Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit - Marianne Kreuels - E-Book

Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit E-Book

Marianne Kreuels

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Beschreibung

Wäre ein unendliches Leben nicht auch unendlich langweilig? Die Annahme, die menschliche Sterblichkeit sei Voraussetzung eines wünschenswerten Lebens, ist weit verbreitet. Aber lässt sie sich auch halten? Marianne Kreuels setzt sich mit den verschiedenen Argumenten für diese Position auseinander, wie sie unter anderem von Bernard Williams und Martha Nussbaum vorgebracht wurden, und zeigt, dass sie allesamt nicht überzeugend sind. Anhand zahlreicher anschaulicher Gedankenexperimente arbeitet sie in ihrem scharfsinnigen Essay heraus, dass auch ein unendliches Leben ein wünschenswertes Leben sein kann, das sich – abgesehen natürlich von seiner Länge – nicht vom Leben eines Sterblichen unterscheiden muss.

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Wäre ein unendliches Leben nicht auch unendlich langweilig? Die Annahme, die menschliche Sterblichkeit sei Voraussetzung eines wünschenswerten Lebens, ist weit verbreitet. Aber lässt sie sich auch halten? Marianne Kreuels setzt sich mit den verschiedenen Argumenten für diese Position auseinander, wie sie unter anderem von Bernard Williams und Martha Nussbaum vorgebracht wurden, und zeigt, dass sie allesamt nicht überzeugend sind. Anhand zahlreicher anschaulicher Gedankenexperimente arbeitet sie in ihrem scharfsinnigen Essay heraus, dass auch ein unendliches Leben ein wünschenswertes Leben sein kann, das sich – abgesehen natürlich von seiner Länge – nicht vom Leben eines Sterblichen unterscheiden muss.

Marianne Kreuels war Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln und ist derzeit als freie Autorin und Lektorin tätig.

Marianne Kreuels

Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit

Ein Essay in analytischer Existenzphilosophie

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2150.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74072-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Danksagung

1. Einleitung: Sterben, Tod und Sterblichkeit

1.1 Die Frage nach dem Wert der Sterblichkeit

1.2 Drei Arten von Gedankenexperimenten

1.3 Die Beschaffenheit der Sterblichkeit

2. Sterblichkeit, Präferenzen und Persönlichkeit

2.1 Die Langeweile der Unsterblichkeit

2.2 Warum das Argument der Langeweile nicht überzeugt

2.3 Die Veränderung der unsterblichen Persönlichkeit

2.4 Zusammenfassung

3. Sterblichkeit und Lebensgestaltung

3.1 Zeitdruck und Lebensgestaltung: Das Motivationsargument

3.2 Warum das Motivationsargument nicht überzeugt

3.3 Lebensgestaltung als Angstbewältigung: Das Bewältigungsargument

3.4 Warum das Bewältigungsargument nicht überzeugt

3.5 Zusammenfassung

4. Sterblichkeit und Werte

4.1 Das Todesrisiko als Bedingung des Wertesystems: Das Werteargument

4.2 Warum das Werteargument nicht überzeugt

4.3 Sterblichkeit und Wertschätzung

4.4 Das eigentliche Sein zum Tode: Das Authentizitätsargument

4.5 Warum das Authentizitätsargument nicht überzeugt

4.6 Zusammenfassung

5. Sterblichkeit und die narrative Dimension des Lebens

5.1 Das narrativistische Argument für den Wert der Sterblichkeit

5.2 Warum das narrativistische Argument nicht überzeugt

5.3 Narrative Praxis und der Wert des Lebens

5.4 Zusammenfassung

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Danksagung

Bei der Entstehung dieses Buches haben mich mehrere Personen unterstützt, bei denen ich mich an dieser Stelle gerne bedanken möchte.

Zuallererst geht mein ganz herzlicher Dank an Prof.Dr. Thomas Grundmann für seine unermüdliche und unersetzliche Unterstützung seit Beginn meines Studiums und für die ausgezeichnete Betreuung meiner Promotion. Ohne seine Förderung in den letzten neun Jahren hätte ich dieses Buch aus unzähligen Gründen nicht geschrieben.

Privatdozent Dr. Héctor Wittwer hat mir insbesondere in der Anfangsphase meiner Arbeit mit vielen Ratschlägen geholfen, wofür ich mich ebenfalls herzlich bedanke. Susanne Mantel danke ich sehr für ihre äußerst hilfreichen Hinweise zum dritten Kapitel dieses Buches.

Prof. Dr. Andreas Hüttemann, Prof.Dr.Dr.h.c. Andreas Speer und der a.r.t.e.s. Forschungsschule in Köln danke ich für die Betreuung meiner Promotion. Bei Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag bedanke ich mich herzlich für die Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches.

Für inhaltliche und freundschaftliche Unterstützung danke ich vor allem Anna Rosenbaum, die mir mit zahlreichen Verbesserungsvorschlägen in vielen Gesprächen sowie mit der Korrektur des gesamten Manuskriptes sehr geholfen hat, und meinem guten Freund Lars Weisbrod, der mich immer darin bestärkt hat, das Projekt einer analytischen Existenzphilosophie weiterzuverfolgen.

Der nachfolgende Text wurde im Wintersemester 2013/2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen.

Köln, im Juli 2014

1. Einleitung: Sterben, Tod und Sterblichkeit

Der Tod ist die radikalste Bedrohung der menschlichen Existenz. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Tod und seine Bewertung seit jeher Gegenstand philosophischer Betrachtung sind. Schon Platon stellt im Phaidon fest, zu philosophieren bedeute, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen,[1] und Sophokles lässt den Chor in Ödipus auf Kolonos konstatieren: »Nie geboren zu sein, ist der/Wünsche größter; und wenn du lebst,/Ist das andere, schnell dahin/Wieder zu gehen, woher du kamest.«[2]

Neben begrifflichen oder ethischen Problemen sind für Philosophen solche Fragen von Interesse, die das menschliche Verhältnis zu Tod und Sterblichkeit betreffen. Dazu gehören Fragen wie diejenige, ob es sich beim Tod um ein Übel für den Betroffenen handelt und, damit zusammenhängend, ob es rational ist, den eigenen Tod zu fürchten. Die Frage nach der Bewertung des Todes bleibt gleichermaßen aktuell, obwohl sich viele Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz und auch des menschlichen Todes verändert haben und noch verändern. Dies gilt auch für die Bewertung eines radikal verlängerten Lebens bis hin zur vollständigen Aufhebung der Sterblichkeit.

