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Zunächst schien die von Syriza in Griechenland geführte »Regierung der Hoffnung« die radikalste europäische Regierung der jüngsten Geschichte zu sein. Ihr Wahlsieg im Januar 2015 galt vielen als Beweis dafür, dass radikale Veränderungen durch institutionelle Politik erreicht werden können. Doch dann kam eine extreme Kehrtwende der Regierung, die gegen das Votum der Bevölkerung die von der Europäischen Union auferlegte Sparpolitik akzeptierte und sich ihr unterwarf. Dieser dramatische Zerfall des radikalen Anspruchs der Syriza-Regierung zerstörte Hoffnungen in der ganzen Welt, und die Grenzen institutionalisierter linker Politik traten deutlich zutage. Doch auch die außerparlamentarische Bewegung in Griechenland, eine der stärksten der Welt, hat in dieser Situation keine wesentlichen alternativen Perspektiven aufzeigen können. Das wirft tief greifende Fragen auch für diejenigen auf, die eine staatliche Institutionalisierung linker Politik grundsätzlich ablehnen. Gibt es keinen Ausweg aus der Welt der kapitalistischen Zerstörung? Oder hat die Hoffnung auf radikale Veränderungen vielleicht doch eine Chance? Die Aufsätze in dieser Sammlung spiegeln die Erfahrungen mit der Krise in Griechenland und ihre weltweiten politischen Auswirkungen wider und versuchen, radikale Antworten zu geben.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2021
Panagiotis Doulos, John Holloway, Katerina Nasioka (Hg.)
Über die Krise hinaus ...
Weiterdenken nach dem Scheitern der »institutionellen Hoffnung« in Griechenland
aus dem Englischen übersetzt von Michael Schiffmann
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Panagiotis Doulos, John Holloway, Katerina Nasioka (Hg.)
Über die Krise hinaus ...
aus dem Englischen übersetzt von Michael Schiffmann
Titel der Originalausgabe: Beyond Crisis: After the Collapse of Institutional Hope in Greece, What?
© 2020 PM Press
© Auf dem Cover abgebildete Wandmalerei und Foto: Lake, www.lake-oner.de
eBook UNRAST Verlag, Oktober 2021
ISBN 978-3-95405-086-4
© UNRAST-Verlag, Münster 2020
www.unrast-verlag.de – [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort
Desillusionierung. Und doch ...
John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos
Einführung
John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos
EINS
Jenseits der Hoffnung: Aussichten der Commons im Griechenland der Sparpolitik
Theodoros Karyotis
ZWEI
Die Regierung der Hoffnung, die Hoffnung, an der Regierung zu sein, und die Rolle der Wahlen als Wellenbrecher radikaler präfigurativer politischer Prozesse
Leonidas Oikonomakis
DREI
Das Kapital ist die Katastrophe der Menschheit: Wir müssen es brechen. Und wir sind die Katastrophe des Kapitals: Es muss uns brechen. Mit anderen Worten: Griechenland
John Holloway
VIER
Über Antimemorandumskämpfe und Demokratie, die (nicht) kommt
Giorgos Sotiropoulos
FÜNF
Krise, Staat und Gewalt: das Beispiel Griechenlands
Panagiotis Doulos
SECHS
Wessen Leben zählen? Nationalismus, Antifaschismus und die Beziehungen zu den Immigrant*innen
Dimitra Kotouza
SIEBEN
Imperialismus und Internationalismus in der neoliberalen Moderne
Panos Drakos
ACHT
Krise und Negativität: Über das revolutionäre Subjekt in Zeiten der Krise
Katerina Nasioka
NEUN
Anti-Epilog
John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos
Autor*innen
Anmerkungen
Eine enttäuschte Wut geht um in der Welt und droht, uns alle zu zerstören.
Syriza hat die Wahlen von Anfang Juli 2019 verloren. Natürlich hat sie das. Der Sturz der Partei machte den Weg frei für die Rückkehr der rechtsgerichteten Neuen Demokratie, und zwar auf der Basis eines aggressiveren Programms als je zuvor.
Linke oder nach links tendierende Regierungen haben eine große Verantwortung. Es geht dabei nicht nur darum, dass sie uns enttäuschen können; es geht um viel mehr. Sie bedienen sich der Hoffnung und der Wut der Menschen und machen daraus Niederlagen und Desillusionierung. Aber diese Enttäuschung tötet die Wut nicht, sondern lenkt sie in eine neue Richtung, und diese Richtung ist oft erschreckend und treibt Politik und Staatsgewalt zu Extremen, die man sich vor zehn oder zwanzig Jahren kaum hätte vorstellen können. In den Vereinigten Staaten war es Obama, der enttäuschte und so dem barbarischen, kriegstreiberischen Schwachkopf Trump den Weg ebnete. In Brasilien waren Lula (und später Dilma) eine Enttäuschung und ermöglichten so den Aufstieg des unvorstellbar grässlichen Bolsonaro an die Macht. Und in Griechenland hat Tsipras, nach all seinen Versprechungen einer radikalen Regierung der Hoffnung, diese Hoffnung mit seiner auf das Referendum von 2015 folgenden politischen Kehrtwende zerstört und der wiedererstarkten Neuen Demokratie die Tür geöffnet.
Das ist nicht das alte Spiel des Wechsels zwischen ›linken‹ und ›rechten‹ Regierungen, das früher als Merkmal einer gesunden Demokratie verstanden wurde. Seit 2008 hat sich das Spiel verändert. Das gewaltige Aufwallen von Wut überall auf der Welt in Reaktion auf den Zusammenbruch des Finanzsystems und in noch viel höherem Maß auf die Versuche zur Rettung dieses Systems, verleiht den politischen Konflikten eine neue Schärfe. Diese Wut richtete sich in höchst unterschiedlichen Formen gegen die etablierten Machtstrukturen. Ein Teil der Wut wendete sich nach links und forderte radikale Veränderungen im System, doch ein anderer Teil driftet nach rechts und ruft nach starken Führern, starken nationalen Grenzen, der Ausgrenzung von Ausländer*innen, der Verstärkung von Kontrolle, Autorität und ›rassischer Reinheit‹. Es mag der institutionellen Linken manchmal gelingen, den ersten Typ von Wut in Wahlsiege und Hoffnungen auf eine echte Veränderung umzumünzen, wie es bei Syriza der Fall war. Aber diese Linke hat sich an den Staat und an die Reproduktion des Kapitals gebunden und muss die Hoffnungen, deren Erfüllung sie versprochen hat, daher unvermeidlich verraten, und darauf folgt die Desillusion. Diese enttäuschte Wut kann sich dann leicht nach innen zurückziehen und fortan die Augen schließen oder nach rechts schwappen, um nationalistisch-autoritäre Lösungen zu unterstützen. Und diese ›Lösungen‹ führen zu unermesslichem Elend und bringen uns der Vernichtung der menschlichen Existenz einen Schritt näher, und das vielleicht in nächster Zukunft.
Die Desillusion ist Resultat des Handelns der institutionalisierten Linken. Und doch … Wenn wir einfach nur der Linken die Schuld geben, weil sie nicht die Rolle spielt, ›für die sie gemacht ist‹, geben wir keine Antwort auf den gegenwärtigen Rückgang der antikapitalistischen Kämpfe, die gesellschaftliche Entmobilisierung und die Rückkehr der ›Recht-und-Ordnung‹-Doktrin der Rechten überall auf der Welt. Wir stellen ein und dieselbe Frage nur anders. Dieses Buch verfolgt von Anfang an das Ziel, weiterzugehen als Syriza und über die bloße Neuformulierung der Frage hinauszugelangen. Wir vertreten hier den Standpunkt, dass wir, wenn wir der Hoffnung und der Wut, die so viele von uns erfüllt, gerecht werden wollen, mit der erstickenden Logik der institutionellen Linken, mit den linken Parteien und mit der Idee brechen müssen, es käme lediglich auf eine gerechtere Verteilung und bessere Sozialsysteme und eine veränderte Balance zwischen lokaler und zentraler Politik an. Wir brauchen eine grundlegendere Veränderung, wenn wir die enttäuschte Wut besiegen wollen, die uns alle zu vernichten droht.
Was können wir tun? Die ewige Frage – aber es gibt für die menschliche Existenz keine Ewigkeit, nur eine vermutlich immer kürzer werdende Zeitspanne des Lebens auf der Erde. Was können wir tun? Lest das Buch und schickt uns eure Antworten.
John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos
Athen und Puebla, Juli 2019
John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos
»Die Hoffnung kommt.« Und jetzt ist die Hoffnung verschwunden und hat eine Spur der Enttäuschung und Depression hinterlassen. Die Krise ist da. Der Sturm ist da und mit voller Wucht ausgebrochen.
Ist das alles? War das, was verschwunden ist, wirklich Hoffnung? Oder war es eine Illusion, die jetzt echter Hoffnung Platz macht? Oder sollten wir uns einfach mit der Depression abfinden?
»Die Hoffnung kommt.« Das war der Slogan, mit dem Syriza die griechischen Wahlen vom 25. Januar 2015 gewann. Dieser Sieg führte zu einem Bruch mit dem Zweiparteiensystem (PASOK-Neue Demokratie), das das politische Leben Griechenlands seit dem Fall der Diktatur 1974 bestimmt hatte. Man erwartete, dass Syrizas Aufstieg zur Macht einen neuen Typ von Politik – und nicht einfach nur eine ›neue Politik‹ – bringen würde, der der entstandenen radikalen Lage angemessen war. Und tatsächlich gelang es Syriza eine Zeitlang und, verglichen mit anderen Linksregierungen, mit sehr wenigen Abstrichen, eine militante Rhetorik beizubehalten. So wurde die von Alexis Tsipras geführte Syriza-Regierung zum ›Liebling‹ der internationalen Linken. Griechenland stand weltweit im Rampenlicht und zahlreiche Intellektuelle strömten ins Land, um der Regierung der Hoffnung ihre politische Unterstützung zu bekunden. Dann kamen das Juli-Referendum, das massive Nein und der Jubel darüber. Und danach – Entsetzen, der Zusammenbruch der Hoffnung.
