beschwerte sich Kyle. »Du kannst nicht gehen. Griff wird die ganze Erntezeit lang ein Brummbär sein. Weißt du überhaupt, was du uns damit antust?«

Es gab noch mehr Gelächter, und Griffin schaffte es, seinem Cousin den Stinkefinger zu zeigen, während er sein Weinglas hob und einen Schluck trank.

»Ich weiß, dass ihr mich vermissen werdet«, flötete Audrey. »Und meine Enchiladasoße.«

Grandpa Shipley stützte das Kinn in die Hand. »Nicht zu vergessen den Kokosnussreis.«

»Ich mache mir keine Sorgen ums Essen«, sagte Kyle. »Tante Ruth enttäuscht mich nie.«

Ruth lächelte, Kyles Bruder Kieran murmelte allerdings leise »Arschkriecher« vor sich hin.

»Aber mal im Ernst. Wenn Griff zu launisch wird, kannst du mit einem Anruf von mir rechnen. Kannst du nicht an den Wochenenden nach Hause kommen oder so?«

»Du stellst mich ja hin wie Caligula«, grummelte Griff. »So schlimm bin ich gar nicht gewesen.«

Schweigen und ein halbes Dutzend Leute, die sich ein Grinsen verkniffen, zeugten vom Gegenteil.

»Erzähl uns von diesem Kurs, Schatz«, sagte Ruth.

»Der Kurs ist das ganz große Los«, erwiderte Audrey. »Was Vergleichbares gibt’s sonst nirgends.«

»Mein Mädchen hat ein gutes Näschen für Cider«, platzte Griff heraus. »Nächstes Jahr kann uns keiner mehr aufhalten.«

»Außerdem freue ich mich auf einen Back-Schnellkurs«, fügte Audrey hinzu. »Drinks und Croissants, Leute! Ich perfektioniere die schönen Dinge des Lebens. Ich werde für euch alle backen, wenn ich wieder nach Hause komme.«

Während sie redete, aß ich weiter. Ich hatte in den vergangenen Monaten über fünf Kilo abgenommen. Nahrung war knapp gewesen während meines … Martyriums. Und danach hatte ich einfach keinen großen Appetit gehabt.

Aber Mrs Shipleys Schmorbraten schmeckte hervorragend, und Audreys Kartoffelgratin mit Knoblauch war cremig und köstlich. Sogar in einem Raum voller Leute meldete sich langsam mein Appetit.

Das ist gut so, rief ich mir selbst in Erinnerung. Du bist hier unter netten Menschen und an einem sicheren Ort. Der sicherste Ort der Welt. Ich war immer schon gern hier gewesen.

May hielt eine Flasche Wein in der Hand. »Ich bleibe bei Wasser, aber dir kann ich ein bisschen Wein einschenken. Möchtest du?«

»Oh ja.«

Cousin Kyle lachte über jemandes Witz, und ich lächelte ihn an, um meine beste Vorstellung eines glücklichen, ausgeglichenen Menschen zu geben. Ich würde auf dieser Farm arbeiten und gemeinsam mit diesen Leuten essen. Ich würde, solange es dauerte, lächeln und mich normal verhalten. Bis Sich-normal-Verhalten wieder normal anfühlte und die Drachen in meinem Herzen vergaßen, Feuer zu speien.

2

Zach

Bei den Donnerstags-Dinnern wurde immer eine große Zahl Töpfe und Pfannen gebraucht. Ich wusch sie einen nach dem anderen ab und hängte sie zum Trocknen an die alten Haken über der Spüle.

»Zach, mein Lieber?« Ruth kam mit einer fast leeren Kuchenform in die Küche. »Du musst das nicht alles allein machen, weißt du.«

»Es macht mir nichts aus«, sagte ich. Ich bekam in diesem Haus bei Gott genügend zu essen. An den meisten Donnerstagen lud Ruth wie gesagt die Nachbarn zum Abendessen ein. Diese Tradition hatten sie meinetwegen ins Leben gerufen. Als ich vor einigen Monaten von den Abrahams die Straße hinauf zu den Shipleys gezogen war, hatte Ruth mit den Donnerstags-Dinnern angefangen, damit ich mit meiner Adoptivfamilie in Kontakt blieb.

Ruth schuftete die ganze Woche lang, und dann gab sie donnerstags auch noch ein Festessen. Ein paar Töpfe und Pfannen waren das Mindeste, was ich übernehmen konnte.

»Wenn du schon mal hier bist, ich habe etwas für dich«, sagte Ruth und legte einen Stapel Bücher auf die Arbeitsfläche. »Die Bibliothekarin hatte vier der Romane, die du haben wolltest, aber sie wartet immer noch auf den Titel von C. S. Lewis.«

»Oh, super.«

Ruth rückte den Stapel mit den geübten Händen einer Mom gerade, die es gewohnt war, hinter einer großen Familie herzuräumen. »Haben wir nicht eigentlich alle Harry-Potter-Bücher?«

»Teil sechs konnte keiner finden«, sagte ich, während ich den Schaum von einem Topf abspülte.

»Ah, okay. Ich hab dir auch noch ein Buch mitgebracht, um das du nicht gebeten hast. Eins, das ich in der Buchhandlung für dich geholt habe.«

Mir wurde schwer ums Herz, als ich den Titel sah: Das Allgemeinbildungsdiplom meistern. Sie drängte mich seit einiger Zeit, diese Prüfungen abzulegen, nach denen man ein Zeugnis bekam, das fast einem Highschoolabschluss entsprach. Ich hatte keine Lust darauf. »Danke«, sagte ich trotzdem. »Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Mach ich doch gern. Du wirst gut bei diesen Tests abschneiden. Du wirst schon sehen. Außerdem hab ich hier noch das letzte Stück Apfel-Cranberry-Kuchen für dich.«

»Das ist doch jetzt mal ein Wort«, meinte ich, und sie lachte. »Den werd ich leichter schaffen als jeden Test.« Ich spülte den letzten Unterteller ab und legte ihn zum Trocknen umgedreht auf das Abtropfgitter.

»Ich hol dir nur eben eine Gabel.« Sie schob das Stück Kuchen auf einen neuen Teller, der hinterher wieder abgewaschen werden müsste. Ich wäre damit zufrieden gewesen, es direkt aus der Form zu essen, aber so etwas gab es bei Ruth nicht. Sie behandelte mich immer genauso gut wie ihre eigenen Kinder, und dafür war ich dankbar.

Trotzdem war ich kein Shipley. Egal, wie sehr ich auch versuchte, so zu tun als ob, das hier war nicht meine Familie. Und dass das Buch übers Allgemeinbildungsdiplom gerade jetzt auftauchte, kam mir suspekt vor. Während ich zugehört hatte, wie Audrey von ihren Plänen erzählte, mehr über die Ciderproduktion zu lernen, war mir klar geworden, dass Griff mit ihr nicht nur eine Lebenspartnerin, sondern auch eine Geschäftspartnerin gefunden hatte. Audrey arbeitete in Teilzeit für ein Unternehmen in Boston, das landwirtschaftliche Produkte direkt vom Erzeuger vertrieb, aber ihre eigentliche Beschäftigung schien es zu sein, Griff dabei zu helfen, seine Ciderkelterei weiter auszubauen.

