Typisch Europa - Pieter Steinz - E-Book

Typisch Europa E-Book

Pieter Steinz

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Beschreibung

"Ein einzigartiges Kaleidoskop unseres Kontinents." Geert Mak

Von Pippi Langstrumpf bis Johann Sebastian Bach, von der Sixtinischen Kapelle bis zum Billy Regal – Pieter Steinz widmet sich dem Schönen und Verbindenden auf unserem Kontinent. Er beschreibt unsere gemeinsame Kultur, die Grenzen überwindet und auf die alle Europäer stolz sein können. "Beim Lesen habe ich voller Bewunderung gedacht: So eine prächtige Gesamtschau konnte nur ein Niederländer schreiben." Dirk Schümer

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Seitenzahl: 680

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Pieter Steinz

TYPISCH

EUROPA

Ein Kulturverführer in 100 Stationen

Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt

Das Original erschien 2014 unter dem Titel »Made in Europe – de kunst die ons continent bindt« bei Nieuw Amsterdam, Amsterdam.

Die Arbeit an der Übersetzung wurde durch den Nederlands Letterenfonds unterstützt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright der Originalausgabe © Nieuw Amsterdam 2014 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Meiken Endruweit Umschlagmotive: Auto/Citroen: StudioX/Kharbine-Tapabor; Hitchcock: Picture Alliance/Mary Evans; Pippi Langstrumpf: Rolf Rettich/Oetinger Verlag; Beatles: Picture Alliance/Prisma; David+Eiffelturm+Fußball+Goethe+Legosteine+Schloss: Shutterstock com Karten: Rik van Schagen

INHALT

Einleitung

Kurze Leseanleitung

KARTE I: Typisch Europa – Die Stationen des Kulturverführers

»Amsterdam« von Jacques Brel

Das französische Chanson

Serge Gainsbourg

Ein andalusischer Hund

von Buñuel und Dalí

Der surrealistische Film

Magritte

Andersens Märchen

Volksmärchen und Kunstmärchen

Der kleine Prinz

Asterix bei den Olympischen Spielen

Der Erzähl-Comic

Der französische Comic

Der

Atlas Maior

von Blaeu

Die Kunst der Kartographie

Die Mercator-Projektion

Die »Außergewöhnlichen Reisen« Jules Vernes

Wegbereiter der Science-Fiction

1984

»Back In The U.S.S.R.« von den Beatles

Die britische Popmusik

Hardrock und Heavy Metal

Der Baedeker-Reiseführer

Tourismus als Kulturvermittler

Die Grand Tour

Die Skulpturen von Bernini

Barock und Rokoko

Rubens

Das BILLY-Regal von IKEA

Skandinavisches Design

Alvar Aalto

James Bond

Der Gentleman-Spion

Die Femme fatale

Bosch und Bruegel

Die Altniederländische Malerei

Jedermann

Bulgarische Stimmen

Der polyphone Volksgesang vom Balkan

Fado

Das Café New York in Budapest

Das europäische Kaffeehaus

Die politische Karikatur

Candide

von Voltaire

Die Literatur der Aufklärung

Die Encyclopédie

Das Filmfestival in Cannes

Das französische Kino

Hitchcock

Carmina Burana

Die mittelalterliche Lieddichtung

Die Troubadoure und die höfische Liebe

Die Kathedrale von Chartres und ihre Buntglasfenster

Die Gotik

La Sagrada Família

Chiaroscuro

Caravaggio und Rembrandt

Velázquez’

Las Meninas

Die Polonaisen und Mazurken von Chopin

Romantische Klassik

Das Klavier

Dada und Punk

Anti-Kunst im 20. Jahrhundert

Pop-Art

100

Der Denker

von Rodin

Die moderne Skulptur

Niki de Saint Phalle

Dienstmagd mit Milchkrug

von Vermeer

Die niederländische Genremalerei

Die Porträts von Hals

Don Giovanni

Die Musik Mozarts

Casanova

Don Quijote

Cervantes’ sprichwörtliche Figur

Der Roman

Die Dreigroschenoper

Das epische Theater von Brecht und Weill

Die Zwölftontechnik

»La DS« von Citroën

Das Auto-Design

Der Orient-Express

Eiffels Eisenkonstruktionen

Spektakuläre Nutzbauten

Calatravas Brücken und Bahnhöfe

Fabergé-Eier

Die teuerste Goldschmiedekunst der Welt

Cartier und Rolex

Frankenstein

von Mary Shelley

Der Schauerroman

Dracula

Der

Genter Altar

der Gebrüder van Eyck

Die flämischen Primitiven

Flämische Wandteppiche

Goethe

Der letzte

homo universalis

Faust

Die göttliche Komödie

Die Dichtung Dantes

Commedia dell’Arte

Der gregorianische Choral

Gesang im Mittelalter

Hildegard von Bingen

Der große europäische Roman

Die Literatur der Moderne

Virginia Woolf

Guernica

Die engagierte Malerei Picassos

Kubismus

Gypsy-Jazz

Das Erbe Django Reinhardts

Flamenco

Der Herr der Ringe

Die Fantasy-Literatur Tolkiens

Harry Potter

Die Epen Homers

Ilias

und

Odyssee

Geschichtsschreibung

Der Humanismus

Von Petrarca bis Erasmus

Das Sonett

Ibsens

Nora

oder Ein Puppenheim

und

Peer Gynt

Das moderne Theater im 19. Jahrhundert

Strindberg

Impression, soleil levant

Monet und der Impressionismus

William Turner

Der Jugendstil

Art nouveau / Reformstil

Der Kuss (Liebespaar)

Kafka

Die Verwandlung, Das Schloss, Der Prozess

Der brave Soldat Schwejk

Das »Kaiserlied«

Die musikalische Erneuerung durch Haydn

Stradivari

Das Kinderbuch

Pinocchio

und

Alice im Wunderland

Der Struwwelpeter

Das »kleine Schwarze«

Die Mode-Ikonen von Chanel

Der New Look von Dior

König Artus

Der Heilige Gral und die Ritter der Tafelrunde

Roland

Kraftwerk

Die elektronische Popmusik

Dance

Krieg und Frieden

von Tolstoi

Der russische Roman

Oblomow

Die Laokoon-Gruppe

Die griechische Skulptur

Vasenmalerei

LEGO

Nordeuropäisches Spielzeugdesign

Der Zauberwürfel

Magnum und der »entscheidende Moment«

Die europäische Fotografie

Leica

Die Matthäus-Passion

Die Musik von Bach

Die vier Jahreszeiten

Metamorphosen

von Ovid

Die griechische Mythologie »nach Römerart«

Europa

Metropolis

Der expressionistische Film

Der Schrei

Der Minirock

Mary Quant und die Swinging Sixties

Yves Saint Laurent

Mona Lisa

und

Primavera

Die Italienische Renaissance-Malerei

Albrecht Dürer

Montaignes

Essais

Die Entdeckung des »Ichs« in der Literatur

Rousseaus

Bekenntnisse

Monty Python’s Flying Circus

Britischer Fernsehhumor

Mr. Bean

Das Museum

Vom Raritätenkabinett zum Touristenmagnet

Panoramen

Beethovens

Neunte

Von der Symphonie zur Europa-Hymne

Mahlers

Fünfte

Der Nobelpreis für Literatur

Allen Querelen zum Trotz die höchste literarische Auszeichnung

Elias Canetti

Die Odalisken von Ingres und Delacroix

Der Orientalismus

Der Akt in der Kunst

Das OMA von Rem Koolhaas

Modernistische Star-Architektur

Die Postmoderne von Rob Krier

Die

Orestie

von Aischylos

Die griechische Tragödie

Ödipus

Das Penguin-Taschenbuch

Die Geschichte des Buches

Die Buchmalerei

Das Periodensystem der Elemente

Das Alphabet des Lebens

M. C. Eschers unmögliche Geometrien

Pippi Langstrumpf

Der literarische Einfluss Astrid Lindgrens

Roald Dahl

Platons Erschaffung des Sokrates

Der Philosoph als Literat

Cicero

Prada und Gucci: Luxus-Accessoires

Italienische Mode und italienisches Design

Die Birkin Bag

Puschkin

Die Dichtung eines zum Untergang verurteilten Abenteurers

Les poètes maudits

Der britische Rätsel-Krimi

Arthur Conan Doyle und Agatha Christie

Der Skandinavien-Krimi

Der Rietveld-Stuhl

Kunst und Design von de Stijl

Mondrian

Der Ring des Nibelungen

Wagners Gesamtkunstwerke

Verdi und die italienische Oper

Romeo und Julia

Shakespeares Theaterstücke

Macbeth

Le Sacre du printemps

Strawinsky, Djagilew und die Ballets Russes

Pina Bausch

Sappho von Lesbos

Der Dichter als Mythos

Horaz

Satyricon

von Fellini

Der italienische Film

Die 120 Tage von Sodom

Der Schiefe Turm von Pisa

Die Romanik

Der Teppich von Bayeux

Schloss Neuschwanstein

Von der Burg zum Schloss

Städtebau im Mittelalter

Schwanensee

Tschaikowskis Ballette

Anna Pawlowa

Das schwarze Quadrat

Malewitsch und die abstrakte Kunst

CoBrA

Selbstbildnis mit verbundenem Ohr

Van Gogh und der Mythos des leidenden Künstlers

Matisse

Die Sixtinische Kapelle

Michelangelos Fresken

Die Stanzen des Raffael

Stolz und Vorurteil

Die romantischen Komödien von Jane Austen

Die Romane von Charles Dickens

Stourhead

Der englische Landschaftsgarten

Landschaftsmalerei

Die Walzer von Strauss

Das Eurovision-Neujahrskonzert

Der »Zweite Walzer« von Schostakowitsch

Tim und Struppi

Der belgische Comic und die »klare Linie«

Die

Schlümpfe

Totaler Fußball

Sport als Kunst und Kulturexport

Die Champions League

Triumph des Willens

von Leni Riefenstahl

Der Propagandafilm

Panzerkreuzer Potemkin

Tschechows Erzählungen und Bühnenstücke

Russischer Realismus mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Die Stanislawski-Methode

Verhüllter Reichstag

Die Konzeptkunst von Christo und Jeanne-Claude

Marina Abramović

Versailles

Die barocke Hofkultur unter Ludwig XIV.

