Überfluss und Freiheit - Pierre Charbonnier - E-Book

Überfluss und Freiheit E-Book

Pierre Charbonnier

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Beschreibung

Ein augenöffnender philosophischer Beitrag zur Debatte um Umwelt und Kapitalismus: Der französische Philosoph Pierre Charbonnier gilt als »der neue philosophische Kopf einer politischen Ökologie« (so die französische Zeitschrift Libération). In »Überfluss und Freiheit« entwirft er die erste philosophische Ideengeschichte zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden ist. Bei jedem Klimagipfel werden Ziele formuliert – doch die vereinbarten politischen Regelungen genügen nicht, um diese zu erreichen. Warum ist das so? Weil, so zeigt Pierre Charbonnier, die Erde seit dem 17. Jahrhundert als unerschöpfliche Quelle von Wohlstand und Wachstum gesehen wird. Alle seither entwickelten politischen Ideen beruhen darauf, vor allem die zentralen Begriffe von Freiheit und Gleichheit, von Autonomie und von Wachstum bzw. Überfluss. Das ist eine fatale Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Natur. Wir brauchen eine philosophische Neudefinition dieser Beziehung, wenn wir nachhaltige politische, soziale und wirtschaftliche Ideen und Konzepte wollen. Pierre Charbonnier liefert die Grundlage dafür – klug und anregend, optimistisch und radikal!

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Seitenzahl: 683

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Pierre Charbonnier

Überfluss und Freiheit

Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

FISCHER E-Books

Inhalt

Einleitung1 Kritik der ökologischen VernunftDer Stoff der FreiheitDie andere Geschichte: Ökologie und soziale FrageFür eine ökologische IdeengeschichteSubsistieren, bewohnen, erkennenAutonomie und Überfluss2 Souveränität und EigentumDie politischen Affordanzen des BodensGrotius: Das Reich und der BesitzLocke: Der Bürger als Verbesserer3 Das Korn und der MarktDie sinnvolle Nutzung des BodensDer Agrarstaat der PhysiokratenDer liberale Pakt: Adam SmithZwei Arten von WachstumFichte: Die Allgegenwart der Modernen4 Die neue ökologische OrdnungVon einem Liberalismus zum anderenDie Paradoxa der Autonomie: GuizotDie Paradoxa des Überflusses: JevonsKoloniale ExtraktionenDie Autonomie-Extraktion: Tocqueville5 Die Industrielle DemokratieRevolutionen und IndustrieEigentum und ArbeitProudhons Kritik des liberalen PaktsDas Idiom der BrüderlichkeitDurkheim: »Carbon Sociology«Die politischen Affordanzen der Kohle6 Die technokratische HypotheseFluss der Materie und HandelsarrangementsSaint-Simon: eine neue soziale KunstDie technische Normativität der ModernenDie Freilegung des Schemas der ProduktionVeblen und der Kult der EffizienzDer Ingenieur und das Eigentum7 Die Natur in einer MarktgesellschaftMarx als Denker der AutonomieDie sinnvolle Nutzung des WaldesTechnologie und AgrarwissenschaftDie Eroberung der WeltKarl Polanyi: Schutz der Gesellschaft, Schutz der NaturDie EntbettungSozialismus, Liberalismus, Konservatismus8 Die große Beschleunigung und die Verdunklung der NaturFreedom from wantEmanzipation und Beschleunigung: Herbert MarcuseÖl und Atom: Die unsichtbaren Energien9 Risiken und GrenzenWarnungen und KontroversenKritik der Entwicklung und politischer NaturalismusDas Risiko und die Neuerfindung der AutonomieDie Sackgasse: zwischen Kollaps und Resilienz10 Das Ende der Ausnahme der Moderne und die politische ÖkologieSymmetrisierungenAutorität und KompositionUnter dem Naturalismus, die ProduktionDer ungleiche ökologische TauschDie Kritik provinzialisierenEine neue konzeptuelle Kartographie11 Der Selbstschutz der ErdeDer Wandel der GerechtigkeitserwartungenAutonomie ohne ÜberflussZu einem neuen kritischen SubjektSchluss: Die Freiheit neu erfindenLiteraturPersonenregister