Und jetzt hatte sich sein Bruder Dylan dafür entschieden, nur die Hälfte der Kurse am College zu belegen und in der übrigen Zeit ebenfalls im Familienbetrieb mitzuarbeiten. Je mehr Hilfe Griff von seiner Familie bekäme, desto weniger Außenstehende bräuchte er.

Kein Wunder, dass sie mich drängten, mir zu überlegen, wie es für mich weitergehen sollte. Die Shipleys würden zwar immer Saisonarbeiter auf der Farm brauchen, aber ich befürchtete, dass sich mein angenehmer Ganzjahresjob mit Unterkunft dem Ende zuneigte.

Traurig nahm ich mein Stück Kuchen mit ins Esszimmer. Mein Platz war besetzt, also lehnte ich mich gegen die Wand und aß einen himmlischen ersten Happen. Mrs Shipleys Apfelkuchen war unübertroffen. Die buttrige Decke zerkrümelte, als ich sie mit der Gabel zerteilte. Und ihre Geheimzutat – gesüßte Cranberrys – zerplatzte beim Kauen auf meiner Zunge.

Bevor ich nach Vermont gekommen war, hatte ich es nicht gekannt, dass Essen reichlich vorhanden und noch dazu wunderbar sein konnte. In meiner Kindheit hatte es nie genug gegeben. Selbst nach vier Jahren war ich noch jedes Mal ein kleines bisschen erstaunt, wenn ich mich mit den Abrahams oder den Shipleys zu einem großzügigen Mahl zusammensetzte.

Wer würde nicht so lange hierbleiben wollen, bis er endgültig mit dem Arsch vor die Tür gesetzt wurde?

Während ich aß, belauschte ich die Gespräche um mich herum. Alle anderen im Auge zu behalten, war eine Fähigkeit, die ich gebraucht hatte, um meine ungewöhnliche Erziehung zu überleben. In meiner riesigen, notleidenden Familie hatte es ständig neue Fraktionen und Aufstände gegeben. Mehr zuzuhören, als selbst zu reden, entsprach einfach dem gesunden Menschenverstand.

Aber am Tisch der Shipleys hörte ich zum Vergnügen zu, nicht weil es überlebenswichtig war. Griffin und seine Cousins diskutierten darüber, wo wir morgen Abend etwas trinken gehen sollten.

»Alter, das Goat ist billig und ganz in der Nähe«, sagte Griffin. »Mach das Goat nicht schlecht.«

»Hör zu«, wandte sein Cousin Kyle ein, »nichts gegen Bier für vier Dollar und den kurzen Weg. Aber ich sag dir, die haben den Schuppen nach den Ziegen benannt, die da was trinken gehen.«

»Mä-hä-hä!«, setzte Kieran hinzu.

Griffin schnaubte. »Warum steigen deine Chancen, eine abzuschleppen, dann nicht, wenn wir zum Gin Mill fahren?«

»Woher soll ich das wissen? Wir sind ja immer im Goat!«

Ich verkniff mir ein Grinsen. Es war jede Woche die gleiche Diskussion. Und immer landeten wir am Ende im Goat, weil Griff anbot, den Fahrer zu spielen, und weil seine Ex noch über der Bar wohnte. Er und Audrey besuchten Zara und ihr kleines Baby gern.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Gespräch zwischen den Frauen am Tisch zu, denn das hatte immer mehr Tiefgang und war aufschlussreicher.

»Wir können Lark jederzeit auch ein Bett im Alkoven einrichten«, sagte Mrs Shipley gerade. »Früher einmal haben wir auch unsere ganze Buchhaltung auf dem Küchentisch erledigt.«

Lark schüttelte den Kopf. »Die Baracke ist mir vollkommen recht. Macht euch um mich keine Gedanken.«

Der letzte Bissen Kuchen machte eine Umdrehung in meinem Magen. Lark schlief in der Baracke?

Den ganzen Abend lang hatte ich mir nur hin und wieder Blicke zu Mays bester Freundin gestattet. Jetzt erlaubte ich mir noch einen. Und, jepp. Sie war immer noch genauso atemberaubend, wie ich sie in Erinnerung hatte.

Lark war nach der Lerche benannt, einem Vogel, der keine hundert Gramm wog, aber dieses Mädchen hatte nichts Zerbrechliches an sich. Sie hatte riesengroße braune Augen über hohen Wangenknochen. Ihre Haut war olivfarben und absolut ebenmäßig, und ihr dunkles, glänzendes Haar trug sie so geschnitten, dass es ihren langen, zum Küssen einladenden Hals betonte.

Sie sah strahlend aus, so als hätte Gott ihre Gesichtszüge in kräftigeren Farben gemalt als beim Rest der Menschheit. Neben der ebenmäßigen Haut hatte er sie auch durch üppige Kurven und einen vollen Mund weicher gezeichnet.

Lark musste meinen Blick auf sich gespürt haben, denn ihre Augen wanderten zu mir herüber, sodass sie bemerkte, wie ich sie anstarrte.

Ups. Erwischt.

Ich spürte, wie ich rot anlief, als sie mich einen flüchtigen Moment lang betrachtete. Ihre Miene wurde kurz von etwas überschattet, das ich nicht richtig entschlüsseln konnte, und dann senkte sie den Blick auf ihre Hände. Da ich nun schon beim Starren ertappt worden war, machte ich keine Anstalten, wegzugucken. Ich hätte es sowieso nicht gekonnt. Lark war die bezauberndste Frau, der ich je begegnet war.

Sie war schon einmal zu Besuch hier gewesen, vergangenen März während der Baumschneidezeit. Ich erinnerte mich ganz genau daran, wo ich gewesen war, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte – draußen vor dem Kuhstall, wo ich Äste aufstapelte, nachdem ich den ganzen Tag lang auf den Obstwiesen Bäume zurückgeschnitten hatte. Die Sonne ging gerade unter, sodass der Himmel gold und rosa gewesen war. May Shipley kam mit einem großen Krug Cider in der Hand auf die Tür zum Ciderhaus zugelaufen. Sie redete mit jemandem, aber ich achtete nicht groß darauf, bis ich ein wirklich wunderschönes Lachen hörte. Es klang leise, perlend und wissend.

Ich schaute hoch, um zu sehen, wer solche Laute von sich geben konnte. Mein allererster Eindruck von Lark war also, wie sie lächelte. Ihre dunklen Augen funkelten vor Fröhlichkeit, und ich ertappte mich dabei, wie ich selbst lächelte, obwohl ich keine Ahnung hatte, worüber die zwei lachten.

Die Mädels waren um den Stall herum zu einer Hängematte gegangen, die zwischen zwei alten Eichen aufgespannt war. Ich hatte angefangen, die geschnittenen Äste langsamer aufzustapeln, damit ich ihr durch die Dämmerung herüberwehendes Gelächter noch länger hören konnte.

