True North - Wo auch immer du bist - Sarina Bowen - E-Book
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Sarina Bowen

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Beschreibung

Sie ist die Süße zu meiner Bitterkeit, die Balance, die meinem Leben immer fehlte, und die sinnlichste Versuchung, die ich jemals gekostet habe


Als Audrey Kidder der finstere Blick von Griffin Shipley trifft, weiß sie sofort, dass ihr Auftrag in Vermont schwieriger wird als gedacht. Doch sie hat keine Wahl: Wenn sie ihren Job behalten will, muss sie Griff davon überzeugen, seinen preisgekrönten Cider zum halben Preis zu verkaufen. Eine harte Nuss, denn der Bio-Farmer ist nicht nur ausgesprochen stur - und unheimlich attraktiv -, sondern seit ihrer heißen Affäre am College auch nicht besonders gut auf Audrey zu sprechen. Und dass sich Audrey in Griffs Nähe augenblicklich so zu Hause fühlt wie nirgends sonst auf der Welt, macht die Sache alles andere als einfach ...


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Seitenzahl: 434

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Inhalt

TitelZu diesem BuchERSTER TEIL12345678910ZWEITER TEIL11121314151617181920212223DRITTER TEIL242526272829Die AutorinImpressum

SARINA BOWEN

TRUE NORTH

Wo auch immer du bist

Roman

Ins Deutsche übertragen vonWiebke Pilz und Nina Restemeier

Zu diesem Buch

Griffin Shipley staunt nicht schlecht, als er das Auto von Audrey Kidder aus dem Graben einer verlassenen Landstraße in Vermont zieht – und sein Herz zu rasen beginnt, als wären keine fünf Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Dabei ist Audrey wirklich die letzte Person, die er gerade gebrauchen kann. Seit dem plötzlichen Tod seines Vaters hat der junge Bio-Farmer genug damit zu tun, seine riesige Apfelplantage am Laufen zu halten und seinen Geschwistern eine sichere Zukunft zu bieten. Dass jetzt auch noch die Frau bei ihm auftaucht, die ihm seit der aufregendsten Nacht seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf geht, und ihn zwingen will, seinen preisgekrönten Bio-Cider unter Wert zu verkaufen, hat ihm gerade noch gefehlt. Allein Audreys platter Reifen und seine gute Erziehung verbieten es ihm, sie sofort von seinem zu Hof werfen. Doch als die gelernte Köchin im Handumdrehen seine Küche – und seine gesamte Familie – für sich einnimmt, spürt der mürrische Farmer, dass Audreys Leichtigkeit, mit der sie das Leben genießt, auch nach all den Jahren eine magische Anziehungskraft auf ihn ausübt. Und auch Audrey fühlt sich vom ersten Moment an auf Griffs Farm so zu Hause wie nirgends sonst auf der Welt. Doch wenn sie ihren Job bei Bostons einflussreichster Restaurantkette nicht verlieren will, darf sie ihren Auftrag nicht aus den Augen lassen. Und Griff ist in diesem Fall nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher – sehr attraktiver – Kontrahent. Sie verbindet nichts. Sie wollen völlig unterschiedliche Dinge vom Leben. Alles scheint ganz einfach. Wenn da nicht dieses unglaublich heiße Knistern zwischen ihnen wäre …

ERSTER TEIL

Juli

Obst sieht einfach besser aus als Gemüse. Außerdem, wenn man Obst verfaulen lässt, wird es zu Wein. Ein Rosenkohl würde das niemals tun.

P. J. O’Rourke

1

Tuxbury, Vermont

Griffin

»Griffin?«

Meine Mutter setzte sich mir gegenüber an den großen Bauerntisch, während ich den letzten Bissen ihres selbst geräucherten Schinkens aß. Mein Landarbeiter Zachariah und ich hatten uns bereits Käseomeletts und selbst gebackenes Brot mit Butter aus der Milch unserer Kühe schmecken lassen.

Das Frühstück war wie immer hervorragend gewesen, aber was meine Mutter nun sagte, klang sogar noch besser. »Ich habe noch einen Saisonhelfer eingestellt.« Ich hielt mit der Kaffeetasse auf dem Weg zum Mund inne. »Wirklich?«

»Ja. Er fängt heute an.«

»Mach keine Witze.« In dieser Jahreszeit waren wir immer chronisch unterbesetzt, man konnte dem Gras beim Wachsen zusehen, und die Käfer machten sich gierig über unsere Apfelbäume her.

Es war noch nicht einmal neun Uhr, aber Zachariah und ich hatten bereits mehrere Stunden geschuftet. In der Dämmerung hatten wir einige Dutzend Kühe in zwei verschiedenen Ställen gemolken. Nach dem Melken genehmigten wir uns jeden Morgen ein ausgiebiges Frühstück, aber dann ging es zurück an die Arbeit. In den kommenden acht Stunden würden wir eine ellenlange Liste mit Aufgaben und Reparaturen abarbeiten.

Deshalb klang die Aussicht auf eine zusätzliche Arbeitskraft wie Musik in meinen Ohren. Ich stellte die Tasse auf den Küchentisch und sah meine Mutter an. Sie wirkte ungewöhnlich zaghaft, und ich begann, mir Sorgen zu machen. Womöglich wäre ich von ihrem neuen Mitarbeiter nicht begeistert.

»Gestern Abend hat Angelo angerufen«, sagte sie.

Verdammt. Jetzt wusste ich, worauf sie hinauswollte. Angelo war ein liebenswerter Mann, den wir aus der katholischen Kirche in Colebury ein paar Dörfer weiter kannten. Außerdem war er Bewährungshelfer.

»Er bringt heute einen jungen Mann vorbei. Gerade entlassen. Er hat drei Jahre wegen fahrlässiger Tötung gesessen. Es war ein Autounfall, Griff. Er ist gegen einen Baum gefahren.«

Mein Herz schlug schneller, so wie immer, wenn es auf der Farm Schwierigkeiten gab. Ich hätte die zweite Tasse Kaffee nicht trinken sollen. »Gegen einen Baum zu fahren ist nicht strafbar, Mom. Da steckt doch noch mehr dahinter.«

»Nun ja.« Ihr Blick wurde plötzlich ganz sanft. »Bei dem Unfall starb der Beifahrer, der Sohn des Sheriffs. Und er war zu dem Zeitpunkt total mit Opiaten zugedröhnt.«

»Ah.« Das war also der Haken. »Du hast einen Junkie eingestellt?«

Sie sah mich missbilligend an. »Einen Junkie auf dem Weg der Besserung. Seit seiner Entlassung vor einem Monat geht er zur Therapie. Angelo meinte, der Junge kann es schaffen, wenn er einen Job findet. Er kann in der Schlafbaracke wohnen. Wenn du mir nichts verheimlichst, ist unser Grundstück ja eine drogenfreie Zone.«

Zachariah prustete los. »Unsere Droge ist Kaffee, Mrs Shipley. Aber davon kommen wir einfach nicht los.«

Sie griff nach Zachs Handgelenk und drückte es liebevoll. Meine Mutter schleppte ständig irgendwelche Streuner an, und Zachariah war ihr bisher bester Fang. Aber nicht alle konnten so sein wie er. Beim Gedanken, mich mit einem Junkie herumschlagen zu müssen, bekam ich Herzrasen. Schließlich hatten wir schon genug Probleme.

Seit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren betrieben meine Mutter und ich die Farm gemeinsam. Ich entschied, was wir anbauten und wo wir es verkauften. Aber ohne Zweifel war es Mom, die unsere Farm am Laufen hielt. Sie machte die Buchhaltung. Sie kümmerte sich um das Essen für mich und Zach, meine drei jüngeren Geschwister, meinen Großvater und alle Saisonhelfer, die kamen und gingen. Und wenn in fünf Wochen die Apfelernte begann, kümmerte sie sich um das geschäftige Treiben, das entstand, weil wir Äpfel zum Selbstpflücken anboten. Irgendwie schaffte sie es dabei außerdem, alle Mäuler zu stopfen, wenn sich die Anzahl unserer Mitarbeiter vervierfachte.

Deswegen hatte meine äußerst fähige Mutter jedes Recht, sich schnell für einen Hilfsarbeiter zu entscheiden, das wussten wir beide. Dennoch machte mich ihre Entscheidung nervös.

