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Im Zeitalter des Do-it-yourself (DIY) sind Video-Tutorials das Mittel der Wahl. Von profanen Problemen wie der Installation von Druckertreibern oder dem Binden von Schnürsenkeln bis hin zum Bau von Waffen: Für fast alle Aufgaben des Lebens gibt es heute Hilfe auf YouTube oder TikTok. Dabei dienen Tutorials dem Product-Placement und sind Karrieresprungbrett für Influencer. Zugleich haben sie mitunter hohen Unterhaltungsanspruch. Zunehmend werden sie auch für politische Botschaften genutzt, die dann, versteckt hinter Make-up-Tipps, an Zensurinstanzen vorbei an die Öffentlichkeit gelangen.
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Seitenzahl: 66
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Video-Tutorials gibt es heute für fast alle Probleme des Lebens. Inke Arns zeigt, dass Tutorials nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe sind, sondern auch Unterhaltung, Karrieresprungbrett für Influencer und Ort politischer Botschaften sein können – vor Zensurinstanzen versteckt hinter Make-up-Tipps.
Inke Arns
TUTORIALS
Altruistische Hilfe und Influencer-Karrieresprungbrett
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
DIGITALE BILDKULTUREN
Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.
Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.
Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.
Herausgegeben von
Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich
Die Sachbuchreihe Jetzt helfe ich mir selbst des Motorbuch Verlags (seit 1962)
Dieses Buch verdankt sich einer Ausstellung. 2014 zeigte der HMKV Hartware MedienKunstVerein die Ausstellung »Jetzt helfe ich mir selbst« – Die 100 besten Video-Tutorials aus dem Netz.1 Sie versammelte eine Auswahl der 100 »witzigsten, absurdesten, spannendsten, unheimlichsten und amüsantesten« Video-Tutorials. Präsentiert auf 98 Monitoren und zwei Projektionen strömte den Ausstellungsbesucher*innen das geballte »How-To«-Wissen der Welt des Jahres 2014 entgegen. Die 100 Video-Tutorials wurden bewusst auf engem Raum gezeigt, um so eine hohe visuelle Dichte und eine akustische Kakophonie zu schaffen – in Anlehnung an jene, die Nutzer*innen im Netz entgegenschlägt.
Video-Tutorials, zu Deutsch: »Lern- und Erklärvideos«, sind Anleitungen zur Selbsthilfe. Es handelt sich meist um kurze audiovisuelle Gebrauchsanleitungen, die Kenntnisse und praktische Fähigkeiten zur Lösung eines klar umrissenen Problems vermitteln sollen. Prinzipiell kann man jedes Video, das einen Prozess demonstriert, Wissen vermittelt, ein Konzept erklärt oder jemandem zeigt, wie man etwas macht, als Video-Tutorial bezeichnen.
Video-Tutorials haben in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Etwa um 2015 gewannen sie richtig an Populärität. Laut einer Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom2 aus dem Jahr 2015 hatten sich 37 Prozent der Deutschen schon einmal ein Video-Tutorial angesehen, was circa 20 Millionen Bundesbürger*innen entspräche. In der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen hatten 39 Prozent Erfahrung mit Tutorials. Bei den über 64-Jährigen waren es 32 Prozent. 2015 waren die beliebtesten Themen Computer und Technik sowie Haushalt und Bildung.3 Eine repräsentative Studie der Robert Bosch Stiftung stellte 2019 fest, dass audiovisuelles Lernen für Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren von großer Bedeutung und ein ganz normaler Teil ihres Alltags sei: 86 Prozent der befragten Schüler*innen gaben YouTube als bevorzugtes digitales Medium an. Und mehr als die Hälfte davon zog selbstständig Erklärvideos von dieser Plattform heran.4 Aber nicht nur für Schüler*innen sind Video-Tutorials wichtig.