Einleitung

In der Zeit, die erforderlich war, um dieses Buch zu schreiben, meldete die US-amerikanische Beobachtungsstation auf dem Mauna Loa, Hawaii, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre die Grenze von 400 und dann 410 ppm überschritten hat.[1] Diese Messung belegt, dass sich die ökologische Realität – gemessen an einer so winzigen Aktivität wie dem Verfassen eines philosophischen Werkes – heimlich in einem spektakulären Ausmaß verändert. Ich weise nur darauf hin, dass dieser Wert in der gesamten vorindustriellen Menschheitsgeschichte unter 300 ppm lag und dass der Autor dieser Zeilen bei 340 ppm geboren wurde. Ebenso hat eine viel beachtete deutsche Studie gezeigt, dass die Biomasse der Fluginsekten in 27 Jahren um 76 Prozent zurückgegangen ist:[2] Trotz Schutzmaßnahmen und der Erhaltung von natürlichen Lebensräumen sind drei Viertel der Insekten in wenigen Jahrzehnten verschwunden. Und dies ist nur eine Kennzahl aus einer riesigen Menge von Forschungsergebnissen zur Verschlechterung der Böden, Gewässer, Bestäubung und Instandhaltung des Ökosystems,[3] die zeigen, dass die Transformation der Erde nunmehr in einer Geschwindigkeit erfolgt, die in der Dauer eines Lebens und sogar eines bloßen Buchprojekts messbar wird.

In denselben fünf Jahren hat die globale politische Landschaft ebenfalls erstaunliche Veränderungen durchgemacht. Der Amtsantritt von Donald Trump in den USA2017 und von Jair Bolsonaro in Brasilien 2019, aber auch der Sieg der Brexit-Anhänger im Juni 2016 sind wohl die deutlichsten Zeichen in einer Reihe von Ereignissen, die oft als Zerfall der liberalen Ordnung interpretiert werden. Überall auf der Welt bringt die Rückkehr zu Grenzen und zum gesellschaftlichen Konservatismus gewisse Globalisierungsverlierer, die verzweifelt nach neuen Förderern suchen, mit wirtschaftlichen Eliten zusammen, die entschlossen sind, die Völker in einen Wettbewerb der Nationen zu treiben, um die Akkumulation des Kapitals aufrechtzuerhalten. Doch in der Zeit davor stellte das im Dezember 2015 unter allgemeiner Begeisterung unterzeichnete Pariser Abkommen die Entstehung einer neuen Form von Diplomatie in Aussicht, welche die Nationen gemeinsam ins Klimazeitalter führen sollte. Trotz der grundlegenden Schwächen dieser Übereinkunft haben die neuen Herren des Chaos genau diese Verbindung von diplomatischer Zusammenarbeit und Klimapolitik angegriffen: Es gehe nicht darum, eine Weltordnung zu begründen, die auf einer Begrenzung der Wirtschaft beruht.