»Er ist zweiundzwanzig, Griff.« Sie verschränkte die Arme und musterte mich schweigend. »Der Junge soll clean sein. Er nimmt keine Drogen mehr. Aber niemand außer uns wird ihm eine Chance geben. Und wir stellen ihn nur während der Anbausaison und der Ernte ein. Sechzehn Wochen – höchstens.«

Genau. Die sechzehn entscheidenden Wochen des Jahres.

Aber ein kluger Mann weiß, wann er seiner Mutter nachgeben muss. Sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen, und es wurde immer später. »Na gut«, lenkte ich ein. »Er kann sich in der Schlafbaracke einrichten, wenn er ankommt. Sag mir Bescheid, dann zeige ich ihm alles. Komm, Zach.« Ich stand auf und schnappte mir meine Baseballkappe. Zach folgte mir.

Wir brachten unsere Frühstücksteller in die Küche, wo meine Schwester May aufräumte. Sie studierte Jura und hatte gerade Sommerferien. »Haben die Zwillinge die Hühner rausgelassen?«, fragte ich statt einer Begrüßung.

»Jawohl, Sir«, sagte sie spitz. »Sie sind schon draußen.«

»Danke.« Im Vorbeigehen drückte ich ihren Arm, um mein schlechtes Benehmen wiedergutzumachen. Hin und wieder – und ganz besonders während der Anbausaison – wurde ich zum herrischen Griesgram. Und meine Schwestern waren gut darin, mich sofort darauf hinzuweisen.

»Hey, Griff?«, rief May mir nach, als ich die Tür öffnete. »Soll Tauntaun heute noch geschlachtet werden? Ich brauche ein bisschen Vorlauf.«

Ich blieb im Türrahmen stehen. »Gute Frage.« Das Schwein zu schlachten würde viel Arbeit bedeuten, und eigentlich hatte ich keine Zeit dafür. Aber nächste Woche würde es genauso sein, wenn nicht sogar schlimmer. »Ja, wir sollten es hinter uns bringen, wenn der Tag nicht völlig stressig wird. Ich sag dir Bescheid, damit du rechtzeitig das Wasser aufsetzen kannst.« May salutierte, und Zach ging mit mir nach draußen.

Ich ließ meinen Blick über unser Grundstück schweifen und erspähte die Zwillinge auf der Wiese hinter der Schlafbaracke. Sie stellten den mobilen Elektrozaun um, mit dem wir die Hühner vor Raubtieren schützten, und stritten sich offenbar. Sie waren siebzehn, genau zehn Jahre jünger als ich.

In einem Jahr würde ich für beide die Studiengebühren zahlen müssen, darüber zerbrach ich mir jeden Tag den Kopf. Ich bedachte mein Gut mit dem üblichen kritischen Blick. Das große, in die Jahre gekommene Farmhaus war derzeit gut in Schuss. Im vergangenen Jahr hatten wir das Dach neu gedeckt und dem Haus einen neuen Anstrich verpasst. Aber auf einer Farm läuft ständig etwas schief. Wenn es kein Problem mit dem Farmhaus gab, würde es eins mit der steinernen Schlafbaracke oder einem der Kuhställe geben. Oder mit dem Ciderhaus oder dem Traktor.

Selbst wenn heute mal nichts kaputtging, standen mir einige schwierige geschäftliche Entscheidungen bevor. Wir mussten erneut in die Farm investieren und gleichzeitig noch Geld auf der hohen Kante haben. Ich hoffte, es würde gelingen, die Farm profitabler zu führen, ohne mir einen Haufen Geld zu leihen.

Wenn ich nur wüsste wie.

Seufzend wendete ich mich an Zach. »Willst du lieber die Zäune reparieren oder das Gras mähen?« Es gab mehr als genug Arbeit für uns beide, und ich ließ ihn gerne wählen.

»Entscheide du«, sagte er sofort. Zach war der Traum eines jeden Arbeitgebers. Er arbeitete wie ein Ochse von Sonnenaufgang bis zum Abendessen und beschwerte sich nie, wahrscheinlich wusste er gar nicht, wie das ging.

»Ich mähe«, erwiderte ich. »Aber vielleicht können wir nach dem Mittagessen tauschen. Der Neue kommt …« Mist. »Gehst du ein Stück mit mir?«

»Klar.«

Wir gingen über die kreisrunde Wiese hinüber zum Traktorschuppen.

»Wir müssen den Jungen im Auge behalten. Ich habe dich noch nie gebeten, jemanden auszuspionieren. Aber diese Situation ist ein bisschen merkwürdig.«

Zach grinste. »Sie ist … interessant. Aber Angelo ist kein Idiot.«

Das stimmte. »Muss ich etwas über den Traktor wissen?« Zach war nicht nur ein mustergültiger Mitarbeiter, sondern darüber hinaus noch ein geschickter Mechaniker.

»Der läuft super. Ich mache mir mehr Sorgen um die Melkmaschine in der großen Scheune.«

Ich fluchte unhörbar. Die meisten unserer Milchkühe lebten gegenüber auf dem Grundstück eines Nachbarn. Der Großteil der Milch wurde in einer herkömmlichen Molkerei verarbeitet. Aber auf unserem Grundstück züchteten wir etwa ein Dutzend Bio-Kühe, deren Milch wir Freunden am Ende der Straße verkauften, die Käsespezialitäten daraus machten.

»Macht die Pumpe wieder Schwierigkeiten?« Jeder Farmer besaß in die Jahre gekommene Maschinen. Denn niemand konnte es sich leisten, seine Ausrüstung jedes Jahr durch die neuesten Modelle zu ersetzen wie andere ihre Smartphones. Ich war gelernter Chemiker, kein Mechaniker. Deshalb war es Zachariah, der wie mit Zauberhand auch die zickigsten Maschinen zum Laufen brachte. Und die Melkmaschine war so ziemlich das wichtigste Gerät auf der ganzen Farm.

»Die macht’s nicht mehr lange. Die Zahnräder sind abgenutzt, und ich bekomme keine Ersatzteile mehr. Die Chancen stehen gut, dass wir sie noch vor dem neuen Jahr abbauen und verschrotten müssen.«

Ich stöhnte. »Erzähl mir nie, wie meine Chancen stehen.«

»In Ordnung, Han.«

»Danke, Chewie.«

»Keine Ursache.«

Ich lachte leise, dabei hatte ich den Kopf voller Sorgen, als ich zum Traktorschuppen hinüberging. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, einhundert Kühe jeden Tag zweimal über die Straße zu treiben, um sie in der kleineren der beiden Scheunen zu melken. Auf Land, das mir nicht gehörte, in neue Ausrüstung zu investieren, erschien mir nicht gerade clever.

Irgendwie würde ich eine Lösung finden. Ich musste eine Lösung finden.

2

Boston, Massachusetts

Audrey

Zu meiner Kündigung trug ich ein schulterfreies Top.

Wenn das unangemessen erscheinen mag, dann sollte ich dazu sagen, dass ich es mir nicht leisten konnte, auch nur einen Tag lang arbeitslos zu sein. Die hohen Tiere bei der Boston Premier Group hatten mich für heute Morgen in die Konzernzentrale bestellt. Also hatte ich ein schulterfreies Top angezogen, weil ich mir zu neunzig Prozent sicher war, dass ich noch vor halb zehn wieder auf Jobsuche sein würde.

Ich war gelernte Köchin, und zwar eine verdammt gute. Aber leider waren die meisten Restaurantbesitzer in Boston mit einem tiefen Dekolleté besser zu beindrucken als mit dem geschickten Umgang mit Messern. Das hatte ich bereits am eigenen Leib erfahren müssen.

Das alles ging mir durch den Kopf, als ich mit dem Aufzug zur Firmenzentrale hinauffuhr.

Wer wusste besser als ich, wie man sich anzog, wenn man gefeuert wurde? Bevor ich zwanzig wurde, war ich schon von zwei Colleges geflogen. Empört von meinem mangelnden akademischen Erfolg, hatte mich als Nächstes meine Mutter rausgeworfen. Sie nahm mir das Auto weg und strich mir die finanzielle Unterstützung.

Dann ging es aufwärts. Ich schloss die Kochschule ab, die mir großen Spaß machte. Doch meine erste Anstellung hatte sich als Desaster herausgestellt, und ich wusste wirklich nicht, was als Nächstes kommen würde.