An dem Abend hatte ich mich beim Essen absichtlich auf dieselbe Seite des Tischs gesetzt wie Lark, weil mir klar gewesen war, dass ich sie von einem Platz gegenüber angestarrt hätte. Sie hatte im Farmhaus übernachtet und war am darauffolgenden Tag nach dem Mittagessen gefahren. Während dieser vierundzwanzig Stunden war mir ihre Anwesenheit bei jeder Mahlzeit überaus bewusst gewesen. Beim Klang ihrer Stimme wurde mir jedes Mal ganz eng in der Brust. Immer wenn ihr Blick mich traf, selbst nur für den Bruchteil einer Sekunde, stieg mir die Hitze den Hals hinauf.

Ganz ehrlich, ich wusste nicht, wie ich mit dieser Reaktion umgehen sollte. Noch nie zuvor hatte jemand so etwas in mir ausgelöst. Wegen meiner seltsamen Erziehung hatte ich in meinem Leben nicht viele Frauen kennengelernt. Diese immense pure Anziehungskraft war mir komplett neu.

Als May Lark letztes Frühjahr zum Abschied umarmt hatte, hatte sie gesagt: »Du musst mir jeden Tag mailen, ja? Ich kann’s nicht fassen, dass ich ein ganzes Jahr ohne dich auskommen muss.«

Ein ganzes Jahr. Enttäuschung hatte sich in mir breitgemacht, und auch damit hatte ich nichts anfangen können.

Dann war Lark in ihrem kleinen VW weggefahren, und ich hatte mein Bestes gegeben, sie mir wieder aus dem Kopf zu schlagen. Vor sieben oder acht Wochen war May jedoch eines Morgens weinend in den Kuhstall gekommen. Ich hörte die kurze Geschichte mit, die sie ihrem Bruder erzählte: Mays E-Mails an Lark waren seit einigen Tagen unbeantwortet geblieben. Also hatte May Larks Mutter angeschrieben, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

»Ich dachte, sie würde mir sagen, dass Lark ihr Handy verloren hat oder so was«, hatte May an Griffins Schulter geschluchzt. »Aber sie wird in Guatemala vermisst. Sie können sie nicht finden. Sie suchen nach ihr …«

Als ich das gehört hatte, war ich, die Schippe noch in der Hand, geradewegs aus dem Stall spaziert. Dann fand ich mich an der Stelle wieder, an der ich an jenem Frühlingstag gestanden hatte, als ich Larks Lächeln zum ersten Mal gesehen hatte. Es war, als könnte ich nicht so richtig glauben, was May gerade gesagt hatte.

Vermisst. Was für ein seltsames, unbefriedigendes Wort.

Ich kannte das Mädchen nicht mal, doch ihr Verschwinden beunruhigte mich zutiefst. Ich redete mir ein, es läge daran, dass May so aufgelöst war. Jedes Mal, wenn ich zum Essen ins Farmhaus kam, schaute ich prüfend in Mays Gesicht, um herauszufinden, ob es gute Nachrichten gab.

Es kamen wochenlang keine. Tatsächlich hatte May noch zigmal verzweifelter gewirkt, als ich sie je zuvor erlebt hatte. Es war ein harter Sommer gewesen. Doch dann war May letzten Monat eines Nachmittags mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und glitzernden Tränen der Erleichterung in den Augen auf die Obstwiese gerannt gekommen. »Lark ist in Sicherheit!«, hatte sie verkündet. »Sie haben sie gefunden, und es geht ihr gut!«

Das lag inzwischen gut vier Wochen zurück. Und ich war während der Obsternte so beschäftigt gewesen, dass ich nichts weiter über sie gehört hatte. Da Lark in Sicherheit war, hatte ich sie mir wieder aus dem Kopf geschlagen.

Bis heute. Als Griffin beim Mittagessen nebenbei erwähnt hatte, dass Lark für die restliche Obsterntezeit herkommen werde, hätte ich fast mein Sandwich fallen lassen. Ich saß am Picknicktisch und dachte daran, wie durcheinander ich im letzten Frühling während der vierundzwanzig Stunden gewesen war, als sie zu Besuch vorbeigeschaut hatte. Und ich hatte mich gefragt, ob es sein konnte, dass eine einzelne Person wieder so eine mächtige Wirkung auf mich ausüben würde.

Die Antwort lautete Ja.

Heute Abend fühlte ich dieselbe Anziehung. Es gab nichts an ihr, woran mein Blick nicht hängen blieb – ihre glänzenden Haare, ihr warmer Hautton. Sie war genauso schön, wie ich sie in Erinnerung hatte. Nein – noch schöner. Nur zwei Dinge schienen sich an ihr verändert zu haben. Sie sah jetzt dünner aus. Und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Vorhin, als Griffin in fast schon ohrenbetäubendes Gelächter ausgebrochen war, war sie doch tatsächlich zusammengezuckt.

Es hatte mir leidgetan, das zu sehen.

Mrs Shipley war derweil noch nicht damit durch, sich bei Lark wegen der Unterbringung in der Schlafbaracke zu entschuldigen. »Dein Zimmer hat eine Tür, du wirst also deine Privatsphäre haben. Aber du wirst dir das Bad mit drei Männern teilen, manchmal sogar vier. Sie melken morgens zwischen sechs und halb acht, das ist also die beste Zeit für eine ausgiebige Dusche, würde ich sagen.«

»Die Baracke ist absolut in Ordnung«, versicherte Lark ihr. »Ich mochte das lustige kleine Häuschen schon immer. Aber es muss doch keiner meinetwegen sein Zimmer räumen, oder?«

Mrs Shipley schüttelte den Kopf. »Früher hatte Griffin das vordere Zimmer, aber jetzt wohnt er mit Audrey im Bungalow. Also haben wir das Zimmer für Gäste frei.«

»Ich zeige Lark das Zimmer«, sagte May und erhob sich. »Lark, nimm du dein Getränk mit, und ich hole deine Tasche.«

»Deal.« Lark stand ebenfalls auf.

Ich hielt den Blick gesenkt, während sie den Raum verließ.

Griffin und ich halfen, die letzten Gläser vom Tisch abzuräumen. Und dann war es an der Zeit, sich von Isaac und Leah zu verabschieden.

»Gute Nacht, mein Lieber«, sagte Leah Abraham und zog mich in eine Umarmung.

»Gute Nacht.«

Leah war erst neunundzwanzig und ich dreiundzwanzig. Aber niemand war je mehr wie richtige Eltern für mich gewesen als Leah und ihr Ehemann. Die Abrahams waren es, die mich bei sich aufgenommen hatten, als ich vor vier Jahren aus meinem sogenannten Zuhause vertrieben worden war. Und außerdem waren sie die einzigen beiden Menschen, die wussten, was ich durchgemacht hatte.

Sie wussten, wie sonderbar und schwierig es war, ein neues Leben anzufangen, nachdem man den eigentümlichen Ort verlassen hatte, an dem wir aufgewachsen waren. Denn sie hatten das Gleiche erlebt.

Ich tätschelte Leah unbeholfen den Rücken, bis meine Donnerstagabend-Umarmung vorbei war. Ich wusste, dass Leah mich absichtlich umarmte – sie versuchte, mir zu zeigen, dass Umarmen normal war. Dass es keine Sünde war. Als ich nach Vermont gekommen war, war ich bei Leahs Umarmungen anfangs immer erstarrt, weil es einfach komisch war, die Frau eines anderen Manns im Arm zu halten. Selbst jetzt noch nahm ich es lediglich irgendwie hin, wenn ich gelegentlich eine Umarmung bekam.