Noch immer in demselben Zeitraum konnte man eine Vervielfachung der Fronten des gesellschaftlichen Protests beobachten, die den Zustand der Erde hinterfragen. Die letzten Korrekturen an diesem Buch wurden vorgenommen, als sich in Frankreich die Gelbwestenbewegung mobilisierte, die, wie wir nicht vergessen dürfen, durch die Ankündigung einer Erhöhung der Kraftstoffsteuer ausgelöst wurde. Die Erfindung einer neuen Beziehung zum Territorium innerhalb des ZAD von Notre-Dame-des-Landes[4] oder anlässlich des Konflikts zwischen den Bewohnern des Indianerreservats Standing Rock und einem Pipeline-Projekt in Dakota begann zu der gleichen Zeit, in der ich in meinen Seminaren anfing, Verbindungen zwischen der Geschichte des modernen politischen Denkens und der Frage der Ressourcen, des Lebensraums und im weiteren Sinne der materiellen Existenzbedingungen herzustellen. Kurz, die aktuellen Ereignisse bestätigen und nähren ständig die Idee von einer Neuausrichtung der gesellschaftlichen Konflikte um die menschliche Subsistenz. Doch neben all dem – neben den Klimamärschen, den Reden von Greta Thunberg und den Aktionen des zivilien Ungehorsams der Extinction Rebellion in London gab es auch Haiti, Puerto Rico und Houston: Die Zunahme von tropischen Wirbelstürmen und das Versagen der Regierungen in ihren Reaktionen haben die Verwundbarkeit des Klimas zum Zeichen zunehmend politisierter sozialer Ungleichheiten gemacht. Die Verteilung der Reichtümer, Risiken und Schutzmaßnahmen zwingt uns, das Schicksal der Dinge, Völker, Gesetze und Maschinen, die sie zusammenbringen, als ein Ganzes zu begreifen.

Fünf Jahre reichen also aus, um kapitale Veränderungen zu verzeichnen. Fünf Jahre reichen aus, um eine doch nahe Vergangenheit als ein völlig anderes Universum zu betrachten als dasjenige, in dem wir uns nun entwickeln, als ein Universum, zu dem wir niemals zurückkehren werden. Die Schnelligkeit dieser Entwicklungen stellt uns auch vor die düstere Frage: Wo werden wir sein, wenn weitere fünf Jahre vergangen sind?

Dieses Buch ist sowohl eine Untersuchung über die Ursachen und Bedeutung dieser Ereignisse als auch eine ihrer vielen Erscheinungsformen – wenngleich eine mikroskopisch kleine. Es gewinnt seinen Sinn im Kontext der globalen ökologischen, politischen und sozialen Veränderungen, deren Bedeutung wir verschwommen wahrnehmen, aber noch nicht beschreiben, geschweige denn in die Sprache der Theorie übertragen können. Gewissermaßen besteht diese Arbeit darin, die Praxis der Philosophie in diese Geschichte einzubringen, ihre Methoden, die Form von Aufmerksamkeit, die sie der Welt zuteilwerden lässt, entsprechend diesen Fragen neu zu kalibrieren.

Sie beschreibt einen langen historischen und konzeptionellen Weg, der mehrere Jahrhunderte und sehr unterschiedliche Wissensformen umfasst. Dieser Weg lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Um zu verstehen, was mit dem Planeten geschieht und welche politischen Konsequenzen diese Entwicklung hat, ist es notwendig, zu den Formen der Besetzung des Raums und der Nutzung der Erde zurückzugehen, die in den Gesellschaften der frühen westlichen Moderne galten. Die Entfaltung der territorialen Souveränität des Staates, die Instrumente zur Eroberung und Verbesserung der Böden, aber auch die sozialen Kämpfe, die unter diesen Umständen stattfanden – all das bildet die Grundlage einer kollektiven Beziehung zu den Dingen, deren letzte Momente wir gegenwärtig erleben. Noch bevor der Wettlauf um die Gewinnung von Ressourcen, der die Begriffe des Fortschritts und der materiellen Entwicklung überlagerte, im 19. Jahrhundert richtig begann, war ein Teil der rechtlichen, moralischen und wissenschaftlichen Koordinaten des modernen Verhältnisses zur Erde bereits vorhanden. Anders gesagt, um die Ölimperien, die Kämpfe für Umweltgerechtigkeit und die beunruhigenden Kurven der Klimaforschung zu verstehen, müssen wir zur Agrarwissenschaft zurückgehen, zum Recht und zum ökonomischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts; zu Grotius, Locke und den Physiokraten. Um unsere Unfähigkeit zu verstehen, die Wirtschaft im Namen des Schutzes unserer Existenzgrundlage und unserer Ideale der Gleichheit Beschränkungen zu unterwerfen, müssen wir zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und zu der Art und Weise zurückgehen, in der die Industrie die kollektiven Vorstellungen von Emanzipation beeinflusste. Die aktuellen Debatten über Biodiversität, Wachstum und den Status der unberührten Natur sind nur die letzte Etappe einer langen Geschichte, in der unsere gesellschaftlichen Vorstellungen und die Materialität der Welt gemeinsam konstruiert wurden. Der ökologische Imperativ, sofern er als solcher anerkannt wird, erlangt seine Bedeutung in dieser Geschichte.

