Über Rechtfertigung, eine Versuchung - Martin Walser - E-Book

Über Rechtfertigung, eine Versuchung E-Book

Martin Walser

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Beschreibung

Gerechtfertigt zu sein, sagt Martin Walser, war einmal das Wichtigste. Staaten legitimieren sich durch Gesetze, Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne? Zum Beispiel Josef K. im Proceß von Franz Kafka. Für Martin Walser ist das Buch der «Roman einer Gewissenserforschung, einer Suche nach Rechtfertigung», so wie Josef K. für ihn der letzte Romanheld ist, der das Fehlen von Rechtfertigung als Drama erlebt und daran zugrunde geht. Demgegenüber leben wir seit langem ohne das Bedürfnis nach Rechtfertigung, ja ohne auch nur die Frage danach. Rechtfertigung wird ersetzt durch Rechthaben. Dass uns recht zu haben genügt, nennt Martin Walser eine Verarmung. Um deutlich zu machen, was uns abhandengekommen ist, geht er zurück in die Vergangenheit: von Kafka zu Augustinus; zu Luther, Calvin und Max Weber; zu Nietzsche und Karl Barth, in deren Gegenüberstellung das Buch seinen Höhepunkt hat. «Einschlafen», sagt er, «könnte ich ohne sie. Aber um aufzuwachen aus dieser und jener Verschlafenheit, brauche ich beide.» Über Rechtfertigung ist Gewissenserkundung und Suche, Annäherung an Vorbilder und Vordenker, um über «verführerische Sprachbewegungen» zu den entscheidenden Fragen des Lebens, Glaubens und Schreibens vorzudringen. Oder zumindest zu einer Ahnung von dem, was fehlt.

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Martin Walser

Über Rechtfertigung, eine Versuchung

Essays

 

 

 

Über dieses Buch

Gerechtfertigt zu sein, sagt Martin Walser, war einmal das Wichtigste. Staaten legitimieren sich durch Gesetze, Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne?

Zum Beispiel Josef K. im Proceß von Franz Kafka. Für Martin Walser ist das Buch der «Roman einer Gewissenserforschung, einer Suche nach Rechtfertigung», so wie Josef K. für ihn der letzte Romanheld ist, der das Fehlen von Rechtfertigung als Drama erlebt und daran zugrunde geht.

Demgegenüber leben wir seit langem ohne das Bedürfnis nach Rechtfertigung, ja ohne auch nur die Frage danach. Rechtfertigung wird ersetzt durch Rechthaben. Dass uns recht zu haben genügt, nennt Martin Walser eine Verarmung. Um deutlich zu machen, was uns abhandengekommen ist, geht er zurück in die Vergangenheit: von Kafka zu Augustinus; zu Luther, Calvin und Max Weber; zu Nietzsche und Karl Barth, in deren Gegenüberstellung das Buch seinen Höhepunkt hat. «Einschlafen», sagt er, «könnte ich ohne sie. Aber um aufzuwachen aus dieser und jener Verschlafenheit, brauche ich beide.»

Über Rechtfertigung ist Gewissenserkundung und Suche, Annäherung an Vorbilder und Vordenker, um über «verführerische Sprachbewegungen» zu den entscheidenden Fragen des Lebens, Glaubens und Schreibens vorzudringen. Oder zumindest zu einer Ahnung von dem, was fehlt.

Vita

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schrifststeller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2012

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München

Coverabbildung ((ohne))

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01721-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Frank Hertweck,

für Susanne Klingenstein

und für Vanessa, die jüngste

Theologin Deutschlands

1.

Gerechtfertigt zu sein, das war einmal das Wichtigste. Staaten legitimieren sich durch Gesetze. Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne?

Das durchdringendste Beispiel einer Suche nach Rechtfertigung hat Kafka geliefert im Prozess-Roman. Josef K. wird eines Morgens verhaftet, ohne dass er etwas Übles getan hätte. Zur Verhandlung gegen ihn muss er in die Vorstadt, wo die Ärmeren wohnen. Alle Angeklagten, die dort vernommen werden, stammen, heißt es, aus den «höheren Schichten». Als Josef K. zum ersten Mal am Sonntag in einem dieser schlechtbeleuchteten Säle die Masse von Menschen bemerkt, die offenbar seine Vernehmung erleben wollen, hat er den Eindruck, «in eine Versammlung einzutreten»; in der ersten Fassung stand da, es handle sich um eine «sozialistische Versammlung». Es ist nur eine gelinde Trivialisierung zu sagen, Der Proceß sei der Roman einer Gewissenserforschung, einer Suche nach Rechtfertigung. Der, dem diese Rechtfertigung so fehlt, dass er den Prozess förmlich auf sich zieht, das ist der «Prokurist einer großen Bank». Josef K. sucht dann Hilfe überall, auch in der Kunst, schließlich in der Religion. Alles umsonst. Er kann, wie er ist und lebt, nicht leben.