Dort, wo wir aufgewachsen waren, hatte Anfassen Peitschenhiebe zur Folge gehabt. Umarmungen waren strafbare Vergehen, genauso wie ungehörige Bemerkungen oder Lebensmittelklau aus der Vorratskammer. Folglich war ich zurückhaltend. Außer bei Leuten, die ich sehr gut kannte, neigte ich nicht dazu, jemanden zu berühren oder viel zu reden.

Von diesen Leuten gab es ein halbes Dutzend.

»Wir sehen uns Samstag auf dem Markt«, sagte ich zu Isaac. »Und morgen früh mache ich den Ölwechsel bei deinem Pick-up. Du kannst ihn irgendwann nachmittags abholen.«

»Danke, Mann«, sagte er. »Bis dann.« Er ging mit seiner dreijährigen Tochter Maeve, die auf seiner Schulter eingeschlafen war, vor mir durch die Tür. Ihr schlafendes Gesicht kam in mein Blickfeld. Sie war ein glückliches kleines Mädchen.

Maeve würde eine Weltklasse-Umarmerin sein, wenn sie mal groß war. Sie war für ihre Eltern der Mittelpunkt des Universums und hatte keine Ahnung davon, dass das Leben auch anders sein konnte. Maeve würde nie in dem Durcheinander von Kindern untergehen, die um nicht mal annähernd genug Essen stritten. Sie würde nie geohrfeigt werden, weil sie eine Frage gestellt hatte. Und das war nur der Anfang.

Maeves Name stammte nicht geradewegs aus dem Alten Testament.

Sie musste ihren Vater nicht »Sir« nennen.

Sie hatte eine gültige Geburtsurkunde, und sie würde mehr Bildung bekommen als Mittelstufenwissen.

Sie würde nicht an ihrem siebzehnten Geburtstag mit einem älteren Mann verheiratet werden.

Isaac öffnete eine der hinteren Türen des Wagens seiner Frau und legte sein schlafendes Kind sanft in den Autositz. Ich hatte während meiner ersten zwei Jahre in Vermont auf der Farm von Isaac und Leah gelebt. Aber vor achtzehn Monaten hatte ich den großen Umzug knapp zwei Meilen weit die Straße hinunter gemacht, weil die Shipleys einen größeren Betrieb führten und es sich leisten konnten, mir ein Gehalt zu zahlen.

Isaac hätte mich weiterbeschäftigt, wenn das nötig gewesen wäre. Er kam dem am Nächsten, was ich an Familie hatte. Aber selbstständig zu leben und zu arbeiten, fühlte sich richtig und gut an, was Isaac auch verstand. »Du kannst immer zurückkommen, wenn es nichts wird«, hatte Leah mir versichert.

Von der Veranda aus sah ich zu, wie die Abrahams wegfuhren, und hoffte, dass ich mich ihnen nie wieder würde aufdrängen müssen.

Selbst nachdem die Scheinwerfer ihres Wagens schon verschwunden waren, blieb ich noch ein Weilchen draußen in der angenehmen Vermonter Luft stehen. Die Shipley Farm roch nach gedeihenden Pflanzen und reifenden Früchten. Zu dieser Jahreszeit schwang in dem Duft der leichte Essighauch von verderbenden Äpfeln mit. Wir hatten heute sechs Stunden lang an der Ciderpresse gestanden, was bedeutete, dass auch ich tüchtig apfelig roch. Wenn ich mich beeilte, konnte ich noch duschen gehen, bevor im Schlafraum das Licht ausgemacht wurde.

Doch Griff hatte andere Pläne. »Hey, Chewie, hier sind deine geliehenen Bücher.«

»Danke.«

Seine Cousins kamen ebenfalls auf die Veranda gestampft. »Habt ihr mal ’nen Moment, Jungs?«, rief Griffin. »Ich muss mit euch allen reden.«

»Sicher, Han.« Ich hatte inzwischen mehrere Spitznamen. Und hier wurde es komisch – Griff hatte mir den Namen eines haarigen Aliens aus Star Wars verpasst, aber das sollte ein Kompliment sein. Und sein Cousin Kyle nannte mich »Chorknabe«, meinte es jedoch als Stichelei.

Eine komische Familie war das. Aber ich hatte sie trotzdem gern.

Wortlos folgte ich Griffin und seinen Cousins von der Veranda herunter und über den dunkel daliegenden Rasen. Was auch immer Griff zu sagen hatte, er wollte es nicht auf der Veranda sagen.

Auf unserem Weg quer über die Wiese bis halb zu den Obstwiesen hüllte uns das Zirpen der Grillen ein. Ihr nächtliches Konzert war ein wohlbekannter Chor. Eine Eule schrie in der Nähe, eine andere antwortete.

Nachts auf dem Grundstück der Shipleys herumzulaufen, ließ mich immer an den Psalm 96 denken. Das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist; und lasset rühmen alle Bäume im Walde. Im August waren die Felder in Vermont am fröhlichsten.

Komisch, dass ich nie viel mit der Bibel anfangen konnte, bis ich mich von den Leuten befreite, die sie mich gelehrt hatten.

Während Isaac und Leah nett zu mir waren, weil sie wussten, wo ich herkam, waren die Shipleys nett zu mir, weil sie einfach nette Menschen waren. Es war nun fast vier Jahre her, dass ich sie kennengelernt hatte, als ich barfuß und hungrig die Straße hinunter bei den Abrahams angekommen war. Aber ich fühlte mich immer noch als der Neue.

Ich wurde hier nicht als Freak abgestempelt, aber ab und zu kam eine harmlose Frotzelei. Griffin Shipley hatte nicht lange gebraucht, um zu merken, was für eine merkwürdige Kindheit ich gehabt hatte. »Oh mein Gott!«, hatte er im ersten Monat, nachdem ich ihn kennengelernt hatte, gepoltert. »Zach hat Star Wars nicht gesehen!«

In der darauffolgenden Woche hatte er mich zu einem Filmmarathon der Originaltrilogie eingesperrt. »Der Kanon«, wie er sie nannte. Wir hatten beide am nächsten Tag zum Umfallen müde auf dem Bauernmarkt gestanden. Aber laut Griffin war es das wert gewesen, denn jetzt wusste ich endlich, dass Darth Vader Lukes Vater war.

Und das war nur der Anfang. »Ich muss dich in Monty Python schulen«, hieß es als Nächstes. Und in einer Million anderer Filme. Und in den Football-Spielregeln. Bei denen war ich immer noch etwas unsicher. Es gab so viele verschiedene Positionen.

Was ich alles nicht kannte, war eine nie versiegende Quelle der Belustigung für den Shipley-Clan. Das eine Mal, als sie mir Knallbrause zu probieren gaben, war ziemlich lustig. Ich kannte weder Halloween noch den Valentinstag (meinen früheren Oberherren zufolge beides »Heidenfeste«). Oder Mistelzweige. Oder Eierpunsch.