Als im fünfzehnten Stock die Fahrstuhltüren aufglitten, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Wenigstens war ich fünf Minuten zu früh dran. Meine Mutter, wo immer sie gerade war, wäre begeistert gewesen, dass ich wenigstens pünktlich zu meiner Kündigung erschien.

Dann los.

»Mr Burton ist gleich bei Ihnen«, erklärte mir die Rezeptionistin, die an einem eleganten Schreibtisch vor mehreren Chefbüros saß.

»Danke.« Nervös ließ ich mich in einen der tiefen Ledersessel im Wartebereich sinken. Auf dem Tisch lag eine Auswahl an Zeitschriften. Ich nahm mir das Boston Magazine und versteckte mich dahinter.

Der Wartebereich der Firma war kein sicherer Ort für mich. Inzwischen hatten die Details meines neuerlichen Versagens bestimmt auf der ganzen Chefetage die Runde gemacht. Ich hatte nicht nur ein ganzes Abendgeschäft in ihrem besten Restaurant vermasselt, ich hatte es damit sogar in die Klatschspalten der Presse geschafft.

Meine Hände auf der Zeitschrift waren schweißnass. Wenn ich diesen Job verlor, musste ich sofort einen neuen finden. Ich hatte keine Zeit, in Selbstmitleid zu versinken und meine Wunden zu lecken, denn ich brauchte das Geld.

Es lag nicht an meinen Kochkünsten, natürlich nicht. Ich war eine gute Köchin. Ein Naturtalent hatte mich einer meiner Lehrer genannt. Es hatte zweiundzwanzig Jahre gedauert, aber endlich hatte ich etwas gefunden, worin ich gut war. Ich brauchte diesen Job für meinen Lebenslauf, verdammt noch mal.

»Audrey!«, dröhnte eine Stimme.

Vor Schreck ließ ich die Zeitschrift fallen und stand unbeholfen auf. »G… g… guten Morgen«, stotterte ich und schüttelte die Hand, die Bill Burton mir entgegenstreckte.

»Kommen Sie.« Er führte mich in sein vornehmes Büro.

Mit trockenem Mund folgte ich ihm. Er wartete, bis ich mich auf den Stuhl vor seinem riesigen Schreibtisch gesetzt hatte, dann schloss er die Tür mit einem unheilvollen Klicken.

Mist!

Kerzengerade saß ich auf meinem Stuhl. Ich würde mit wehenden Fahnen untergehen.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und musterte mich. Eine tiefe Stille breitete sich aus, bevor er schließlich sprach. »Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist?«

Okay. Gut. Das war eine bessere Eröffnung als »Raus aus unserer Firmenzentrale!« Aber wo sollte ich anfangen? »Nun ja, Sir …« Ich zögerte und hasste den kleinlauten Klang meiner Stimme. Na los, Audrey! Du hast nichts mehr zu verlieren. »Ich bin eine hervorragende Köchin, Sir. Die Beste meines Jahrgangs. Aber die BPG überträgt mir nur Aufgaben außerhalb der Küche.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Sie sind hier Praktikantin, Süße. Niemand wird ein Sternekoch, ohne das Handwerk von der Pike auf zu lernen.«

Süße? Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht loszuschreien. Aber jetzt war nicht die Zeit für einen Wutausbruch. Tief durchatmen, Audrey. »Ich möchte das Handwerk ja lernen«, erwiderte ich vorsichtig. »Aber wenn Sie einer Praktikantin ihre Aufgaben nicht richtig erklären, müssen Sie sich nicht wundern, wenn etwas schiefgeht.«

Er schlug einen Ordner auf seinem Schreibtisch auf und runzelte die Stirn, während er ihn durchblätterte. »Vor sechs Wochen war Ihre erste Aufgabe, die Anlieferung der Meeresfrüchte vom Fischmarkt zu betreuen. Das ging nicht einmal einen Tag lang gut.«

»Das stimmt.« Ich war morgens um halb fünf zur Arbeit erschienen, wo mich ein Computerprogramm begrüßte, das ich noch nie im Leben gesehen hatte.

»Sie sollten zweihundert Hummer für unser Vorzeigefischrestaurant bestellen. Stattdessen haben Sie zweihundert Einheiten bestellt. Zweihundert Einheiten à hundert. Das sind zwanzigtausend Hummer.«

Es gelang mir, keine Miene zu verziehen, aber nur mit größter Mühe. »Niemand hat mir die Software erklärt«, verteidigte ich mich.

Bill Burton seufzte. »Na schön. Aber gestern war die Software nicht das Problem, oder?«

»Doch«, beharrte ich. »Indirekt.«

Er lehnte sich in seinem Chefsessel zurück. »Erklären Sie mir das.«

»Zuletzt war ich im l’Etre Suprême eingesetzt.« Das war das einzige Restaurant in Boston mit einem Michelin-Stern, und ich war einfach dankbar, dass ich jeden Abend dort hineingehen durfte. Jacques, der Küchenchef, war eins meiner kulinarischen Idole.

Aber ich wurde nicht in der Küche eingesetzt, wo ich mich hätte nützlich machen können. Natürlich nicht. Stattdessen musste ich am Empfang die Reservierungen verwalten.

Ich räusperte mich. »Vorgestern hatte das System die Reservierung von dreißig anspruchsvollen Finanzchefs verschluckt.« Die Männer waren unerwartet um neunzehn Uhr aufgetaucht. »Als herauskam, dass wir sie nicht im Separee unterbringen konnten, fingen sie an, das Personal zu beleidigen, und hörten nicht mehr auf. Und während ich verzweifelt versuchte, das Problem zu lösen, ging es im ganzen Laden drunter und drüber. Bestellungen gingen verloren oder wurden verwechselt …«

Mir brach der Schweiß aus, wenn ich nur an die Katastrophe dachte. Küchenchef Jacques hätte beinahe einen Herzinfarkt erlitten. Wir hörten sein Geschrei bis zur Bar aus blankem Kupfer, wo die Barkeeper in ihren eleganten Anzügen Freigetränke ausgaben, um die aufgebrachten Gäste zu besänftigen.

Jacques wusste meinen Namen nicht, und deshalb konnte er ihn auch nicht brüllen. Aber das war kein Segen, denn es dauert viel länger, »Die verdammte ’ure, die die Reservierungen macht« zu schreien.

Das war wohl ich.

»Weiter«, verlangte Burton.

»Es war mir schrecklich peinlich, dass ich in der Küche für solchen Ärger gesorgt hatte.« Ich legte meine feuchten Hände auf dem Schoß zusammen und blickte ihm in die Augen. »Mein Mitbewohner ist Pâtissier.« Ein schlampiger, sollte ich wohl dazusagen. Ich wohnte bei ihm zur Untermiete, weil ich mir nichts anderes leisten konnte. »Ich wollte es wiedergutmachen, also habe ich gestern ein großes Blech mit Brownies, die er gebacken hat, zur Arbeit mitgebracht. Es sollte ein Friedensangebot sein.« Ich hatte mein süßes Mitbringsel mitten in der Küche abgestellt. Das Personal fiel darüber her wie die Heuschrecken. »Dann bin ich rausgegangen und habe den ganzen Abend am Empfang gearbeitet.«

Das war nicht die ganze Wahrheit, aber das brauchte Burton nicht zu wissen. In jeder freien Minute war ich zurück in die Küche gelaufen. Manche Frauen schwärmen für Designerschuhe oder einen heißen Schauspieler. Meine Schwäche war ein Sternekoch bei der Arbeit. Lieber sah ich Jacques beim Rühren einer Balsamico-Reduktion zu als Channing Tatum beim Strippen. Und so saß ich in der ersten Reihe, als das Unheil seinen Lauf nahm. Als ich mich wieder einmal zurück in die Küche schlich, schimpfte der Küchenchef mit dem Koch am Grill. »So be’andelt man nicht den Fisch«, schrie er Enrique an. »Du musst das Filet respektieren.«

Ich zuckte zusammen, als Jacques Enrique einen Klaps auf den Hinterkopf gab. Jacques war auch an seinen besten Tagen ein Arschloch, aber gestern war er noch reizbarer gewesen als sonst.

Andererseits war Enrique auch wirklich schrecklich träge gewesen. Normalerweise war er auf Zack, aber gestern war er irgendwie nicht in Form. Wenn er den Fisch nicht wie den Gouverneur von Massachusetts behandelte, dann verhieß das nichts Gutes für ihn.