Was Autofreund*innen früher die für die Ausstellung titelgebende Buchreihe Jetzt helfe ich mir selbst war, ist heute – im Zeitalter des Do-it-yourself (DIY) – das Video-Tutorial im Netz. Seien es profane Schwierigkeiten bei der Installation von Druckertreibern, beim Binden von Schnürsenkeln – oder aber bei etwas anders gelagerten Fragestellungen wie dem Bau von Waffen: Für Themen aus fast allen Bereichen holt man sich heute Anleitungen und Hilfe aus dem Internet: Schönheit (Hygiene, Kosmetik, Körperveränderungen), Handwerk (Reparatur-, Bastel- und Textilarbeiten), Sport (Anleitungen für einen Salto oder für Seilspringen, für Surf-, Fußball- oder Skatetricks), Musik (Beatboxen, Gitarre spielen, Notenlesen, Tanzschritte), Computer (Software, Games, Hardware), Kochen (Rezepte, Haushaltstipps), Abstraktes (Lösungen mathematischer Gleichungen, Merksätze zum Aufbau des Sonnensystems), Spaß (Kaugummiblasen, Taubenvergraulen), Soziales (Freundschaftssuche, Kontaktaufnahme) und Sonstiges (z. B. Zaubertrickanleitungen, Tipps zur Pflege von Haustieren oder zur Aufzucht von Kristallen).5
»How-To«-Videos sind zu einem bedeutsamen Phänomen der DIY-Kultur geworden. Da wird gezeigt, wie man eine Bierflasche mit einem Stück Papier, eine Dose mit bloßen Händen oder ein Schloss mit einer Heftklammer öffnet, wie man eine funktionierende Gasmaske baut, einen Fahrradschlauch ohne Flickzeug flickt, sein Haar in der Schwerelosigkeit oder seinen Hund in der Badewanne wäscht, wie man auf Finnisch zählt oder »nichts« zeichnet. Auf allen Kanälen wird geredet und gequatscht – und es werden nützliche und manchmal weniger nützliche Informationen vermittelt: Wollten Sie nicht schon immer mal wissen, wie man ein Känguru mit bloßen Händen fängt? Ein findiger Australier führt es Ihnen vor. Wie überlebe ich die erste Nacht im Computerspiel Minecraft? Und wie überlebe ich draußen, außerhalb der Zivilisation, in der Natur? Wollen Sie wissen, wie man garantiert an jedem Türsteher vorbeikommt? Auch hierfür gibt es einen Experten. Wollten Sie darüber hinaus immer schon einmal wissen, wie man Papst wird, wie man Zwiebelwürfel schneidet, ohne weinen zu müssen, wie man eine Zombieattacke überlebt, Bleistifte anspitzt oder den Sound des Autoauspuffs »verbessert«? Wie man aus einer Karotte eine Flöte schnitzt oder einen 1,2 Kilogramm schweren Snickers-Riegel macht? Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Hinsichtlich der Nützlichkeit bestimmter Anleitungen werden dieselben häufiger überschritten. In weiteren Video-Tutorials wird beispielsweise gezeigt, wie man unbemerkt in der Öffentlichkeit pinkelt (»How to piss in public«); wie man irgendwo in Afrika einen achtteiligen Gesichtsschleier anlegt und mit einem solchen in England einen Hamburger isst oder seine Augen besonders sexy schminkt; wie man Luftgitarre spielt, auf hochhackigen Schuhen läuft oder mit einem Baseballschläger einen Kotflügel bördelt – allerdings ohne Bördelgerät.
Natürlich geht in manchen dieser Video-Tutorials auch mal etwas gewaltig schief. Da sieht man dann beispielsweise, was man im Umgang mit einem Lockenstab vermeiden sollte oder was passiert, wenn man eine Flasche in der Mikrowelle erhitzt.
Andere dieser »How-To«-Videos sind beängstigend oder unheimlich, oder sie zeigen uns, was wir vielleicht gar nicht sehen oder erklärt haben wollen: Da ist zum Beispiel das Video-Tutorial, das zeigt, wie man nach dem Passieren der Sicherheitskontrolle am Flughafen eine Pumpgun bauen kann – aus Dingen, die es im Duty Free Shop zu kaufen gibt. In einem anderen Video führt ein Kind vor, wie es aus Objekten, die es in seinem Kinderzimmer findet, eine funktionierende Armbrust bastelt. Anleitungen zum Waffenbau, Tipps zu Bombenkonstruktionen und Handreichungen zur Produktion von Giftgas, all das ist im Netz verfügbar, in einfachen Worten und anschaulichen Videobildern erklärt.
Die zentrale Frage, die sich hier stellt, ist jedoch: Warum machen Leute das überhaupt? Warum produzieren sie Video-Tutorials? Warum erklären Menschen anderen, wie man etwas macht – ohne (erkennbare) Gegenleistung und ohne ihr Gegenüber überhaupt zu kennen? Denn die Öffentlichkeit im Netz ist ja zunächst eine anonyme, abstrakte. Wollen die Macher*innen ihr Wissen einfach nur selbstlos weitergeben? Geht es ihnen um Ruhm und Ehre? Oder doch mal wieder nur ums Geld?
Wir haben es mit einer riesigen Bandbreite unterschiedlicher (intrinsischer und extrinsischer)6 Motivationen zu tun: von der selbstlosen Wissensweitergabe (Hilfe zur Selbsthilfe) über den Wunsch nach Selbstbestätigung und product placement bis hin zum Ich als Marke. Dabei kann man in den einzelnen Videos zwischen diesen Beweggründen oft nicht trennscharf unterscheiden. Es gibt hier nicht Schwarz oder Weiß – höchstens Mischformen mit Anteilen des jeweils einen oder anderen.
Einige der Tutorial-Macher*innen scheinen zum Beispiel eher aus Altruismus zu handeln. Da geht es um die Vermittlung von (Spezial-)Wissen, das vielleicht auch anderen in ähnlichen Situationen helfen kann. So zum Beispiel die Nutzer*in candiFLA in ihrem Video »016 transgender voice-3« (# 1), in dem sie den Wechsel von ihrer eigentlich männlichen Stimme zu einer überzeugend weiblichen Stimme demonstriert.7 Oder Cassandra Bankson, US-amerikanisches Model und Influencerin, die in »Acne Foundation Routine Flawless Skin (Full Coverage Tutorial)« zeigt, wie sie ihre starke Akne mittels Make-up zum Verschwinden bringt.8(# 2)