In Begriffen, die im engeren Sinne philosophisch sind, bedeutet dies, dass die Formen der Legitimation politischer Autorität, die Definition wirtschaftlicher Ziele und die Mobilisierung des Volkes für Gerechtigkeit immer eng mit dem Gebrauch der Welt verbunden waren. Die Bedeutung, die wir der Freiheit geben, die Mittel, die eingesetzt wurden, um sie einzuführen und zu bewahren, sind keine abstrakten Konstrukte, sondern Produkte einer materiellen Geschichte, in der Böden und Bodenschätze, Maschinen und die Eigenschaften von Lebewesen entscheidende Handlungshebel geliefert haben. Die aktuelle Klimakrise offenbart diesen Zusammenhang zwischen materiellem Überfluss und Emanzipationsprozess eindrucksvoll. So bezeichnete zum Beispiel die US-Energiebehörde kürzlich Erdgas, einen fossilen Brennstoff, als »Molekül der Freiheit der USA«[5] und beschwor so die Phantasie einer Emanzipation von den Zwängen der Natur: Die Freiheit sei buchstäblich in der fossilen Materie enthalten. Diese atemberaubende Aussage steht in Widerspruch zu allem, was die Klimaforschung und ihre politische Übersetzung zeigen: Die Anhäufung von CO2 in der Atmosphäre gefährdet nicht nur die Bewohnbarkeit der Erde, sondern erfordert auch ein neues Konzept für unser politisches Verhältnis zu den Ressourcen. Mit anderen Worten: Diese Moleküle enthalten das Gegenteil von Freiheit, sie sind ein ökologisches Gefängnis, aus dem man keinen Ausweg findet.

Es geht somit darum, die Geschichte neu zu schreiben und politische Probleme einer neuen Art auszumachen, indem man die gegenwärtige geologische und ökologische Erfahrung als Indikator, als den sichtbaren Teil eines zu rekonstruierenden Rätsels nutzt. Der Leitfaden dieser Geschichte klingt im Titel des Buches an: Wie hat die rechtliche und technische Konstruktion der Wachstumsgesellschaft die Bedeutung, die wir der Freiheit geben, geprägt und geleitet? Wie haben im Gegenzug die Kämpfe um Emanzipation und politische Autonomie die intensive Nutzung der Ressourcen zur Entfaltung gebracht? Kurz: Was lehrt uns eine materielle Geschichte der Freiheit im Hinblick auf die aktuellen politischen Veränderungen?

***

Ich habe diese Erzählung und Analyse um drei große historische Blöcke herum aufgebaut, zwischen denen zwei ökologische und politische Umbrüche revolutionären Ausmaßes liegen.

Der erste Block ist die vorindustrielle Moderne: ein soziales Universum, in dem die Bearbeitung des Bodens die Existenzgrundlage und die Basis der wichtigsten sozialen Konflikte bildet, eine unumgängliche Referenz, um Eigentum, Reichtum und Gerechtigkeit zu denken. Land war damals eine umkämpfte Ressource, die Grundlage der symbolischen Legitimität von Macht und Gegenstand von Eroberung und Aneignung.