Gegenüber anderen Fragen innerhalb der philosophischen Thanatologie – der philosophischen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben – zeichnet sich die Frage, ob die Unsterblichkeit eine wünschenswerte Alternative zum sterblichen Dasein wäre, in besonderem Maße dadurch aus, dass ihre Beantwortung nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leben und dessen Wert erfordert. Die Relevanz dieser Frage nach der Attraktivität der Unsterblichkeit lässt sich insbesondere aus zwei Perspektiven begründen. Erstens kann der Wunsch, nicht sterben zu müssen, nicht nur aus der Angst vor dem eigenen Tod, sondern auch aus der Sehnsucht erwachsen, mehr Zeit für all das zu haben, womit man sich in seinem Leben beschäftigen will. Zweitens werfen die bereits existierenden sowie die in absehbarer Zeit eventuell zur Verfügung stehenden technologischen Möglichkeiten, das menschliche Leben zu verlängern, die Frage auf, inwiefern eine Verlängerung des Lebens für den Betroffenen eigentlich wünschenswert ist. Während nämlich einerseits die Sehnsucht nach einem möglichst langen Leben oder sogar nach der Unsterblichkeit ein für das menschliche Denken wesentliches Moment darstellen kann, so wird doch andererseits immer wieder dafür argumentiert, dass dem menschlichen Leben ohne dessen Endlichkeit etwas Wesentliches verloren ginge. Um Argumente für und wider diese beiden Perspektiven geht es im vorliegenden Buch.

1.1 Die Frage nach dem Wert der Sterblichkeit

Die Argumente, die im Folgenden untersucht werden sollen, beschäftigen sich also mit der Frage, ob die Sterblichkeit eine notwendige Bedingung für ein attraktives menschliches Leben ist. Oder andersherum: Kann ein unendliches, unsterbliches Leben auch ein gutes Leben sein?

Um die Implikationen dieser Frage zu verstehen, stellen wir uns eine lebenslustige junge Frau namens Alise vor.[3] Alise trifft eines Tages auf eine ältere Dame, die ihr eine kleine Schachtel zusteckt. Diese Schachtel enthält, wie die alte Frau ausführt, eine Tablette, die denjenigen, der sie einnimmt, unsterblich macht. Alise glaubt einerseits nicht recht an derartigen Zauber, ist andererseits aber doch zu neugierig, um die Schachtel einfach wegzuwerfen. Sie trägt sie einige Wochen in ihrer Manteltasche mit sich herum.

Eines Nachts geht sie nach einem Abend, den sie zusammen mit ihren Freunden verbracht hat, nach Hause. Sie denkt an die Endlichkeit und Kürze ihres Lebens und daran, wie schnell die Zeit vergeht, die sie mit den Menschen verbringen kann, die sie liebt. Schon in einigen Jahrzehnten werden nicht nur alle ihre Freunde, sondern auch sie selbst sterben müssen. Viele unzusammenhängende Gedanken schießen ihr durch den Kopf: Werden meine Kinder alleine zurechtkommen, meinen Körper wird man in der Erde verscharren, ich werde nie wieder Rad fahren, nie wieder bei Regen auf der Terrasse Rotwein trinken, wie fühlt es sich an, tot zu sein? Ohne länger zu zögern, greift Alise in ihre Tasche, öffnet die Schachtel und schluckt die kleine, schillernde Tablette.

In den folgenden Jahren lebt Alise ihr Leben weiter wie bisher. Da sich nichts verändert, vergisst sie die alte Frau und die Tablette nach und nach. Wenn sie in seltenen Momenten doch einmal daran denkt, lächelt sie über ihre eigene Einfältigkeit. Im Lauf der Zeit lernt sie neue Menschen kennen, ihre Kinder werden langsam erwachsen, und auch sie selbst altert. Ihre Interessen verändern sich, aber sie genießt ihr Leben noch immer in vollen Zügen. Im Alter von etwa sechzig Jahren jedoch bemerkt Alise eine irritierende Veränderung an ihrem Körper: Er hat aufgehört, sich zu verändern. Nach einigen weiteren Jahren besteht kein Zweifel mehr daran, dass Alise aufgehört hat zu altern. Mit beinah siebzig Jahren scheint sie äußerlich im selben Alter zu sein wie ihre beiden Kinder.

In der Zwischenzeit sind nicht nur Alises Kinder und Enkelkinder gealtert, sondern auch viele ihrer Freunde verstorben. Nach einigen weiteren Jahren ist niemand mehr übrig, den Alise schon seit ihrer Jugend kennt. Zwar macht sie neue Bekanntschaften und schließt auch die eine oder andere neue Freundschaft, jedoch entfremdet sie sich nach und nach von der sie umgebenden Welt, an der sie zunehmend das Interesse verliert. Unternimmt sie den Versuch, jemandem von ihrer Lebensgeschichte zu erzählen, wird sie zunächst verspottet. Merken ihre Bekannten aber, dass Alise tatsächlich nicht mehr älter wird, wenden sie sich in der Regel von ihr ab. Die wenigen Personen, mit denen sie noch immer eine echte Freundschaft verbindet, begleitet Alise bis zu deren Tod. Schlussendlich frustriert das Sterben ihrer Freunde Alise so sehr, dass sie überhaupt keine Beziehungen mehr eingeht und das Interesse an ihren Mitmenschen vollends verliert. Sie fühlt sich nicht mehr zugehörig und empfindet keine Sympathie, kein Mitgefühl, keine moralischen Verpflichtungen mehr.[4]

Die Beerdigungen ihrer beiden Kinder, die sie aus einiger Entfernung beobachtet, tragen zu ihrer Distanz zur Welt und zu den Menschen bei. Denn obwohl sie einerseits den Verlust ihrer Kinder kaum erträgt, ist sie andererseits kein Teil der Generation ihrer Enkel, die sich um die Gräber von Alises Kindern versammelt. Die uralte Alise fühlt sich – vergleichbar mit Fosca, dem unsterblichen Protagonisten aus Simone de Beauvoirs Roman Alle Menschen sind sterblich[5] – unter den Lebenden zunehmend wie eine Tote. Nach und nach verliert sie nicht nur das Interesse an ihren Mitmenschen, sie verliert – obwohl ihr Gehirn keinerlei Altersschädigungen aufweist – Stück für Stück ihre frühen Erinnerungen und damit ihre Persönlichkeit.[6] Die Dinge, die ihr früher Freude bereitet haben – Spiele, Gespräche, Kunst, Literatur, Sport, Reisen –, verlieren ihren Reiz, alles wird ihr gleichgültig. Ihr Charakter beginnt, sich aufzulösen, ihr Verhalten ergibt kein stimmiges Gesamtbild mehr, sie handelt in jedem Moment ihren Launen entsprechend. Kein Moment ist ihr mehr wert als irgendein anderer, ihr Leben wird zu einer Aneinanderreihung gleichförmiger Tage ohne jede Form oder Dramaturgie.