Molière

Via Appia

Das Straßennetz der Römer

Das Pantheon

Die Villa Rotonda von Palladio

Die (Neo)Klassizistische Architektur

Der Parthenon

Die Villa Savoye von Le Corbusier

Die totalitäre Architektur / Die Architektur der Moderne

Der Grachtengürtel

Der Vogel im Raum

von Brancusi

Die abstrakte Skulptur

Henry Moore und Barbara Hepworth

Der Wanderer über dem Nebelmeer

von Caspar David Friedrich

Die Romantik

Der byronsche Held

Warten auf Godot

von Samuel Beckett

Das absurde Theater

Sartre und Beauvoir

Der »Wassily«-Stuhl von Marcel Breuer

Die Bauhaus-Architektur und das Bauhaus-Design

Mies van der Rohes Villa Tugendhat

»Waterloo« von ABBA

Europop

Das Saxophon

Wedgwood und Meissen

Creamware

und Porzellan

Azulejos und andere Fayence-Fliesen

Die Zypressenholz-Madonna

Die Ikone unter den Ikonen

Byzantinische Mosaiken

Karte II: Eine architektonische Zeitreise durch die Jahrhunderte

Karte III: Eine Museumstour entlang der »Ikonen« der europäischen Kunst

Karte IV: Eine literarische Pilgerfahrt durch Europa

Karte V: Unterwegs zu den Erinnerungsorten der europäischen Musik

Literaturnachweis

Bildnachweis

Register

Einleitung

Wenn ich an Europa denke, kommen mir die Kathedrale von Chartres und die Sixtinische Kapelle in den Sinn, die Theaterstücke Shakespeares und Le Sacre du Printemps von Strawinsky. Ich höre den Schlusschor aus Bachs Matthäus-Passion und »Back in the U.S.S.R.« von den Beatles. Ich habe Fellinis Satyricon vor Augen und den Tim-und-Struppi-Comic König Ottokars Zepter, die französische Mode und die griechische Tragödie, die deutsche Romantik und die holländischen Meister, das skandinavische Design und den russischen Roman.

Wenn ich an Europa denke, sehe ich eine gemeinsame Kultur, die von Dublin bis Lesbos und von Sankt Petersburg bis Lissabon reicht. Literatur und Kunst, die Grenzen überwinden. Vielleicht bin ich ein hoffnungsloser Romantiker, denn obwohl ich ganz bestimmt nicht der Einzige bin, denken die meisten bei Europa an etwas ganz anderes. An Probleme mit dem Euro zum Beispiel. An die Bürokratie in Brüssel, an überflüssigen Normierungseifer und politische Ohnmacht. An offene Grenzen und die manchmal schwierige Integration von Migranten. An ideologische Unterschiede zwischen Ost und West und das Wirtschaftsgefälle zwischen Nord und Süd, kurzum an scheinbar unüberwindbare Gegensätze.

Die Zerrissenheit Europas lässt sich nicht leugnen. Aber ebenso wenig lässt sich leugnen, dass es vieles gibt, was Europa zusammenhält: In den Museen von Sankt Petersburg und Bukarest werden Werke von Malern gezeigt, die auch in London und Madrid hängen. Beethoven und Wagner sind im Baltikum ebenso beliebt wie am Mittelmeer. In den europäischen Städten bringen Dance-Partys junge Leute aus allen möglichen Ländern zusammen. Möbel von IKEA dominieren die Wohnungseinrichtungen in Polen ebenso wie die in Portugal und Irland. Barockarchitektur findet sich in Slowenien und Luxemburg, aber auch in den Niederlanden und Finnland, und der Jugendstil eroberte ganz Europa, auch wenn er in jedem Sprachraum anders heißt.

Glaubt man den EU-Skeptikern, kann man von Europa nichts Gutes erwarten. Für Glaube, Hoffnung und positive Vorbilder sollen bitte die jeweiligen Nationalkulturen und Traditionen sorgen. Doch es gibt allerhand Schönes auf unserem Kontinent, das grenzüberschreitend ist, genug paneuropäisches Kulturgut, auf das alle Europäer stolz sein können. Und genau davon handelt dieses Buch. In etwas mehr als 100 Kapiteln versuche ich, einen Überblick über die Kunst zu geben, die alle Europäer gemeinsam haben – eine positive Alternative zu den politischen und wirtschaftlichen Institutionen, bei denen die meisten von uns gelangweilt gähnen. Ich versuche zu ergründen, welche typisch europäischen Errungenschaften unsere »kulturelle DNA« oder besser noch das kulturelle Geflecht unseres Kontinents bilden.

Typisch Europa hat sich direkt aus meinem vorherigen Buch1 ergeben, in dem 16 Reisen quer durch Europa beschrieben werden, und zwar auf den Spuren archetypischer (Anti-)Helden wie Roland und Robin Hood. Der Arbeitstitel dieser gesammelten Reisegeschichten mit den dazugehörigen Mini-Biographien lautete: Das literarische Fundament Europas. Ganz einfach weil ich fest davon überzeugt war und bin, dass Europa vor allem durch eine gemeinsame Kultur geeint wird, die ihre Wurzeln in Poesie und Prosa hat. Weder die gemeinsame Währung noch gemeinsame politische Institutionen werden je so verbindend und inspirierend wirken wie die Volksbücher über Faust und Eulenspiegel. Nicht nur in Deutschland und England weiß man mit dem Baron von Münchhausen etwas anzufangen, sondern auch im Baltikum. Don Juan ist in Mailand und Prag bekannter als in seiner Geburtsstadt Sevilla. Das Schwert von König Artus, die Armbrust von Wilhelm Tell, der Umhang von Dracula, die Nase von Cyrano de Bergerac: Sie sind in allen Ländern der Europäischen Union ein Begriff – und weit darüber hinaus!

Natürlich bin ich als Leser und Literaturkritiker ein wenig voreingenommen: Europas gemeinsame Kultur umfasst deutlich mehr als nur Poesie und Prosa, ja, sogar mehr als die schönen Künste. Man denke nur an die Demokratie, das Christentum, die gesellschaftliche Etikette, die Philosophie Spinozas und Kants, die Trennung von Kirche und Staat, die Gewaltenteilung, die Newton’schen Gesetze, die Quantenmechanik, den Feminismus, die Menschenrechte und die Fußball-EM. Ganz zu schweigen von den politisch-historischen Phänomenen, die heute – in Anlehnung an den französischen Historiker Pierre Nora – »Erinnerungsorte« genannt werden: die Schlacht an der Milvischen Brücke, die Krönung Karls des Großen, die Kreuzzüge, Luthers Thesen, der Dreißigjährige Krieg, die Französische Revolution, Napoleon, der Imperialismus, der Erste Weltkrieg, der Kommunismus, Auschwitz, die Berliner Mauer, die Gastarbeiter, der Maastrichter Vertrag – ich könnte diese Liste noch ewig so fortsetzen.

Aber dieses Buch handelt nicht von Politik, Religion, Wissenschaft, Sport oder Philosophie. Darüber sind bereits genug andere Werke geschrieben worden, außerdem wäre mein Projekt dann wirklich ausgeufert. Der einzige Sportler, der ein eigenes Kapitel bekommen hat, ist der Vertreter des Totalen Fußballs, Johan Cruijff, der zugleich so etwas wie ein Balletttänzer war. Und die Philosophen sind nur durch Platon, Cicero und Montaigne vertreten – lauter Denker, die auch auf literarischem Gebiet großen Einfluss hatten. Religion kommt in den Kapiteln über die Kathedralen und den gregorianischen Choral vor, außerdem in denen über jede Kunstform, die das Lob Gottes verkündet. Die Naturwissenschaften dagegen müssen sich mit einem einzigen Kapitel über das Periodensystem der Elemente begnügen, das wiederum zahlreiche Literaten und Designer inspiriert hat.

Typisch Europa beschränkt sich auf die Künste – auf die klassischen ebenso wie auf die modernen –, die in acht Kategorien eingeteilt sind: Architektur, Bildende Kunst (Malerei und Skulptur), Film, Zeichentrick und Fotografie, Literatur und Comic, Musik, Schauspiel und Tanz, Design und Mode, alles Übrige findet sich im Kapitel »Verschiedenes«. In allen Kategorien kommt sowohl die Hochkultur als auch die Popkultur vor, sprich Beethoven und die Beatles, Shakespeare und der Skandinavien-Krimi, Schwanensee und Das Lied der Schlümpfe. Im Idealfall ist jedes behandelte Thema außerdem …

… eindeutig typisch Europa, wobei Europa recht großzügig ausgelegt wird (also auch die Schweiz, die einst griechische Türkei und Russland westlich des Urals umfasst),

… von überragendem Einfluss, oder es stellt sogar den wichtigsten Vertreter auf diesem Gebiet vor,

… möglichst überall in Europa ein Begriff.