Nun, in einer gerechten Welt hätte ich hierden Fischwender geschwungen. Und wie ich dieses Filet respektiert hätte, wenn man mir nur die Chance gegeben hätte! Ich wusste, dass ich um Längen besser kochen konnte als viele hier in der Küche.

Aber nein, ich musste zurück ans Reservierungssystem.

Als Nächstes sah ich, wie Jacques seinen Salatjungen zusammenstauchte. »Die Blätter sollen ’übschen ’ügel bilden!«, schimpfte er und hielt den Teller hoch, damit ihn jeder in der Küche sehen konnte. »Das ’ier sind die Alpen nach einem Erdbeben. Mach das neu!« Er knallte den Teller so fest auf die Edelstahlarbeitsplatte, dass er zerbrach.

Die Haute Cuisine ist wahrscheinlich die einzige Branche, in der sich der Boss wie ein trotziges Kleinkind benehmen darf. Du wirst dafür sogar noch extra bezahlt, vor allem, wenn du ein Mann und Franzose bist.

Seltsamerweise wirkte der Salatjunge von dieser Standpauke längst nicht so erschüttert, wie ich erwartet hätte. Anstatt hastig die Unordnung aufzuräumen, schnappte er sich ein Salatblatt von dem Haufen und steckte es sich in den Mund. Und dann noch eins.

Ich fand das seltsam. Aber ich hatte keine Ahnung, warum er das tat.

»Wir hatten an dem Abend viel zu tun«, erzählte ich Burton jetzt. »Der Concierge des Hotel Mandarin rief an. Er sagte, er habe ein Paar Hollywoodstars zu Gast, die eine Reservierung wünschten.«

Auf der anderen Seite des Schreibtisches schloss Burton erschöpft die Augen. »Weiter.«

Ich wusste, Jacques würde es lieben, einen Filmstar in seinem Restaurant zu bekochen, also sagte ich dem Concierge, er könne sie vorbeischicken, auch wenn er nicht verraten wollte, um wen es sich handelte. Burton sollte wissen, dass ich ein gutes Gespür fürs Business hatte. Ich wusste, dass der Erfolg eines Restaurants von seinem Ruf abhing. Wenn bei Page Six ein Foto von Promis in Jacques’ Restaurant erschien, war das vielleicht genau der Glückstreffer, den ich brauchte.

Doch als ich das nächste Mal in die Küche kam, traute ich meinen Augen kaum. Der Salatjunge war auf seiner Arbeitsplatte zusammengesackt, was schon seltsam genug war. Doch Jacques hatte es nicht einmal bemerkt. Er stauchte schon wieder den Fischkoch zusammen, während die mega leistungsstarke Dunstabzugshaube vergeblich versuchte, den nach verbranntem Fisch stinkenden Rauch abzusaugen.

Jacques’ Schimpftirade war vollkommen unverständlich. Wenn er sich aufregte, wurde sein Akzent noch stärker. Ich verstand kein Wort.

Ich stand mit offenem Mund da, als der Tellerwäscher neben mich trat und mir eine Hand auf die Schulter legte. »Krasse Rache, Audrey. Echt! Du bist meine Heldin.«

Ähm. Was? Ich hörte kaum, was er sagte, denn in diesem Augenblick stopfte sich ein weiterer Beikoch die von Hand geschnittenen Polentamedaillons in den Mund. Es war, als hätte die ganze Küche plötzlich fünfzig IQ-Punkte verloren und eine Heißhungerattacke bekommen.

»Mir macht es nichts aus, ich bin an das Zeug gewöhnt. Aber so wie es aussieht, verträgt der Salatjunge kein Gras. Du solltest jetzt gehen«, riet mir der Tellerwäscher. »Jacques kriegt jeden Augenblick raus, von wem die Haschbrownies waren.«

»Die Hasch…« Ich verschluckte den Rest des Satzes, als mir der Schreck den Rücken hinaufkroch. »Oh mein Gott.«

»Du musst unbedingt zu meiner nächsten Party kommen. Die waren der Hammer.« Grinsend schlenderte der Tellerwäscher nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen.

Ich hatte kein Feuerzeug gebraucht, um meine Karriere in Schutt und Asche zu legen.

»Also«, seufzte Burton, »wollen Sie damit sagen, Sie wussten nicht, was in den Brownies war?«

»Ich hatte keine Ahnung«, flüsterte ich. »Bei uns in der Wohnung gibt es immer irgendwelches Gebäck. Normalerweise, na ja, klaue ich es nicht. Und ich wünschte, ich hätte es auch diesmal nicht getan.«

Er schob den Aktenordner von sich. »Ich könnte Sie deswegen entlassen.«

»Ich weiß, Sir«, antwortete ich hastig. »Aber ich weiß, dass ich es besser machen kann, wenn Sie mir eine zweite Chance geben.« Oder eine fünfte.

Er faltete die Hände auf der Schreibtischunterlage und schien darüber nachzudenken.

Ich hielt den Atem an. Burton trommelte mit den Fingern auf der teuer aussehenden ledernen Schreibtischunterlage und seufzte noch einmal. »In Ordnung, Audrey, Sie fahren nach Vermont.«

»Ich … Echt? Haben Sie Vermont gesagt?« Dann wurde ich also nicht gefeuert? Besaß die BPG ein Restaurant in Vermont? Das war mir neu.

»Wir können Ihnen keinen Job mit Publikumsverkehr mehr anbieten. Und wir können Sie auch nicht mehr zurück auf den Fischmarkt schicken.«

»Verstehe, Sir«, sagte ich so demütig ich konnte.

»Aber wir geben Ihnen noch eine Chance. Ihrer Mutter zuliebe.«

»Meiner … was?« Mit meiner Mutter hatte ich seit über zwei Jahren kein Wort mehr geredet, seit sie mir den Geldhahn zugedreht hatte. Ich hatte mich durch die Kochschule geschlagen, Zimmer in den übelsten Absteigen von Boston gemietet. »Was hat meine Mutter damit zu tun?«

»Ihr gehören fünfzehn Prozent der Firma«, erklärte Burton mit einer Stimme, die mir klarmachte, für wie dumm er mich hielt. »Wir können Sie auch nächste Woche noch feuern. Aber wir geben Ihnen noch eine Chance – als Gefälligkeit Ihrer Mutter gegenüber.«

Den Rest hörte ich nicht mehr, denn ich war in Gedanken immer noch bei der Bombe, die er gerade hatte platzen lassen. Meine Mutter hielt Anteile an der BPG? Das war mir neu. Dabei war es eigentlich nicht überraschend. Meine Mutter hatte in allen möglichen gewinnbringenden Unternehmen in Boston die Finger im Spiel. Und da sie an vier bis fünf Abenden der Woche mit Geschäftspartnern essen ging, kannte sie natürlich die guten Restaurants. Genau genommen hatte ich mich schon während meiner Zeit am Empfang des l’Etre gefragt, ob sie nicht eines Abends zum Dinner hereinkommen würde.

Aber eine Teilhaberin? Mir wurde übel. Sie und die Firma passten wirklich gut zusammen. Die BPG war skrupellos, und das war meine Mutter auch.

»Audrey?«, fragte Burton.

»Hören Sie«, sagte ich und hasste es, wie verzweifelt ich klang. »Ich brauche diesen Job. Aber bitte behalten Sie mich, weil ich eine gute Köchin bin. Und nicht, weil meine Mutter eine dicke Brieftasche hat. Sie weiß gar nicht, dass ich hier arbeite.« Weil wir im Moment nicht miteinander redeten.

Er zuckte mit den Achseln, als wäre das vollkommen irrelevant. »Fahren Sie nun für ein paar Tage nach Vermont oder nicht?«

»Ich fahre«, bekräftigte ich eilig, »wenn Sie dafür meine Bewerbung für den Green-Light-Wettbewerb behalten.« Eigentlich war ich nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Aber wenn ich nicht mehr um mein eigenes Restaurant kämpfen durfte, dann konnte ich die Sache auch gleich beenden und mir einen neuen Job suchen.