Als sie das Elend ihres unsterblichen Daseins nicht mehr länger erträgt, versucht Alise, ihr Leben zu beenden, und stürzt sich von einem Hochhaus; doch ihre Verletzungen heilen innerhalb von Stunden.[7] Einige weitere erfolglose Versuche, sich selbst zu töten, folgen, bis Alise schließlich erkennt, dass sie ihr unerträgliches Dasein bis in alle Ewigkeit fortsetzen muss. Die Unsterblichkeit erweist sich als Fluch.

Alises Geschichte scheint uns zu sagen: Auch wenn der Wunsch nach dem unendlichen Leben auf den ersten Blick verständlich ist, handelt es sich bei der Sterblichkeit bei genauerer Betrachtung um eine »wunderbare Tatsache«,[8] die – um den Preis unseres Todes – verhindert, dass wir ein Leben wie Alise führen müssen. Entsprechend fasst der amerikanische Wissenschaftler Leon Kass zusammen: »Die Endlichkeit ist ein Segen für jedes menschliche Wesen, ob es das weiß oder nicht.«[9]

Die unerträglichen Konsequenzen der Unsterblichkeit werden in Literatur und Film, aber auch in der Philosophie[10] immer wieder drastisch ausgemalt. Die Sterblichkeit, so eine verbreitete Meinung, sei eben die Bedingung dafür, dass das Leben ein »abgeschlossenes Ganzes« und jeder Moment dieses Lebens wertvoll sei. Zudem sei die Begrenztheit der Lebenszeit die notwendige Bedingung verschiedener Werte und Tugenden, Voraussetzung des Willens zur Gestaltung des eigenen Lebens oder notwendige Bedingung für die menschlichen Präferenzen und/oder die individuelle Persönlichkeit. Dieses Bündel von Annahmen, die alle in eine ähnliche Richtung weisen, werde ich in den folgenden Kapiteln unter die Lupe nehmen. Dabei wird sich herausstellen, dass keines der Argumente schlussendlich überzeugen kann: Die Sterblichkeit scheint keinenotwendige Bedingung der genannten Aspekte des Lebens zu sein. Die untersuchten Argumente sprechen also nicht dafür, dass ein unsterbliches Leben zwangsläufig unerträglich und qualvoll wäre; somit sprechen sie nicht gegen eine radikale Verlängerung der menschlichen Lebenszeit bis hin zur Eliminierung der Sterblichkeit. Wenn ich darin recht habe, dann scheint die Sterblichkeit nicht konstitutiv für den subjektiven Wert des menschlichen Lebens zu sein.[11]

Ich setze mich in diesem Buch also kritisch mit einer Reihe von Argumenten auseinander, die behaupten, dass die Sterblichkeit aus dem einen oder anderen Grund essenziell für ein wünschenswertes menschliches Leben sei. Bei der Frage, was ein wünschens- oder lebenswertes Leben ausmacht und worin der Wert eines Lebens für die individuelle Person besteht, handelt es sich um eine Frage, deren Antwort keineswegs selbstverständlich ist und die demnach selbst der philosophischen Diskussion bedarf. Diese Diskussion kann ich im Rahmen dieses Essays jedoch nicht leisten. Ich werde also weder eine positive Bestimmung des Wertes des menschlichen Lebens vornehmen noch selbst eine ausgearbeitete Theorie darüber vertreten, welches Leben für eine Person wünschenswert wäre. Mir geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass die Sterblichkeit nicht notwendigerweise mit denjenigen Eigenschaften des menschlichen Lebens zusammenhängt, die wir für gewöhnlich als Bestandteile eines wünschenswerten Lebens ansehen und/oder die von den Vertretern des jeweiligen Argumentes als solche betrachtet werden. So gehen zum Beispiel Vertreter des in Abschnitt 4.4 nachgezeichneten Authentizitätsarguments davon aus, dass es sich bei der Authentizität um eine Eigenschaft handelt, die für ein wünschenswertes Leben von Bedeutung ist. Diese Annahme kann natürlich angezweifelt werden. In Bezug auf die Frage, was ein wünschenswertes, ein attraktives menschliches Leben schlussendlich tatsächlich auszeichnet, bleibe ich im Rahmen dieses Buches jedoch neutral. Stattdessen konzentriere ich mich ausschließlich auf die Frage, wie der Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und dem jeweils infrage stehenden Aspekt des menschlichen Lebens beschaffen ist und ob er notwendigerweise besteht.

Die Untersuchung dieser Frage fällt in einen Forschungsbereich, den ich als analytische Existenzphilosophie bezeichne.[12] Darunter verstehe ich die Auseinandersetzung mit bestimmten inhaltlichen Fragen – nämlich solchen, die die existenziellen Phänomene des menschlichen Daseins wie etwa den Tod betreffen – unter Verwendung der Methoden der analytischen Philosophie. Im weiten Sinne analytische Methoden[13] wie begriffliche Klarheit und präzise Argumentation können bei den genannten Fragen einen wichtigen Beitrag leisten. So finden sich etwa Ideen und Argumente, die für die Beantwortung existenzphilosophischer Fragen relevant sind, keineswegs nur in der analytischen, ja nicht einmal nur in der dezidiert philosophischen Literatur. Die analytische Herangehensweise kann und soll hier dazu dienen, verschiedenste Ideen für die Diskussion nutzbar zu machen, indem sie diese in eine einheitliche philosophische Terminologie übersetzt, systematisiert und anschließend bewertet.