Während meiner drei Jahre dauernden Suche nach Personen, Kunstwerken und Strömungen, die ich auf meiner Liste mit den Errungenschaften der europäischen Kultur sehen wollte, haben sich über 100 Ikonen ergeben, die ich in diesem Buch in eine relativ willkürliche, alphabetische Reihenfolge gebracht habe – angefangen bei »Amsterdam« von Jacques Brel bis hin zur Zypressenholz-Madonna, der Schwarzen Madonna von Tschenstochau. Doch schon bald stellte sich heraus, dass eine Auswahl von über 100 Stationen für eine europäische Kulturreise bei Weitem nicht ausreicht. Jane Austen: Ja, aber Charles Dickens: Nein? Besondere Aufmerksamkeit für Caravaggio und Rembrandt (unter dem Begriff chiaroscuro), aber kein Velázquez? Das Hauptaugenmerk auf Picassos Guernica, ohne auf den Kubismus einzugehen, den dieser Künstler erst groß gemacht hat? Den Propagandafilm anhand von Leni Riefenstahls Werken vorstellen und Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin nur kurz erwähnen? Ein absolutes Unding! Deshalb habe ich beschlossen, jedem Kapitel einen thematisch verwandten Essay zur Seite zu stellen, um die wichtigsten Lücken zu schließen (und Typisch Europa mit Hilfe eines ausführlichen Registers gleichzeitig zu einem Nachschlagewerk zu machen). Diese »Unter-Ikonen« sind meist eine Fortsetzung des Hauptkapitels (wie die Femme fatale zu James Bond, Casanova zu Don Giovanni, Pop-Art zu Dada und Punk), oder aber sie bilden einen Kontrast dazu (wie der Amsterdamer Grachtengürtel zu Le Corbusier, Pasolinis Die 120 Tage von Sodom zu Fellinis Satyricon, der Orient-Express zum Citroën »La DS«). Genau genommen enthält Typisch Europa also über 200 kulturelle Stationen – und trotzdem gibt es immer noch genügend Autoren, Künstler und Strömungen, die nicht berücksichtigt werden konnten.

Abschließend noch Folgendes: Ungefähr in der Mitte von Manhattan, Woody Allens Ode an New York, zählt die Hauptfigur Ike Davis alles auf, was das Leben lebenswert macht. Auf seiner Liste stehen: der zweite Satz von Mozarts Jupitersymphonie, Flauberts Die Erziehung des Herzens, schwedische Filme, die unglaublichen Äpfel und Birnen von Cézanne und dann noch ein paar typisch amerikanische Dinge: Groucho Marx, der Baseballstar Willie Mays, Louis Armstrongs Aufnahme von »Potato Head Blues«, Marlon Brando und Frank Sinatra. Allens Alter Ego beschließt seine Aufzählung mit den Hummerkrabben im Restaurant Sam Wo, einem Lokal in Manhattan, das längst nicht mehr existiert, und mit dem Gesicht der jungen Frau, in die er verliebt ist.

Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der in Anlehnung an Ike Davis so eine Liste erstellt hat. Und das sogar mehrmals: Einige Dinge standen, von den Gesichtern meiner Lieben mal abgesehen, jedes Mal drauf: Monty Python, die niederländische Nationalmannschaft der Fußball-WM von 1974, der dritte Satz von Beethovens Frühlingssonate, das White Album der Beatles, Woody Allens Filme, Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead, Marcello Mastroianni, Randy Newman, René Goscinny, die unglaublichen Pinselstriche eines Vincent van Gogh, die italienische Küche: (fast) alles europäisches Kulturgut. Nur deshalb habe ich mich dazu berufen gefühlt, dieses Buch zu schreiben.

Pieter Steinz, Haarlem, April 2016

1Macbeth heeft echt geleefd (2011) – Macbeth hat tatsächlich gelebt liegt bisher nicht auf Deutsch vor.

Kurze Leseanleitung

Typisch Europa – das sind in erster Linie über 100 so genannte »Ikonen« der Kunst, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist: 100 Stationen aus den klassischen Kunstsparten, ergänzt um kulturelle Errungenschaften wie den Baedeker-Reiseführer, das Kaffeehaus, das Periodensystem der Elemente und den Totalen Fußball. Auf jedes dieser Kapitel folgt ein kurzer Essay, der einen themen- () oder artverwandten () Höhepunkt aufgreift.

Kommen Namen oder Begriffe dieser Stationen an anderer Stelle erneut vor, sind sie blau hervorgehoben. Alle anderen Namen und Begriffe können im ausführlichen Register nachgeschlagen werden.

Neben einer großen Europakarte, in der alle kulturellen Stationen in ihrem jeweiligen Herkunftsland verzeichnet sind, gibt es noch vier weitere Karten mit kulturhistorischen Routen (siehe hier), die Typisch Europa zu einem ganz besonderen Reiseführer machen.

Den Anfang bildet eine Zeitreise durch die Architekturgeschichte – vom Parthenon in Athen bis hin zur hypermodernen Casa da Música von Rem Koolhaas in Porto. Es folgen eine Museumstour entlang der in Typisch Europa vorgestellten Kunst-Highlights sowie eine literarische Pilgerfahrt – ausgehend vom Dublin des Ulysses bis zum Troja des Odysseus. Den Abschluss bildet eine Route entlang der Ikonen der europäischen Musikgeschichte.

Wie Sie sehen, habe ich die Stationen nicht in chronologischer Reihenfolge abgehandelt. Das würde nicht nur so manchen Aha-Effekt zunichtemachen (oder den Leser unnötig verwirren, weil es in den anschließenden Essays oft um eine ganz andere Epoche geht), sondern auch die Grundidee des Buches, nämlich die wechselseitigen Einflüsse im Lauf der Jahrhunderte aufzuzeigen, die jede dieser Ikonen erst zeitlos gemacht haben. Daher habe ich mich für eine lose alphabetische Reihenfolge entschieden. Das Buch beginnt mit »Amsterdam« von Jacques Brel, was allerdings auch bedeutet, dass Brel nicht unter B steht; es folgen Andersens Märchen, die einige vermutlich eher unter M wie Märchen erwarten würden. Aber zum Glück gibt es hinten im Buch ein Register, mit dessen Hilfe jeder Leser seinen eigenen Weg suchen kann.

Jedes Kapitel und jeder Essay sind durch ein oder mehrere Symbole gekennzeichnet, die angeben, in welches der folgenden acht Sachgebiete die besprochene Ikone oder Unter-Ikone fällt:

Architektur

Bildende Kunst (Malerei und Skulptur)

Film, Zeichentrick und Fotografie

Literatur und Comic

Musik

Schauspiel und Tanz

Design und Mode

Verschiedenes (alles, was keine Kunst im klassischen Sinne ist)

I: TYPISCH EUROPA– DIE STATIONEN DES KULTURVERFÜHERS

Jacques Brel im Pariser Olympia (1964)

DAS FRANZÖSISCHE CHANSON

»A

MSTERDAM« VON

J

ACQUES

B

REL

Die beiden YouTube-Clips unterscheiden sich bis auf ihre Länge und die Position der Kamera kaum voneinander, aber ein jeder sorgt garantiert für Gänsehaut. Wir sehen einen Mann im Sechzigerjahre-Anzug mit gelockerter Krawatte, der ein Lied vorträgt. Zunächst ganz langsam (»Dans le port d’Amsterdam …«), aber schon nach drei Minuten hat er sich regelrecht in Ekstase gebracht. Während er von Kneipen, Huren und Matrosen im Hafen von Amsterdam singt, tritt ihm der Schweiß auf die Stirn. Das Akkordeon im Hintergrund spielt immer schneller, er gestikuliert immer heftiger, verliert dabei aber nie die Contenance, das mit Pomade geglättete Haar fällt ihm in die Stirn, und beim Finale (»Et ils pissent comme je pleure/ Sur les femmes infidèles«) ist er völlig außer Atem.

Das ist Jacques Brel bei seinem Auftritt im Tempel des französischen Chanson, dem Pariser Olympia, bei dem 1964 sein berühmtestes Konzert mitgeschnitten wurde. Ein in Brüssel geborener Belgier, der dem damals reichlich verstaubten französischen Chanson zusammen mit Aznavour, Bécaud, Brassens, Ferré, Gréco und Trenet neues Leben eingehaucht hat – und zwar mit poetischen Texten und mitreißenden Live-Auftritten, bei denen er alles gab. Ein französischsprachiger Flame, der in seiner Version des englischen Traditional »Greensleeves« eine niederländische Hafenstadt besang und damit Europa und den Rest der Welt eroberte.

»Amsterdam« wurde unter anderem von Nina Simone, Scott Walker, David Bowie, Hildegard Knef und The Dresden Dolls gecovert sowie von Bands aus Polen, Finnland und Slowenien. Das Lied wurde zur inoffiziellen Hymne Amsterdams, obwohl dieser stürmische Walzer ursprünglich gar nicht von Amsterdam, sondern von Antwerpen handeln sollte – einer Stadt, die zum großen Bedauern der Belgier auf Französisch allerdings eine Silbe zu wenig hatte.

Plattenhülle Enregistrement Public à l’Olympia (1964)

Aber vielleicht hat es Brel (1929–1978) den Belgiern auch einfach nicht gegönnt: Sein Leben lang – ob in Paris oder auf der Südseeinsel Hiva Oa – sollte er ein sehr schwieriges Verhältnis zu seiner Heimat haben, die er 1953 verließ und in Interviews gern als »pays faux« bezeichnete. Ein Land, dem man nur entkommen könne, indem man Europäer oder Weltbürger werde. Ein bäurischer, spießbürgerlicher Sumpf, dem er in Liedern wie »Les Flamandes« (1959) und »La … la … la …« (1967) ziemlich hart zusetzte. Ein Jahr bevor Brel an einer Lungenembolie starb, führte ein Lied von seiner letzten LP sogar zu richtigen Tumulten in Flandern: In »Les F…« verspottete Brel die Verfechter der flämischen Kultur als hinterwäldlerisch, ja, gefährlich bigott, die während der beiden Weltkriege Nazis und in der Zeit dazwischen Katholiken gewesen seien. Er warf ihnen Humorlosigkeit vor und beschuldigte sie der Gehirnwäsche (»ich verbiete euch, unsere Kinder zu zwingen, flämisch zu bellen«). »Wenn mich gebildete Chinesen fragen, wo ich herkomme«, so die raffinierteste Zeile seines Liedes, »sage ich mit Tränen zwischen den Zähnen ›Ich bin aus Luxemburg‹.« Da es die einzige ist, die Brel auf Niederländisch singt, ist das ganz besonders beleidigend.