Burton überraschte mich, weil er anfing zu lachen. Er lachte tatsächlich über meinen Traum! »Audrey, man braucht verdammt viel Erfahrung, um das Green Light zu gewinnen. Es gibt Typen, die das seit Jahren versuchen.«

Das wusste ich. Aber so viel Zeit hatte ich nicht. Ich musste den Förderpreis für neue Restaurants, den die BPG jährlich ausschrieb, beim ersten Versuch gewinnen. »Ich weiß, dass es schwierig ist.« Ein Konzern wie die BPG unterstützte nicht einfach irgendeine dahergelaufene Idee. Aber ich würde ihnen eine fantastische Idee präsentieren, und ich würde mit Auszeichnung gewinnen. »Aber versprechen Sie mir, dass ich es versuchen darf.«

»Nur zu, probieren Sie es.« Er breitete großmütig die Arme aus. Ganz klar, er machte sich über mich lustig. »Man weiß ja nie. Also, nun zu Ihrem Einsatz in Vermont.« Er schlug einen weiteren Ordner auf. »Sie sollen für mich mit ein paar Farmern sprechen. Ich möchte, dass Sie unsere Zulieferer beim Erwerb von einigen spätsommerlichen landwirtschaftlichen Produkten direkt vom Erzeuger unterstützen und Preise für zwei Dutzend aushandeln.«

Oh Mann. Nicht schon wieder. Ich war ausgebildete Köchin. Eine gute. Und trotzdem gab mir die BPG weiterhin Aufgaben, die nicht meinen Fähigkeiten entsprachen, nur um dann mit mir zu schimpfen, wenn ich versagte.

»Sir, ich kenne mich mit Verhandlungen überhaupt nicht aus.« Da hätte er besser meine Mutter schicken können. Mom hätte selbst aus einem Geschäft mit einer Feldmaus Kapital geschlagen.

»Das macht nichts.« Burton holte einen Ausdruck aus dem Ordner und steckte ihn in einen Umschlag mit dem Logo der BPG. Den reichte er mir. »Die Waren und Preise sind hier aufgelistet. Sie brauchen bloß die einzelnen Farmen abzuklappern und den Betreibern anzubieten, die aufgelisteten Produkte zu kaufen. Auf dem Blatt tragen Sie ein, wer welche Waren liefert. Die Jungs werden ganz erpicht darauf sein, ihre Bioprodukte an Bostoner Nobelrestaurants zu verkaufen. Das ist gute Werbung für sie. Hier.«

Ich nahm ihm das Blatt ab und überflog es. Es war eine Liste von Farmen und Adressen mit hübschen, klangvollen Namen. Muscle In Arm Farm. Misty Hollow. The Lazy Turkey Farm.

Die Aufgabe klang einigermaßen einfach. Aber ich arbeitete hier lange genug, um skeptisch zu sein. Bei der BPG war nichts einfach. »Warum machen wir das nicht telefonisch?«, fragte ich. Das war doch sicher billiger, als mich mit einem Mietwagen zum Klinkenputzen nach Vermont zu schicken. Und dann noch ein Hotelzimmer? Die BPG gab nicht gern Geld aus. Irgendwas an diesem Plan war ziemlich seltsam.

»Farmer gehen nicht ans Telefon«, erklärte Burton. »Sie sind viel zu beschäftigt mit ihrer Ernte. Also, ab mit Ihnen. Packen Sie ein paar Sachen und los. Die Fahrt dauert zwei Stunden.«

Ich stand auf, umklammerte den Umschlag und hoffte das Beste.

»Strengen Sie sich an, Audrey«, sagte er, als ich zur Tür ging. »Wenn es nicht funktioniert, weiß ich nicht, ob wir Ihnen noch eine Chance geben können.«

»Das werde ich, Sir.«

Zweieinhalb Stunden waren eine lange Zeit, um über das eigene Versagen nachzudenken, selbst wenn die Aussicht herrlich war. Mein Mietwagen schlängelte sich auf einer Landstraße durch die malerische Hügellandschaft von Vermont. Aus dem Autofenster erkannte ich in der Ferne die Green Mountains.

Ich war ein bisschen verwundert, dass Bill Burton mich nicht gefeuert hatte. Doch je länger ich darüber nachdachte, umso überzeugter war ich, dass der Grund dafür nicht die Anteile meiner Mutter an der Firma waren. Die Premier Group war bekannt dafür, Absolventen der Kochschule zu verschlingen und wieder auszuspucken. Es war wie ein Ehrenabzeichen, ihren Firmennamen auf dem Lebenslauf zu haben. Der Ritterschlag der Gastrowelt. Es gab sogar eine Facebookgruppe mit dem Namen Ich habe die BPG überlebt.

Ihr Geschäftsmodell basierte ganz offensichtlich auf Sklaven wie mir. Als Praktikantin wurde von mir erwartet, dass ich siebzig Stunden die Woche für wenig Geld arbeitete. Sie nannten die Bezahlung »Gehalt«, aber nur, weil es sich besser anhörte als »Hungerlohn«. Wenn sie jedes Mal einen von uns feuerten, sobald etwas schiefging, hätten sie bald niemanden mehr, der die Drecksarbeit erledigte und Kaffee holte.

Zumindest redete ich mir das ein. Denn ich war es leid, dass sich meine Mutter in mein Leben einmischte. Ich hatte geglaubt, ich hätte sie abgeschüttelt, als ich aus Beacon Hill weggezogen war. Aber so wie es aussah, hätte ich Massachusetts wohl ganz verlassen sollen.

Vielleicht war Vermont weit genug weg, um Moms schlechtem Einfluss zu entkommen. Jedenfalls hoffte ich das. Vor meinem Autofenster war alles grün. Die Hügel waren grasbewachsen, und die Bäume am Straßenrand bildeten mit ihren Zweigen einen Tunnel aus Blättern. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich war. Aber es war wunderschön.

Gott sei Dank hatte ich ein Navi, denn Kartenlesen war nicht gerade meine Stärke. Wie gesagt, steckt mich in eine Küche und drückt mir ein Messer in die Hand, und ich bin glücklich. Aber ein Unternehmen führen oder mitten in der Wildnis von Vermont in einem Mietwagen Kaufverträge mit Farmern verhandeln? Riskant, Leute.

Mein Navi sagte mir, dass es nur noch eine halbe Meile bis zur ersten Farm auf meiner Liste war – der Shipley Farm. In meinem ersten erfolglosen Jahr auf dem College hatte ich mal einen Griffin Shipley gekannt. Er war im Footballteam und feierte gern, und wir hatten ein paarmal die Nacht miteinander verbracht. An diese Nächte erinnerte ich mich in allen Einzelheiten. An jeden aufregenden Augenblick.

Aber besonders gut hatte ich Griffin nicht gekannt. Und ich wusste nicht mehr, ob er aus Vermont kam oder nicht. Vielleicht war Shipley ein häufiger Nachname. Heute sollte ich sowieso einen anderen treffen. Auf meiner Liste stand: August Shipley. Äpfel und traditionell gekelterter Cider.

Ich hatte mir die Shipley Farm als Ausgangspunkt nicht wegen ihres Namens ausgesucht, sondern wegen des Ciders. Vielleicht durfte ich bei August Shipley ein Gläschen probieren. Wenn man geschäftlich trank, war es doch egal, dass es noch nicht Mittag war, oder?

Der Cider war der interessanteste Punkt auf meiner Liste, direkt gefolgt von einigen Gourmet-Käseprodukten. Bevor ich in Boston losgefahren war, hatte ich Bill Burtons Sohn Bob angerufen. Er war der Einkäufer, der die Liste erstellt hatte. »Wir sind Großabnehmer, also zahlen wir Großhandelspreise«, hatte er erklärt. »Die Zahlen auf der Liste sollten hinkommen. Rufen Sie mich an, wenn Sie an den Preisen was drehen müssen, aber wir haben keinen großen Verhandlungsspielraum.«

Das hatte mich nicht überrascht. Die Friss-oder-stirb-Einstellung der BPG war mir schon vertraut. Aber ich war entschlossen, die Sache zum Erfolg zu führen. Ich brauchte diesen Job. Dafür hatte meine arrogante Mutter gesorgt, als sie mir das Auto weggenommen und den Unterhalt gestrichen hatte. Und trotzdem schrieb sie mir ständig E-Mails und erkundigte sich nach meinen Fortschritten beim Erwachsenwerden. Sie quatschte mir auch auf die Mailbox.

Hin und wieder antwortete ich ihr. Gerade oft genug, damit sie wusste, dass ich noch lebte. Aber ich dachte öfter an sie, als ich es mir eingestehen wollte. Ich träumte davon, dass mir ein Restaurantkritiker vom Globe eine gute Kritik schreiben würde. Ich wollte, dass sie sie las. Auch wenn ich sie wahrscheinlich auf meine Reservierungs-Blacklist setzen würde, einfach weil ich es könnte.