Aber gehen wir ein wenig zurück zu einer Zeit vor dem institutionellen Datum der Wahlen vom 25. Januar 2015; reisen wir zurück zu einem explosiven, anti-institutionellen Datum, nämlich dem 6. Dezember 2008. An diesem Tag wird Alexis Grigoropoulos von einem Polizisten in Uniform niedergeschossen und stirbt – ein weiterer Toter im body count der Demokratie. Die Revolte, die daraufhin ausbricht, verändert die Erfahrung des Widerstandes in Griechenland für immer. Sie eröffnet einen riesigen Zyklus von Fragen und Praktiken, bei denen es sich darum dreht, herauszufinden, wie wir die Dinge verändern, wie wir unser Leben in die eigene Hand nehmen können – aber vor allem, wie unser Leben aussehen soll, wenn wir Letzteres erst einmal getan haben. Wut auf die Erbärmlichkeit des Kapitals, des Geldes, des Staats, des Patriarchats, der Institutionen, der politischen Vertretung und der all dem entsprechenden sozialen Rollen. All das explodiert, als die Welt wegen des Ausbruchs der vom Bankrott des Bankgiganten Lehmann Brothers ausgelösten globalen Krise beginnt, in Panik zu geraten. Erst Monate zuvor, am 15. September 2008, waren die Bilder dieses Crashs um die ganze Welt gegangen. Die, die behaupteten, die griechische Revolte von 2008 sei ein ›isoliertes‹ lokales Ereignis gewesen, und so den Zusammenhang verleugnen, in dem sie mit dem weltweiten Angriff des Kapitals steht, sind dieselben, die jetzt vom ›griechischen Experiment‹ sprechen.
In den Jahren danach begann und endete in Griechenland ein Zyklus von Kämpfen – oder besser gesagt, begannen und endeten mehrere Zyklen mehr oder weniger intensiver Kämpfe (wie Leonidas Oikonomakis uns in seinem Kapitel vorrechnet, 42 Generalstreiks von 2010 bis 2015 und 31 massive Protestereignisse von 2010 bis 2012). Die Ankündigung harter wirtschaftlicher Maßnahmen und Griechenlands Inanspruchnahme des gemeinsamen Unterstützungsmechanismus von IWF und EU brachten Tausende von wütenden Menschen auf die Straßen. Im Folgenden bringen wir nur einige ausgewählte Daten, um ein Gefühl für die wachsende soziale Empörung zu vermitteln, der die griechische Gesellschaft in den letzten Jahren Ausdruck verliehen hat. Am 5. Mai 2010 kommt es während des massiven landesweiten Streiks, der auf die Ankündigung des ersten Pakets von Sparmaßnahmen (des ersten ›Memorandums‹) folgt, in der tödlichen Falle der Zentrale der Marfin Bank in der Stadiou-Straße mitten in Athen zum Tod dreier Menschen. Am 28. und 29. Juni 2011 führen massive Proteste im Zentrum Athens während der Abstimmung über das ›Mittelfristige Programm‹ sowie Zusammenstöße auf dem Syntagma-Platz und um ihn herum und Versuche zu einer Blockade des Parlamentsgebäudes zu harter Polizeirepression; der griechischen Presse zufolge wurden binnen zweier Tage fast 2.200 Tränengas- und Blendgranaten eingesetzt. Am 12. Februar 2012 geht Athen im Lauf einer Demonstration gegen die Verabschiedung des zweiten Memorandums in Flammen auf, die Zusammenstöße mit der Polizei sind fast so heftig wie im Dezember 2008, 93 Gebäude im Stadtzentrum werden beschädigt, 76 Menschen müssen ins Krankenhaus eingeliefert werden und mindestens 80 weitere kommen in Haft. Dennoch werden alle Maßnahmen vom griechischen Parlament verabschiedet. Die Wut weicht der Verzweiflung.
In der gleichen Periode führten wiederholte Wahlen zu einer Abfolge kurzlebiger Regierungen, die die Zwickmühle und die Agonie widerspiegelten, in der sich das politische und wirtschaftliche Establishment befand, das immer wieder versuchte, den Widerstand auf der Straße zu brechen und ihn auf den Weg des Kompromisses zu steuern: Wahlen. Der Wechsel zwischen Repression und dem Schüren von Hoffnung auf Wahlen bildete den Doppelpfeiler einer Strategie, die auf die Milderung des sozialen Drucks und die Entmobilisierung militanter Aktionen abzielte (ganz ähnlich dem, was unter den Kirchner-Regierungen in Argentinien, aber auch in anderen Ländern Lateinamerikas und rund um die Welt geschah). Das Versprechen, zu den ›guten alten Tagen‹ des ›freundlichen Staates‹ der ›Linken des Kapitals‹ zurückzukehren, hätte selbst Keynes dazu gebracht, in seinem Grab laut aufzulachen, aber es fiel dennoch nicht auf taube Ohren. Von den Wahlen von 2009 bis zum Wahlsieg Syrizas 2015 stieg der Stimmenanteil der Partei rasant von 4,9 Prozent auf 36,34 Prozent an. Unterdessen waren die privaten Schulden des Landes mittels der berühmten ›Rettungsaktion‹ in Staatsschulden verwandelt worden, was das ›Schiff‹ Griechenland in den Hafen des IWF steuerte und aufgrund der Reaktion der Gesellschaft auf die Annahme des ersten Memorandums zum Rücktritt der PASOK-Regierung führte. Fernere Ereignisse waren: Die von Lucas Papademos geführte Drei-Parteien-Regierung von 2010, die im Februar 2012 für das zweite Memorandum stimmte, die Wahlen vom 6. Mai 2012, bei denen Syriza mit 16,78 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz kam, während die größte politische Kraft des Landes, die Neue Demokratie (ND), mit nur 18,85 Prozent keine Regierung bilden konnte, die erneuten Wahlen vom 17. Juni 2012, die ein weiteres Mal zum Sieg der Rechten und der ND (29,7 Prozent) und zur gemeinsamen Regierung von ND, PASOK und der Demokratischen Linken führten. Die einstmals mächtige PASOK, die das politische Zentrum repräsentierte, stürzte von 43,92 Prozent 2009 auf 12,3 Prozent im Juni 2012 ab. Gleichzeitig zog die rechte Partei Goldene Morgenröte, eine bekanntermaßen neofaschistische Organisation mit einer langen Geschichte mörderischer Anschläge und rassistischer Angriffe auf Immigrant*innen, mit 7 Prozent ins Parlament ein. All das geschah nicht lange vor dem Wahlsieg Syrizas, zu einer Zeit, zu der, wie es Dimitra Kotouza in ihrem Kapitel in diesem Buch darlegt, die Krise zu einer Konvergenz von rechten und linken Varianten des Patriotismus und Nationalismus gegen ausländische Intervention und Gängelung führte.
Dann gewann Syriza die Wahlen von 2015. Zu den Wahlversprechen der Partei gehörten die Anhebung des Mindestlohns auf dessen Höhe vor den Memoranden, die Wiedereinführung von Tarifverträgen und der Schutz des Sozialstaats. Diese Programmpunkte steckten den Rahmen für den ›radikalen Diskurs‹ der ›ersten Regierung der Linken‹ ab. Die dazugehörige Rhetorik verstand sich als realistisch, vernünftig und dem ›europäischen Geist‹ entsprechend: Es wurde suggeriert, über Verhandlungen könne man einen ›ehrenvollen Kompromiss‹ mit den ›Institutionen‹ erreichen. Aber die Verhandlungen degenerierten bald zum Spektakel. Wir wurden zu Zeug*innen einer monatelangen Flut von Schlagzeilen und Medienereignissen, die schließlich im Referendum vom 5. Juli gipfelten. Obwohl das Resultat des Referendums – entgegen sämtlicher Prognosen und der massiven Propaganda der Mainstreammedien – ein ›Nein zur Fortsetzung der Sparprogramme war‹, stimmte die Syriza-Regierung am 13. Juli 2015 einer neuen Version des anvisierten Abkommens, nämlich dem dritten Memorandum zu. Das Dogma »There is no alternative« erlebte seine Rückkehr, als die ›Regierung der Hoffnung‹ auf die Mauer der Realität prallte. Die Hoffnungen auf das System wurden zerschmettert, es folgte eine massive Depression.
Und jetzt? Wohin gehen wir jetzt? Wie sollen wir die Scherben kitten? Was können wir aus dem zerstörten Traum noch retten? Auf der einen Seite haben wir die enorme, unübersehbare Niederlage der institutionellen Linken: Die vorgeblich radikaleren Parteien der neuen ›Linken‹ in Westeuropa (Podemos, die Linke, die Labour Party unter Jeremy Corbyn, die Piraten und so weiter) nahmen an Einfluss zu oder gewannen Wahlen (und in Griechenland gewannen sie dank der enthusiastischen Unterstützung der Bevölkerung sogar ein Referendum), aber dann, im Fall Griechenlands, machten sie sich daran, die reaktionärsten und repressivsten Aspekte der Politik Europas umzusetzen. Ein wahres Bild der Verwüstung. Der Staat ist nicht länger das Gegengewicht, das das Seil der Ausbeutung gespannt hält. Das Seil ist gerissen und die Arbeiter*innen befinden sich im freien Fall; sie stürzen in Not und Elend, begleitet von einer kräftigen Dosis an Repression. Niemand empfindet sich mehr als Teil der Institutionen der Solidarität, Institutionen, die bis vor Kurzem den Grundpfeiler der Forderungen der Arbeiterbewegung gebildet hatten.