Aber wie viele berühmte Exilanten – sei es nun der Römer Ovid, der Dubliner Joyce oder der Ostdeutsche Biermann – verband Brel eine Art Hassliebe mit seinem Vaterland. Man muss nicht lange suchen, um in seinem Werk Hymnen an die »Niederen Lande« zu finden: »Mon père disait« zum Beispiel, in dem es herrliche Passagen über den Nordwind gibt, der die Deiche bei Scheveningen brechen lässt und dafür sorgt, »dass unsere Mädchen Haare haben, die so fein sind wie unsere Spitze«; »La Bière«, das nur so überschäumt von Bruegel und »Godferdom«; und natürlich, ebenfalls von der abgebildeten Platte, »Le Plat Pays«, Brels zähneknirschende Liebeserklärung an das Land, das einst das seine war: eine weite Ebene mit tiefem Horizont, über die der kalte Wind pfeift, gesungen mit einer Hingabe und Melancholie, die einen sofort in die sturmzerzauste Polderlandschaft hinter den Dünen versetzt. Auf dieselbe Art besang er das Brüssel vor dem Krieg (»au temps où Bruxelles bruxellait«), das Ostende der wartenden Fischersfrauen, Knokke-le-Zoute bei Regen und Lüttich bei Schnee.

»Elle est dure à chanter, la belgitude«, schrieb Brel, der im selben Jahr geboren wurde, in dem Simenon seinen ersten Roman schrieb und Hergé seinen ersten Tim und Struppi zeichnete. Wie so viele Belgier fragte er sich ein Leben lang, was es bedeutet, Belgier zu sein, Untertan eines gespaltenen »Bananenkönigreichs« mit zwei (oder streng genommen drei) Sprach- und Kulturregionen, die sich mehr oder weniger im permanenten Kriegszustand befinden. Aber genau diese Zweifel, diese bis heute aktuelle Zerrissenheit, haben Brel so beliebt gemacht – denn hadern wir nicht alle mit der Frage, was es bedeutet, Belgier, Niederländer, Franzose, Deutscher, Grieche oder Europäer zu sein? Der Schwarze Romantiker Jacques Brel ist wegen seines Nonkonformismus und seiner Einflüsse u. a. auf Bob Dylan, Leonard Cohen, David Bowie und neuerdings Stromae einer der wenigen Chansonniers mit Rock ’n’ Roll-Image, deren Ruhm weit über die Grenzen der französischen Republik hinausreicht. Und im Gegensatz zu einem Serge Gainsbourg hat er das Chanson-Genre nie verleugnet. Brel mag zwar seit 38 Jahren tot sein, hat aber mit seinen literarischen Texten das französische Lied ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Der Beweis? Millionen Clicks auf YouTube!

S

ERGE

G

AINSBOURG

Ein Inzest-Duett mit der eigenen Tochter, die scharfe Reggae-Version eines französischen Volkslieds, eine Stöhnnummer, die ein halbes Jahrhundert später immer noch die Gemüter erregt – der jüdisch-russische Emigrantensohn Serge Gainsbourg (1928–1991) galt und gilt nicht umsonst als Provokateur. Als Dichter und Songtexter stand er in der Tradition der poètes maudits François Villon und Boris Vian, um sich dann in den 1960er Jahren zu einem experimentellen Popmusiker zwischen Jazz, Chanson und Rock zu entwickeln. Er schrieb Hits für France Gall (nicht nur den Gewinnersong des Grand Prix Eurovision »Poupée de cire«, sondern auch ihre mehrdeutige Hymne auf den Oralsex »Les Sucettes«), arbeitete mit Brigitte Bardot (zum Beispiel für Bonnie und Clyde; ihre Aufnahme des orgiastischen »Je t’aime … moi non plus« wollte Bardot nicht veröffentlicht sehen), machte ein bahnbrechendes Konzeptalbum mit seiner englischen Freundin Jane Birkin (Histoire de Melody Nelson, 1971) und provozierte in den 1970er und 1980er Jahren mit erotischem Reggae und Pöbeleien auf der Bühne. Als er 1991 an den Folgen seines exzessiven Gitanes- und Alkoholkonsums starb, galt er als der einflussreichste französische Popmusiker, und zwar nicht nur wegen seiner musikalischen Neuerungen – die von so unterschiedlichen Künstlern wie Air, Nick Cave und Carla Bruni fortgeführt werden –, sondern auch wegen seiner hintersinnigen Texte, die vor Wortwitz und zweideutigen Anspielungen nur so sprühen. Wie Brel hat auch Gainsbourg Poesie in den französischen Pop gebracht, und wenn man sich die Künstler so ansieht, die seine Lieder gecovert haben, ahnt man, dass Serge vermutlich noch größeren Einfluss hatte.

Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot auf der Plattenhülle von Bonnie and Clyde (1968)

DER SURREALISTISCHE FILM

E

IN ANDALUSISCHER

H

UND

VON

B

UÑUEL UND

D

ALÍ

Ich kann einfach nicht hingucken: Wenn der Mann mit dem Rasiermesser das linke Auge der Frau zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt, um es zu öffnen, mache ich die Augen immer ganz schnell zu. Denn was dann kommt, ist einfach zu gruselig – selbst wenn man weiß, dass es bloß ein Film ist und das zerschnittene Auge das eines toten Kalbs. Die Szene ist 85 Jahre alt, aber noch genauso schockierend wie damals, als sie erstmals auf der großen Leinwand gezeigt wurde, als Teil des surrealistischen Meisterwerks Ein andalusischer Hund von Luis Buñuel und Salvador Dalí.

Vor allem wenn man bedenkt, dass es sich dabei nur um eine von vielen bizarren Szenen handelt, die der perversen Fantasie Buñuels und Dalís entsprungen sind. Mindestens genauso verstörend ist eine Hand, aus der wimmelnde Ameisen krabbeln; eine Frau, die von einem Auto überfahren wird, während ein Mann mit perversem Vergnügen dabei zusieht; eine drohende Vergewaltigung in einer Wohnung und zwei hereingezerrte Konzertflügel mit verwesenden Eselsköpfen, gefolgt von zwei gefesselten spanischen Priestern. Schwer zu sagen, was das alles bedeutet, aber darum geht es auch gar nicht: Ein andalusischer Hund bietet dieselbe Mischung aus Überraschungen und Fehlschlüssen wie die meisten Musikvideos ein halbes Jahrhundert später.

Standbild aus Ein andalusischer Hund (1929)

Mit einem Hund hat Un chien andalou, wie der Film im Original heißt, auf jeden Fall nichts zu tun. So ein andalusischer Vierbeiner kam dafür in der nächsten Buñuel-Dalí-Produktion Das Goldene Zeitalter (1930) vor, wo er von einem Mann einen Tritt bekommt, der kurz darauf einen Blinden misshandelt. Auch ein Film, in dem unzählige absurde Wendungen und gewagte Szenen vorkommen, der aber gleichzeitig eine Geschichte erzählt: Von einem Mann und einer Frau, deren Liebe durch die Spießermoral der Kirche, der Gesellschaft und der Alten verhindert wird. Genau darum ging es den Surrealisten, épater la bourgeoisie, das Bürgertum provozieren – wie schon ihren Vorgängern, den Dadaisten. Denn weder das rationale Denken noch die brave Spießbürgermoral hatten die Gräuel des Ersten Weltkriegs verhindern können.

Es war der freudianische Psychoanalytiker André Breton, ein Überlebender ebenjenes Krieges, der als Dadaist bei der Zeitschrift Littérature damit begann, das Unterbewusstsein experimentell zu erkunden – mit Hilfe von écriture automatique, freien Assoziationen und Traumdeutung. Gemeinsam mit seinen Redaktionskollegen veröffentlichte er 1920 Die magnetischen Felder, den ersten »automatisch« geschriebenen Roman. Vier Jahre später schlug sich sein Bestreben, den Menschen von falschem Rationalismus und erstickender Routine zu befreien, im ersten Surrealistischen Manifest nieder, das auch zur Gründung der Zeitschrift La Révolution surréaliste (1924–1929) führte.

Die neue Bewegung hatte schon damals mehr oder weniger alle Künstlerkreise von Paris erobert. Dichter wie Louis Aragon und Jacques Prévert diskutierten mit Künstlern wie Giorgio de Chirico und Max Ernst, die spanischen Maler Dalí und Buñuel beschlossen, Filme zu drehen, und saßen mit dem Fotografen Man Ray an einem Tisch – eine vertraute Szene für alle, die Woody Allens Montmartre-Film Midnight in Paris (2011) gesehen haben. Gleichzeitig bildete sich in Brüssel eine konkurrierende Surrealisten-Gruppe, deren bekanntester Vertreter der Maler René Magritte werden sollte.

In den 1920er und 1930er Jahren gab es surrealistische Musik (die von Träumen gelenkt wurde) und surrealistisches Theater mit Autoren wie dem Spanier Federico García Lorca oder dem Franzosen Antonin Artaud, der mit seinem »Theater der Grausamkeit« mystische, metaphysische Erfahrungen wecken wollte. Es gab surrealistische Skulpturen und surrealistische Fotografie, für die wie schon im Dadaismus Collage- und Tricktechniken verwendet wurden. Aber die größte Aufmerksamkeit wurde der surrealistischen Malerei zuteil, vertreten von so prominenten Künstlern wie Dalí, Magritte, Max Ernst und Yves Tanguy. Ihre Experimente mit albtraumhaften Motiven und Kombinationen von widersprüchlichen Objekten (man denke nur an Dalís geschmolzene Uhren in einer Traumlandschaft und an Magrittes Pfeife mit dem Text »Ceci n’est pas une pipe«) passten hervorragend zu dem Gefühl der Entfremdung, das so viele Menschen zwischen den beiden Weltkriegen plagte.