Dann kam im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich eine neue ökologische Koordinate zum materiellen und mentalen Universum der Menschen hinzu: die Kohle und sodann das Öl, also die fossilen Brennstoffe. Damit beginnt ein zweiter historischer Block, in dem sich die Gesellschaften um die Nutzung dieser konzentrierten, platzsparenden und leicht tauschbaren Energien herum neu konfigurieren, welche die produktiven Funktionen und das soziale Los von Millionen von Männern und Frauen tiefgreifend umzugestalten vermögen. Mit den fossilen Energien werden die Organisationsformen und kollektiven Ideale der Bewährungsprobe einer großen materiellen Neuordnung unterzogen.

Schließlich vollzieht sich – uns ganz nahe – ein zweiter umweltpolitischer Umbruch, dessen Ausmaß mindestens ebenso groß und entscheidend ist wie der vorherige. Er leitet ein drittes Universum ein, dessen Beginn wir gerade erleben und das durch die katastrophale und irreversible Veränderung der globalen Umweltbedingungen definiert werden kann. Sämtliche biogeochemischen Kreisläufe, welche die planetarische Wirtschaft strukturieren, werden durch das Tempo der produktiven Aktivitäten über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus ausgeschöpft; die Beschaffenheit des Bodens, der Luft und des Wassers verändert sich und schreibt damit die menschlichen Kollektive und ihre Kämpfe in neue Koordinaten ein.

Nach einem ersten einleitenden und allgemeinen Kapitel sind die Kapitel 2 und 3 der ersten historischen Sequenz gewidmet; Kapitel 4 versucht, die Charakteristika der ersten großen Transformation zu beschreiben; die Kapitel 5 bis 9 befassen sich mit der Zwischensequenz; die letzten beiden Kapitel skizzieren die Fragen, um die es zu Beginn des Klimazeitalters geht. Das moderne politische Denken hat sich somit historisch in drei sehr unterschiedlichen Welten entfaltet: einer an den Boden gebundenen, agrarischen, stark territorialen Welt; einer industriellen und mechanischen Welt, die neue Formen der Solidarität und des Konflikts hervorgebracht hat; und einer Welt, die im Begriff ist, aus den Angeln zu geraten, und über die man noch wenig weiß, abgesehen davon, dass die Verfolgung der Ideale der Freiheit und Gleichheit hier ein völlig neues Gesicht bekommt. Jedes Mal wurden die kollektiven Bestrebungen und die Herrschaftsverhältnisse durch die spezifischen Merkmale dieser Welten tiefgreifend geprägt.

***

Mit diesem Buch möchte ich zur Politisierung des ökologischen Problems beitragen und im weiteren Sinne zum Aufbau einer kollektiven Reflexion darüber, was gerade mit dem modernen Paradigma des Fortschritts geschieht. Man kann sich eine Vorstellung vom Stand dieser Debatte machen, wenn man sich einfach die beiden konträren Positionen vergegenwärtigt, die sie strukturieren.

Auf der einen Seite deutet eine Reihe von globalen Statistiken auf eine Verringerung von Elend, Krankheit und Unwissenheit hin: Das globale Medianeinkommen hat sich zwischen 2003 und 2013 fast verdoppelt, ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung liegt unter der extremen Armutsgrenze,[6] die Lebenserwartung steigt, die Alphabetisierung verbreitet sich, die Kindersterblichkeitsrate und Unterernährung gehen zurück. Einige Intellektuelle, wie der US-amerikanisch-kanadische Philosoph Steven Pinker, sind berühmt geworden, indem sie derartige Daten als Beweis für die Wirkungsfähigkeit der liberalen Utopie interpretierten. Die Kombination von Kapital, von Technologie und von um das Individuum zentrierten moralischen Werten, die er etwas monolithisch auf die Aufklärung zurückbezieht, sei eine bewährte Formel, um die Menschheit aus ihrer schwierigen Lage zu befreien, und zwar sowohl moralisch als auch materiell. Die partiellen Erfolge des herrschenden Entwicklungsschemas werden so interpretiert, um Versuche der sozialen und politischen Neuorientierung zu verhindern und diejenigen abzuschrecken, die, indem sie mehr oder Besseres fordern, unvorsichtig diese Mechanik des Fortschritts schwächen würden.[7]