Das Navi meldete sich. »In zweihundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.« Ich beschleunigte. Es waren lange zweieinhalb Stunden im Auto gewesen.

Einen Augenblick später ging die gepflasterte Straße in einen Schotterweg über. Das hatte ich nicht erwartet. Das kleine Mietauto hopste auf dem unebenen Boden, und ich verlor den Halt. Also trat ich auf die Bremse.

Riesenfehler.

Ich schlitterte, das Heck des Wagens schleuderte nach rechts. Entsetzt spürte ich, wie sich die Erde unter mir auf unvorhersehbare Weise verschob. Zwei Sekunden später kam das Auto ruckartig zum Stehen. Meine Zähne schlugen aufeinander, und der Gurt schnitt mir in die Schulter. Aber ich umklammerte immer noch das Lenkrad, immer noch in der Waagerechten. Mehr oder weniger. Die Beifahrerseite hing im Straßengraben.

Okay. Ich bin immer noch ganz. Gott sei Dank.

Mit zitternden Händen löste ich den Gurt, stieß die Tür auf und kletterte aus dem schief hängenden Auto. Mein Herz raste wie eine Küchenmaschine auf der höchsten Stufe. Der plötzliche Kontrollverlust hatte einen Adrenalinstoß ausgelöst. »Mist!« Mit zittrigen Beinen stand ich auf dem Schotter.

Noch während ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen, betrachtete ich den Toyota Prius. Es war keine so starke Neigung. Vielleicht könnte ich einfach aus dem Graben herausfahren.

Doch als ich ums Heck herumlief, verließ mich der Mut. Der hintere Reifen war so platt wie ein eingefallenes Soufflé.

Verdammt!

Und wo war überhaupt mein Handy? Ich öffnete die Fahrertür wieder, um meine Tasche herauszuholen. Doch natürlich war alles auf die Beifahrerseite gerutscht und zu Boden gefallen. Die Neigung war ein Problem, also legte ich mich auf den Fahrersitz und angelte unter dem Beifahrersitz nach meiner Tasche. Ich bekam sie zu fassen, aber sie war natürlich offen gewesen. Also verbrachte ich die nächsten paar Minuten damit, mein Zeug einzusammeln und zurück in die Tasche zu stopfen. Lippenstift. Haustürschlüssel. Mein Handy.

Erst als ich sicher war, dass ich alles hatte, schob ich mich, mit dem Hintern zuerst, wieder aus dem Auto. Als ich mich umdrehte, blieb mir fast das Herz stehen. Ein riesiger, bärtiger Mann stand hinter mir auf der Straße, er hatte die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und blickte mich finster an. »Audrey Kidder?«, knurrte er.

Das knurrende Monster kannte meinen Namen. Moment. Ich kannte das knurrende Monster. »Griffin?«, quietschte ich. Er sah so anders aus. Fünf Jahre waren seit meinem ersten Jahr an der Boston University vergangen, aber so lange war das ja nun auch nicht her. Er war damals im letzten Jahr gewesen – und ein Footballstar. Ich kannte ihn nur glatt rasiert und in seiner Footballmontur, oder bei einer Red-Cup-Party im Verbindungshaus.

Der Mann vor mir war immer noch so groß und kräftig wie der Footballspieler, den ich kannte. Doch da hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Dieser Griffin Shipley war gebräunt und auf eine andere Art muskulös. Er trug ein eng anliegendes Shirt mit der Aufschrift FARM-WAY und eine Baseballmütze mit einem Traktor drauf. Seine Jeans war mit Farbe besprenkelt und auf eine Weise zerrissen, die nichts mit dem künstlichen Used Look von Abercrombie zu tun hatte. Seine war tatsächlich von der Arbeit abgewetzt.

Und, oh mein Gott, sie saß wie angegossen.

Mich durchzuckte eine Erinnerung an das letzte Mal, als ich Griff Shipley gesehen hatte. Wir waren in seinem Zimmer im Verbindungshaus, und er drückte mich gegen die Zimmertür. Ich hatte die Beine um seine Hüfte geschlungen, während er mich …

»Was machst du auf meiner Farm?«, wollte er wissen. »Abgesehen davon, dass du in den Graben fährst?«

»Deine … Farm?«, quietschte ich, und mir wurde ganz heiß. »Ich, ähm, ich möchte mit deinem Vater sprechen. Ich arbeite für die Boston Premier Group. Sie möchten eure Produkte kaufen. Und Cider. Den leckeren mit Alkohol«, plapperte ich.

Er hob nachdenklich das Kinn. »Ach ja?«

Reiß dich zusammen, Kidder. Ich richtete mich auf. »Ich bin die Vertreterin. Ist dein Vater zu Hause?«

Griffin zog eine Augenbraue hoch. »Da kommst du zu spät.«

»Wirklich? Ich kann auch morgen wiederkommen.« Gute Idee. Ich musste mich erst einmal sammeln.

»Du kommst zu spät, weil mein Vater vor ein paar Jahren gestorben ist.«

»Er …« Schließlich kamen Griffins Worte in meinem Kopf an. »Herrje, das tut mir leid.«

»Danke.« Er wartete und sah mich so lange an, bis ich den Blick abwandte.

»Also …« Ich suchte in meiner Tasche nach der Liste mit den Farmen. »Die BPG hat mir seinen Namen gegeben, August Shipley. Es tut mir leid, das muss ein Fehler sein. Bist du derjenige, mit dem ich sprechen muss?«

Er grinste, und für einen Augenblick sah ich den alten Griff aufblitzen. »Die Liste ist schon richtig. Mit vollem Namen heiße ich August Griffin Shipley der Dritte. Und ja, ich bin hier der Farmer und Ciderwinzer.«

Es fiel mir schwer, diese Information zu verarbeiten. Sportskanone Griff Shipley als Unternehmer? Seine Familie hatte hoffentlich noch andere Einkommensquellen. Griff Shipley auf einer Parkplatzparty – okay. Das konnte ich mir vorstellen. Aber eine Farm und Kelterei?

Niemals.

»Okay«, antwortete ich gedehnt. »Können wir reden? Hast du Zeit?«

Griff wandte sein bärtiges Gesicht zum Himmel und seufzte, als hätte ich ihn gerade um den Mond gebeten. »Die Zeit ist ziemlich knapp, schließlich muss ich ja auch noch dein Auto aus dem Graben ziehen. Und dein Reifen ist höchstwahrscheinlich hin. Ich muss mähen, die Zäune inspizieren, die Kühe melken und ein Schwein schlachten. Ich muss einen Junkie einstellen und nach meinen Äpfeln sehen. Aber dann vielleicht. Danach.«

»In Ordnung …« Ich trat von einem Fuß auf den anderen, dabei bemerkte ich, dass mir kleine Steinchen vom Schotter auf der Straße in meine hübschen Riemchensandelen geraten waren. »Es dauert auch nur ein paar Minuten. Es sind nur ein paar Zeilen auf einem Blatt.«

Er strich sich mit seiner riesigen Hand über den Bart. »Du hättest vorher anrufen sollen. Hast du daran nicht gedacht?«

»Da ist was dran«, erwiderte ich mutig. »Aber der Einkäufer bei der BPG meinte, es sei besser, einfach vorbeizukommen. Er hat gesagt, Farmer würden nicht ans Telefon gehen.«

Griff blickte wieder verdrießlich zum Himmel und gab unverhofft ein Geräusch von sich, das ich schließlich als Lachen identifizierte.

»Was ist daran so lustig?«

Er verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. »Pass mal auf«, sagte er. »Ich glaube, ich weiß, warum keiner abnimmt, wenn dein Typ von der BPG anruft. Seine Preise sind wahrscheinlich unter aller Sau, stimmt’s? Also hat er jetzt eine neue Strategie. Er schickt eine hübsche Studentin mit kurzem Rock und tiefem Ausschnitt, um die armen Kerle zu verwirren, die seine Waren anbauen. Der Kerl glaubt, ich wäre so blöd, dass ich mich von einem schönen Dekolleté und einem strahlenden Lächeln lange genug blenden lasse, um ihm meine Äpfel für einen Dollar das Pfund zu verkaufen.«

Später erkannte ich, wie wichtig dieser Augenblick war. Wie ich da auf Griffs Straße stand, dämmerte mir zum ersten Mal, dass ein platter Reifen nur der Anfang vom Ende war. Eine ganz neue Angst überkam mich, denn es hörte sich an, als wüsste Griff ausnahmsweise, wovon er sprach. Als ich die Preisliste aufschlug, sah ich, dass der erste Punkt auf der Liste tatsächlich lautete: Äpfel: $ 0,99/Pfund.