Trotzdem spricht einiges dafür, ausgerechnet diesen Film als einflussreichsten Ausläufer des Surrealismus zu bezeichnen. Zugegeben, die Gemälde von Dalí & Co. wurden erfolgreich nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten exportiert, wo klassisch-moderne Maler wie Francis Bacon und Mark Rothko das surrealistische Erbe fortführten. Und auch die Philosophie des Surrealismus – »Alle Macht der Fantasie« – hat überlebt und sollte während der Postmoderne und der Gegenkultur der 1960er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt erleben. Aber mit den Filmtechniken und Fantasien Buñuels und Dalís (die 1945 in Alfred Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich verwendet wurden) werden wir heute viel öfter konfrontiert. Dazu braucht man sich nur YouTube-Clips anschauen oder einen Musikkanal einschalten: angefangen von den guten alten Videos der Red Hot Chili Peppers bis hin zum letzten Single-Clip von David Bowie sind sie alle von unlogischen Brüchen und bizarren Metamorphosen gekennzeichnet. Und was sind Filme wie Being John Malkovich (1999) und Vergiss mein nicht! (2004) anderes als moderne Versionen von Das Goldene Zeitalter? Wie sagte Luis Buñuel so schön? »Film ist nun mal eine unfreiwillige Nachahmung des Traums.«

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AGRITTE

Der belgische Maler René Magritte (1898–1967) wurde von seinem Beruf als Tapetendesigner geprägt, von seiner Bewunderung für den italienischen Protosurrealisten Giorgio de Chirico und, wenn wir einigen Biographen glauben dürfen, vom Selbstmord seiner Mutter, die nackt mit ihrem Kleid über dem Kopf aus dem Flüsschen Sambre gezogen wurde. Sein erstes surrealistisches Bild malte er 1926; sein berühmtestes Der Verrat der Bilder (eine Pfeife mit der Unterschrift »Ceci n’est pas une pipe« – Dies ist keine Pfeife) nur 2 Jahre später, als er in Paris wohnte und mit André Breton und dem Surrealismus in Berührung gekommen war. Der Verrat der Bilder sollte zu Magrittes Markenzeichen werden. Mit seinem nüchternen, hyperrealistischen Stil und den visuellen Ungereimtheiten oder Fehlschlüssen zwischen Text und Bild wollte er den Betrachter zum Nachdenken anregen: ein küssendes Paar mit Tüchern über dem Kopf (Die Liebenden, 1928); ein Bild auf einer Staffelei, das wiederum Teil der Landschaft ist, die es zeigt (Ein Bild in einem Bild, 1933); ein Mann, der in den Spiegel schaut und seinen Hinterkopf sieht (Die verbotene Reproduktion, 1937); eine Dampflok, die aus einem Kamin kommt (Die durchbohrte Zeit, 1938); und nackte Frauen und Männer mit Melonen in unzähligen verschiedenen Posen.

Magritte, Der Verrat der Bilder (1929), Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles

Magrittes leicht zugängliche Malweise (ganz zu schweigen von seinem Humor!) machte ihn nicht nur bei den Pop-Art-Künstlern der 1950er und 1960er Jahre beliebt, sondern auch bei Werbern, Popmusikern (von Jeff Beck bis Paul Simon), Filmemachern (von Jean-Luc Godard bis Terry Gilliam), ja, sogar bei Mathematikern. Douglas Hofstaedters Logik-Bestseller Gödel, Escher, Bach (1979) wäre ohne die Magritte-Abbildungen in Kapitel 15 längst nicht so überzeugend gewesen.

VOLKSMÄRCHEN UND KUNSTMÄRCHEN

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NDERSENS

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ÄRCHEN

Es war einmal eine Meerjungfrau, die unbedingt einen Menschen-Prinzen heiraten wollte und alles dafür aufgab. Es war einmal ein armes Mädchen, das seinen Bruder aus dem eisigen Klammergriff einer nordischen Hexe rettete. Es war einmal ein Kaiser von China, der schmerzhaft lernen musste, dass eine Nachtigall schöner singt als eine Spieldose. Es war einmal ein hässliches kleines Entlein, das zu einem prächtigen Schwan heranwuchs. Und es war einmal ein dänischer Schusterjunge und gescheiterter Schauspieler, der jedes Jahr an Weihnachten einen Band mit Märchen »für Kinder erzählt« herausbrachte – und damit weltberühmt wurde.

Dieser Schusterjunge war Hans Christian Andersen (1805–1875) und seine 156 Märchen (oder eventyr, wie es auf Dänisch heißt) gelten als Höhepunkt eines uralten Genres. Die ersten drei – Das Feuerzeug, Der kleine Klaus und der große Klaus sowie Die Prinzessin auf der Erbse – waren noch Bearbeitungen alter Volkslegenden, aber danach schien Andersen seine fantastischen Geschichten nur so aus dem Ärmel zu schütteln. Der Autor versetzte sich in eine Stopfnadel und einen Zinnsoldaten, in einen verliebten Maulwurf und eine arrogante Schnecke, in eine Verkäuferin von Schwefelhölzern und in einen Schneemann, der sich von einem Ofen angezogen fühlt.

Arthur Rackham, Illustration aus Jacob and Wilhelm Grimm, The Fairy Tales of the Brothers Grimm (1909)

Beim Lesen hat man irgendwie das Gefühl, dass es diese Märchen schon immer gegeben hat! Was übrigens für die Volksmärchen, die vom Franzosen Perrault (Die Geschichten von Mutter Gans, 1697) und den deutschen Gebrüdern Grimm (Kinder- und Hausmärchen, 1812–1822) gesammelt wurden, tatsächlich gilt. Aber die waren uralt und wurden von einer Generation zur nächsten weitergegeben, vor dem Schlafengehen oder am Kaminfeuer erzählt. Die Geschichte von Dornröschen – eine Prinzessin sticht sich an einer Spindel, fällt in tiefen Schlaf und muss von einem einfallsreichen Prinzen gerettet werden – findet sich ansatzweise schon in altgermanischen Sagen (Wagners Siegfried ist nur eine bekannte Variante davon). Und die Geschichte von Aschenputtel – ein Mädchen befreit sich mit Hilfe einer Fee von stiefmütterlicher Unterdrückung – lässt sich im frühen Mittelalter nachweisen und wurde in China bereits im 9. Jahrhundert aufgeschrieben. Von Hänsel und Gretel – zwei ausgesetzte Kinder besiegen eine böse Hexe – sind bereits mehrere Versionen aus dem 16. Jahrhundert bekannt, und Archetypen wie Blaubart (der romantische Serienmörder), Klein Däumling (das pfiffige Männlein, das sogar Riesen überlistet) sowie Rotkäppchen (das Mädchen, das von einem verführerischen Wolf bedrängt wird) bevölkern die Geschichten schon seit Jahrhunderten.

Edvard Eriksen, Den lille havfrue (1913), Skulptur im Kopenhagener Hafen

Blaubart und Rotkäppchen kamen wie schon Aschenputtel und Dornröschen in der ersten Ausgabe der 8 Geschichten von Mutter Gans bzw. in den Geschichten aus alter Zeit mit Moral vor. Charles Perrault, der Adelige, der sie aufschrieb, gilt als Pionier des Volksmärchens. Er machte das Genre am Hof von König Ludwig XIV. populär und inspirierte zahlreiche adelige Verehrer der Gattung zu neuen Anthologien. Sein Ruhm beruht jedoch vor allem auf den unvergesslichen Figuren, die er schuf. So kommen Der gestiefelte Kater und Riquet mit dem Schopf in der ausführlichen Sammlung von 200 meist deutschen Märchen gar nicht vor, die die Sprachwissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm auf dem Höhepunkt der Romantik (und der Volksgut-Verherrlichung) zusammenstellten. Dafür bereicherten sie die Weltliteratur um so beliebte Figuren wie Schneewittchen, Rumpelstilzchen, Frau Holle, Rapunzel, den Froschkönig, das tapfere Schneiderlein und den Wolf mit den sieben Geißlein.

Das Typische am Märchen, und auch das Schöne daran, ist, dass der Erzähler von ein paar festen Elementen ausgeht wie einer bösen Stiefmutter, einem verzauberten Prinzen, einer gefährlichen Mission oder sprechenden Tieren. Auch die Handlung – der geplagte Held überwindet with a little help from his friends jede Menge Hürden und bekommt am Ende die schöne Prinzessin – ist wenig überraschend, was einer fantasievollen Ausschmückung jedoch keinesfalls im Wege steht. Für Wissenschaftler sind Märchen eine wahre Fundgrube, da sie Facetten des vormodernen Lebens bewahrt haben: Man muss nicht lange suchen, um noch in den »unschuldigsten« Märchen Verweise auf Hungersnöte, Anarchie, Kannibalismus, Vergewaltigung, Inzest, Sodomie und andere Grausamkeiten gegen Mensch und Tier zu finden.

Die dunklen Seiten der Volks-, aber auch der Kunstmärchen von Andersen wurden bei den erfolgreichsten Bearbeitungen europäischer Märchen, nämlich den Zeichentrickfilmen von Walt Disney, allerdings komplett gestrichen. Schon in den 1920er und 1930er Jahren bedienten sich die Disney-Studios mehrerer Grimm’scher Märchen, und auf den durchschlagenden Erfolg des ersten abendfüllenden Spielfilms, Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937), folgten Aschenputtel, Dornröschen, Die kleine Meerjungfrau, Die Schöne und das Biest, Küss den Frosch und Rapunzel – Neu verföhnt – selbstverständlich ohne Grausamkeiten wie abgehackte Füße, vergewaltigte Prinzessinnen, gequälte Tiere oder ausgerissene Herzen.