Ich kannte keinerlei sexuelle Anspielungen. Die bereiteten mir immer noch Probleme, denn anscheinend gab es eine Million Umschreibungen für Sex, und nicht alle davon ergaben Sinn. Ich werde nie vergessen, wie Griffin sich vor Lachen krümmte, nachdem er mir erklärt hatte, was »jemandem einen blasen« bedeutete.

»Aber dann bläst doch niemand auf irgendwas«, hatte ich protestiert, während er versuchte, nicht zu vergessen, wie man atmete.

Wenigstens zogen sie einander genauso auf wie mich. Vielleicht sogar noch mehr. Diesen Sommer hatte Griffin angefangen, Kyle »Fehlzündung« zu nennen, weil der lächerlich viel Zeit damit zu verbringen schien, auszuprobieren, wie man erfolgreich Frauen ansprach.

Nicht dass ich das bereits rausgekriegt hätte.

Griffin blieb mitten auf dem Rasen stehen. Ich hatte nicht damit gerechnet und lief deshalb voll gegen ihn.

»He«, sagte er und wirbelte herum, um mich bei den Schultern zu packen. »Meine Footballzeiten sind vorbei.«

»Sorry.«

»Warum stehen wir mitten auf dem Hof rum?«, fragte Kyle.

»Warten wir noch eben auf Jude und Dylan.«

Die beiden anderen Männer kamen auf uns zugejoggt. Und als wir fünf versammelt waren, fing er an zu erklären. »Zwei Sachen. Die erste dreht sich um Lark.«

Ich senkte den Blick auf meine Stiefel, lauschte aber auf jedes Wort.

»Sie ist auf der Boston University Mays Mitbewohnerin gewesen. In den letzten zwölf Monaten war sie aber zum Arbeiten in Guatemala.«

»Nice!«, sagte Kyle.

»Nein, nicht nice«, widersprach Griffin seinem Cousin. »Hör zu, was ich zu sagen habe. Sie hat da nicht entspannt Urlaub gemacht, klar? Dort ist irgendein übler Scheiß passiert, der sie aus der Bahn geworfen hat. May weiß nicht genau, was sie durchgemacht hat.« Griffin räusperte sich. »Könnte alles mögliche Fiese gewesen sein.«

Mir wurde durch und durch eiskalt, und ich erschauerte doch tatsächlich, obwohl immer noch um die satte zwanzig Grad hier draußen herrschten. Ich sog langsam einmal tief die Luft ein und atmete wieder aus.

»Geht es ihr gut?«, fragte Dylan. »Sie sieht erschöpft aus.«

»Na ja …« Griff rieb sich den Nacken. »Sie ist hier, um zu arbeiten, aber auch, um aus der Stadt rauszukommen und zu versuchen abzuschalten. Also lasst es langsam mit ihr angehen. Wir werden einfach schauen müssen, wie sie sich macht. Ich kenne sie schon lange, sie ist stark. Außerdem – Jungs, ich sollte das nicht zu sagen brauchen – dieses Mädel ist tabu.« Griffin schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf und ging sicher, dass er seine beiden Cousins bei dieser Ansage ansah. »Verstanden?«

»Ja, Chef«, sagte Kyle. »Ich lasse meinen Charme bei ihr nicht spielen.«

»Als ob sie den bemerken würde.« Sein Bruder Kieran gluckste.

Mir fiel auf, dass es Griffin weder bei seinem Vortrag noch bei seinem stechenden Blick für nötig hielt, mich ins Visier zu nehmen. So war das eben. Mein Zölibat wurde weitestgehend akzeptiert und sich gelegentlich darüber lustig gemacht.

»Die zweite Sache ist, dass ich für die Zeit, während Audrey in Frankreich ist, etwas vorhabe.«

»Geht es um Gegenmaßnahmen gegen sexuelle Frustration? Dann bin ich nämlich ganz Ohr«, sagte Kyle.

Griff ignorierte ihn. »Ich werde die Küche sowie das kleine Badezimmer im Bungalow renovieren.«

»Ganz allein?«, fragte Jude.

Griffin lachte in sich hinein. »Mit deiner Hilfe, hoffe ich. Bereit, Überstunden für mich zu machen? Bezahlt wird der übliche Stundensatz plus so viel Apfel-Cranberry-Kuchen, wie du essen kannst.«

»Klar, Mann«, sagte Jude. »Du kriegst meinen freien Montag. Aber die Samstage sind für Sophie reserviert. Wenn sie ihre Mutter besuchen fährt, werd ich noch mehr Zeit für dich haben.«

Griffin hob das Kinn. »Das weiß ich wirklich zu schätzen. Danke.«

»Moment mal«, sagte ich langsam. »Du wirst die alten Elektrogeräte und Armaturen rausreißen, neue Anschlüsse verlegen, die Hängeschränke abschleifen und neu streichen …«

»Und eine Wand herausreißen«, warf Griff ein. »Und die Arbeitsplatten austauschen.«

»Und zwanzigtausend Apfelbäume abernten?«, fragte ich.

»Und eine Rekordzahl Kisten Cider produzieren.« Griff grinste mich in der Dunkelheit an. »In den kommenden zwölf Wochen.«

»Ähm … Wie soll das alles gehen?«, wollte ich wissen.

Griff konnte sich ein Star-Wars-Zitat nicht verkneifen. »Tu es … oder lass es. Es gibt kein Versuchen.« Er breitete die Arme aus und ließ sie dann fallen. »Ich hab keinen Schimmer, wie sich das alles stemmen lässt. Aber wenn Audrey weg ist, werde ich zu euch Jungs in die Baracke ziehen. Dann ist es egal, ob es im Bungalow kein Wasser und keinen Strom gibt.«

Ich überlegte mir bereits einen Schlachtplan. »Die Elektrogeräte müssen zuerst raus. Dann haben wir mehr Platz zum Arbeiten.«

Griff klopfte mir auf die Schulter. »Ja. Und du kannst mir dabei helfen, die neuen anzuschließen. Aber eigentlich habe ich eine andere Hauptaufgabe für dich. Bereit?«

»Sicher?«

»Ich möchte, dass du diese Saison zusammen mit Lark sämtliche Bauernmärkte übernimmst. Das hilft mir, die Arbeiten auf der Farm und die Ciderproduktion mit der Renovierung unter einen Hut zu kriegen. Ich werde zehnmal mehr schaffen, wenn ich nicht vier Tage die Woche quer durch Vermont fahre. Kannst du das für mich machen?«

»Sicher. Geht klar.« Ich brauchte einen Moment, bis diese kleine Beförderung durchsackte. Bis jetzt hatte immer einer von den Shipleys mit auf jedem Markt gestanden. Die richtigen Waren auf den Pick-up zu laden und die Bestände abzuverkaufen, war eine kleine Kunst. Deshalb freute ich mich, dass er mir diesen Einnahmekanal komplett anvertraute. Und? Zeit allein mit Lark.

Kneif mich mal jemand.

»Und, Dyl?«, wandte er sich an seinen kleinen Bruder. »Du bist der Mann für die Milch, wann immer du nicht am College bist. Ich werde dich von jetzt an entlohnen, da du ein Teilzeitstudent bist.«

»Fein.« Das hörte Dylan gern. In nicht mal drei Wochen würde er drei Tage die Woche zur University of Vermont fahren. Seine Zwillingsschwester ging für ein Vollzeitstudium am Harkness College nach Connecticut und würde die Erntezeit verpassen.