Auf der anderen Seite finden wir natürlich all jene, die die Abnahme der Artenvielfalt, das gegenwärtig stattfindende sechste Massensterben, die Klimaerwärmung, die Erschöpfung der Ressourcen, die Vervielfachung der Katastrophen beunruhigt und die zuweilen so weit gehen, das bevorstehende Ende der menschlichen Zivilisation oder gar der Welt selbst vorherzusehen. Ohne selbst die Rhetorik der Apokalypse zu übernehmen, nähren die großen wissenschaftlichen Institutionen, die für die Erfassung der Entwicklung des Systems Erde verantwortlich sind, insbesondere der Weltklimarat (IPCC) und der Weltbiodiversitätsrat (IPBES), das berechtigte Gefühl des Verlusts. Doch ebenso wie man einen Unterschied machen muss zwischen der Verbesserung bestimmter Wirtschafts- und Humanindikatoren und der Bestätigung einer Entwicklungstheorie, die im 18. Jahrhundert geboren wurde, gibt es einen Unterschied zwischen den schweren Schäden, die dem Planeten zugefügt wurden, und der Gleichsetzung der Moderne mit einer reinen Katastrophe. Die derzeitige Mode des Kollaps-Denkens offenbart ein zunehmendes Bewusstsein für die ökologische Verwundbarkeit, wobei die Überzeugung mancher, dass es zu spät sei, die Welt zu retten, nur dessen Glutnest ist.

Je nachdem, welche Indikatoren man wählt und in welche Rangordnung man sie bringt, kann man der Ansicht sein, dass wir in der besten oder in der schlechtesten aller Welten leben. Die Geschichtsphilosophie stellt seit langem das Narrativ von der universellen zivilisatorischen Mission der Vernunft dem Gegennarrativ vom Wahnsinn gegenüber, der dem Willen zur Kontrolle innewohnt. Aber dieser theoretische Topos ist nicht nur eine ideengeschichtliche Vereinfachung, sondern macht uns vor allem unfähig, das Problem zu begreifen, vor dem wir stehen: Es ist möglich, zumindest für einige, in einer Welt, die sich verschlechtert, besser zu leben. Der Widerspruch, mit dem wir es zu tun haben, ist keine Frage der Wahrnehmung oder Meinung, sondern befindet sich in der Realität selbst, genauer gesagt in einer differenzierten sozialen Realität. Der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanović hat zum Beispiel gezeigt, dass die Früchte des Wirtschaftswachstums der letzten zwanzig Jahre größtenteils einer neuen globalen Mittelschicht zugutekamen – speziell der riesigen chinesischen Mittelschicht, die durch die industrielle Explosion in diesem Land entstanden ist.[8] Aber es ist auch diese Bevölkerung, die am meisten unter der Umweltverschmutzung, der überfüllten städtischen Umwelt und der harten Arbeitsdisziplin in einem repressiven Staat leidet.[9]

Das messbare Wachstum der Wirtschaft und des Einkommens ist ein irreführender Indikator. Denn während es für viele immer noch die Phantasie von der materiellen und moralischen Verbesserung transportiert, ist es auch untrennbar mit dem Prozess der Beschädigung des Planeten verbunden, der uns ins Ungewisse führt. Eine adäquate Politisierung der Ökologie liegt zwischen diesen beiden Dimensionen der historischen Realität. Der himmelstürmende Enthusiasmus und die düsteren Endzeitprophezeiungen sind so nur zwei karikatureske Interpretationen einer ansonsten komplexen Realität, die uns zwingt, die Bedeutung zu überdenken, die wir der Freiheit geben, wenn ihre ökologischen und ökonomischen Abhängigkeiten ihren eigenen Fortbestand untergraben.