Vor allem Die kleine Meerjungfrau wurde bis zur Unkenntlichkeit verharmlost: Während sie sich bei Andersen die Zunge abschneidet, um sie gegen zwei Beine einzutauschen, auf denen sie sich nur unter höllischen Schmerzen fortbewegen kann, ist sie bei Disney eine fröhliche Barbie mit Fischschwanz, die jedes Missgeschick meistert. Und während sie bei Andersen von ihrem Angebeteten grausam verschmäht wird, bekommt sie bei Disney ihren Prinzen. Nur damit Arielle, die Meerjungfrau gut ausgeht und mit einem Satz endet, für den man angesichts von Den lille havfrue einige Chuzpe braucht: »Und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage.«

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ER KLEINE

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RINZ

Die Erzählung erschien 1943 und wurde innerhalb weniger Jahre zum Kultbuch. Sie wurde in 180 Sprachen und Dialekte übersetzt, weltweit gingen insgesamt 140 Millionen Exemplare über den Ladentisch. Gleichzeitig verselbstständigten sich die vom Autor beigefügten Illustrationen und schmücken heute Poster, Tapeten und Frühstücksteller. Le petit prince des jung ums Leben gekommenen Piloten Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) gilt als meistgelesenes Buch der französischen Literatur und als eines der weltweit erfolgreichsten Kunstmärchen.

Cover der französischen Ausgabe (1948)

Man könnte so einiges anmerken zu der brav-humanistischen Geschichte von einem notgelandeten Flieger, der einen kleinen Außerirdischen kennenlernt. Sie zum Beispiel als pseudo-philosophische Abhandlung abtun, in der ein Pilot von einem kleinen Jungen lernt, wie lächerlich die Welt der Erwachsenen ist. Oder als moralisierende Fabel über einen kleinen Prinzen, der sich nach Unfreiheit sehnt und lernt, dass er für die Rose verantwortlich ist, die auf seinem Miniplaneten wächst. Andererseits kann man gut verstehen, warum Der kleine Prinz so populär geworden ist. Dafür muss man sich nur den scharfen Kontrast zwischen kindlicher Naivität und erwachsener »Logik« vor Augen führen, den Spiegel, der uns vom Abgesandten einer Parallelwelt vorgehalten wird, die niedlichen Nebenfiguren und die märchenhafte Atmosphäre – aber vor allem die genialen Zeichnungen, ohne die Der kleine Prinz vielleicht längst in Vergessenheit geraten wäre.

DER ERZÄHL-COMIC

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STERIX BEI DEN

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LYMPISCHEN

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PIELEN

Sämtliche Auswüchse des modernen Sports passieren Revue: Doping, korrupte Funktionäre, Fouls, Gewalt auf den Zuschauertribünen – und wer hat eigentlich behauptet, »Dabei sein ist alles«? Im Comic-Klassiker Asterix bei den Olympischen Spielen (1968) von Goscinny & Uderzo zählt nur der Ölzweig, und auf den sind nicht nur römische Zenturionen scharf, die wissen, dass Sporterfolge der Karriere höchst förderlich sein können, sondern auch die Bewohner eines kleinen gallischen Dorfes, das dank des Zaubertranks des örtlichen Druiden unbesiegbar ist. Beide Parteien sind bereit, alles zu geben, um bei den Olympischen Spielen auf dem Siegertreppchen zu stehen.

Astérix aux Jeux olympiques spielt mit den Archetypen des Klassischen Altertums, aber auch mit nach wie vor aktuellen nationalen Stereotypen: So werden die alten Griechen als raffinierte Gauner dargestellt und die Vorfahren der Italiener als Liebhaber des dolce far niente – ein durchaus bewährtes Konzept. Denn als der zwölfte Asterix-Band erschien, hatten Goscinny & Uderzo bereits die Deutschen (bzw. »die Goten«), die Briten, die Ägypter und die Skandinavier (»die Normannen«) veräppelt – der Rest Europas sollte folgen: angefangen von den Spaniern und Schweizern bis hin zu den Korsen und Belgiern. Ganz Europa? Nein! Ein paar Länder schaffte der 1977 gestorbene René Goscinny nicht mehr: Russland zum Beispiel und leider auch nicht die Niederlande, obwohl der Zeichner Albert Uderzo noch im Jahr 2000 in einem Zeitungsinterview sagte: »Holland ist gleich in mehrfacher Hinsicht hochinteressant. Zum einen weil es so viele typische Merkmale hat, die Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden haben, wie Tulpenfelder, Windmühlen und Grachten, über die man sehr gut Witze machen kann. Zum anderen weil Holland eine bedeutende Region in der Römerzeit war: Die Reichsgrenze ging quer hindurch, und die Gebiete südlich des Rheins waren stark romanisiert. Man muss der historischen Wirklichkeit also gar nicht allzu viel Gewalt antun.«

Asterikios en Olympia, griechische Ausgabe von Asterix bei den Olympischen Spielen

René Goscinny und Albert Uderzo waren für den Comic das, was die Beatles für die Popmusik waren. Uderzo war für die Zeichnungen verantwortlich, und zu Asterix’ Blütezeit (1959–1977) war es Goscinny, der den Text dazu schrieb. Jeder neue Band erzählt eine originelle Geschichte mit einem soliden Plot. Dass die Abenteuer nach einem festen Schema verlaufen, stört niemanden. In den besten Bänden denkt sich Julius Cäsar eine neue Strategie aus, mit der er das gallische Dorf unterwerfen will (Die Trabantenstadt, Der Seher, Der Kampf der Häuptlinge). Oder Asterix und Obelix reisen in ein fernes Land mit seltsamen Sitten (Asterix und Kleopatra, Asterix als Legionär). Der Humor scheint universell zu sein: Asterix ist in 100 Sprachen und Dialekte übersetzt worden, von Afrikaans bis Schweizerdeutsch, und weltweit lachen seine Leser über die running gags, die die Comicserie zu einer der beliebtesten gemacht haben (mehr als eine halbe Milliarde verkaufte Bände). Die unbesiegbaren Gallier zählen zu den größten Kulturhelden Frankreichs – Figuren, die den Comic in den 1960er Jahren auch für Erwachsene salonfähig machten.

René Goscinny (l.) und Morris, der Zeichner von Lucky Luke (1971) (Foto: Hans Peters)

Wie die meisten komischen Comics verdankt die Asterix-Serie einen Großteil ihres Erfolgs wiederkehrenden Gags. Sätze wie: »Dick? Wer ist hier dick?«, und: »Die spinnen, die Römer!«, sind sprichwörtlich geworden; feste Plotwendungen, wie die Niederlage von Cäsars Legionen oder die »Stilllegung« des erbärmlich spielenden Barden Troubadix, zaubern ein Lächeln des Wiedererkennens ins Gesicht. Es werden Witze über die übermenschlichen Kräfte und den Appetit von Obelix gemacht, der Dorfschmied Automatix streitet mit dem Fischhändler Verleihnix, das Piratenschiff des aus einem anderen Comic stammenden Rotbart wird regelmäßig versenkt, und der Zaubertrank von Miraculix macht den Römern aus den umliegenden Feldlagern das Leben nicht unbedingt leichter …

Ebenso häufig haben bekannte Persönlichkeiten einen Auftritt. Unzählige Filmstars, Politiker, Sportler und literarische Figuren werden in Asterix-Abenteuern karikiert. Manche haben kleine Gastauftritte: Laurel und Hardy stümpern als Legionäre in Obelix GmbH & Co. KG herum, Eddy Merckx ist ein pfeilschneller Kurier in Asterix bei den Belgiern, und Don Quijote kämpft in Asterix in Spanien gegen Windmühlen. Andere bekommen sogar eine Hauptrolle wie Lino Ventura in Der Kampf der Häuptlinge oder James-Bond-Darsteller Sean Connery, der als Doppelagent Nullnullsix die unbesiegbaren Gallier in Die Odyssee verfolgt. Wer genau hinschaut, kann außerdem Parodien (oder Verweise) auf die Beatles (Asterix bei den Briten), Rembrandt (Der Seher), die Laokoon-Gruppe, den Diskuswerfer von Myron und RodinsDer Denker (Die Lorbeeren des Cäsar), Pieter Bruegel, Tim und Struppi, Manneken Pis und Victor Hugo (Asterix bei den Belgiern) entdecken.

Die Faszination, die von Asterix und den anderen unbesiegbaren Galliern ausgeht, beruht auf ihrem Nonkonformismus und ihrem Unabhängigkeitsstreben. Und genau das macht die Comicserie im vereinten Europa von heute so aktuell. Wie sagte Uderzo im Jahr 2000 so schön? »Je mehr Fortschritte die Zentralregierung macht, desto mehr verschanzt sich der Durchschnittsbürger hinter seiner nationalen oder regionalen Kultur. Das haben wir in den letzten 10, 20 Jahren schon in Frankreich erlebt. Asterix kann nichts dafür, das haben wir eher engagierten Linguisten und Volkskundlern zu verdanken. Aber ich bin davon überzeugt, dass das unabhängige Denken von Asterix, sein merde à tout le monde, jede unterdrückte Kultur anspricht, und zwar nicht nur in Frankreich. Ob wir nun Deutsche, Italiener oder Holländer sind – im Grunde genommen wollen wir doch nur, dass man uns in Ruhe lässt!«

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ER FRANZÖSISCHE

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OMIC

Jean Giraud, Inside Moebius 3 (2007)