»Und dass mir keiner Audrey gegenüber mein Geheimnis ausplaudert, klar? Die Küche soll eine Überraschung für sie sein. Ich fange mit den Abbrucharbeiten an, sobald ihr Flugzeug abhebt.«

»Geht klar, Mann.«

»Das war’s, was ich zu sagen hatte. Nacht, Jungs. Schlaft gut, denn ihr werdet euch meinetwegen den Arsch aufreißen.«

Griff und Jude gingen zurück zum Farmhaus, und Dylan folgte ihnen.

Kyle, Kieran und ich schlugen die entgegengesetzte Richtung ein, auf die Baracke zu. »Ich geh als Erster duschen«, sagte ich.

»Du Arsch«, murmelte Kieran.

»Ich beeil mich«, versprach ich, als wir den steinernen Bau erreichten. Die Schlafbaracke der Shipleys war ein altes Gebäude, das schon seit einem Jahrhundert stand. Es hatte breite Pinienholzdielen und eine große Eichentür. Ich liebte dieses Haus.

Das Gästezimmer lag, wenn man reinkam rechts, und das Bad links. Geradeaus befand sich der Schlafraum, in dem fünf Betten in Nischen in den Wänden eingebaut waren. Ich hatte das einzelne unter den Fenstern, während die anderen zwei in den Stockbetten an den Seitenwänden schliefen. An der vierten Wand des Zimmers stand ein großer alter Kleiderschrank, und jeder von uns hatte einen Schrankkoffer unter dem Bett.

Wenn hier alles voll belegt war, gab es kaum genug Platz für fünf Kerle. Aber nur zu dritt war es geräumig. Und durch Griffs vorübergehende Anwesenheit würde es nicht überfüllt sein. Ich mochte seine Gesellschaft.

Nachdem ich meine Bücher auf mein Bett fallen gelassen hatte, schnappte ich mir mein Handtuch und ging duschen. Auf dem Weg ins Bad kam ich an der Tür zum Gästezimmer vorbei, die halb offen stand. Lark musste Musik mitgebracht haben, denn Gitarrengezupfe und die Stimme einer Sängerin drangen auf den Flur hinaus. Ich hörte May kichern. Lark antwortete mit einer rauchigen Stimme, die in meiner Brust widerzuhallen schien.

Verdammt.

Ich schloss die Badezimmertür und stellte die Dusche an, damit das Wasser in den alten Leitungen warmlaufen konnte. Es war Zeit, sich auszuziehen, doch ausnahmsweise zögerte ich. Es war ein bisschen komisch, sich nackig zu machen, wenn jederzeit eine Frau einfach so hereinspaziert kommen konnte. Ich war rein männliche Gesellschaft gewohnt, in der ich nicht erst zu überlegen brauchte, ob ich meine Sachen ausziehen konnte.

Nachdem ich schnell meine Klamotten an den Wandhaken gehängt hatte, stellte ich mich unter den warmen Strahl. Nach einem anstrengenden Arbeitstag war das herrlich. Meine Muskeln waren auf angenehme Weise ermüdet, und ich genoss es, wie das Wasser gleichmäßig auf meine nackte Haut prasselte.

Genauso wie Essen hatte es dort, wo ich aufgewachsen war, auch warmes Wasser nur begrenzt gegeben. Ich war es nicht gewohnt gewesen, dass man sich am Ende des Tages eine ausgiebige heiße Dusche gönnen konnte, ohne sich dabei schuldig zu fühlen.

Es hatte vieles gegeben, was Isaac und Leah mir nach meinen neunzehn Jahren auf der Paradise Ranch hatten beibringen müssen.

Als ich nach Vermont gekommen war, hatte ich noch nie einen Computer oder ein Telefon angefasst. Ich hatte noch nie Fast Food gegessen. Ich wusste weder, was Red Bull noch was ein Big Mac war. Ich kannte weder Star Wars noch die Black Keys oder Game of Thrones.

Manches an meiner Unwissenheit war sogar noch peinlicher.

Ich würde niemals vergessen, wie Isaac mir zum ersten Mal die Geschichte seiner Anfangszeit in Vermont erzählt hatte. Er und Leah waren zusammen von der Paradise Ranch abgehauen und hatten sich im Grunde quer durchs Land vom staubigen Wyoming nach Vermont gezeltet. »Es gefiel uns hier, außerdem war August. Also haben wir die ganze Erntesaison lang Äpfel gepflückt und sind danach geblieben.« Indem sie so sparsam lebten, wie es für zwei Menschen nur ging, brauchten die beiden nur fünf Jahre, um eine kleine Anzahlung für eine schlecht laufende Farm zusammenzukratzen. Selbst heute noch arbeiteten Isaac und Leah wie die Tiere, damit der Hof genug abwarf, dass sie davon leben konnten.

Ich hatte seiner Geschichte voller Bewunderung gelauscht, beeindruckt von dem Mumm sowie dem Glück, das es gebraucht hatte, um sich innerhalb von zehn Jahren von jugendlichen Sektenmitgliedern zu Grundeigentümern zu mausern. »Zum Glück wurde Maeve erst geboren, nachdem ihr die Farm gekauft hattet«, hatte ich gesagt. Mein ganzes frühes Leben lang hatte ich miterlebt, wie es die jungen Mütter auf der Paradise Ranch belastet hatte, die Verantwortung für zu viele Kinder zu tragen.

Es war Isaac hoch anzurechnen, dass er nie über meine mit schöner Regelmäßigkeit zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit lachte. Kein einziges Mal. »Das war kein Glück, mein Lieber. Das nennt sich Empfängnisverhütung.«

»Was ist das?«, hatte ich gefragt. Ich war fast zwanzig Jahre alt gewesen und hatte keinen Schimmer davon gehabt, dass man verhindern konnte, dass die Ehefrau schwanger wurde.

In der darauffolgenden Woche hatte Isaac mir ein Buch über Sexualkunde gegeben – eins von der Art, wie Zehnjährige sie von modernen Eltern bekommen. Und nur um sicherzugehen, dass ich es kapierte, erklärte er mir die Empfängnisverhütung eines Abends, nachdem Leah und Maeve schlafen gegangen waren.

Und obwohl wir mitten in der Pampa wohnten und ich keinerlei Sozialleben hatte, hatte Isaac mir eine Packung Kondome in meine Kommodenschublade gelegt. »Nur für den Fall, ja? Es geht hier anders zu, Zach«, hatte er gesagt, was die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen war. »Niemand wird dir eine Tracht Prügel geben, weil du Sex hast. Das heißt aber nicht, dass du unvorsichtig sein solltest.«

Ich hatte die Packung noch. Sie war ungeöffnet.

Der Grund, warum ich immer versuchte, der Erste unter der Dusche zu sein, war, dass mir so Zeit zum Lesen blieb. Ich besaß eine kleine Leselampe zum Anklemmen, die mir die Shipley-Zwillinge zu Weihnachten geschenkt hatten. Und obwohl ich nur noch zwanzig Seiten von Herr der Fliegen übrig hatte, schlug ich den sechsten Harry-Potter-Teil auf, während nacheinander alle anderen ins Bad gingen.