Die Analyse der verschiedenen Argumente für den Wert der Sterblichkeit erfolgt in den Kapiteln zwei bis fünf, die trotz zahlreicher inhaltlicher Bezüge und teils verwandter Argumentationen[14] prinzipiell unabhängig voneinander gelesen werden können. Jedes dieser Kapitel untersucht jeweils ein Argument beziehungsweise eine Reihe verwandter Argumente, die auf verschiedene Arten nachzuweisen versuchen, dass die Sterblichkeit konstitutiv für den Wert des menschlichen Lebens ist. Im zweiten Kapitel untersuche ich den Zusammenhang der Sterblichkeit mit der menschlichen Persönlichkeit, indem ich mich damit beschäftige, ob eine Unsterbliche früher oder später in existenzieller Langeweile versinken würde und in welcher Weise die Sterblichkeit die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen beeinflusst. Im Zentrum des dritten Kapitels steht der Einfluss der Sterblichkeit auf die eigene Lebensgestaltung – insbesondere in Hinblick auf die Fragen, ob die Sterblichkeit notwendig dafür ist, zur Gestaltung des eigenen Lebens motiviert zu sein und ob die menschliche Lebensgestaltung als Mechanismus zur Bewältigung der Todesangst verstanden werden sollte. Im vierten Kapitel steht ein möglicher Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und den menschlichen Werten und Tugenden sowie der Fähigkeit zur Wertschätzung im Vordergrund. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Wert der Authentizität. Im fünften Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage, ob Tod und Sterblichkeit dem menschlichen Leben eine bestimmte, abgeschlossene Form geben, die für ein wünschenswertes Leben notwendig ist. In einem letzten, kurzen Schlusskapitel fasse ich die Ergebnisse dieser Analysen zusammen und zeige ihre inhaltlichen und methodischen Konsequenzen auf.

Bevor ich nun also die verschiedenen Argumente für den Wert der Sterblichkeit diskutiere, folgen in den weiteren Abschnitten des ersten Kapitels noch einige Vorüberlegungen zur Methode des Gedankenexperimentes, die für die folgende Untersuchung eine wesentliche Rolle spielt; sowie zur Sterblichkeit und zur Unsterblichkeit selbst, die unter anderem vom Bewusstsein derselben abgegrenzt werden müssen. Dazu werden einige Differenzierungen, etwa zwischen notwendiger und kontingenter Sterblichkeit beziehungsweise Unsterblichkeit erforderlich sein.

1.2 Drei Arten von Gedankenexperimenten

Einerseits handelt es sich bei der Frage nach den Implikationen der Sterblichkeit um die Frage nach den psychologischen Auswirkungen des Sterblichkeitsbewusstseins auf die jeweils sterbliche Person. Andererseits offenbaren sich Funktion und Wert der Sterblichkeit im Vergleich mit einem unsterblichen Leben, das im Rahmen eines Gedankenexperiments imaginiert wird.

Die Frage nach den Implikationen der Sterblichkeit ist also auf der einen Seite eine deskriptive Frage nach der Beschaffenheit der aktualen Welt in einer bestimmten Hinsicht (hinsichtlich der menschlichen Sterblichkeit). Auf dieser Ebene gilt es, die Rolle der Sterblichkeit in der aktualen Welt zu untersuchen, indem die Lebenssituation von Personen in ebendieser Welt in den Mittelpunkt gestellt wird. Da es sich dabei um die Frage nach den psychologischen Auswirkungen des Sterblichkeitsbewusstseins handelt, werde ich auf dieser Ebene psychologische Erkenntnisse berücksichtigen.

Eine solche deskriptive psychologische Perspektive, die auf empirischen Untersuchungen basiert, bildet insbesondere in Teilen des zweiten und dritten Kapitels zur menschlichen Persönlichkeit und Lebensgestaltung die Basis meiner Argumentation, etwa wenn ich in Abschnitt 2.3 den Einfluss des chronologischen Lebensalters[15] auf die Veränderung der menschlichen Persönlichkeit über die Zeit hinweg untersuche.[16] Dies gilt auch für die Argumentation in den Abschnitten 3.3 und 3.4, die auf einer psychologischen Theorie über die vom Sterblichkeitsbewusstsein ausgelösten Kompensationsmechanismen basiert.

Empirisch-psychologische Studien zu den Auswirkungen des Sterblichkeitsbewusstseins stehen jedoch nicht für sich allein. Mir geht es nicht nur darum, die psychologischen Auswirkungen des Sterblichkeitsbewusstseins in der aktualen Welt, in der (zumindest momentan) alle Menschen sterblich sind, darzustellen. Stattdessen soll vor allem die darauf aufbauende Frage beantwortet werden, wie eng die Sterblichkeit einerseits mit der psychischen Beschaffenheit von Personen andererseits zusammenhängt, also die Frage, ob die Psyche unsterblicher Personen ganz ähnlich beschaffen sein könnte wie diejenige sterblicher Personen. Diese Frage lässt sich, da keine unsterblichen Personen zur empirischen Untersuchung zur Verfügung stehen, nur im Rahmen eines Gedankenexperiments beantworten. Die Methode des Gedankenexperiments ist daher für diese Untersuchung von besonderer Bedeutung.

Gedankenexperimente basieren auf vorgestellten Szenarien. Daher können auch fiktionale Darstellungen der Unsterblichkeit in Filmen, Büchern oder anderen Kunstwerken als Inspirationsquelle für Gedankenexperimente dienen:

Man kann sich die literarische Erkundung der Unsterblichkeit als ein Gedankenexperiment vorstellen: eine Konstruktion, die nicht entworfen wird, um die Unsterblichkeit im wörtlichen Sinne zu erforschen, sondern den Wert des endlichen Lebens, indem dieses mit einer fiktionalen Unsterblichkeit verglichen wird. Die Konklusion dieses Gedankenexperimentes ist nicht gewiss, sondern nur plausibel.[17]

Auf diese Weise können, wie Jeff Noonan zusammenfasst, nicht nur Erkenntnisse über die Unsterblichkeit selbst, sondern auch Erkenntnisse über den Wert der Sterblichkeit für das menschliche Leben gewonnen werden.