Auf Wikipedia hat der französische Comic keinen eigenen Eintrag, er muss ihn sich mit dem französischsprachigen belgischen Comic teilen. Ganz fair ist das nicht, denn obwohl die Wallonen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Zeichnern wie Hergé (Tim und Struppi), Jijé (Spirou), Franquin (Gaston) und Morris (Lucky Luke) ganz Frankreich eroberten, hat die Heimat von Honoré Daumier, Gustave Doré, Caran d’Ache und Comic-Pionier Alain Saint-Ogan eine eigene Tradition, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg begann, und zwar mit den Abenteuern des anarchistischen Trios Les Pieds nickelés. Vor allem die 1959 von Goscinny & Uderzo sowie dem wallonischen Zeichner Jean-Michel Charlier gegründete Zeitschrift Pilote war ein Meilenstein der Comic-Geschichte. Getragen vom überwältigenden Erfolg der Asterix-Bände, dominierte sie den französischen Markt bald anderthalb Jahrzehnte lang, und das nicht nur mit humorvollen bandes dessinées wie Albert Enzian (Greg) und Isnogud (Goscinny & Tabary), sondern auch mit realistischen Geschichten von Seeräubern (Der rote Korsar von Charlier & Hubinon) und Cowboys (Leutnant Blueberry von Charlier & Giraud). In den 1970er Jahren gingen dann Pilote-Talente wie Gotlib, Jacques Tardi und Claire Bretécher, die lieber Comics für Erwachsene zeichneten, zu unterschiedlichen kleineren Blättern. Aber nach Goscinnys Tod sollte sich Jean Giraud (1938–2012) zum einflussreichsten französischen Comic-Zeichner entwickeln – vor allem dank der Science-Fiction-Comics, die er unter dem Pseudonym Moebius veröffentlichte. Seine surrealistischen Bildgeschichten, oft ganz ohne Text, in denen er selbst auftrat, haben Regisseure aus Frankreich, Italien und Japan inspiriert. Er wurde nicht nur von Federico Fellini und Luc Besson zutiefst bewundert, sondern auch von (Fantasy)Autoren wie William Gibson und Paolo Coelho.

DIE KUNST DER KARTOGRAPHIE

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TLAS

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VON

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LAEU

Laut Voltaire war Amsterdam eine Stadt der Grachten, Enten und Halunken, der canaux, canards et canailles. So gesehen kann man nur hoffen, dass die Niederlande heute stabreimmäßig als Land von Käse, Kunst und Karten gelten. Man denke nur an Gouda und Leerdammer, an Rembrandt, Van Gogh und Mondrian sowie an Blaeu und TomTom – oder aber an Google Maps, die wie die Karten-App des iPhone auf digitalem Kartenmaterial der Rotterdamer Firma AND beruhen. Kartographie liegt den Niederländern im Blut – aber erfunden haben sie sie nicht. Die ersten berühmten Karten haben wir der geographischen Pionierarbeit des aus Alexandria stammenden Mathematikers Claudius Ptolemäus (ca. 90–160 n. Chr.) zu verdanken sowie der 200 Jahre jüngeren Peutinger’schen Tafel, die das gesamte römische Straßennetz Europas enthielt.

Zur echten Blüte gelangte die Kartographie erst im 16. Jahrhundert, als die Bekanntheit von (und Nachfrage nach) detaillierten (See-)Karten zunahm: Der Grund dafür waren die vielen Entdeckungsreisen und der aufkommende Welthandel. Um 1550 wurden in Rom und Venedig lose Karten erstmals zu Büchern gebunden – was man sich im schnell wachsenden Kartographiezentrum Antwerpen abschaute, wo Abraham Ortelius 1570 sein Theatrum orbis terrarum (»Das Welttheater«) mit 58 Karten herausgab. Ab 1580 publizierte sein Landsmann Gerhard Mercator in Duisburg den ersten Teil seines »Atlas«, benannt nach dem mythischen Riesen, der nicht nur das Himmelsgewölbe auf den Schultern trägt, sondern auch als erster Geograph gilt. Vier Jahre später wurde Antwerpen von den Spaniern erobert, und die meisten Kartendrucker flohen wie viele Künstler und Händler aus Angst vor der Inquisition nach Norden.

Willem und Joan Blaeu, Atlas Maior (1662)

Im neuen Handelszentrum Amsterdam machte sich vor allem der flämische Verleger und Kartendrucker Jodocus Hondius, Besitzer des Mercator-Nachlasses, einen Namen als Verkäufer von Karten- und Taschenatlanten. Nach seinem Tod 1612 wurde sein Geschäft in der Kalverstraat von seinem Schwiegersohn Jan Jansson übernommen, der sein Monopol jedoch mit dem Aufstieg der Firma Blaeu verlor. Im Firmensitz am Damrak hatte Vater Willem als Globus-Hersteller, Kartograph und Verleger, unter anderem von Vondel und Descartes, angefangen. Gemeinsam mit seinen Söhnen Joan und Cornelis gab er 1630 seinen ersten Atlas heraus, bestehend aus 60 Karten, die er teilweise von seinem Konkurrenten kopiert hatte. Was folgte, war eine Art Wettlauf, bei dem beide Verlage versuchten, sich mit immer ehrgeizigeren Atlanten zu übertreffen: Sie enthielten immer mehr Karten, immer mehr neue Gebiete (einschließlich der Ozeane und des Himmelszeltes) und immer prächtigere Illustrationen und Marginalien. Den absoluten Höhepunkt bildete der Atlas Maior (1662) von Joan Blaeu, sozusagen der Goldstandard der Kartographie: 11 Bände im Folio-Format, Tausende von Seiten mit Legenden (irgendwann sogar in 5 Sprachen) und 600 unglaublich detaillierte Karten. Der Atlas Maior war eine Mischung aus alten und neuen Karten, die längst nicht alle wahrheitsgetreu und schon gar nicht aktuell waren. Auf Reisen konnte man sowieso herzlich wenig damit anfangen, weil Blaeu Straßen am liebsten ganz wegließ – mit der Begründung, sie würden die Ästhetik der Detailkarten zerstören. Der Atlas war also mehr Kunst als Wissenschaft, und als solche kam er auch auf den Markt. Es wurden eigene Bücherschränke für ihn entworfen, und sein Besitz war ein Statussymbol. Nur Superreiche konnten ihn sich leisten. Die einfachste Ausgabe kostete 250 Gulden, ein Betrag, der heute etwa 20 000 Euro entspricht. Mit der Folge, dass insgesamt nur etwa 300 Stück aufgelegt wurden. Dass heute bloß noch 40 davon erhalten geblieben sind, ist nicht weiter erstaunlich: So teuer der Atlas Maior auch war – riss man ihn auseinander und verkaufte die Karten einzeln, war er deutlich mehr wert. Deshalb haben viele Kartenliebhaber eine möglichst handkolorierte Originalkarte von Blaeu über dem Kamin hängen.

Europakarte von Blaeu

Das Kolorieren, das von Amsterdamer Müttern und Kindern übernommen wurde, war ein eigener Wirtschaftszweig in den drei Niederlassungen der Firma Blaeu, in denen 80 Angestellte 15 Druckerpressen betrieben. Blaeus Ruhm war so groß, dass der Florentiner Herrscher Cosimo III de’ Medici 1667, 4 Jahre nach der Veröffentlichung eines italienischen Städteatlasses, dem Geschäft einen ausführlichen Besuch abstattete. 5 Jahre später war ein Brand in der Gravenstraat Weltnachricht; da strenger Winter war und das Löschwasser fror, wurde das ganze Gebäude zerstört, einschließlich aller Bücher, Drucke und Pressen. Der Schaden wurde auf 380 000 Gulden geschätzt, was mehreren Millionen Euro entspräche. Ob der Tod von Joan Blaeu anderthalb Jahre später im Alter von 76 Jahren damit zusammenhängt, ist schwer zu sagen – sicher ist, dass es die Firma ein Vierteljahrhundert später nicht mehr gab.

Viele Künstler waren vom Werk Blaeus fasziniert. Auf zahlreichen Genrebildern aus dem Goldenen Zeitalter sind von Willem oder Joan herausgegebene Wandkarten zu sehen, zum Beispiel auf VermeersDer Soldat und das lachende Mädchen (um 1660). Kunst, die eigentlich als Gebrauchsgegenstand gedachte Kunst kopiert – ein schöneres Kompliment kann man einem Kartographen nicht machen!

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ROJEKTION

Mercator-Projektion

Gall-Peters-Projektion

Der niederländische Kartograph Gerhard Mercator, geboren als Gerhard de Kremer in Flandern, war der Erste, der den Begriff »Atlas« für eine Kartensammlung verwendete. Er machte sich als junger Kupferstecher mit Erd- und Himmelsgloben einen Namen sowie mit Karten, die er kursiv beschriftete, um sie so auffälliger zu gestalten. Für Furore sorgten sowohl seine detaillierte Karte des Heiligen Landes (1537) als auch seine Europakarte (1554), an der er 16 Jahre lang gearbeitet hatte. Trotzdem beruht sein Ruhm vor allem auf der Weltkarte »zum Gebrauch derjenigen, die zur See fahren« (1569). Um die Erdkugel in eine Fläche zu verwandeln und die für die Seefahrer so wichtigen Längen- und Breitengrade korrekt wiederzugeben, entschied sich Mercator für eine so genannte winkeltreue Projektion. Mit der Folge, dass sie zu den Polen hin verzerrt ist, die Landmassen also größer werden, je weiter sie vom Äquator entfernt sind.

Nicht nur für Seefahrer, sondern auch für Kartographen war die Mercator-Projektion, die bis heute Standard ist, ein Segen. Konkurrenz bekam sie von abstandstreuen und vor allem von flächentreuen Projektionen wie denen des Schotten James Gall von 1855, bei denen Südamerika, Afrika und Indonesien viel größer und langgestreckter abgebildet sind als bei der Mercator-Projektion. Mehr als 100 Jahre später griff der Deutsche Arno Peters diese Projektion 1967 bei seinem Kreuzzug gegen den »kartographischen Imperialismus« auf: Inzwischen ist die Gall-Peters-Projektion, die die näher am Äquator liegenden Staaten der »Dritten Welt« deutlich größer abbildet als die Mercator-Projektion, zum Karten-Standard der UNESCO geworden. Nach vier Jahrhunderten hat Europa also stark an Bedeutung eingebüßt.