Scheiße. »Dann ist ein Dollar das Pfund also nicht der übliche Großhandelspreis für Äpfel?« Ich sagte es so charmant wie möglich, aber Griffs Gesicht verdüsterte sich wie ein Himmel voller Regenwolken.

»Pass mal auf, Prinzessin«, knurrte er. »Für den Preis bekommst du mehlige Scheißäpfel von irgendeiner Riesenplantage im Westen oder von einem Farmer, dem man in den Achtzigern weisgemacht hat, er solle nur noch Red Delicious anbauen, und der es sich nicht leisten kann, seine Bäume neu zu pfropfen. Dein Typ will Bio-Äpfel, vermutlich alte Sorten. Er will auf seinen Speisekarten damit prahlen: Äpfel aus Neuengland, unbehandelt und von Jungfrauen im Mondschein gesegnet. So etwas steht doch auf den handgeschriebenen Speisekarten, stimmt’s?«

»Stimmt«, gab ich kleinlaut zu. Genauso lief es.

»Die kriegst du nicht für einen Dollar das Pfund. Nicht bei mir und bei keinem meiner Nachbarn.«

Oh, oh. Mein Herz versank noch ein wenig tiefer im Dreck, genau wie mein Mietwagen.

Was für ein dummes Mädchen ich doch war. Vielleicht war Verhandeln nicht gerade meine Stärke, aber ich konnte schon immer gut zuhören. Und nachdem ich mir Griffs Wutausbruch eine Minute lang angehört hatte, war mir eins klar: Wenn ich die anderen Farmen hier in der Region besuchen würde, wäre der Preis auf meiner Liste immer um mindestens fünfzig Prozent zu niedrig. Aber mein Job hing davon ab, dass ich diese Deals unter Dach und Fach brachte.

Ich war so am Arsch.

»Jetzt holen wir erst mal dein nigelnagelneues Auto aus dem Graben.« Griff funkelte mich an. Bis heute hatte ich noch nie jemanden wirklich funkeln sehen. Das war ein Ausdruck, den es sonst nur in Büchern gab – und auf Griff Shipleys lächerlich hübschem, wenn auch grummeligem Gesicht.

»Das ist ein Mietwagen«, verteidigte ich mich. »Ich kann den Abschleppdienst anrufen.«

Der funkelnde Griff seufzte erschöpft. »Ich bin dich schneller wieder los, wenn ich es selbst mache.« Er steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff schrill. Dann wartete er eine Weile, während ich versuchte, nicht daran zu denken, was er mit diesen Fingern anstellen konnte …

»Gibt es ein Problem, Han?«, hörte ich eine Stimme von der Wiese hinter den Bäumen auf der anderen Seite der Straße. Ein paar Sekunden später kam ein gut aussehender junger Mann zwischen den Bäumen hervor und stellte sich zu uns. Auch er war riesig. Aber während Griff dunkelhaarig war, war er blond und blauäugig.

Offensichtlich waren alle Menschen, die ursprüngliches Bio-Obst anbauten, selbst wunderschön.

»Ja, wir haben ein Problem«, erklärte Griff. »Wir müssen die Prinzessin hier aus dem Graben ziehen und ihren Reifen wechseln. Dann schicken wir sie mit Lichtgeschwindigkeit zurück auf den Todesstern, damit sie dem Imperator berichten kann, dass die Rebellen aufbegehren.«

»Herrje, deinen Star-Wars-Spleen hatte ich ja ganz vergessen.« Das war mir so herausgerutscht. Doch kaum hatte ich es gesagt, bekam der andere Typ große Augen, und Griffs Gesichtsausdruck machte mir klar, dass er keine weitere Anspielung auf unsere kurze gemeinsame Vergangenheit dulden würde.

Auch wenn »kurz« nicht das richtige Stichwort war, denn nichts an dem Mann war kurz.

Nicht dran denken.

»Wie kann ich euch helfen?«, fragte ich. »Ich bin auch froh, wenn ich so schnell wie möglich weiterfahren kann. Jedenfalls, nachdem wir uns kurz über Äpfel und Cider unterhalten haben.«

»Kurz unterhalten.« Er sah mich durchdringend an.

»Ja. Das hast du schön wiederholt. Gut gemacht.« Ich verschränkte die Arme, um seine Haltung zu imitieren. Vielleicht war ich auf einer aussichtslosen Mission, aber so schnell würde ich nicht die Flinte ins Korn werfen. Meine Zukunft bei der BPG stand auf dem Spiel, und ein grummeliger Farmer sollte nicht das letzte Wort haben.

»Mitkommen«, knurrte er, dann drehte er sich um und marschierte davon.

»Jawohl, Sir.« Ich salutierte hinter ihm.

Der blonde Junge kicherte und machte sich daran, meinen platten Reifen zu inspizieren.

3

Griffin

Ich bin weiß Gott ein netter Kerl. Aber heute war davon wenig zu spüren.

Vielleicht lag es am Stress auf der Farm oder am Schock, weil Audrey Kidder plötzlich mit ihren unendlich langen Beinen bei uns auf der Straße stand und mich mit glühenden Augen ansah. Vielleicht lag es auch an einem plötzlichen Temperaturanstieg an diesem sonnigen Tag.

Aber egal woran es lag, kaum hatte Audrey mir ihr perfektes Hinterteil aus ihrem Auto entgegengestreckt, verhielt ich mich wie ein Arschloch.

Ich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, während ich sie im Stechschritt die halbe Meile die Kiesauffahrt heraufbegleitete. Aber sie trug diese winzigen Riemchenschuhe, verdammt. Also erinnerte ich mich an meine gute Kinderstube und verlangsamte das Tempo. »Wie ist es dir in den letzten fünf Jahren ergangen?«, blaffte ich.

Anscheinend hatte ich nicht besonders zivilisiert geklungen, denn meine Frage hatte sie offensichtlich erschreckt. »Äh, super, danke. Ich, ähm, bin von der Boston University geflogen. Danach hat mich meine Mutter auf die Mount Holyoke geschickt, aber die haben mich auch rausgeworfen.«

Ich hätte wohl besser nicht fragen sollen, denn ihre Antwort machte mich wütend. Ich hatte mir vier Jahre lang den Arsch aufgerissen, um mein Football-Stipendium an der BU zu behalten, weil so mehr Geld für die Collegeausbildung meiner drei jüngeren Geschwister blieb.

Aber Audrey war damals ein Partygirl gewesen. Immer unterwegs mit den Mädels aus ihrer Verbindung. Immer auf der Suche nach der nächsten feucht-fröhlichen Party. Ich hatte versucht, im College den Partylöwen zu spielen. In Wahrheit hatte ich während der vier Jahre durchschnittlich fünf Stunden pro Nacht geschlafen, damit ich mein Pensum schaffte. Genau wie jetzt.

»Nachdem ich dann allen bewiesen hatte, dass ein Studium nichts für mich war, ging ich auf die Kochschule und habe als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Stell dir das mal vor.«

»Super«, sagte ich. Aber Audrey Kidder in einer Küche? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Was, wenn ihr ein Nagel abbrach?

»Ich habe den Job bei der Boston Premier Group angenommen, weil ich mein eigenes Restaurant eröffnen möchte. Das ist nicht einfach – man braucht Geldgeber. Wenn ich mich für eine Weile einschleime, können sie mir beim Durchstarten helfen.«

Interessant. Sie wollte mich wohl einlullen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie arbeitete für einen Haufen Schmierlappen, die jeden wenn möglich ausnutzten. Sollte ich sie jetzt bewundern? Keine Chance.