Gedankenexperimente stellen nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Naturwissenschaften, in der Mathematik oder der Geschichtswissenschaft eine eigene Erkenntnisquelle dar. In den Naturwissenschaften sind sie insbesondere dann hilfreich, wenn echte Experimente zu aufwändig, nicht unbedingt nötig oder prinzipiell undurchführbar sind,[18] während philosophische Gedankenexperimente dazu dienen, modale Hypothesen zu überprüfen. Da sie eine Aussage über eine alternative Möglichkeit treffen oder nahelegen, lässt sich auf ihrer Basis eine Notwendigkeitsaussage zurückweisen oder induktiv bestätigen.[19] Dabei können die Möglichkeiten, die im Gedankenexperiment dargestellt werden, ganz verschiedener – zum Beispiel logischer, physikalischer, technologischer oder moralischer – Natur sein. Entsprechend breit ist der Anwendungsbereich philosophischer Gedankenexperimente.[20]

Gemeinsam ist diesen philosophischen Gedankenexperimenten, dass wir zur Beurteilung einer jeweils imaginierten Situation auf unsere Intuitionen angewiesen sind. Zu unterscheiden sind drei Hinsichten, in denen die Intuitionen des Betrachters eines imaginierten Szenarios aufschlussreich sein können: erstens hinsichtlich der Frage, was in einer imaginierten Situation passieren würde, zweitens hinsichtlich der Frage, wie wir eine imaginierte Situation beschreiben würden, sowie drittens hinsichtlich der Frage, wie wir eine imaginierte Situation bewerten würden. Während Gedankenexperimente des zweiten Typs deskriptiver Art sind und insbesondere in der Erkenntnistheorie oder der Metaphysik eine Rolle spielen, sind normative Gedankenexperimente des dritten Typs vor allem bei ästhetischen oder ethischen Fragestellungen aufschlussreich.[21]

Während die Frage danach, was in einer imaginierten Situation passieren würde, zum Beispiel in naturwissenschaftlichen Gedankenexperimenten gestellt wird, spielen für die Untersuchung der Implikationen der Sterblichkeit insbesondere die zweite und die dritte Analyseebene – also die Frage nach der Beschreibung und die Frage nach der Bewertung der imaginierten Situation der Unsterblichen – eine Rolle. (An wenigen Stellen werde ich zudem auf einen dritten Typ von Gedankenexperimenten zurückgreifen, der lediglich der Illustration dient und den ich als psychologisch-spekulatives Gedankenexperiment bezeichne. In solchen psychologischen Spekulationen werden Erkenntnisse über die Psyche Sterblicher auf die Psyche unsterblicher Personen übertragen.) Primär werde ich in den folgenden Kapiteln, in denen jeweils verschiedene Argumente für den Wert der Sterblichkeit auf dem Prüfstand stehen, mittels deskriptiver Gedankenexperimente untersuchen, ob eine bestimmte menschliche Eigenschaft oder ein Aspekt des menschlichen Lebens notwendigerweise mit der Sterblichkeit verknüpft ist. Ein Beispiel für diese Funktion des Gedankenexperimentes ist meine Auseinandersetzung mit einer Prämisse des Argumentes von Martha Nussbaum in Abschnitt 4.2. Diese Prämisse besagt, dass das Risiko zu sterben, dem Menschen in der aktualen Welt ausgesetzt sind, eine notwendige Bedingung für unser System von Werten und Tugenden darstellt. Dieses Wertesystem, so Nussbaum, könnten Bewohner einer Welt, in der das Todesrisiko nicht gegeben ist, nicht teilen. Bei dieser Prämisse handelt es sich um eine Notwendigkeitsaussage: Eine Welt, in der das Todesrisiko eliminiert wäre, das konkrete System menschlicher Tugenden (zu denen etwa Mut und Großzügigkeit gehören) jedoch bestehen bliebe, sei unmöglich.

Das Gedankenexperiment der Unsterblichkeit dient hier unter anderem dazu, zu zeigen, dass die Aufhebung der Sterblichkeit, die zugleich die Aufhebung des Todesrisikos bedeuten würde, die Möglichkeit von Tugenden wie Mut oder Großzügigkeit nicht zwangsläufig ausschließen muss. Wir können uns eine Welt voller Unsterblicher vorstellen, die zwar nicht im Angesicht des Todes, jedoch durchaus im Angesicht verschiedener anderer Risiken, wie etwa des Risikos körperlicher Verletzungen, agieren und damit Mut beweisen könnten. Wie sich herausstellen wird, verknüpft Nussbaum die Sterblichkeit zu eng mit anderen menschlichen Eigenschaften wie zum Beispiel der körperlichen, aber auch der psychischen Verletzbarkeit – sie scheint anzunehmen, dass die Verletzlichkeit die Sterblichkeit impliziert. Dass es sich dabei allerdings nicht um einen metaphysisch notwendigen Zusammenhang handelt,[22] lässt sich eben im Rahmen eines deskriptiven Gedankenexperimentes zeigen. Mit der Frage, wie die Situation einer Unsterblichen korrekt beschrieben wird, lässt sich also herausfinden, ob bestimmte Aspekte des Lebens notwendigerweise mit der Sterblichkeit verknüpft sind oder nicht.

Im Rahmen eines normativen Gedankenexperimentes geht es um die Frage, wie wir die Situation einer unsterblichen Person bewerten würden. Ein solches Gedankenexperiment muss die alternative Lebenssituation einer unsterblichen Person in einer Weise beschreiben, die Urteile über den Wert dieser Situation ermöglicht. So ist das Beispiel von Alise ein Gedankenexperiment, das eine bestimmte Bewertung von Alises Situation nahelegt: Wir bewerten sie intuitiv als nicht wünschenswert.

Die Form des normativen Gedankenexperiments kommt unter anderem in Abschnitt 5.2 zum Tragen, in dem ich zeige, dass eine Lebensgeschichte, die narrativ abgeschlossen[23] ist, nicht zwangsläufig ein für die jeweilige Person wünschenswertes Leben beschreibt. Unsere Intuitionen deuten darauf hin, dass die narrative Abgeschlossenheit keine hinreichende Bedingung eines wertvollen Lebens darstellt: Eine Lebensgeschichte kann narrativ vollständig sein und dennoch – dies bestätigt die Intuition – kein wünschenswertes Leben beschreiben.