1 Kritik der ökologischen Vernunft

Der Stoff der Freiheit

Sehr lange Zeit dachten wir, dass sich soziale Konflikte an rivalisierenden Erfahrungen und Freiheitsvorstellungen festmachen, dass sich die Geschichte in einem endlosen Kampf zwischen denen abspielt, die Anerkennung fordern, und denen, die in der Position sind, diese zu gewähren. Wir dachten, es gehe darum, Rechte zu erwirken, die erlauben, unter dem Schutz eines gerechten Staates gleichberechtigten Zugang zur Welt und ihren Gütern zu haben. Errungenschaften wie Gewissensfreiheit, Schutz vor Machtwillkür oder wirtschaftliche Gerechtigkeit erschienen uns als Antworten auf innergesellschaftliche Erwartungen, die in einem unveränderlichen äußeren Raum entstanden. Und dann tauchten Kämpfe auf, bei denen es um die Beziehung zu diesem Territorium ging, was uns zwang, die Vorstellung von Ungerechtigkeit und ihrer Überwindung zu revidieren. Denn wenn uns die ökologischen und klimatischen Warnsignale zum Beispiel dazu führen, den energetischen Abhängigkeiten und den damit verbundenen Lebensweisen und Interessen nachzuspüren und sie zu hinterfragen, wird uns bewusst: Das Schicksal der Welt, wie wir sie kennen – und nicht nur der Gesellschaft –, hängt von der Lösung eines politischen Rätsels ab.

Wir glaubten, auf einer gemeinsamen Erde zu kämpfen, doch nun entdecken wir, dass diese mehr denn je der eigentliche Gegenstand unserer Differenzen ist. Böden, Ozeane, Klimata und die Beziehungen zwischen den Lebewesen erfahren Veränderungen, deren Ausmaß wir nun mit Hilfe der Wissenschaften erkennen. Das zwingt uns, sie aus dem politischen Schweigen herauszuholen, in dem wir sie lange belassen haben. Diese fortwährenden Destabilisierungen bringen in den Gemeinschaften, die damit konfrontiert sind, neuartige Forderungen nach Gerechtigkeit sowie nach einer Neudefinition davon auf, was es heißt, die Erde zu bewohnen. Obgleich die so entstehenden Bewegungen die sozialen Kämpfe fortsetzen, die wir aus der Geschichte kennen, zeugen sie von einer tiefgreifenden Veränderung der Beziehungen zwischen dem sozialen Körper, der Vorstellung, die er von sich selbst hat, und seiner natürlichen Umwelt.

Die Kämpfe für Gleichheit und Freiheit, gegen Beherrschung und Ausbeutung, haben die Menschheitsgeschichte stets angetrieben. Doch sind sie zunehmend in einen Konflikt eingebettet, dessen Gegenstand der Boden – der diese Grunddivergenzen noch verstärken kann – und dessen Schutz ist. Oder besser gesagt: Sie offenbaren auf tragische Weise, dass die politischen und ökologischen Verhältnisse eng miteinander verbunden und gemeinsamen Veränderungen unterworfen sind.

Das macht es so schwierig, die gegenwärtigen politischen Ereignisse auf der Grundlage unserer Geschichte und intellektuellen Reflexe zu fassen. Wie können diese beiden Dimensionen der Gegenwart – die politische Ordnung und die ökologische Ordnung – zusammen gedacht werden? Wie kann zwischen den wachsenden ökonomischen und sozialen Ungleichheiten und den zunehmenden globalen Umwelt- und Klimakatastrophen (für die es noch keine Lösungen gibt) eine Brücke geschlagen werden? Wie kann mit denselben Instrumenten sowohl der demokratische Zusammenbruch, den zahlreiche Staaten – darunter die ökonomischen und politischen Großmächte – durchlaufen, als auch der Umstand diagnostiziert werden, dass die Hauptakteure der fossilen und rohstoffgewinnenden Industrien diese Regime stützen? Die Form der heutigen sozialen Beziehungen und ihre damit einhergehenden Pathologien sind das Ergebnis eines zunehmend in Frage gestellten Arrangements, bei dem die territoriale Organisation, das Streben nach Produktionsintensität, die Autorität der Wissenschaften, das koloniale Erbe und viele andere Faktoren, welche die Nutzung der Welt aufs Spiel setzen, zusammenwirken.