Ab und zu machte mich jemand, der es gut mit mir meinte, darauf aufmerksam, dass ich, nachdem ich die ersten neunzehn Jahre meines Lebens auf einem staubigen Gelände in Wyoming zugebracht hatte, immer noch selten die Farm verließ. Aber da irrten diejenigen sich. Ich war allein ungefähr letzten Monat in Mittelerde, in Hogwarts und im Dickens’schen London gewesen. Man sollte nicht unterschätzen, was es für einen Unterschied machte, ob man auf einer Ranch lebte, auf der Bücher verboten waren, oder auf einer Farm, auf der offen über sie diskutiert und sie untereinander ausgetauscht wurden.

Es war fast schon Schlafenszeit, als ich hörte, wie May Lark Gute Nacht sagte. »Schlaf gut. Frühstück gibt es um halb neun. Wir gehen hier alles ziemlich früh an. Anders als bei den langen Brunchs, die wir immer in Boston gemacht haben. Das waren noch Zeiten.«

»Ich werd aufstehen und beim Frühstückmachen helfen. Gute Nacht, Schöne. Vielen Dank, dass du mich hergeholt hast!«

»Wir freuen uns, dich hier zu haben. Jetzt ab ins Bett mit dir. Du siehst aus, als hättest du seit einem Jahr nicht mehr geschlafen.«

In der ganzen Baracke gab es überhaupt keine Schalldämmung, deshalb hörte ich die ganze Unterhaltung mit an. Dann hörte ich, wie Kieran aus dem Bad kam und Lark ebenfalls eine Gute Nacht wünschte. »Ist es okay, wenn ich das Flurlicht ausschalte?«, fragte er sie.

»Klar. He, Kieran?«

»Ja?«

»Kann ich die Eingangstür abschließen?«

Wir schlossen die Baracke nie ab. Keiner käme je auf die Idee, raus aufs Grundstück der Shipleys zu marschieren, um drei oder vier Kerle zu belästigen, die nichts Wertvolleres besaßen als ein Paar iPods. »Mach nur, Süße«, sagte Kieran nach einer Pause, »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Ich knautschte das Kissen unter meinem rechten Ohr zusammen und machte die Augen zu. Wenn ich in diesem Raum die Augen schloss, tat ich es ohne Angst. Die Geräusche von Leuten, die sich schlafen legten, beruhigten mich immer.

Es störte mich nicht, in der Baracke zu wohnen – überhaupt nicht. Das Gegrunze und Geschnarche meiner Mitbewohner war nichts Neues. Tatsächlich waren die zwei Jahre in Isaacs und Leahs Haus die einzige Zeit in meinem Leben gewesen, in der ich allein in einem Zimmer geschlafen hatte.

In der Baracke untergebracht zu sein und freie Kost zu bekommen, bedeutete, dass ich praktisch keine Lebenshaltungskosten hatte. Alle unter diesem Dach waren gut genährt und wohnten hier, um Geld zu sparen – nicht aus Notwendigkeit.

Kieran fing als Erster an zu schnarchen. Die Shipley-Cousins halfen hier nur während der Hochsaison aus. Ihre Eltern betrieben einen Hof oben in Hardwick und züchteten Hochlandrinder. Die Jungs würden an Thanksgiving wieder weg sein.

Somit würde nur ich übrig bleiben.

Ich war mir ziemlich sicher, dass die meisten, die eine Zeit lang in der Baracke wohnten, darin nur eine kurzfristige Angelegenheit sahen. Seit einhundert Jahren beherbergte dieses Gebäude die Saisonarbeiter der Farm. Es war eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einem besseren Leben.

Das Problem war, dass ich mir das nächste Kapitel meines eigenen Lebens nicht vorstellen konnte. Und während ich so dalag und über die Ereignisse des Tages nachdachte, fing etwas an, mich zu beunruhigen. Meine Beförderung vom Apfelpflücker zum Marktchef war positiv, nur gab es da einen großen Haken. Es gab eine Marktsaison, und die würde kurz vor Thanksgiving zu Ende gehen.

Mir dämmerte auf einmal, dass meine Zeit auf der Shipley Farm schneller zu Ende gehen könnte, als ich angenommen hatte. Ich bräuchte einen Plan B, und zwar ziemlich schnell.

Ich geriet nicht schnell in Panik, doch dieser Gedanke war beängstigend. Ich war nie auf die Highschool gegangen, weil die religiösen Fanatiker auf der Paradise Ranch es nicht erlaubt hatten. Eine neue Stelle zu finden, war reine Glückssache. Ich konnte bloß hoffen, dass es noch einen anderen Job für jemanden gab, der klaglos arbeitete und auch ein fähiger Mechaniker war.

Allerdings brachten Ruth Shipley und Leah Abraham immer wieder das Thema Schulabschluss auf. Ich fragte mich, ob ich den schaffen könnte oder ob es für einen Typen wie mich einfach zu spät dafür war. Wenn ich mir Griffs Geschichten aus seiner Collegezeit anhörte, konnte ich mir mich nicht auf einem Campus vorstellen, wo ich Saufspiele mitmachte und Hausarbeiten über den Bürgerkrieg verfasste. So was taten andere Leute – Leute, die in einem Zuhause aufgewachsen waren, in dem Wert auf Schulbildung gelegt wurde.

Ich hatte keine Familie, die mich auf diesem Weg begleiten konnte, denn die hatte ich im Westen zurückgelassen. Ich hatte eine geborgte Familie. Sie war toll, hatte aber schon viel zu viel für mich getan. Ich hatte keine Freundin, denn wer wollte schon einen Kerl mit dem Wissensstand eines Achtklässlers, der von seiner eigenen Familie auf die Straße gesetzt worden war?

Mit diesen Gedanken hörte ich zu, wie die Baracke für die Nacht zur Ruhe kam. Immer wenn ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass sie mir stark ähnelte – sie war ein Nebengebäude der Farm. Sie gehörte dazu, aber nur nebensächlich. Stand an der Seite. Nicht wirklich unabhängig.

Ich lebte in der Baracke des Lebens.

Mit diesem Gedanken und trotz des Geschnarches von zwei Kerlen driftete ich in den Schlaf.

Irgendwann später – vielleicht nach einer oder zwei Stunden – wurde ich von einem Geräusch geweckt, das klang, als ob jemand in fürchterlichen Nöten war. Ich riss in der Dunkelheit die Augen auf, mein Herz hämmerte als Reaktion auf einen schrillen, markerschütternden Schrei. Der Laut erstarb genauso plötzlich, wie er angefangen hatte, und für einen Moment lag ich da und fragte mich, ob ich das geträumt hatte.

Doch dann ertönte er wieder, diesmal als erstickter Schrei. Ich spürte eine Gänsehaut auf meiner Brust.

»Was … sind das Kojoten?«, murmelte jemand.

Ich lauschte angestrengt. Auf der anderen Seite des Zimmers wurde immer noch heftig geschnarcht. Doch der Laut ertönte noch ein drittes Mal, diesmal sogar noch lauter.