Der Misserfolg der institutionellen Linken bei der Wiederherstellung der Institutionen der Vermittlung zwischen Wirtschaft und Politik sowie zwischen der Produktion von Reichtum und der Reproduktion des menschlichen Lebens zeigt uns eine einfache Wahrheit: Diese Vermittlung war schon immer auf Sand gebaut. Die herzzerreißenden Stimmen der Anhänger*innen Syrizas, die nun die Bevölkerung aufrufen, die Unvermeidlichkeit des ›ehrenvollen, aber schmerzlichen Kompromisses‹ einzusehen, der angeblich ein paar Bruchstücke des gefallenen Traums vom Sozialstaat retten wird, zeigen, wie sehr genau diese Stimmen sich von dem Realismus entfernt haben, den uns die Realität enthüllt. Sie zeigen auch, wie sehr sie die historische Rolle der Sozialdemokratie als Vermittlerin zwischen Arbeit als Kostenfaktor und Arbeit als Investition, zwischen Arbeiter*innen als Produzent*innen von Mehrwert und Arbeiter*innen als Partner*innen abgeschrieben haben. Das ist ein Mechanismus, der für das Kapital nicht mehr profitabel ist und daher abgeschafft wurde. Der Sozialstaat konnte den Kapitalismus nicht retten. Und dasselbe gilt für den neoliberalen Staat. Das ist nicht schwer zu verstehen. Kein Referendum kann die Entscheidungen der Aktienmärkte annullieren und kein Staat kann innerhalb seiner eigenen Grenzen die Krise des Finanzkapitalismus aufhalten. Beschäftigte von Amazon in Schottland schlafen in Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, zum Arbeitsplatz zu pendeln. Damit geht es ihnen genau wie Tausenden von Immigrant*innen in Griechenland, Tausenden von US-Bürger*innen, die ihre Häuser verloren haben, und all den Bewohner*innen der Elendsviertel der heutigen Metropolen der Welt.
Aber das ist keine Zeit, in der die anarchistische oder autonomistische Bewegung in Jubel ausbrechen und verkünden sollte: »Wir haben es euch doch gesagt. Wir haben euch gesagt, dass mit dem Staat keine radikale Veränderung erreicht werden kann.« Dies ist keine Zeit zur Freude, und zwar genau deshalb, weil das Scheitern Syrizas nur ein weiteres Scheitern überdeckt. Was ist nach 2008 mit der Welle sozialer Kämpfe, der Eruption von Aufbau-und-Zerstörung geschehen? Diese Welle hielt mit all ihren Aufs und Abs ein paar Jahre lang an, aber wo ist sie jetzt?
Tatsächlich erreichten der Widerstand und die Revolte, die sich im Dezember 2008 und in der Zeit danach entwickelten, eine beträchtliche Dimension und Radikalität. Eine Großzahl der Teilnehmer*innen erlebte hier Dinge, die aus den Annalen der Revolutionsgeschichte überliefert sind: Zusammenstöße mit der Polizei, massive Beteiligung der Bevölkerung, Versammlungen von Tausenden von Menschen auf den Plätzen und kollektive Prozesse der Selbstorganisierung, die ein breites gesellschaftliches Spektrum miteinbezogen und Griechenland in das Epizentrum der weltweiten sozialen Unruhe verwandelten. Aber dennoch schafften sie es nicht, auch nur einen noch so kleinen (reformerischen) Sieg zu erringen. In dieser Hinsicht ist Griechenland kein Sonderfall; es gibt hier nichts Besonderes, das erklären würde, was tatsächlich überall auf der Welt geschieht: Der Ausnahmezustand ist heute die Norm. Das Kapital herrscht. Die Sparmaßnahmen, auf denen die Regierungen der Eurozone beharren, um der griechischen Bevölkerung klarzumachen, dass sie sich vor dem Gott des Geldes beugen muss, werden auch weiterhin umgesetzt.
Der parlamentarische Aufschwung Syrizas in den Monaten und Jahren vor dem Urnengang von 2015 kann zum Teil als Reaktion auf die Beschränkungen antistaatlicher Bewegungen verstanden werden. Der Zwischenraum, der sich zwischen dem immer intensiveren neoliberalen Angriff und einem geschwächten antikapitalistischen Widerstand auftat, war genau der ›Ort‹, der dann von der von Syriza geweckten parlamentarischen ›Hoffnung‹ besetzt wurde. Eine doppelte Katastrophe: nicht nur der desaströse Zusammenbruch der institutionellen Linken, sondern auch das Scheitern der Bemühungen der außerinstitutionellen, anarchistischen und autonomen Linken, einen effektiven Angriff auf die Herrschaft des Geldes zu organisieren. Alle derartigen Versuche wurden durch die Gewalt des Geldes oder der Repression gestoppt oder sehen sich beständig mit Dezimierung, Problemen, Widersprüchen und inneren Konflikten konfrontiert. Zusammen mit ihnen verschwanden auch weitere Pläne und Diskussionen von der Bildfläche: Welche Form oder Richtung sollte der antikapitalistische Widerstand annehmen, wie sollte er organisiert werden, wie sollte seine Organisation oder sein Programm aussehen, wie sollte sein kollektives Subjekt zusammenkommen und wer wäre oder ist dieses Subjekt? An dem Ort, der bis vor Kurzem von dem verbindenden Element des vereinigten Subjekts besetzt war, das bis jetzt aus irgendeiner Form von politischem Programm zu bestehen schien, befindet sich jetzt eine Leerstelle: Versuche der sozialen Organisierung bemühen sich atemlos, mit dem rasenden Rhythmus Schritt zu halten, der ihnen von der vereinheitlichenden Macht des Geldes diktiert wird. Das Geld herrscht mit großer Arroganz. Das Kapital herrscht und es ist dabei, die Menschheit zu vernichten. Jetzt sind wir es, die das Kapital vernichten müssen.
Wie also setzen wir die Scherben neu zusammen? Welche Richtung sollten wir von jetzt an einschlagen? Wie sollen wir deuten, was passiert ist, und wie lernen wir daraus? Das ist das Hauptthema dieses Buchs. Die dringliche Aufgabe ist daher jetzt, über die Krise hinauszudenken, von der Wut, dem Schmerz, der Bitterkeit und der Enttäuschung aller Illusionen und selbst der Erfahrungen dieser Jahre ausgehend zu denken. Was in Griechenland geschah und geschieht, ist nicht viel anders als das, was auf der ganzen Welt vor sich geht: Die schmerzlichen und oft gewaltsamen Angriffe auf die Bedingungen der Existenz (menschlicher wie nicht-menschlicher Lebensformen) werden im Namen der Schulden gerechtfertigt. Griechenland ist nur ein besonders dramatisches Beispiel für einen breiteren Konflikt, der sich seit dem Crash von 2008 intensiviert hat und sich wahrscheinlich so lange weiter zuspitzen wird, wie das Kapital die dominante Form der gesellschaftlichen Organisation bleibt. Angriff, Widerstand, manchmal Revolte, immer Repression, häufige Niederlagen, die Eskalation von Empörung und Wut, und überall entstehen dieselben Fragen: Wie kommen wir hier raus? Wie überwinden wir die Depression, die wie eine giftige Wolke über uns hängt? Wie zerbrechen wir das System, das dabei ist, uns zu zerstören?
Über die Krise hinauszudenken, bedeutet, sich von der Lähmung zu befreien, die durch das Bild der Krise als ›biblisches Desaster‹ erzeugt wird, das uns von den ›göttlichen‹ Geboten der Aktienmärkte und ihrer Wasserträger*innen aufdiktiert wird. Es heißt, die Krise nicht als ›Apokalypse‹ zu betrachten, sondern als historisch bedingte Gegebenheit mit einem entscheidend wichtigen Inhalt. Um das zu tun, müssen wir mit dem Denken in Substantiven aufhören und mit dem Denken in Verben beginnen. Wir sollten also nicht von Kapitalkontrollen sprechen, sondern davon, dass das Kapital uns kontrolliert und uns Beschränkungen aufzwingt. Es geht hier nicht um fiskalische Anpassungs- oder Konsolidierungsmaßnahmen, sondern darum, ›die eigenen Aktivitäten dort, in Griechenland, stärker an die Anforderungen der Expansion des (zukünftig) produzierten Wertes anzupassen‹. Anders gesagt erscheint die Expansion des Wertes als unantastbares universales Ziel, während das ›Heilmittel‹ für die Krise die Gestalt der Opfer annimmt, die gebracht werden müssen, um die kapitalistische Maschine zufriedenzustellen. So haben die heute propagierten Gebote einen üblen, autoritären Beigeschmack, auch wenn er durch den mystischen Charakter des politischen Realismus ein wenig abgemildert wird. Die Gebote der bürgerlichen Moralprediger*innen sind keineswegs zufällig gewählt: »Ihr habt die ganze Zeit über eure Verhältnisse gelebt. Jetzt ›tanzt‹ zum Rhythmus der Wirtschaft, macht euch wettbewerbsfähig und vor allem: Protestiert nicht. Das hier ist euer Schicksal, es gibt keinen anderen Weg. Mit anderen Worten: Haltet den Mund und arbeitet.« Den neuesten Daten der OECD von 2014 zufolge liegt Griechenland hinsichtlich der Zahl seiner jährlichen Arbeitsstunden hinter Mexiko, Costa Rica und Südkorea auf dem vierten Platz.