WEGBEREITER DER SCIENCE-FICTION

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Kein Schriftsteller war so kosmopolitisch wie Jules Verne (1828–1905). Sein bekanntester Roman heißt Reise um die Welt in 80 Tagen und spielt unter anderem in Ägypten, Indien, China, Japan und Nordamerika. In Die Reise zum Mittelpunkt der Erde steigt der Held, Professor Lidenbrock, auf Island einen Vulkan hinab, um am Stromboli wieder herauszukommen. Michael Strogoff, der Kurier des Zaren, reist von Moskau über Kolywan nach Irkutsk. Robur der Sieger fliegt mit seinem Superhubschrauber um die Welt, Keraban der Starrkopf umrundet das Schwarze Meer per Postkutsche. Kapitän Nemo fährt mit einem Unterseeboot 20 000 Meilen unter dem Meer über die Nord- und Südhalbkugel. Viele andere Helden bereisen die noch unentdeckten Winkel der Erde – vom Nordpol bis zum Südpol und von Patagonien bis nach Australien.

Kein Schriftsteller war so europäisch wie Jules Verne. Die Helden aus seinen »blauen Bänden« – in der Originalausgabe waren sie übrigens rot – stammen mit überwiegender Mehrheit vom alten Kontinent – sei es nun der exzentrische Engländer Phileas Fogg, der Schotte Kapitän Grant oder der französische Meeresbiologe Pierre Aronnax. Professor Lidenbrock ist Deutscher, Michael Strogoff Russe, Keraban Türke, und Nemo war ursprünglich ein Pole – nur Roburs Nationalität ist unbekannt.

Auch Vernes Perspektive ist typisch europäisch – und nicht zu vergessen die eines Mannes aus dem 19. Jahrhundert. Die Welt ist ein Spielball kolonialer Großmächte, und Russland und Amerika werden bereits als zukünftige Weltreiche geduldet. Die Klassengesellschaft mit dem Bürgertum als tragender Säule und den Wissenschaftlern als neuesten sozialen Aufsteigern ist noch unbedroht. Das Vertrauen in die Technik grenzenlos. Eine Reise zum Mond? Das muss doch möglich sein! Ein Luftschiff mit 37 Propellern? Ist im Nu gebaut. Atomkraft? Aus damaliger Sicht ein Segen für die Menschheit. Die Entzifferung der Runen, das Aussetzen von künstlichen Monden und Satelliten, die Erfindung des Radios und Faxgeräts? Verne zufolge war das alles nur eine Frage der Zeit, ja, mehr noch: Mit seinen Romanen lieferte er gleich die dazugehörige Gebrauchsanweisung. Einige seiner Ideen – die Raumrakete, der Hubschrauber, das elektrische U-Boot – ähneln späteren Erfindungen dermaßen, dass man ihn schon für einen Hellseher hielt. Doch er war einfach nur ein Amateurwissenschaftler mit viel Fantasie. Bevor er mit einem Buch begann, las er sich in die entsprechende Forschung ein und unterhielt sich ausgiebig mit Ingenieuren und Erfindern.

Vernes Erfolg war pan-europäisch, was sich in den Hunderten Verfilmungen seiner »Außergewöhnlichen Reisen« zeigt, die bei der International Movie Database registriert sind. Jedes Land mit einer nennenswerten Filmindustrie von Russland bis Spanien hat sich an Vernes Klassiker herangewagt. Einige Bücher wie Reise um die Erde in 80 Tagen und Die Reise zum Mittelpunkt der Erde sind mehr als zehn Mal verfilmt worden. Die bahnbrechende Verfilmung von Vernes Roman Von der Erde zum Mond kam 2 Jahre nach seinem Tod heraus. Georges Méliès, ein weiterer berühmter Franzose, hatte Die Reise zum Mond auf Leinwand gebannt, 18 Jahre nachdem Verne in Das Karpatenschloss eine Art Filmprojektion beschrieben hatte. Zusammen mit Shakespeare, Scott, Austen, Dickens und Conan Doyle gehört Verne zu den am häufigsten verfilmten Schriftstellern.

Die Filme traten in die Fußstapfen des Erfolgs der »Außergewöhnlichen Reisen«. Die 62 Romane und 18 Novellen Vernes sind in 150 Sprachen übersetzt und in ebenso vielen Ländern erschienen. Bis zum Boom der Computerspiele und sozialen Medien waren sie die Lieblings-Freizeitbeschäftigung von Jungen (und Mädchen), die sich für spannende Abenteuer, populärwissenschaftliche Abhandlungen und exotische Ziele interessierten. Dass Vernes Figuren so platt waren wie das Schwert, mit dem Stroganoff geblendet wird, machen sie nicht weniger unvergesslich. (»Ich verstehe nicht, was ein Roman mit Psychologie zu tun haben soll«, so der Autor einst.) Dass Verne wie sein Zeitgenosse Karl May die meisten seiner Geschichten frei erfunden hat, macht ihn erst recht zu einem echten Romanautor.

Französischer Einband von Reise bis zum Mittelpunkt der Erde

Obwohl Verne im Alter ein seetüchtiges Segelboot besaß und in jungen Jahren Reisen nach Skandinavien und New York unternahm, war er der Prototyp eines Menschen, der mit dem Finger auf der Landkarte reist. An seinem Schreibtisch im verschlafenen nordfranzösischen Städtchen Amiens dachte er sich die wildesten Abenteuer an den exotischsten Orten aus: eine Reise um das Schwarze Meer, um Steuern für das Überqueren des Bosporus zu sparen (Keraban der Starrkopf), eine dramatische Verfolgungsjagd unter südafrikanischen Diamantensuchern (DerSüdstern oder das Land der Diamanten), eine Ballonfahrt zu den Quellen des Nils (Fünf Wochen im Ballon). Und damit hielt er nur das Versprechen, das er seiner Mutter als 11-Jähriger gegeben hatte, als er im Hafen seiner Geburtsstadt Nantes gerade noch rechtzeitig von einem Schiff geholt werden konnte, das Kurs auf Indien nahm. Ihr soll er geschworen haben, von nun an nur noch im Traum zu reisen.

Nach seinem Tod war Verne ein großes Vorbild für Bestsellerautoren wie H. G. Wells (Die Zeitmaschine), Hergé (Tim und Struppi) und Michael Crichton (Jurassic Park). Zu Lebzeiten wurde er von so berühmten Schriftstellern wie Georges Sand und Émile Zola gelobt, er war mit Victor Hugo und Alexandre Dumas dem Jüngeren befreundet. Ihm wurde der höchste französische Verdienstorden, die Ehrenlegion, verliehen, aber die höchste literarische Ehre, nämlich die Mitgliedschaft in der nur 40 Mitglieder zählenden Académie française, wurde ihm nicht zuteil – was ihn zunehmend verärgerte: »Die größte Enttäuschung meines Lebens«, so sagte er 1894 in einem Interview, »ist die, nie einen Ehrenplatz in der französischen Literatur bekommen zu haben.« Das war ihm erst reichliche 100 Jahre später vergönnt, als vier seiner »Außergewöhnlichen Reisen« in die renommierte Pléiade-Reihe aufgenommen wurden. Aus der europäischen Literatur hingegen war das Werk Jules Vernes da bereits seit mehr als 100 Jahren nicht mehr wegzudenken.

1984

Verne war ein visionärer Autor, er gilt als einer der Wegbereiter der Science-Fiction, ein höchst erfolgreiches literarisches Genre, das sich grob in Weltraumabenteuer und »realistische« Zukunftsromane einteilen lässt. In letztere Kategorie fällt auch 1984 (1949) von George Orwell, eines der einflussreichsten Beispiele, und sei es nur deshalb, weil dank John de Mol und NSA jedem der Begriff »Big Brother (is Watching You)« geläufig ist.

David Pearson, Einband (2013) von Orwells 1984

Orwells Satire auf den Totalitarismus, einschließlich des euphemistischen Neusprech (mit Parteislogans wie »Krieg ist Frieden«, »Freiheit ist Sklaverei«, »Unwissenheit ist Stärke«), ist ein Buch, das jeder gelesen haben sollte. Ungeübte Leser werden von den Folterungen und Gehirnwäschen begeistert sein, denen sich Winston Smith in den Kellern des Ministeriums für Liebe unterziehen muss (Zimmer 101! Die Ratten!). Sachbuchfans von Orwells Ausführungen über die Manipulation von Vergangenheit und Sprache in einer Diktatur. Und literarische Feinschmecker von der Schilderung von Orwells Anti-Utopie – angefangen vom ominösen Anfangssatz bis hin zu dem ebenso packenden wie zynischen Schluss, als der gebrochene Winston erkennt, dass er den Großen Bruder liebt. Alle anderen werden den ergreifenden Liebesroman zu schätzen wissen. Die verbotene amour fou zwischen Winston und Julia, inmitten von Überwachungsmonitoren und Mitgliedern der Gedankenpolizei, endet in der haarsträubenden Szene, in der sie sich ungerührt gestehen, den jeweils anderen unter dem Druck der Partei verraten zu haben. »Angesichts des Schmerzes gibt es keine Helden«, lautet der Schlüsselsatz von 1984. Und auch das Bild, das Winstons väterlicher Folterer O’Brien von der Zukunft entwirft – »stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt, – immer und immer wieder« –, ist alles andere als ermutigend.

DIE BRITISCHE POPMUSIK

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Es ist nicht der beste Song der Beatles, denn das ist »Eleanor Rigby« oder »I Am The Walrus« (oder »For You Blue« oder »In My Life« oder einfach nur »Yesterday« oder »All You Need Is Love«). Aber »Back In The U.S.S.R« ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die Karriere der Fab Four