Ich schlüpfte aus dem Bett, tappte mit plumpen Schritten über die kalten Dielen. Ich schaffte es in den dunklen Flur, ohne zu heftig ins Stolpern zu geraten. Vor Larks Tür hielt ich inne. Jetzt konnte ich sie reden hören, aber der Wortschwall war nicht zu verstehen.

Entweder träumte sie oder hatte doch Besuch von einem unwahrscheinlichen Eindringling bekommen.

Trotzdem zögerte ich. Wenn ich verwirrt wäre, würde ich wahrscheinlich nicht wollen, dass irgendein verschlafener Fremder in mein Zimmer platzte. Doch als Lark dann erneut schrie, klang es so schaurig, dass ich mich in Bewegung setzte. Ich stieß ihre Tür auf.

Das Zimmer wurde von einem Nachtlicht erhellt, das jemand aufmerksamerweise angebracht hatte. Lark lag zusammengekauert mitten auf dem Doppelbett. Ihr Gesicht war nass und schreckverzerrt.

»Lark«, sagte ich.

»Nein«, stöhnte sie und drückte ihr Gesicht in das Kissen.

»Lark«, sagte ich nachdrücklich. »Lark, du träumst.«

Doch sie hörte mich nicht. Sie zitterte jetzt. »Aufhören!«, schrie sie.

Ich war inzwischen hellwach, hatte aber keine Ahnung, was ich tun sollte. Entweder konnte ich sie berühren und sie aus diesem offensichtlichen Albtraum aufwecken. Doch womöglich würde ich sie damit halb zu Tode erschrecken. Oder ich konnte nichts tun und gehen.

Während ich mit mir rang, fing sie so richtig an zu schreien.

Oh, verflucht.

Ich beugte mich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lark, wach auf.« Ich drückte sie nur ganz sanft, damit die Berührung nicht Teil des wie auch immer gearteten Schreckensszenarios wurde, das sich offenbar für sie gerade real anfühlte. Ich sagte genau dasselbe, was Leah zu jemandem gesagt hätte, der einen Albtraum hatte. »Wach auf, Süße.« Ich rieb über ihren Arm.

Das half. Doch jetzt wirbelte sie herum und setzte sich kerzengerade auf.

Erschrocken machte ich einen Satz zurück. »Tut mir leid«, sagte ich schnell.

Lark starrte mit weit aufgerissenen Augen zu mir hoch. Sie rang nach Luft und wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht. »Scheiße«, fluchte sie. »Mir tut’s leid.« Sie zog die Knie an und legte den Kopf dazwischen. »Scheiße, scheiße«, flüsterte sie immer wieder.

Jetzt wusste ich wirklich nicht mehr, was ich machen sollte. Sie wollte wahrscheinlich keinen Fremden in ihrem Zimmer rumstehen haben. Aber andererseits zitterte sie immer noch. »Lark, kommst du klar?«

Den Kopf in die Hände gestützt, gab sie ein ersticktes Lachen von sich. »Das ist die große Frage, nicht wahr?« Ich schaute zu, wie sie langsam einmal tief Luft holte und den Atem wieder ausstieß. »Geh wieder ins Bett. Ich werd versuchen, nicht mehr zu schreien.«

»Okay …« Allerdings setzten sich meine Füße noch nicht in Bewegung. Ich war besorgt um sie. »Gute Nacht.« Ich hätte träum was Schönes hinzugefügt, wie Leah es immer sagte. Aber ich wollte nicht, dass Lark glaubte, ich würde mich über sie lustig machten. Also schloss ich einfach vorsichtig hinter mir die Tür und ging zurück zu meinem Bett.

Ich legte mich wieder hin, schlief aber noch nicht ein. Ich lauschte, ob noch mehr Laute der Verzweiflung von drüben kamen. Doch alles blieb still.

3

Lark

Nachdem Zachariah aus meinem Zimmer gegangen war, legte ich mich in der Dunkelheit wieder hin, schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Der Seelenklempner, zu dem meine Eltern mich in Boston geschickt hatten, hatte mir jede Menge Entspannungsübungen gezeigt, und ich probierte alle seine Vorschläge aus. Meditation. Tiefes Atmen. Flaches Atmen.

Sie alle funktionierten super, bis zu dem Moment, wenn ich einschlief. Tagsüber hatte ich mich unter Kontrolle. Doch wenn die Dunkelheit hereinbrach und meine Achtsamkeit nachließ, rüttelten meine Drachen an ihren Ketten und fingen an zu brüllen.

Manchmal träumte ich von der Hand, die zwischen zwei Hütten hervorgeschossen war, von den kräftigen Fingern, die sich über meinen Mund gelegt und mich in die Gasse gezerrt hatten. So hatte mein Martyrium angefangen.

In anderen Nächten fing mein Traum zu dem Zeitpunkt an, wo ich mich bereits gefesselt und geknebelt in dem dreckigen kleinen Haus befand, das meine Entführer nutzten. Ich hörte das schnelle Wortgewitter eines Dialekts, den ich nicht verstand. Meine begrenzten Spanischkenntnisse waren zu schulbuchmäßig für diesen Winkel von Guatemala gewesen. Und obwohl ich nicht alle Wörter verstand, wusste ich, dass sie darüber stritten, was sie mit mir machen sollten.

Meine Träume nahmen viele verschiedene Ausprägungen an, und es war schwer zu sagen, was genau mit meinem Körper passierte, während ich schlief. Aber wenn ich raten müsste, würde ich darauf wetten, dass das Weinen und die Schreie erst anfingen, wenn ich in meinen Träumen von einem dürren, unheilvollen Gesicht heimgesucht wurde.

Oscar.

Hätte es Oscar nicht gegeben, würde ich wohl besser über die Entführung hinwegkommen – über die Tage voller Angst und die Scham, mich vor meinen Geiselnehmern über ein Loch, das als Klo diente, zu hocken. Wenn diese Geschichte ein Happy End gehabt hätte, dann wäre ich vielleicht in der Lage, nachts durchzuschlafen.

Doch das hatte sie nicht. Und ein Junge war tot. Auch wenn einige der Ereignisse, die zu meiner Befreiung geführt hatten, in einem traumatischen Schleier des Vergessens verloren waren, Oscars Schicksal gehörte nicht dazu.

Jeder meiner Träume endete damit, dass sich eine Lache seines Bluts auf dem dreckigen Fußboden bildete und langsam auf mich zukroch.

Seufzend strich ich die Steppdecke über meinem Körper glatt. Als May mir gesagt hatte, dass ich in der Baracke wohnen könne, war mir das wie die perfekte Lösung vorgekommen. Meine Eltern – die bereits drei qualvolle Wochen durchgestanden hatten, in denen sie sich fragen mussten, ob ich tot war – waren inzwischen wirklich am Ende ihrer Kräfte. Ich war heil zu ihnen heimgekehrt, nur um dann damit anzufangen, im Schlaf zu schreien.

Der Aufenthalt in Vermont sollte mich entspannen. Ich baute darauf, dass ich hier mental zur Ruhe kommen würde. In der Schlafbaracke zu übernachten, bedeutete außerdem, dass ich nicht allein war. Es gab drei große, starke Jungs und eine verschlossene Tür zwischen mir und der Welt. Komm schon, Unterbewusstsein! Stell dich um. Wir sind hier absolut sicher.