Die Analysen, die versuchen, die griechische Schuldenkrise auf Grundlage der Besonderheiten des Euros oder der politischen Vorherrschaft dieses oder jenen Staates über diesen oder jenen anderen, etwa Deutschlands über Griechenland, zu verstehen, können offenbar nicht über die Wechselfälle kapitalistischer Herrschaft hinausdenken. Der Kapitalismus selbst bleibt dadurch in gewisser Hinsicht unberührt; stattdessen wird das Problem an seinen verschiedenen Ausdrucksformen wie Imperialismus, Neoliberalismus, Sozialismus usw. festgemacht. Die verschiedenen Standpunkte, aufgrund derer diese Formen dann abgelehnt werden, bekommen so den Charakter eines billigen Versprechens: Das Narrativ namens ›Das Problem ist Deutschland‹, das sich auf die deutsche Hegemonie in einer EU konzentriert, in der Griechenland als ›Schuldenkolonie‹ erscheint, führt zur Rückkehr nationalistischer Diskurse mitten in die antikapitalistische Kritik. So rücken die Begleiterscheinung und das kritiklos akzeptierte nationalistische Ideal ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Porträt Griechenlands als Versuchskaninchen, das von den Träumen Nordeuropas versklavt wird, verwandelt das Problem in ein leicht zu verdauendes Narrativ der Ereignisse, das sich auf das politische Defizit, das heißt, das ›Demokratiedefizit‹ konzentriert. Wir halten das für sehr gefährlich, weil es sehr leicht zur Stabilisierung einer Wahrnehmung der Welt (und der Weltereignisse) führen kann, die alles als Konflikt zwischen Nationen deutet, und weil es den Nationalismus verstärkt, der auf so ungemein bedrohliche Art rings um uns herum zunimmt. Die wachsende Prominenz nationalistischer Diskurse zeigt sich im sprunghaften Wachstum rechtsextremer politischer Tendenzen, die ihrerseits mit ihrer eigenen Form von halben Hoffnungen hausieren gehen, deren Realisierung furchtbare Folgen haben würde. Die Drohung eines flächendeckenden Terrors wird in der heutigen Welt (USA, Europa, Lateinamerika) an der Durchsetzung von Kontrolle, der Verwaltung ganzer Bevölkerungen, Gefangenenlagern und der massiven Verbreitung von Angst sichtbar. Die Hoffnung bleibt eine halbe Hoffnung, ein wertvolles Gut, das Wahlversprechungen dient, die die kapitalistische Barbarei und ihre vielfältigen Formen nicht infrage stellen.
Unser Anliegen ist ein anderes. Wir sprechen nicht von der Umstrukturierung der europäischen Staaten oder den Besonderheiten des Euro. Unsere Fragen sind anderer Art: Wie kommen wir nun, da wir all dies erlebt haben, aus dieser Lage heraus? Der Sturm wird stärker, der Angriff intensiver, das Elend noch größer und zugleich wächst die Proletarisierung ohne Arbeit. Aber die Hoffnung auf einen Sturz des Systems, das uns zerstört, rückt nicht näher, nur weil die Lage immer schlimmer wird. Hoffnung wird aus Kampf, Revolte und Widerstand geboren. Genau dabei entwickeln wir verschiedene Wege, etwas zu tun, um die Normalität zurückzuweisen und die einheitliche Logik des Kapitals, die uns kontrolliert und dominiert, zu zerbrechen. Nicht den Einen Weg, nicht die Eine Logik, sondern viele verschiedene. Das ist ein ganz anderer ›Plan‹, einer, der am hellen Nachthimmel des Dezembers 2008 aufleuchtete. Das ist es, was dieses Buch tun möchte. Es möchte keine Antworten geben, sondern, im Sinne eines demokratischen Konsenses, ›einen Dialog eröffnen‹. Genau darum bringt es auch keinen einzelnen, einheitlichen Standpunkt zum Ausdruck. Die Kapitel des Buches stimmen in vielen Punkten nicht miteinander überein und stehen manchmal sogar in Konflikt miteinander. Aber gerade auf diese Weise leisten sie, einander ergänzend, ihre Beiträge zu den Themen, Fragen und selbstkritischen Diskussionen, die für den antikapitalistischen Kampf heute dringlicher sind als je zuvor.
Unser Buch beginnt mit dem Kapitel von Theodoros Karyotis, der den Prozess der Entwicklung der drei wichtigsten ›Pläne‹ oder Imaginären[1] gegen die Sparpolitik und die Krise sowie die Interaktion dieser Pläne miteinander analysiert. Da sind der dominante ›Plan A‹ für eine Reform und Umverteilung innerhalb Europas und der Eurozone, wie ihn Syriza vor und nach den Wahlen, die die Partei an die Macht brachten, propagierte, ›Plan B‹ zum Verlassen der Eurozone und zur Wiederherstellung der nationalen Produktivität, wie ihn ein Teil der Linken verfocht, der zunächst zu Syriza gehörte und sich dann von der Partei abspaltete, und schließlich ›Plan C‹, die unabgeschlossene und widersprüchliche Erfahrung von Basisbewegungen, die sich das Ziel einer Wiederherstellung der Commons setzten, und zwar nicht nur zur Überwindung der Krise, sondern auch, um damit embryonale Formen einer antikapitalistischen Welt zu schaffen.
Kapitel zwei behandelt ganz ähnliche Themen. Leonidas Oikonomakis versucht sich dort an einer analytischen Kritik der Politik linker Regierungen und ihrer Rolle als Wellenbrecher radikaler, präfigurativer gesellschaftlicher Kämpfe. Die gemeinsame Erfahrung Griechenlands, Spaniens und zahlreicher Länder in Lateinamerika wirft ein Schlaglicht auf den Zusammenbruch der ›institutionellen Hoffnung‹, die aber dennoch wichtige Auswirkungen auf die alternativen Projekte hatte, die sich nach dem Ausbruch der lokalen Krise im Jahr 2008 in experimenteller Form entwickelt hatten.
Danach haben wir die Analyse John Holloways, der sich aus einer antagonistischen Perspektive heraus mit der Krise, dem Kapital und dem spezifischen Fall Griechenlands befasst. In seinem Kapitel weist er halbe Hoffnungen zurück und konzentriert sich dabei vor allem auf ein entscheidendes, heute für die Weiterexistenz menschlicher und nicht-menschlicher Lebensformen entscheidendes Dilemma: Wenn wir die Krise des Kapitals sind, dann können wir auch etwas jenseits des Kapitals sein. Wenn das Kapital unsere Zerstörung ist, können wir die Zerstörung des Kapitals sein. Die Erfahrung der (Schulden-)Krise in Griechenland und des Spiels ›Reise nach Jerusalem‹, das in unserer Welt immer hektischer und grauenerregender gespielt wird, zeigt klar, dass es keinen Mittelweg zwischen der Menschheit und dem Kapital gibt, dass Euphemismen und Zwischenkategorien obsolet geworden sind und dass wir mit unseren Hoffnungen nicht auf halbem Weg stehen bleiben können. Das Problem liegt nicht in den unterschiedlichen Ausdrucksformen der Barbarei und der immer intensiver werdenden Angriffe des Kapitals. Das Problem ist das Kapital selbst. Und unsere Aufgabe besteht darin, es zu zerbrechen, die Herrschaft des Geldes zu zerbrechen, Nein zum Kapital zu sagen.
Kapitel vier und fünf setzen sich kritisch mit den Formen von Staat und Demokratie auseinander. Giorgos Sotiropoulos beginnt sein Kapitel mit einer kritischen Analyse der sozialen Kämpfe in Griechenland seit 2011. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass ›Demokratie‹ schon seit Jahrzehnten eine Doppelfunktion zu erfüllen scheint. Auf der einen Seite hat sie für die liberal-kapitalistischen Gesellschaften des ›Westens‹ immer die Rolle eines legitimierenden Konzepts gespielt. Aber andererseits war sie auch ein kritisches Konzept, das sich gegen die oligarchischen Tendenzen genau dieser gesellschaftlichen Formation richtete. Diese beiden gegensätzlichen Verständnisse von Demokratie – Demokratie als Regierungssystem und Demokratie als soziale Bewegung – wurden in den Antiausteritätskämpfen der letzten Jahre miteinander konfrontiert und prallten als zwei sehr verschiedene Modelle von Demokratie, als ›repräsentative‹ Demokratie und als ›direkte‹ Demokratie aufeinander. Gleichzeitig geht die Analyse des Kapitels über eine Kritik am ›Verrat‹ Syrizas und an den ›demokratischen Illusionen‹ der Massen hinaus und denkt über die positiven Seiten, die Grenzen und die Paradoxien des historischen Projekts der Demokratie nach.
Das darauffolgende Kapitel von Panagiotis Doulos untersucht das Verhältnis zwischen ›starkem Staat‹, Demokratie und Austeritätspolitik im Verlauf der griechischen Schuldenkrise. Die griechische Krise offenbart den grundlegenden Zusammenhang von Austeritätspolitik und staatlicher Politik bei der Unterdrückung und Disziplinierung der arbeitenden Menschen. Außerdem hat sich im Lauf des Referendums und der Regierungstätigkeit Syrizas deutlich gezeigt, dass der Fall Griechenlands geradezu symptomatisch für die Grenzen der repräsentativen Demokratie und der Autonomie des kapitalistischen Staates ist. Wenn wir also heute vom Ende der Illusionen sprechen können, was folgt dann daraus?
Kapitel sechs und sieben liefern eine kritische Untersuchung der Widersprüche zwischen den Diskursen und Praktiken antikapitalistischer Bewegungen. Panagiotis Drakos erklärt in seinem Kapitel, warum die griechische Krise und die globale Neuorientierung des Kapitalismus uns dazu zwingen, den Begriff des Imperialismus unter Berücksichtigung der Unzulänglichkeit traditioneller (staatszentrierter) antiimperialistischer Theorien neu zu untersuchen. Im heutigen neu formierten Feld des gesellschaftlichen Kampfes tendiert die Herrschaft des Kapitals nicht nur zur Vereinheitlichung der Modelle der Klassendominanz, sondern komprimiert auch die analytischen Instrumente einer befreienden Gesellschaftstheorie. Mittels eines anarchistischen interpretativen Ansatzes untersucht dieses Kapitel die Begriffe ›Imperialismus‹ und ›Internationalismus‹ im Lichte der neoliberalen Moderne.
Das Kapitel von Dimitra Kotouza befasst sich mit dem Prozess der Vereinigung des antikapitalistischen Widerstands (oder spezifischer, des Widerstands gegen Krise und Sparpolitik) auf der Basis traditioneller, nationszentrierter, rassistischer und populistischer Vorstellungen. Die Autorin verbindet die entscheidende Frage ›Wessen Leben zählen am meisten?‹ mit einer Kritik des Verhältnisses nationalistischer und antifaschistischer Bewegungen zu den Kämpfen der Immigrant*innen, sich eine Stimme zu verschaffen oder schlicht zu überleben. Sie beleuchtet, wie nationale Diskurse selbst in gegen den Faschismus gerichteten Bewegungen entstehen, und beschreibt die Widersprüche, die während der griechischen Krise in den Diskursen und Praktiken dieser Bewegungen auftauchten, – und außerdem, wie schwierig es ist, in einer hochgradig fremdenfeindlichen, rassistischen und ultranationalistischen europäischen Realität die Darstellung und Abspaltung der Immigrant*innen als ›Fremde‹ und als ›Gefahr‹ zu brechen.