Kafka hat den Werktag, die politische Spur, nicht ganz und gar getilgt. Trivialisierend könnte man sagen, Josef K. habe ein schlechtes Gewissen den Ärmeren gegenüber. Josef K. erwacht und wird verhaftet, Gregor Samsa erwacht und findet «sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt». Man hat sich angewöhnt, Samsa als Käfer zu sehen, und das auch in Illustrationen ausgedrückt. Aber ein «ungeheures Ungeziefer» ist doch noch einmal etwas anderes als so ein Käfer. Da steht nicht: Er war in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, sondern: Er «fand […] sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» Und wie es dazu kommt, dass der Tuchreisende Samsa sich als Ungeziefer erlebt, das wird sorgfältig erzählt. Er, der Handlungsreisende, wacht auf, erkennt, dass er seinen Zug versäumt hat, gerät in Panik, denn er wird das Geld nicht verdienen, also ist er ein Parasit, also ein «ungeheures Ungeziefer». Und die Umwelt tut das Ihre, ihn darin zu bestätigen. Bis auch er bereit ist, «freiwillig» zu sterben, weil er nur so die Familie von der Schande befreien kann, die er als Parasit ist.

Fünfzig Jahre vorher lässt Dostojewski in Aus dem Dunkel der Großstadt einen Kanzleisekretär sagen: «Ich versichere Ihnen feierlichst, schon mehrere Male wollte ich ein Insekt werden, doch selbst dazu langte es nicht.» Und fast einhundert Jahre davor schreibt Jean Paul in seinem Roman Hesperus: «[…] ihm fiel in jede große Freude der Zweifel wie ein bitterer Magentropfen hinein, ob er sie verdiene», und fährt fort, dass Kindern aus besseren Häusern dieser alles verbitternde Zweifel von Anfang an wegerzogen wird. Und wie recht er da hatte, hat wiederum gut hundert Jahre später Thomas Mann seinen Tonio Kröger sagen lassen: «Es ist gerade genug, daß ich bin, wie ich bin, und mich nicht ändern will und kann». Er sieht sich mit allem, was er fühlt und denkt, gerechtfertigt. Und fast zur gleichen Zeit, also am Anfang des 20. Jahrhunderts, sagt Jakob von Gunten, die Romanfigur Robert Walsers:

«Wie glücklich bin ich, daß ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag! Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluß gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den unteren Regionen atmen.»

Das ist die radikale Absage an die Lebensmöglichkeit. So weit war aber im Jahr 1795 auch schon Jean Paul in seinem Hesperus: «Dann spei’ ich aufs Ganze, wenn ich das Opfer bin, und verachte mich, wenn ich das Ganze bin.»

Sie sind alle gleich radikal, Jean Paul, Dostojewski, Kafka, Robert Walser. Radikal in der Selbstverneinung. Radikal im Erlebnis, dass es für sie keine Rechtfertigung mehr gibt. Radikal in der Absage an Geschichte. Jede gesellschaftliche Veränderung zu ihren Gunsten wird verneint, man könnte sagen: absolut verneint. Was für ein Mangel muss erlebt worden sein, dass Jean Paul, Dostojewski, Kafka und Robert Walser zu solchen Selbstverneinungsorgien hingerissen werden? Den Figuren, in denen sie sich ausdrücken, ist auf dieser Welt, unter den herrschenden Umständen, nicht zu helfen. Ja, ihnen ist sogar unter keinen Umständen zu helfen.

Nun hat ja immer noch die Arbeit getaugt zur Rechtfertigung dieser und jener Art von Leben. Thomas Mann denkt für Hans Castorp darüber nach, ob Arbeit für ihn eine Rechtfertigung erbringen könnte, und schließt diese Überlegung mit «der Vermutung», «daß die Arbeit in seinem Leben einfach dem Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war.» Dieses die Arbeit Verhindernde ist wahrscheinlich eine Zigarrenmarke. Und überhaupt: Hans Castorp legt dann lieber Debussy-Platten auf: «Hier gab es kein ‹Rechtfertige dich!›, keine Verantwortung».