Die beiden bisher skizzierten Formen von Gedankenexperimenten liefern Erkenntnisse über die Beschaffenheit und den Wert eines zumindest potenziell unendlichen Lebens. Eine dritte Weise, auf die alternative Welten untersucht werden können, besteht in der psychologischen Spekulation darüber, wie eine bestimmte Person sich entwickeln, fühlen oder verhalten würde, wenn sie unsterblich wäre. Von den beiden anderen Formen des Gedankenexperimentes unterscheidet sich diese psychologische Spekulation vor allem dadurch, dass jene von der Vorstellbarkeit einer Situation auf ihre Möglichkeit schließen, während diese eine bestimmte psychologische Entwicklung als wahrscheinlich annimmt.

Spekulationen dieser Art sind natürlich mit Vorsicht zu genießen, da sie in der Regel außerordentlich fehleranfällig sind. Psychologische Untersuchungen zeigen etwa, dass Personen insbesondere die Dauer ihrer zukünftigen positiven und negativen Gefühle drastisch überschätzen.[24] Entsprechend können wir nur Vermutungen darüber anstellen, ob wir für den Rest eines unendlichen Lebens Spaß daran finden würden, der beste Schachspieler aller Zeiten zu werden, oder daran, dasselbe Musikstück immer und immer wieder zu hören. Schlüsse von der Vorstellbarkeit einer Situation auf ihre psychologische Wahrscheinlichkeit sollten – im Gegensatz zu Schlüssen von der Vorstellbarkeit einer Situation auf ihre metaphysische Möglichkeit – bei der Untersuchung der möglichen Implikationen der Sterblichkeit keine schweren argumentativen Lasten tragen. In Abschnitt 2.3, in dem ich zunächst die Persönlichkeitsveränderung sterblicher Personen im Laufe ihres Lebens untersuche, argumentiere ich dafür, dass die positiven Aspekte dieser Entwicklung auch im Leben einer Unsterblichen vorkommen könnten. Diese Argumentation basiert nicht auf der Übertragung der empirischen Erkenntnisse über sterbliche auf die Psyche unsterblicher Menschen, sondern in erster Linie auf einem deskriptiven Gedankenexperiment, in dem ich zeige, dass eine solche Entwicklung der Persönlichkeit nicht notwendigerweise mit der Sterblichkeit verknüpft ist. Die psychologischen Spekulationen darüber, in welcher Weise sich die Persönlichkeiten unsterblicher Personen im Laufe ihres Lebens verändern würden, dienen lediglich der Illustration dieses Gedankenexperiments.

1.3 Die Beschaffenheit der Sterblichkeit

Bei der Sterblichkeit handelt es sich um eine dispositionale Eigenschaft, die sich nur unter bestimmten Bedingungen – etwa zerstörerischen Einflüssen auf den menschlichen Organismus – manifestiert. Eine dispositionale, nichtmanifeste Eigenschaft kann selbst nur sehr eingeschränkt kausalen Einfluss auf das Leben der Person ausüben – sie kann allenfalls den Tod der Person, aber wahrscheinlich nichts darüber hinaus verursachen. Aus diesem Grund muss, wenn die Frage nach den Implikationen der Sterblichkeit untersucht werden soll, zwischen der Sterblichkeit und dem Bewusstsein von der Sterblichkeit unterschieden werden. Das Bewusstsein der Sterblichkeit liegt bereits während des Lebens vor, auch dann, wenn das Sterben noch nicht angefangen hat und das Todesereignis noch in entfernter Zukunft liegt. Daher kann das Sterblichkeitsbewusstsein bereits während des Lebens kausal wirksam sein.

Der Begriff des Bewusstseins kann auf verschiedene Weisen verwendet werden.[25] Bei der Rede vom Bewusstsein der Sterblichkeit wird der Bewusstseinsbegriff transitiv oder intentional verwendet. Transitives oder intentionales Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas; insofern ist das Bewusstsein der Sterblichkeit immer das Bewusstsein von einer bestimmten Tatsache (dem Vorliegen einer bestimmten Eigenschaft). Beim Sterblichkeitsbewusstsein handelt es sich um das Bewusstsein von der Tatsache der eigenen Sterblichkeit, ohne dass Wissen von dieser Tatsache vorliegen muss in dem Sinn, dass die Person bestimmte epistemische Standards erfüllt.[26]

Hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit besteht ein relevanter Unterschied zwischen solchen Personen, die davon überzeugt sind, dass ihr Leben zum Zeitpunkt ihres biologischen Todes unwiderruflich endet (in dem Sinn, dass der Tod das Ende jeglichen personalen Lebens darstellt), und denjenigen, die von einer Fortexistenz nach dem biologischen Tod in irgendeiner Form ausgehen. Eine Person, die von einer Fortsetzung ihres Lebens nach ihrem eigenen biologischen Tod überzeugt ist, könnte sich etwa im diesseitigen Leben anders verhalten, weil sie damit rechnet, dass ihre Handlungen nach ihrem Tod im Jenseits unter moralischen Gesichtspunkten von einer höheren Instanz bewertet werden.

Auffassungen über den biologischen Tod, die den Glauben an irgendeine Form personaler Fortexistenz beinhalten, werde ich im Rahmen dieses Buches nicht berücksichtigen. Der Hauptgrund dafür ist die Vielzahl verschiedener Überzeugungen über die Beschaffenheit des Lebens nach dem Tod und des Jenseits, die jeweils ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Lebensführung der Person mit sich bringen können.[27] Ein weiterer Grund dafür, die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod und entsprechende Überzeugungen nicht zu berücksichtigen, sind die zahlreichen inhaltlichen Probleme solcher Auffassungen. So vertritt derjenige, der von einer Fortexistenz des Lebens nach dem biologischen Tod ausgeht, häufig auch einen Substanzdualismus, der besagt, dass eine immaterielle Seelensubstanz von der Materie des Körpers unabhängig existieren kann.[28] Oft liegen einem solchen Glauben an die Fortexistenz der Seele nach dem biologischen Tod religiöse Überzeugungen zugrunde, innerhalb deren der Glaube an das Leben nach dem Tod durch andere Annahmen (zum Beispiel über das Wesen eines Gottes) gestützt werden kann. Ein solcher Substanzdualismus wird in der gegenwärtigen Philosophie aus verschiedenen Gründen nur noch selten vertreten.[29] Aus diesen Gründen beschränke ich mich im Rahmen dieser Arbeit auf diejenigen Auffassungen, die den Tod als das Ende der personalen Existenz betrachten.