Im letzten Kapitel des Buchs versucht Katerina Nasioka sich an einer kritischen Analyse des revolutionären Subjekts in der Krise. Die sozialen Zusammenstöße der letzten Jahre in Griechenland und überall auf der Welt haben eine unübersehbare Spur hinterlassen: Enttäuschung, den Zusammenbruch von Illusionen, das Wiederauferstehen von Gespenstern der Vergangenheit. Die Krise hat die revolutionäre Theorie zu unterschiedlichen Analysen der Kategorie der Klasse veranlasst. Oft wird ›Klasse‹ dabei als Konzept aufgegeben, das die heutige veränderte Realität sowie die Möglichkeit einer antikapitalistischen Perspektive nicht mehr beschreiben könne. Das Scheitern der Arbeiterbewegung als positives, hegemoniales Subjekt erscheint oft als Niederlage oder Verschwinden des Proletariats als Klasse, die den Kapitalismus bekämpft. Haben wir demnach ein Ende der Klasse vor uns oder ist dies eine neue vor uns liegende Form des Klassenkampfes? Der Text verzichtet auf jeden Versuch einer Definition des revolutionären Subjekts und analysiert stattdessen, wie und warum das heutige Proletariat immer mehr zum Negativ eines Fotos, einer Bewegung der Selbstverleugnung der Definition per Klasse zu werden scheint, was (vielleicht) neue Perspektiven radikaler Veränderung eröffnet.
Denken wir über die Krise hinaus. Denken wir uns Hoffnung als Verweigerung, als eine Art der gegen die Melancholie der Kapitulation vor dem Kapital gerichtetes ›Fest‹. Stellen wir uns die Zerstörung des Kapitals vor. Hierin liegt das Hauptanliegen dieses Buches.
Wir möchten uns bei allen herzlich bedanken, die auf viele verschiedene Arten, vom Schreiben, Übersetzen, Lektorieren bis zum Design und Druck zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben. Für ihre Unterstützung für die Publikation der englischen Ausgabe möchten wir dem Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades »Alfonso Vélez Pliego« der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) in Puebla, Mexiko, und PM Press in Oakland, Kalifornien danken – und unserer heroischen Übersetzerin Anna-Maeve Holloway, die, nachdem sie bereits die eine Hälfte des Buchs ins Griechische übersetzt hatte, jetzt die andere Hälfte ins Englische übertrug.
Theodoros Karyotis
Seit 2009 ist Griechenland zu einem Labor für die Durchsetzung neoliberaler Sparpolitik geworden, aber zudem hat es dort auch heftigen Widerstand und einen Aufschwung kreativer Alternativen gegeben. In den darauffolgenden Jahren der Auseinandersetzung ist ›Hoffnung‹ der Begriff gewesen, um den herum politische Bewegungen versucht haben, ihre Unterstützer*innen im Kampf gegen die neoliberale Umstrukturierung zu sammeln. ›Hoffnung‹ im Bloch’schen Sinn einer Anrufung des ›Noch-Nicht‹ durch präfigurative Politik (Dinerstein 2014: 59), aber auch ›Hoffnung‹ als leerer Signifikant (Laclau 2013: u.a. 230, 257), als beliebiger Begriff, unter dem sämtliche verschiedene Bestrebungen zur Überwindung der Krise im Rahmen des gemeinsamen hegemonialen Projekts Syriza vereint werden sollten (Katsambekis 2015: 158).
In diesem Kapitel möchte ich die zentralen sich in dieser Periode entwickelnden politischen Imaginären in Bezug auf die Überwindung der Sparpolitik – ›Plan A‹, Reform und Umverteilung, ›Plan B‹, nationale ökonomische Umstrukturierung außerhalb der Eurozone, ›Plan C‹, eine von der Basis ausgehende Reorganisierung von Politik und Wirtschaft um die Commons herum – und das Kräftespiel zwischen diesen drei Plänen im Kontext der Anti-Austeritätspolitik skizzieren. Dabei konzentriere ich mich besonders auf das Fallenlassen von ›Plan A‹ durch die politischen Kräfte, die ihn artikulierten, und die Herausforderungen, denen sich die Anhänger*innen des dritten Imaginären (›Plan C‹) in ihrem Anliegen einer Subversion des kapitalistischen Marktes und bei der Beantwortung der Frage von Macht und Staat gegenübersahen.
Die sogenannte Griechenlandkrise begann 2009, als die neu gewählte PASOK-Regierung (PASOK: Panhellenische Sozialistische Bewegung) die Zahlen über das Haushaltsdefizit nach oben revidierte und den Internationalen Währungsfonds (IWF) um eine Intervention zur Verhinderung eines Staatsbankrotts bat. Diese Krise hält bis heute an. In den europäischen Massenmedien wurden zwei verschiedene Bilder der Krise und ihrer Auswirkungen auf die griechische Bevölkerung präsentiert. Zunächst wurde die Krise größtenteils der angeblich faulen und korrupten Einstellung der Griech*innen zugeschrieben (Douzinas 2013: 1) – eine Charakterisierung, die später auch auf die Bevölkerungen anderer Länder des Mittelmeers ausgeweitet wurde. Aber nachdem die Griech*innen 2015 eine Regierung gewählt hatten, die vorgab, gegen die Austerität zu kämpfen, und dann die Sparpolitik in einem Referendum ablehnten, wurden die Griech*innen für einen Großteil der öffentlichen Meinung aus Täter*innen zu Opfern, die von einer sturen und arroganten europäischen Elite unter Federführung der deutschen Regierung gequält wurden. Was beide Beschreibungen außer Acht lassen, ist die Tatsache, dass das, was wir als ›griechische Krise‹ bezeichnen, das Ergebnis des Übergangs zu einem Akkumulationsregime ist, das, nachdem es die Länder des globalen Südens bereits mehrere Jahrzehnte lang ausgeblutet hat, jetzt nach Europa importiert wird, wo es zuerst bei den schwächsten Ländern des Kontinents eingesetzt wird. Von daher ist der vor sich gehende Wandel weder ›griechisch‹, da dies ja das Modell ist, dem sich in Zukunft – wie man etwa an den jüngsten Entwicklungen in Frankreich sehen kann – alle Länder Europas in der ein oder anderen Form unterwerfen sollen, noch stellt er eine ›Krise‹ im Sinne eines außergewöhnlichen Ereignisses dar. Stattdessen repräsentiert dies eine neue Normalität, die die Grundlagen des sozialen Miteinanders nun auch im kapitalistischen Zentrum zu erschüttern droht. Dennoch konnte man in Griechenland besonders deutlich sehen, wie dieser Paradigmenwechsel sich innerhalb der Grenzen des Nationalstaates abspielt.
Der Prozess der Trennung der Bevölkerung von ihren Subsistenzmitteln ist von Marx bekanntlich als Regime der ›ursprünglichen Akkumulation‹ beschrieben worden und galt ihm als typisches Kennzeichen der Frühstadien des Kapitalismus (Marx 1962: 741-44), obwohl von anderer Seite argumentiert worden ist, dass dies ein inhärentes und fortdauerndes Merkmal des Kapitalismus ist (De Angelis 2001; Bonefeld 2001). So liefert etwa David Harvey (2004) eine aktuelle Darstellung dieses Prozesses, indem er die Strategie der ›Akkumulation durch Enteignung‹ beschreibt, mittels derer der Kapitalismus seit den 1970ern versucht hat, mit seinen Überakkumulationskrisen fertigzuwerden.
Die Hauptkomponenten dieser Strategie sind im Fall Griechenlands leicht zu identifizieren, wo eine staatliche Schuldenkrise als Vorwand für einen massiven Transfer von Reichtum von der Unter- und Mittelschicht an die lokale und internationale Kapitalistenklasse benutzt wurde: Das ›Rettungs‹-Programm, mit dem 2010 begonnen wurde, hatte zum Ziel, einen Bankrott des griechischen Staates zu Lasten der europäischen Banken zu verhindern, die auf der Jagd nach höheren Profiten riesige Kapitalbeträge in die Staaten der Peripherie gepumpt hatten (Milios and Sotiropoulos 2010: 233). Nach den Bestimmungen des Rettungspakets wurden die privaten Schulden der Banken auf souveräne europäische Staaten übertragen, und im Gegenzug fand eine drastische Umstrukturierung der griechischen Wirtschaft statt, die dann auf zweierlei Ebenen einen ›extraktiven‹ Effekt hatte: Zum einen erzwang die Umstrukturierung die Privatisierung sämtlichen Staatsbesitzes zu Schleuderpreisen – darunter auch die öffentliche Infrastruktur in Form von Häfen, Flughäfen sowie Wasser- und Energieversorgung. In diesem Privatisierungsprozess fungierten oft ein und dieselben Vertreter*innen mächtiger wirtschaftlicher Interessen als Initiator*innen, Berater*innen und Käufer*innen (Trumbo and Peters 2016). Zum anderen erzeugte sie eine Rezessionsspirale, die zur Verarmung der unteren Schichten und der Mittelklasse führte (Papatheodorou 2014: 192), die Klein- und Mittelunternehmen vernichtete, die immer das produktive Kernstück des Landes gewesen waren, und die griechische Bevölkerung zwang, ihren ›Familienschmuck‹ und am Ende sogar ihre Häuser gierigen Finanzinstitutionen zu überlassen. Insgesamt stellt das Rettungspaket eine massive Durchsetzung bewusster sozialer Umstrukturierung dar, deren Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen nur mit den Folgen von Kriegen oder der großen Depression der 1930er vergleichbar sind (Krugman 2015).