»Warum bittest du nicht deine Eltern um das Startkapital?«, fragte ich. Audrey kam aus gutem Hause. Deshalb war sie bei der Studentenverbindung auch so gut angekommen. »Können sie dir nicht unter die Arme greifen?«

»Nein, Griff.« Ihre Stimme zitterte. »Das können sie nicht.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Auweia, da war ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. »Na gut«, knurrte ich. »Sprechen wir über meinen Cider. Zach kann sich um dein Auto kümmern.«

»Klasse! Zeigst du mir, wo du ihn herstellst?« Ihre Augen leuchteten, und ich spürte einen Anflug ungewohnter Nähe. Der Cider war meine Leidenschaft, und es freute mich sehr, wenn sich jemand dafür interessierte.

Andererseits hatte Audrey sich auch schon früher gerne betrunken.

»Klar, komm mit.« Wir gingen am Farmhaus vorbei, und ich führte Audrey zwischen der Schlafbaracke und den Stallungen hindurch bis zu meinem ganzen Stolz – dem Ciderhaus. Mein Vater hatte in Handarbeit Cider für den Eigenbedarf hergestellt und jedes Jahr nur zum Vergnügen ein paar Flaschen verkauft.

Mir war es gelungen, das Hobby meines Vaters in ein gewinnbringendes Geschäft zu verwandeln. Ich öffnete die Tür des scheunenähnlichen Gebäudes und knipste die altmodischen Lampen an.

»Wow«, sagte Audrey mit gedämpfter Stimme. »Das sind ja Riesentanks.«

»Stimmt«, bestätigte ich und versuchte, die aufkommende Freude zu unterdrücken, die mich erfasste, wenn jemand mein Baby bewunderte. »Mein Cider hat schon Preise gewonnen.« Na gut, einen Preis. Aber ich hatte ja gerade erst angefangen. »Jeder Idiot kann ein halbwegs trinkbares Bier in seiner Garage brauen, aber die Herstellung eines komplexen Ciders ist schon schwieriger. Chemisch gesehen kann dabei jede Menge schiefgehen.«

»Aha.« Audrey ging zu meiner Abfüllanlage hinüber und betrachtete eine der leeren Flaschen. »Schönes Etikett.«

Das Etikett war das Uninteressanteste im ganzen Raum. »Danke«, sagte ich steif. »Mein Bruder hat es entworfen.«

Sie sah kurz auf und grinste: »Ich weiß, dass dir das Label vollkommen egal ist, Grummel-Griff.« Sie stellte die Flasche ab. »Aber Marketing ist wichtig für die Käufer. Sie wollen sich gut fühlen, wenn sie einen Haufen Geld für hochwertige Produkte ausgeben. Sie wünschen sich eine Geschichte, denn die bleibt im Gedächtnis, auch wenn die Flasche schon längst ausgetrunken ist.«

»Aha.« Genau dieses Marketing-Blabla trieb mich in den Wahnsinn. Meiner Meinung nach sollten Leute Geld für Bio-Qualität ausgeben, weil es das einzig Richtige war. »Du meinst also, dass den Kunden ein hübsches Bild wichtiger ist als die Tatsache, dass meine Apfelplantage Vermonts Grundwasser nicht mit Chemikalien und giftigen Düngemitteln verseucht? Und dass ich meine Mitarbeiter angemessen bezahle?«

Sie warf ihr Haar zurück. »Willst du meine Antwort wirklich hören? Ich möchte nämlich ungern deinen Vortrag unterbrechen.« Sie kam näher und sah mich mit ihren blauen Augen herausfordernd an. »Erzähl mir nicht, dass du noch nie versucht hast, dein Ciderhaus aufzupeppen, um mehr zu verkaufen. Wenn dir Marketing egal ist, was bitte schön ist dann das?«

Sie zeigte auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Es war der erste Teil einer Informationstafel zur Herstellung von Cider. Während der geschäftigen Erntesaison boten wir Verkostungen an. »Meine Schwester hat das Bild im vergangenen Herbst aufgenommen. Das sind unsere Äpfel in einer Schubkarre, na und?«

Audrey grinste, als hätte sie mich beim Klauen erwischt. »Die Äpfel auf dem Bild sind niemals in deinen großen, männlichen Cidertanks gelandet. Diese hier«, sie stupste mit einem pinken Fingernagel auf das Bild, »sind besonders schöne, ausgewählte Exemplare. Die hast du an Touristen verkauft. Da drin«, sie zeigte auf meine Tanks und hob die Stimme, »verarbeitest du die Äpfel, die aussehen, als wären sie in eine Schlägerei geraten! Also tu gar nicht erst so, als wäre dir Marketing scheißegal!«

Alter Schwede. Ihr wohlgeformter Mund sah unfassbar attraktiv aus, wenn sie fluchte. Und ich war gerade von einem Mädchen belehrt worden, das wenigstens ab und zu auf der Kochschule aufgepasst haben musste.

Seltsamerweise machte mir das nichts aus. Ich wollte nur, dass sie noch einmal fluchte, am liebsten während wir es auf dem Heuboden trieben.

»Was ist?«, schnappte sie. »Warum starrst du mich so an?«

»Hast du mich eben Grummel-Griff genannt?«

Sie verdrehte die Augen. »Kann sein. Willst du mir jetzt Cider zu einem attraktiven Preis verkaufen oder nicht?«

Tatsächlich wollte ich der Superwichtigtuer-Businesskasper-Group aus sonst wo sehr gern meinen Cider verkaufen. Im Gegensatz zu den Äpfeln könnte sich der Cider als Marke etablieren, wenn man eine Nische dafür fände. Wenn angesagte Restaurants meinen Cider auf der Karte hätten, ließen sich auch Weinläden leichter überzeugen, den Cider ins Sortiment aufzunehmen.

Jetzt einen kleinen Verlust zu akzeptieren würde sich vielleicht später auszahlen. Falls ich das wirtschaftlich stemmen konnte. »Ich trau mich kaum zu fragen …« Ich näherte mich Audrey, die noch an der Abfüllanlage stand. »Was zahlt dein Auftraggeber für eine Flasche des besten Ciders aus Vermont?«

Sie sah mich an, blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Schau ihre Lippen nicht an. Denk gar nicht an sie. Erinnere dich nicht daran, was sie damals damit angestellt hat … Oh, verflucht.

»Laut Preisliste sind es drei Dollar für eine 750-ml-Flasche.«

Das traf mich wie ein Schlag. »Drei Dollar? Damit sie die Flasche für zwanzig weiterverkaufen? Du willst mich wohl veräppeln? Allein Flasche und Korken kosten mich anderthalb Dollar.«

Sie ließ die Schultern hängen und sagte mit sanfter Stimme: »Ich sag meinem Boss, dass er verrückt ist, okay? Aber wenn ich ihn überzeugen soll, musst du mir etwas an die Hand geben. Ich brauche nicht noch eine Predigt, sondern Informationen.«

Verdammt, sie hatte recht. »In Ordnung, sollen wir den Cider probieren?«

Audrey klatschte in die Hände. »Ich dachte schon, du fragst nie!«

Natürlich.

Ich nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, löste den Drahtverschluss und entfernte langsam den Korken. Um die natürliche Kohlensäure zu erhalten, verschloss ich jede Flasche mit einem Champagnerkorken. Die waren teurer als Schraubverschlüsse, aber so ließ sich der Cider länger lagern.

Ich nahm ein paar Gläser vom Tresen und goss uns ein wenig Cider ein. Audrey lächelte mich an. »Prost.«

»Zum Wohl.« Es war Ewigkeiten her, dass ich mit einer attraktiven Frau angestoßen hatte. Vor ein paar Monaten hatte ich mich von einer Bekanntschaft mit gewissen Vorzügen getrennt und seitdem wie ein Mönch gelebt. Vor dem Mittagessen Cider zu trinken, um ein Geschäft abzuschließen, war auch nicht unbedingt ein geselliger Anlass. Aber zu mehr würde es in nächster Zeit kaum reichen.

Ziemlich traurig, ich weiß.

Audrey hielt ihr Glas in den Lichtstrahl, der durch das Oberlicht hereinfiel. »Ein schöner Bernsteinton.« Sie schwenkte das Glas professionell unter ihrer Nase. »Ansprechend würziges Aroma. Eher tanninhaltig als fruchtig.« Sie nippte, und ihr Blick schweifte ab, als sie sich auf die herben und komplexen Aromen meines Produktes konzentrierte. Ich beobachtete ihren schlanken Hals, als sie schluckte. »Wow. Feiner Apfelsaft, Griff.«

»Bitte?«, japste ich. »Apfels…«

Sie grinste: »Nur ein Witz!