Auf Debussy-Platten ist Kafka nicht gekommen. «K. lebte doch in einem Rechtsstaat», heißt es bei ihm, und er mobilisiert alles, alle Mittel, von denen er sich Rechtfertigung erhofft. Ihm ist an seinem 30. Geburtstag vom Gericht aufgetragen worden, eine Eingabe zu machen, in der er alle wesentlichen Momente seines Lebens aufzählen und bewerten, also rechtfertigen sollte. Und je mehr er jetzt zu seiner Rechtfertigung tun will, desto ungerechtfertigter kommt er sich vor. Das führt zum Entzug der Lebenserlaubnis, das führt zu der von ihm selbst veranstalteten Selbst-Hinrichtung.

Fazit: Wer nur gerechtfertigt leben kann, kann nicht leben. Es sei denn, er könne seine Rechtfertigungsnot durch das Auflegen von Debussy-Platten narkotisieren. Von dem Landvermesser K. im Schloss-Roman heißt es, er habe die Möglichkeit, im Dorf Arbeiter zu werden, und: «[…] aber dann in allem furchtbaren Ernst, ohne jeden Ausblick anderswohin.» Die Vereitelungsvirtuosität des Schloss-Systems ist so in die Verhältnisse delegiert, dass das Schloss unbelangbar bleibt und K. sich sein Scheitern immer selber zuzuschreiben hat.

Diese Schreibweise Kafkas lässt gelten, was gilt, als gelte es. So hat es Hegel formuliert, als er Wesen und Praxis der Ironie formulieren wollte. Ich habe hinzugefügt: Es ist das Ja zum Nein der Welt. So radikale Seinsweisen kommen in der Literatur kaum noch vor. Seit langem gilt Gesellschaftskritik. Und damit die Frage: Wer hat recht. Verglichen mit der Frage nach der Rechtfertigung ist das ein bescheidener Anspruch.

2.

Es ist kein Vergnügen, sich als neiderfüllt zu erleben. Ich beneide den und jenen, weil er sich gerechtfertigt fühlt. Das muss er nicht aussprechen, das strahlt er aus, das ist seine Wirkung. Nehmen wir als weltbekanntes Beispiel Jean Ziegler.

In der Zeitung steht: «In Fragen des Welthungers ist Ziegler ein weltweit renommierter Experte.» Also lädt ihn die Salzburger Landeshauptfrau im Frühjahr 2011 ein, am 27. Juli in Salzburg mit einer Rede die Festspiele zu eröffnen. Sie gibt ihm sogar einen Titel für seine Rede: Aufstand des Gewissens. Sie steht Ziegler politisch nahe, hat ihn schon einmal ausgezeichnet. Aber im Lauf des Frühjahrs entscheidet sie sich, «nach zwei ziemlich schlaflosen Nächten», die Einladung zurückzuziehen. Für Ziegler und alle ihm noch näher Stehenden ist klar: Das sind die Sponsoren, Schweizer Großbanken und Nestlé, Audi usw. Die Landeshauptfrau und die Konzerne legen unabhängig von einander dar, dass es keine solchen Einflüsse gab. Ziegler dazu: «Das ist Blödsinn.» Für ihn steht fest: Die Konzerne, die er, der Globalisierungsgegner, unermüdlich angreift und verantwortlich macht für die Hungerkatastrophe in Afrika und sonst wo, die haben seinen Auftritt verhindert. So wollte er anfangen: «Sehr verehrte Damen und Herren, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37000 Menschen verhungern jeden Tag, und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt.» Und zitiert den World-Food-Report, dass die Weltlandwirtschaft problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte. Also: «Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.» Das ist sein Ton, sein Stil, seine Wucht. Dann heißt es: «Viele der Schönen und der Reichen, der Großbankiers und der Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind die Verursacher und die Herren dieser kannibalischen Weltordnung.» Diese Prägung, dass unsere Weltordnung eine kannibalische sei, kommt bei Jean Ziegler regelmäßig vor.

Die Landeshauptfrau, eine Sozialdemokratin wie Ziegler selbst, hat glaubhaft dargelegt, dass sie ihn aus ganz anderen Gründen ausgeladen hat. Das fand statt im März und im April, und die Landeshauptfrau wollte verhindern, dass Ziegler in Salzburg angegriffen werden könnte wegen seiner langjährigen Kontakte zu Gaddafi. Es waren die Monate, in denen die Welt zu einem Urteil über Gaddafi kommen musste. Und kam. Sie, sagte die Landeshauptfrau, wollte Ziegler «beschützen». So kam es dort nicht zum «Aufstand des Gewissens», sondern zur Festrede, die von Joachim Gauck gehalten wurde.