Da der Kapitalismus in den Ländern des kapitalistischen Zentrums seine produktive Aktivität in rapidem Tempo einstellt und sich stattdessen auf die Wertextraktion durch Enteignung (per Rentenerträgen, Steuern, Schulden, Privatisierung und so weiter) und durch Anwendung verschiedenster Finanzinstrumente verlegt, ist eine hohe Arbeitslosigkeit zur Norm geworden. Das ist das Ende der Vorstellung von einer stabilen lebenslangen Beschäftigung. Anstelle damit einhergehender Leistungen wie Gesundheitsversorgung, Rentenversicherung, bezahlten Feiertagen und Arbeiterrechten, die von früheren Generationen als mehr oder weniger selbstverständlich betrachtet worden waren, beobachten wir nun ein enormes Wachstum nicht oder prekär beschäftigter ›Überschussbevölkerungen‹ ohne ökonomische und soziale Rechte und ohne Zugang zu den Mitteln ihrer eigenen Reproduktion (Denning 2010). Ferner bedeutet die Umstrukturierung der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital nach den Diktaten der ›Strukturanpassung‹, dass diejenigen Arbeiter*innen, die noch eine Lohnarbeit haben, über Nacht die Arbeiterrechte verlieren, die in Jahrzehnten des Klassenkampfes durchgesetzt worden waren. Dabei führt die Senkung von Renten und Löhnen zur weiteren Schrumpfung des ohnehin schon kärglichen Einkommens der griechischen Familien.
Aber die Transformation des Staates beschränkt sich nicht auf die Privatisierung des Staatseigentums und die Zerstörung der allgemeinen Gesundheitsversorgung und des Sozialstaates. Nachdem der griechische Staat sich enorme Geldsummen geliehen hat, die nach dem System der Mindestreserven (McLeay et al. 2014) willkürlich von den internationalen Gläubigerbanken selbst geschaffen wurden, und nachdem er einen Großteil dieses Geldes an oligarchische Interessen, die vorwiegend an ihrer Wiederwahl interessierten korrupten Netzwerke der PASOK und der Neuen Demokratie und an einen exorbitanten Verteidigungshaushalt weitergereicht hat, wird dieser Staat nun im Namen der Rückzahlung genau dieser Schulden in einen bloßen Mechanismus zur Abpressung von Reichtum von den Unter- und Mittelklassen verwandelt. Beispiele hierfür sind die flächendeckende Abschaffung der Untergrenze besteuerbaren Einkommens 2013 und die unterschiedslose Besteuerung von Immobilienbesitz, die (aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der gleichnamigen Kopfsteuer der osmanischen Ära) als haratsi bekannt wurde.
Um die Konsolidierung des neoliberalen Staates komplett zu machen, wurde ein riesiger Repressionsapparat errichtet, um den Zorn der Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, darunter eine von Rechtsextremist*innen durchsetzte Polizei, die keiner Rechenschaft unterliegt (Papanicolaou und Papageorgiou 2016), brutale Techniken der Massenkontrolle, verschärfte Überwachung und Zensur, juristische Verfolgung gesellschaftlicher Kämpfe und systematische Falschbeschuldigung, Misshandlung und Folterung von Aktivist*innen durch die Ordnungskräfte (Dalakoglou 2013; Xenakis 2012: 445).
Diese Phänomene sind keine ›Kollateralschäden‹ oder bedauerlichen Nebenwirkungen der Sparpolitik, sondern zeigen, dass es sich bei der sogenannten Austerität um wenig mehr als einen orchestrierten Plan zur Umverteilung des Reichtums zugunsten der herrschenden Klassen handelt. Mit anderen Worten, das Austeritätsprogramm war auf die Erzeugung einer Rezession angelegt, die »sich nicht genügend verwertende Kapitale, Kleinunternehmen, Bürgerrechte, Arbeiterrechte, Gewerkschaftsrechte und Teile des öffentlichen Sektors – und ganz generell alles, was störte – aus dem Weg räumte« (Milios and Rozworski 2015).
Das dominante Narrativ zur Überwindung der Krise, das als Mittel zur Stimulierung von Wachstum und zur Förderung von Investitionen die Zerstörung des öffentlichen Sektors und die Beseitigung der Rechte der Werktätigen propagierte, passte perfekt zu dem seit Jahrzehnten unablässig von den Konzernmedien wiedergekäuten neoliberalen Diskurs, der auch von einer ganzen Reihe von Regierungen bestärkt wurde. Diese Strategie, an allem dem Opfer die Schuld zu geben, hat sich als wirksam erwiesen und ein Großteil der Bevölkerung verhielt sich während des Angriffs ruhig, da die Menschen von den Medien davon überzeugt worden waren, dass sie jetzt leiden mussten, um kollektiv für ihre Sünden Buße zu tun. Eine weitere gängige Reaktion war der Rückzug in fremdenfeindliche und reaktionäre Identitäten.
Aber schließlich entwickelten sich auch antagonistische Narrative und verdichteten sich ungefähr 2011, zur selben Zeit, als Ende Mai die Bewegung der Plätze ausbrach, zu kohärenten Vorstellungen von einem Bruch mit der Austerität und der neoliberalen Umstrukturierung.
Die Wurzeln der jüngeren Geschichte des Widerstandes in Griechenland können bis zu dem Aufstand von Dezember 2008 zurückverfolgt werden, als nach der kaltblütigen Ermordung eines Teenagers durch die Polizei im Zentrum Athens Tausende von marginalisierten städtischen Jugendlichen auf die Straße strömten, der urbanen Landschaft ein völlig neues Gesicht gaben, neue partizipatorische Strukturen des gemeinsamen Lebens schufen und militante Subjektivitäten und Kollektive aufbauten, die bis heute weiterbestehen (Nasioka 2014; Douzinas 2013).
Der Protestzyklus, der 2010 mit dem Kampf gegen das erste ›Rettungspaket‹ begann und 2015 mit der Selbsterneuerung der politischen Eliten endete, ist ein Phänomen, das sich einer eindeutigen Beschreibung oder Charakterisierung entzieht. Während dieser Zeit beteiligte sich ein Großteil der griechischen Bevölkerung in der ein oder anderen Form an den Generalstreiks, Massenblockaden des Parlaments, Besetzungen von Regierungsgebäuden, Gruppen zivilen Ungehorsams, lokalen Antiprivatisierungsinitiativen und natürlich der phänomenalen Bewegung der Plätze im Mai und Juni 2011, die sich später zu einer Vielfalt von Stadtteilversammlungen ausweitete.
Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine kohärente Bewegung mit festen Zielen und einer festen organisatorischen Form, sondern um ein Magma von Kämpfen und militanten Subjektivitäten mit unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Herangehensweisen an Fragen des Widerstands und der gesellschaftlichen Veränderung. Die von der Krise und der offenkundigen Unfähigkeit des Systems, sich weiter in seiner alten Form zu reproduzieren, hervorgerufene soziale Zerrüttung führte zu einer weitverbreiteten Ablehnung des politischen Systems und des Konsenses, der um die aus dem Übergang zur Demokratie 1974 hervorgegangenen politischen Parteien, Gewerkschaften und Institutionen herum aufgebaut worden war.
Kräfte, die bis dahin bei den Wahlen kaum eine Rolle gespielt hatten, darunter vor allem Syriza und ANEL (Unabhängige Griechen), begannen, sich dieses Gefühl eines Vakuums zunutze zu machen und hegemoniale Projekte aufzubauen, indem sie sich als den politischen Ausdruck gesellschaftlicher Kämpfe präsentierten. Gleichzeitig gewann ein neues Imaginäres an Boden, das, genau wie die weltweiten, im Arabischen Frühling, den indignados und später Occupy zum Ausdruck kommenden Proteste, die Vielzahl und Diversität der Kämpfe feierte und Horizontalität, Selbstverwaltung und direkte Partizipation ins Zentrum stellte.
Kommentatoren wie Douzinas (2013) und Kioupkiolis (2014) machen als zentrales Element der Bewegung der Plätze die gleichzeitigen und einander überlappenden Prozesse einer hegemonialen Konstruktion ›des Volkes‹ gegen den Status quo auf der einen und die Postulierung einer ›Vielfalt‹ unterschiedlicher Identitäten und Kämpfe auf der anderen Seite aus. Diese Prozesse hegemonialer Konstitution und heterogener Mannigfaltigkeit bildeten im gesamten Verlauf der Jahre intensiven Widerstands gegen die Austerität einen wichtigen Faktor. Dies zeigt sich unter anderem an der aufschlussreichen, wenn auch unzureichenden Unterscheidung zwischen einem ›oberen Syntagma-Platz‹, wo die Menge sich auf Proteste gegen das Parlament beschränkte, und einem ›unteren Syntagma-Platz‹, auf dem die Teilnehmer*innen an der Bewegung einander auf dem Podium ablösten, um kollektiv zu debattieren, zu beraten und zu Entscheidungen zu gelangen (Prentoulis and Thomassen 2014).
Mit der Zeit kristallisierten sich drei wichtige Imaginäre, drei verschiedene Antworten auf die Sparpolitik und die Entwertung des Lebens der Menschen als unterschiedliche, aber oft einander überlappende Projekte innerhalb der allgemeinen Welle des Widerstandes heraus. Zum Zweck der Diskussion werde ich sie hier als die ›Pläne‹ A, B und C bezeichnen, wobei ich mir darüber bewusst bin, dass das Wort ›Plan‹ Kohärenz und eine programmatische Gerichtetheit impliziert, die in den vorliegenden Fällen zum größten Teil nicht gegeben waren.[2] Der passendere Ausdruck ›Imaginäres‹ lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Subjekte sich das soziale Ganze, das sie erreichen wollen, erst einmal ›erträumen‹, bevor sie sich an den Versuch machen, die Welt zu verändern. Daher handelt es sich bei dem, was ich hier beschreibe, um zusammenhängende Ideen und Werte, aus denen sich das Handeln transformativer politischer und sozialer Bewegungen speist.