Relevant ist die Frage nach dem Bewusstsein der Sterblichkeit etwa hinsichtlich der Verdrängungsmechanismen, die für das Todesbewusstsein eine Rolle spielen und die ich vor allem im Rahmen des Bewältigungsargumentes (Abschnitt 3.3) untersuche. Wenn eine Person die Tatsache ihrer eigenen Sterblichkeit effektiv verdrängt, kann man ihr dann noch ein Bewusstsein dieser Tatsache zuschreiben? Diese Frage ist nicht zu beantworten, ohne genauer zu beleuchten, wie der Begriff des Bewusstseins in diesem Zusammenhang verwendet wird. Darüber hinaus fordert das Authentizitätsargument, das ich im vierten Kapitel diskutiere, dass eine Person sich ihre Sterblichkeit auf besondere Weise bewusst macht, um ein authentisches Leben führen zu können. Heideggers Überlegungen, auf denen dieses Argument basiert, machen deutlich, dass das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit mit einer besonderen Intensität verbunden sein kann. Diese Intensität charakterisiert Jerry Valberg wie folgt: »Es ist eine Sache, über die Tatsache, dass ich sterben werde, nachzusinnen oder daran zu denken; und etwas anderes, wenn mir diese Tatsache tatsächlich bewusst wird. Die Tatsache wird mir dann bewusst, wenn ich von ihrer Bedeutung überwältigt bin […].«[30] Die Möglichkeit der Verdrängung sowie Annahmen wie diejenige, dass das Bewusstsein der Sterblichkeit die Person in ausgezeichneter Weise betreffen kann, erzwingen eine Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise Personen ihre eigene Sterblichkeit bewusst ist und in welcher Form sie bewusst gemacht oder aus dem Bewusstsein verdrängt werden kann.[31]

Die Art und Weise, in der eine Person sich ihrer Sterblichkeit mehr oder weniger bewusst sein kann, betrifft verschiedene Bereiche. So können Überzeugungen etwa entweder okkurrent oder dispositional sein. Okkurrente Überzeugungen sind solche, die sich in einem Gedanken manifestieren.[32] Demgegenüber kann man eine dispositionale Überzeugung einer Person auch dann zuschreiben, wenn sie in diesem Moment keinen Gedanken hat, der diese Überzeugung manifestiert. So werden etwa Überzeugungen wie diejenige, dass 568 eine größere Zahl ist als 14, von den meisten Menschen auch zu einem Zeitpunkt geteilt, zu dem sie keinen entsprechenden Gedanken haben. Hinsichtlich des Unterschieds zwischen dispositionalen und okkurrenten Überzeugungen könnte ein besonderes Bewusstsein der Sterblichkeit etwa darin bestehen, dass man gegenwärtig – oder besonders häufig – Gedanken hat, die die eigene Sterblichkeit thematisieren. Eine Person, die ihre Sterblichkeit verdrängt, hat demnach nur eine dispositionale, nicht jedoch eine okkurrente Überzeugung von der Tatsache, dass sie sterblich ist. Bei der Frage, wie ein besonderes Bewusstsein der Sterblichkeit beschaffen sein kann, spielt diese Unterscheidung also eine Rolle, indem sie etwa die Tatsache erklären kann, dass auch verdrängte – also lediglich dispositionale – Überzeugungen für das Leben einer Person von Bedeutung sein können. Valbergs Charakterisierung des besonderen Sterblichkeitsbewusstseins, die nicht nur einen manifesten Gedanken, sondern echte Betroffenheit fordert, wird sie jedoch nicht vollends gerecht.

Zur Beantwortung der Frage, wie eine Person sich ihrer Sterblichkeit in besonderem Maße bewusst sein oder wie sie diese aus ihrem Bewusstsein verdrängen kann, ist auch Ned Blocks Unterscheidung zwischen Zugangsbewusstsein und phänomenalem Bewusstsein gewinnbringend. Unter zugangsbewussten Überzeugungen versteht Block solche Informationen, die für rationale Sprechakte oder Handlungen oder als Prämisse eines Arguments verfügbar sind. Demgegenüber bezeichnet das phänomenale Bewusstsein die qualitative Seite einer Erfahrung, ermöglicht also eine Aussage darüber, »wie es ist«, in einem bestimmten Zustand zu sein. Phänomenales Bewusstsein kann dabei ohne Zugangsbewusstsein vorliegen. Eine lediglich phänomenal, nicht jedoch zugangsbewusste Information ist von anderen Überzeugungen isoliert, sodass sie für Argumentationen oder Sprechakte nicht zugänglich ist.[33] Um also eine Rolle im Leben einer Person zu spielen, etwa indem sie in Gedanken, Sprechakten oder Argumentationen verwendet wird, muss das Bewusstsein – die Überzeugung – der eigenen Sterblichkeit einer Person zumindest zugangsbewusst sein. Das »Bewusstmachen« der Sterblichkeit kann nach dieser Unterscheidung darin bestehen, dass die Überzeugung von einem bloß phänomenalen in einen zugangsbewussten Zustand überwechselt. Die Verdrängung der Sterblichkeit äußert sich demnach im Bestreben, die Überzeugung der eigenen Sterblichkeit von anderen Überzeugungen zu isolieren.

Valberg scheint es in seiner Charakterisierung des intensiven Sterblichkeitsbewusstseins jedoch um noch mehr zu gehen: Auch eine Person, die sich mit ihrer Sterblichkeit philosophisch auseinandersetzt (deren Überzeugung in Blocks Sinn also zugangsbewusst sein muss), muss vom Faktum ihres eigenen zukünftigen Todes noch nicht bewegt oder betroffen sein. Diese Betroffenheit lässt sich aber durch die Unterscheidung zwischen einer kognitiven und einer affektiven Ebene des Bewusstseins erhellen. Eine Überzeugung, die zugangsbewusst im Sinne Blocks ist, ist kognitiv bewusst, ohne zwangsläufig mit einer emotionalen Einstellung verbunden zu sein. Emotionen scheinen jedoch eine wichtige Rolle zu spielen, wenn Valberg und andere Philosophen davon sprechen, dass eine Person vom Faktum ihres Todes in besonderer Weise betroffen ist – entsprechend bezeichnet Valberg die Aussicht auf den eigenen Tod dann, wenn sie besonders intensiv ist, als beunruhigend,[34] und Heidegger bestimmt die angemessene Reaktion auf das echte Bewusstsein des eigenen Todes als Angst.[35] In diesem Sinn liegt erst dann ein maximales Bewusstsein der Sterblichkeit vor (das zum Beispiel die authentische Lebensführung gemäß dem Authentizitätsargument möglich macht), wenn das Bewusstsein des Todes nicht nur mit anderen Überzeugungen in Verbindung steht und damit eine Rolle als Prämisse in Argumenten spielen kann, sondern wenn es darüber hinaus affektiv wirksam ist und von Emotionen wie Beunruhigung oder Angst begleitet wird.[36]