Die erste Vorstellung kam politisch in dem auf einer parlamentarischen Mehrheit basierenden Projekt des Regierungsbündnisses zwischen Syriza und ANEL zum Ausdruck. Es handelt sich um die Vorstellung einer Reform und Modernisierung des griechischen politischen und wirtschaftlichen Systems, ohne dabei das diesem zugrunde liegende Machtarrangement infrage zu stellen. Sie vereint die nostalgische Rückwendung zu den goldenen Jahren der Expansion des europäischen Kapitalismus, während derer der Staat in den gesellschaftlichen und Klassenkonflikten die Rolle eines Vermittlers spielte und jene Mechanismen der Umverteilung einführte, die jetzt durch den neoliberalen Angriff so rasch wieder zerstört werden, mit einem Versuch, den immer noch weitgehend ›feudalen‹ griechischen Kapitalismus zu modernisieren und zu rationalisieren und so die Wirtschaft wettbewerbsfähig und attraktiv für Investor*innen zu machen. Gleichzeitig wird dabei die Verpflichtung des Landes gegenüber der europäischen Integration bekräftigt.
Es ist wichtig, hier festzuhalten, dass die ›erste linke Regierung aller Zeiten‹ nicht Resultat einer Wendung der griechischen Wählerschaft nach links war, sondern das Ergebnis einer raschen, kalkulierten Transformation der Syriza-Partei, die ihren radikalen Diskurs schon 2013 gegen eine unbestimmt populistische Antiausteritätsrhethorik ausgetauscht hatte, um so zu versuchen, den Platz der Sozialdemokratie einzunehmen, der frei geworden war, nachdem PASOK einen harten Sparkurs beschlossen hatte (Katsambekis 2015: 156). So »verlagerte sich der Hauptfokus Syrizas allmählich von der Umverteilung des Reichtums, der Besteuerung der Reichen, dem Aufbau einer neuen sozialen Wirtschaft und Ähnlichem zu vorgeblich neutraleren Begriffen wie Wachstum, produktiver Umbau, Bekämpfung der humanitären Krise und so weiter, die die Gesellschaft und die Wirtschaft als etwas hinstellen, bei dem wir alle dieselben Interessen haben und nicht durch Klassenspaltungen voneinander getrennt sind« (Kayserilioğlu and Milios 2016). Das heißt, dass Syriza ihre Hegemonie konstruierte, indem sie auf dem bereits existierenden Imaginären eines ›fairen Kapitalismus‹ aufbaute, in dem der Staat die Rechte der Menschen schützt und die Wirtschaft reguliert.
Aber es war nicht nur so, dass die arbeitenden Klassen, die traditionell PASOK gewählt hatten, bei den lokalen und Europawahlen 2014 und den nationalen Wahlen 2015 mit großer Mehrheit für Syriza stimmten; noch bedeutsamer war die Tatsache, dass sich außerdem ein großer Teil der enttäuschten Apparatschiks der PASOK den Reihen Syrizas anschloss. Der Ausdruck ›Pasokifizierung‹, der heute international vielfach verwendet wird, um den Zusammenbruch der Sozialdemokratie aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Präsentation einer Alternative zur neoliberalen Austerität (Bailey 2016: 8) zu beschreiben, nimmt hier eine ganz neue Bedeutung an: die rapide Verwandlung einer linksgerichteten transformativen Kraft in eine zentristische Verwalterin der Staatsmacht – ein Prozess, der in Spanien und der Podemos-Partei seine Parallele hat (Alonso Rocafort 2015; Mejía 2015).
Im Licht ihrer ersten zwei Jahre an der Macht lässt sich heute mit Sicherheit sagen, dass dieses hegemoniale Projekt für Syriza hohe Kosten mit sich gebracht hat: Die Partei verwandelte sich allmählich aus einer in sozialen Kämpfen verwurzelten Koalition gegen die Sparpolitik in deren polares Gegenteil: eine Systempartei, die die Diktate der neoliberalen Umstrukturierung durchsetzt. Der Schritt von dem Anspruch, die Kraft zu sein, die den Kapitalismus vor sich selbst retten kann, zur Zustimmung zu der Unvermeidlichkeit der weiter vor sich gehenden Transformation des Kapitalismus war nur klein – es war lediglich die vorhersehbare Erpressung durch die europäischen neoliberalen Institutionen nötig, um die Syriza-Regierung in ein äußerst effektives Werkzeug der Durchsetzung der neoliberalen Ziele zu verwandeln. Die Durchsetzung des dritten Memorandums und der in ihm vorgesehenen Reformen hat in der griechischen Gesellschaft für umfassende Unzufriedenheit gesorgt: So löste die Rentenreform von 2016, die von Kleinbäuer*innen und prekären Kleinselbstständigen Sozialbeiträge verlangt, die sie sich schlicht nicht leisten können, die entschlossenste Mobilisierung gegen die Sparpolitik seit Jahren aus (Sotiris 2016); der Reform folgten 2017 weitere Lohn- und Rentenkürzungen und eine Anhebung der Steuern und Abgaben für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen (Vatikiotis 2017). Tatsächlich wäre es nicht weit hergeholt zu behaupten, dass Reformen dieser Reichweite und dieses Ausmaßes unter der fragilen und diskreditierten vorherigen Samaras-Regierung gar nicht möglich gewesen wären. Zur Durchführung dieser Aufgabe war eine neue, scheinbar progressive Regierung mit großen Reserven an politischem Kapital erforderlich.
Aber Syrizas Aufstieg zur Macht hatte auch für die sozialen Bewegungen, die seit 2010 in verschiedenen Formen die Sparpolitik bekämpft haben, einen hohen Preis: In ihrem Versuch, zu einer hegemonialen Macht zu werden, beteiligte sich die Syriza-Partei an vielen sozialen Kämpfen, wo sie sich als Repräsentantin und Vorkämpferin des gesellschaftlichen Widerstandes präsentierte. Aber das Resultat dieser Beteiligung waren Demobilisierung und Passivität, weil Syriza eine politische Lösung für die Konflikte versprach sowie den Wunsch nach sozialer Veränderung auf den institutionellen Weg zurücklenkte und so der Legitimationskrise des politischen Systems effektiv ein Ende machte. Dies erzeugte Risse innerhalb der sozialen Bewegungen, und zu diesen hinzu kam, dass Syriza, nachdem sie an die Macht gekommen war, ihre ehemaligen Verbündeten ignorierte, marginalisierte oder sich zu Feind*innen machte (Karyotis 2015).
Nun könnte man argumentieren, dass diese Gefahr unvermeidlicher Bestandteil hegemonialer Politik ist. Laclau (2013) vertritt die Meinung, zur Konstruktion von Hegemonie gehöre notwendigerweise der Aufstieg einer Kraft in der ›Kette der Äquivalenz‹ sozialer Kämpfe zu deren Anführerin und Repräsentantin. Dabei sollten wir uns dies jedoch nicht als einen konsensbasierten Prozess vorstellen: Er setzt eine ›Machtungleichheit‹ voraus, die es der hegemonialen Kraft erlaubt, einen Prozess der ›Universalisierung‹ in Gang zu setzen, der zwangsläufig bestimmte Wahrheiten, Praktiken und Forderungen unterdrückt und an den Rand drängt. Im Fall Griechenlands hat dieser Prozess antikapitalistische Vorstellungen zugunsten der Idee eines gerechten Kapitalismus verdrängt – dessen Unmöglichkeit dann allerdings bald, nachdem besagte hegemoniale Kraft an die Macht gelangt war, offenbar wurde.
Die Tatsache dieser Unmöglichkeit hat die »Krise der Vorstellungskraft« der Linken, ihre »völlige Unfähigkeit, sich eine Welt jenseits des Kapitalismus auch nur auszumalen«, klar an den Tag gebracht (Roos 2015b: 83). An den Antworten der Linken auf die systemischen Krisen der letzten zehn Jahre hat sich wieder und wieder ihre Sehnsucht nach der Rückkehr zu den guten alten Tagen des keynesianischen Sozialstaats, der Vollbeschäftigung und des Staates als Schiedsrichter der sozialen und Klassenkonflikte gezeigt. Der Neo-Keynesianismus der europäischen Linken übersieht sehr gern, dass die keynesianische Politik nicht das geistige Kind aufgeklärter und mildtätiger Regierungen war, sondern Produkt eines Klassenkompromisses, der auf zahlreiche blutige Revolutionen und zwei Weltkriege folgte; ganz fraglos sind die Bedingungen für eine Rückkehr zu den ›goldenen Tagen‹ einer friedlichen keynesianischen Klassenzusammenarbeit heute aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht mehr gegeben.
Im derzeit sich vollziehenden Prozess der ›Akkumulation durch Enteignung‹ sind die beiden Haupthebel des Kapitals der Staat und das Finanzsystem (Harvey 2004: 74). Während der Staat in seiner Rohform kaum mehr ist als ein Herrschaftsmechanismus, ermöglichte es der Druck der sozialen Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts, keynesianische Muster der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital einzusetzen, um ihn als Mechanismus zur Beschränkung der Expansion des Kapitals und der Umverteilung zugunsten der Unterklassen zu nutzen (Holloway 1996). Dies war natürlich ein temporäres und auf bestimmte Orte beschränktes Arrangement, das dazu diente, die aufrührerischen Arbeiterklassen des kapitalistischen Zentrums zu befrieden, ihren Konsens zu garantieren, ihre Kraft, sich gegen die kapitalistische Produktionsweise zu erheben, zu beschneiden und die Anfang des 20. Jahrhunderts bestehende, auf einem Mangel an effektiver Nachfrage basierende Krise zu lösen.
Die Unmöglichkeit einer Umsetzung keynesianischer Politik im 21. Jahrhundert wird durch zwei Entwicklungen innerhalb der kapitalistischen Ordnung belegt: Zum einen beseitigt der Wechsel zu einer renten- und finanzbasierten und extraktiven Akkumulationsweise die Notwendigkeit einer wohlhabenden Mittelschicht als Quelle effektiver Nachfrage. Damit wiederum fällt die Notwendigkeit weg, den sozialen Frieden und Konsens durch eine großzügige Umverteilung des Mehrwerts aufrechtzuerhalten. Angst und Verschuldung sind jetzt die neuen Disziplinierungsinstrumente (Hardt und Negri 2013; Lazzarato 2012). Zum anderen führt das in allen – ›entwickelten‹ wie sonstigen – Länder zu beobachtende Wachstum der Staatsverschuldung zu einer Situation, in der der erste Hebel der kapitalistischen ›Akkumulation durch Enteignung‹, nämlich der Staat, dem zweiten Hebel, also dem Finanzsystem, permanent unterworfen ist und daher nicht als Bollwerk gegen die Expansion des Kapitals genutzt werden kann. Brutal gesagt hängt die Politik verschuldeter Staaten nicht vom Willen irgendwelcher Regierungen ab, sondern wird unter der Androhung des Staatsbankrotts von den Lobbys der ›Gläubiger*innen‹ diktiert. Sie ist daher von den Wechselfällen parlamentarischer Politik praktisch unabhängig.
Anders gesagt ist der Staat in seiner heutigen Form als Werkzeug der Umverteilung nur zur Umverteilung ›nach oben‹ fähig, nämlich in Gestalt von Steuererhöhungen, Verschuldung, Privatisierung oder schlicht Enteignung. Regierungen mögen den Grad oder die Intensität aushandeln können, mit denen die unteren und Mittelschichten ausgepresst werden, aber sie sind nicht in der Lage, den im Wesentlichen extraktiven Charakter des Staates zu ändern.
Im Licht dieser Beobachtungen stellt die Behauptung Syrizas, ›Verhandlungen‹ mit den Mächten des Status quo zu führen und dabei nur die besten Interessen der Gesellschaft im Auge zu haben, nichts als ein Feigenblatt zur Verdeckung des zwangsläufigen Loses der Partei als neuer Büttel und Garant der neoliberalen Politik der Enteignung dar. Unter ihrer Ägide hat nicht nur eine Intensivierung der Austeritätspolitik stattgefunden – noch wichtiger als das ist der Nettoeffekt der Syriza-Regierung, der darin besteht, dass sie der Bevölkerung den Glauben einimpft, dass es tatsächlich keine Alternative zur neoliberalen Umstrukturierung gibt. All das führte zu einem Rückgang der breiten sozialen Kämpfe der vorigen Jahre und zu fragmentierten Bemühungen zur Aushandlung individueller oder auf einzelne Branchen beschränkter Zugeständnisse, da der allgemeine Angriff auf die Lebensverhältnisse der Menschen nun als unvermeidlich angesehen wurde.
Die zweite Antwort, die ihren politischen Ausdruck in links von Syriza stehenden Parteien – wie der aus der Spaltung Syrizas im September 2015 entstandenen politischen Formation Volkseinheit – findet, strebt die Rückkehr zu einer imaginierten nationalen Souveränität außerhalb der Eurozone und einen wirtschaftlichen Wiederaufbau auf nationaler Basis an, wobei der Staat eine führende Rolle bei der Orchestrierung und Finanzierung der wirtschaftlichen Aktivitäten haben soll. Eine reaktionäre Variante solcher Vorstellungen lässt sich auch in der Ideologie der extremen Rechten finden.
Die griechische Linke argumentiert ganz zu Recht, das strukturelle Hauptproblem des griechischen Kapitalismus bestehe darin, dass er die monetäre und fiskalische Kontrolle den europäischen Institutionen überlassen hat und dass diese keineswegs in seinem besten Interesse agieren, sondern eine Politik zugunsten der Bedürfnisse der exportorientierten Wirtschaften des europäischen Zentrums betreiben.
Besonders die Volkseinheit behauptet, damit die ursprünglichen programmatischen Ziele Syrizas zu retten, obwohl sie anders als diese darauf besteht, aus der gemeinsamen europäischen Währung auszusteigen. Ein prominentes Mitglied dieser Partei, der Ökonomieprofessor Costas Lapavitsas, vertritt die Meinung, die beste Alternative zur Sparpolitik bestünde in einem radikalen Bruch mit der Eurozone sowie einer »Einstellung der Zahlungen und einer Umstrukturierung der Schulden. Die Banken müssten nationalisiert und die staatliche Kontrolle müsste auf Dienstleistungen, Verkehr, Energie und Telekommunikation ausgedehnt werden. Diese Option erfordert einen entscheidenden Wandel in der Austarierung der politischen Macht zugunsten der Arbeiterbewegung« (Lapavitsas et al. 2010: 3). Ähnliche Haltungen finden sich auch bei anderen Formationen der griechischen Linken.
Das Hauptproblem mit diesen verschiedenen und oft widersprüchlichen Ansätzen ist ihr Etatismus: Sie verstehen soziale Veränderung ganz einfach als Ergebnis einer ›richtigen‹ staatlichen Politik in Bereichen, in denen Syriza ihrer Meinung nach nicht kühn genug war. Während auf der Hand liegt, dass die Unmöglichkeit, eine autonome Geldpolitik zu betreiben, und die extreme Feindseligkeit der Europäischen Zentralbank gegenüber den Plänen der griechischen Regierung entscheidende Faktoren in der Unterwerfung des griechischen Staates unter die Wünsche seiner Gläubiger*innen sind, stellt die Vision eines unabhängigen, produktiven und wettbewerbsfähigen Griechenlands außerhalb der Eurozone keineswegs ein Wunderheilmittel für die von der kapitalistischen Umstrukturierung hervorgebrachten sozialen Übel dar.
Der wichtigste Punkt dabei ist, dass diese Vision schlicht übersieht, dass die wichtigste Funktion des Staates darin besteht, das Wachstum zu sichern, Investitionen zu fördern, die Wirtschaft konkurrenzfähig zu machen und die Commons zu Geld zu machen. Wenn er diese Ziele nicht erreicht, gilt er als ›gescheiterter Staat‹. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass Wettbewerbsfähigkeit in der Weltwirtschaft gleichbedeutend ist mit der Senkung des relativen Einkommens der Arbeiter*innen gegenüber dem Kapital, der Lockerung von Umwelt- und Arbeitsschutzbestimmungen und einem permanenten Angriff auf die Natur und auf die Commons.
Obwohl die Linke links von Syriza bereit ist, an dem Punkt einen Bruch zu machen, an dem Syriza die Kontinuität gewählt hat, stellt auch sie die Ausgangsannahmen einer ›Rückkehr zum Wachstum‹, einer extraktiven Wirtschaft und der unendlichen Expansion von Produktion, Konsum und Kredit nicht infrage.
Das heißt nicht, dass die Frage der Währung unwichtig wäre oder dass es Griechenland innerhalb der Eurozone besser ginge, sondern nur, dass wir der Auffassung, soziale Veränderungen könnten nur durch die Anwendung der ein oder anderen Wirtschaftspolitik auf oberster Ebene zustande kommen, mit Skepsis begegnen sollten.
Die dritte Antwort ist die Idee eines Netzwerks basisdemokratischer Alternativen, die sich in Griechenland vor allem zwischen 2010 und 2013 in raschem Tempo ausbreiteten, bevor der Wahlsieg Syrizas die Legitimationskrise beendete, die ein so fruchtbarer Boden für soziale Experimente gewesen war. Sie tritt für eine Reorganisierung der Gesellschaft um die Commons herum ein (Roos 2015a). Dabei befürwortet sie horizontale politische Entscheidungsprozesse auf lokaler Ebene, kooperations- und solidaritätsbasierte Wirtschaftsunternehmen, kollektive Formen des Besitzes und der Verwaltung von Ressourcen sowie eine Ersetzung der Kultur der politischen Repräsentation durch direkte Demokratie in den Gemeinden und am Arbeitsplatz.
Die dringenden sozialen Bedürfnisse, die sich aus dem auf das erste Memorandum folgenden wirtschaftlichen Zusammenbruch ergaben, beschleunigten das Entstehen eines vielfältigen Netzwerks an selbstverwalteten Kollektiven, die in verschiedene Aspekte der Produktion und Reproduktion intervenierten (Landwirtschaft, Industrie, Vertrieb, Handel, Verteidigung öffentlicher Ressourcen, Unterhaltung, Gesundheitswesen, Erziehung und Bildung). Entstanden als Reaktion auf das hegemoniale Narrativ, das atomisierte Subjektivitäten und individualistische Antworten auf die Krise propagierte, verfolgen diese Unternehmungen eine explizite Bildungsmission und zielen auf die Entfaltung militanter Subjektivitäten mit der Fähigkeit zu autonomem Denken und kollektiver Aktion ab (Lieros 2012; Varkarolis 2012). Obwohl sie als Antwort auf die Zerstörung der Umverteilungsstrukturen des Sozialstaates entstanden, lehnen sie die ungleichen Machtverhältnisse der staatlichen Form grundsätzlich ab. Stattdessen arbeiten sie auf der Basis des Prinzips der Gegenseitigkeit und verteidigen sorgfältig ihre Autonomie gegenüber Staatsinstitutionen, Parteien und Privatunternehmen (Petropoulou 2013: 74); ferner versuchen sie meist, jede Bürokratisierung zu vermeiden und stattdessen informelle Verfahrensweisen beizubehalten (Rakopoulos 2015). Zentrales Merkmal dieser Basisprojekte ist ein radikales Demokratieverständnis, das die horizontale Versammlung zur bedeutendsten organisatorischen Form und zum definitiven Instrument der Entscheidungsfindung erhebt. Oder wie Sitrin (2012: 61) es im Hinblick auf die ganz ähnliche Bewegung formulierte, die 2001 aus der damaligen Krise in Argentinien entstand: »Nur mit dem Wunsch nach offener Partizipation und Nichthierarchie und indem sie auf seine Realisierung hinarbeiten, können die Menschen sich selbst und ihre Gemeinschaften auf eine Weise neu erschaffen, bei der die ersehnte Zukunft sich schon in der Gegenwart zeigt.«