Das Bewusstsein der Sterblichkeit kann also in verschiedenen Hinsichten mehr oder weniger intensiv sein. Auf Basis dieser Spektren können Thesen verstanden werden, die besagen, dass das Sterblichkeitsbewusstsein kausal wirksam ist, obwohl die Person es verdrängt, oder dass eine Person sich ihre Sterblichkeit in besonderer Weise bewusst machen muss, um ihr Leben aus einer bestimmten Perspektive betrachten zu können.

Wenden wir uns nun wieder dem Begriff der Sterblichkeit selbst zu. Dieser ist vom Begriff des Todes kaum zu trennen. Der Begriff des Todes wiederum bezeichnet entweder ein Ereignis oder einen Zustand: Mit dem Ereignis des Todes ist der Übergang vom Lebendig- zum Totsein gemeint; der Zustand des Todes bezeichnet die Phase des Totseins, die zeitlich auf das Leben folgt.[37] Als Sterben bezeichnet man demgegenüber den Prozess, der sich am Ende des Lebens ereignet und der in das Todesereignis mündet. Dieser Prozess kann unterschiedlich lang ausfallen und ist unter Umständen nicht eindeutig von vorangegangenen Lebensphasen abzugrenzen.[38]

Anders als die Begriffe »Tod« und »Sterben« bezeichnet der Begriff der Sterblichkeit eine Eigenschaft, die allen Personen während ihres gesamten Lebens zukommt. Es handelt sich dabei jedoch um eine grundlegend andere Eigenschaft als zum Beispiel diejenige, eine Größe oder ein Alter oder einen Stoffwechselkreislauf zu haben, obwohl auch diese Eigenschaften in der aktualen Welt allen Personen zukommen. Wie oben bereits gesagt, handelt es sich bei der Sterblichkeit – anders als bei den genannten Eigenschaften – nämlich um eine Disposition. Dispositionale sind von manifesten Eigenschaften zu unterscheiden. Wenn man eine Aussage darüber trifft, dass eine Person eine bestimmte manifeste Eigenschaft hat, schreibt man ihr eine Eigenschaft zu, die ihr unter normalen Bedingungen oder im Augenblick der Zuschreibung zukommt. Wenn wir über Professor Frißtfrist aussagen, dass er 1,64 Meter groß ist, dann gilt dies in allen (normalen) Situationen und/oder zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Anders verhält es sich mit der Zuschreibung von dispositionalen Eigenschaften. Wenn wir über ein Glas aussagen, dass es zerbrechlich, oder über ein Stück Holz, dass es brennbar ist, treffen wir eine Aussage darüber, wie sich das Glas oder das Holz unter bestimmten Bedingungen – den Manifestationsbedingungen der jeweiligen Disposition – verhalten würde. Mit der menschlichen Sterblichkeit verhält es sich genauso: Wenn wir über eine Person aussagen, dass sie sterblich ist, dann treffen wir eine Aussage darüber, wie sich die Person beziehungsweise ihr Organismus unter bestimmten, schädlichen Bedingungen verhalten würde: »Dispositionen werden definiert durch Konditionale, die aussagen, wie Objekte sich in spezifischen Situationen verhalten würden.«[39]

Während allerdings eine Entität die Disposition, zerbrechlich oder brennbar zu sein, im Augenblick ihrer Manifestation nicht verliert, hört das sterbliche Subjekt mit der Manifestation seiner Sterblichkeit auf zu existieren. Damit kann ihm auch die Eigenschaft der Sterblichkeit zum Zeitpunkt der Manifestation derselben nicht mehr zugeschrieben werden. Darüber hinaus kann sich die Disposition, sterblich zu sein, zwar unter bestimmten externen Bedingungen – extrem schädlichen Einflüssen der Umwelt – manifestieren, dies muss aber nicht der Fall sein – auch intrinsische, also im Organismus ablaufende Prozesse können zum Tod führen.

Im Falle der Sterblichkeit können die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit sich die Eigenschaft manifestiert (und die Person verstirbt und damit alle Eigenschaften verliert), also intrinsischer oder extrinsischer Natur sein. Dass ein Organismus unter diesen Bedingungen zerstört wird und damit eine Person verstirbt, liegt daran, dass die sterbliche Person die Bedingungen erfüllt, von denen abhängig ist, ob ein Lebewesen sterblich ist – die Existenz- oder Vorliegensbedingungen der Disposition. Darüber hinaus ist jedoch auch eine solche Manifestation der Sterblichkeit möglich, die auf den langsamen Verfall des Organismus selbst zurückzuführen ist. Dieser Prozess, die Seneszenz, ist das Phänomen der Alterung, dem alle Menschen in der aktualen Welt ausgesetzt sind.

Unter (biologischer) Alterung[40] versteht man einer gängigen Definition zufolge »die ständige Abnahme der Überlebenswahrscheinlichkeit bewirkt durch intrinsische Prozesse«.[41] Es handelt sich dabei also nicht um eine Krankheit, sondern um einen »normale[n] physiologische[n] Prozess«,[42] der durch verschiedene Veränderungen des Organismus gekennzeichnet ist, die sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lassen.[43] Obwohl die Alterung gemäß dieser Definition also von äußeren Faktoren unabhängig auftritt, zeichnen alternde Lebewesen sich insbesondere durch eine zunehmende Anfälligkeit gegenüber schädlichen äußeren Einflüssen aus. Dass sich das Auftauchen bestimmter Krankheiten im Alter häuft und ältere Menschen grundsätzlich häufiger erkranken, erklärt sich also vermutlich durch das Zusammenspiel von Alterung und extrinsischen Faktoren.[44] Krankheiten, die ausschließlich auf die Alterung zurückzuführen sind und damit ausschließlich als Ergebnis eines intrinsischen physiologischen Prozesses verstanden werden können, sind vermutlich selten.[45]