Die Grundlage dieser umweltpolitischen Arrangements ist die Bedeutung, die wir unserer Freiheit beimessen, und unsere Fähigkeit, sie einzusetzen. Das macht die Klimafrage auf spektakuläre Weise greifbar. Denn der Anstieg der Durchschnittstemperaturen ist das Ergebnis von eineinhalb Jahrhunderten massiver Verbrennung fossiler Energieträger: Nachdem wir die Atmosphäre als Überlauf für die industrielle Umweltverschmutzung genutzt haben, begreifen wir, dass ihre Aufnahmekapazität begrenzt ist und dass die Art und Weise, wie wir auf der Erde leben, von ihr abhängt. Was sich über unseren Köpfen ansammelt, ist die Asche der industriellen Freiheit; was zur Disposition steht, sind die spektakuläre Erweiterung unseres technischen Zugriffs auf die Welt und die kulturellen Vorstellungen der Hochmoderne – die Zersiedlung, das Automobil, die Elektrogeräte, ein gewisser Sinn für Komfort und Sicherheit.

Mit anderen Worten: Ökologie und Politik sind nicht auseinanderzuhalten. Gesellschaftliche Institutionen, insbesondere der Staat, haben ein materielles Leben, das keine technologische Voraussetzung für die Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens darstellt. Die Erfahrung von Ungerechtigkeit kommt zunehmend in Bezug auf die Nutzung des Raums und der Erde sowie in Reparationsforderungen nach Katastrophen zum Ausdruck, was ein Beweis dafür ist, dass die Ströme und Netzwerke, die unsere Existenz tragen, auch unsere politischen Bedingungen mitbestimmen. All das zwingt uns, unser Bewusstsein für die materiellen Abhängigkeiten zu schärfen, die für unsere Vorstellung von Emanzipation konstitutiv sind oder sie dekonstruieren. So ist es zum Beispiel wichtig zu wissen, dass in unserem Telefon, in unserem Auto oder in dem, was auf unserem Teller liegt, eine Reihe von Versorgungskreisläufen geronnen sind: Sie lassen sich bis zu den Bergwerken und ihren Beschäftigten, den Böden, dem geologischen Wissen und den Kapitalströmen zurückverfolgen, und der Preis für diese Güter spiegelt oft nicht die tatsächlichen sozialen Kosten ihrer Produktion wider. Wir wissen häufig nicht, dass die Umlaufgeschwindigkeit unserer Wirtschaft verlangt, 25 Prozent der jährlich vom System Erde erzeugten Biomasse in die Handelskreisläufe einzuspeisen oder für sie zu opfern,[10] oder dass dies im Falle der reichsten Regionen der Welt die Biokapazität der Umwelt um 100 Prozent übersteigt.[11] Wir erleben ein geologisches Experiment von globalem Ausmaß, das alle bekannten öko-evolutionären Dynamiken über den Haufen wirft.

Doch wenn wir unsere Augen vor diesem Experiment und seinen Folgen verschließen, tun wir dies, weil es in ein Spannungsverhältnis zu dem gerät, was uns am teuersten ist oder zu sein scheint, nämlich die Möglichkeit, absolute, bedingungslose Freiheit zu genießen. Es gibt nichts, was materieller ist als die Freiheit, insbesondere die Freiheit der modernen Gesellschaften, die mit den Produktionskapazitäten der Erde und der Arbeit einen Pakt geschlossen haben, der nun brüchig wird.

Deshalb muss die politische Emanzipation heute in materiellen, geographischen Begriffen neu formuliert werden. Sei es auf der lokalen oder globalen Ebene, wir sind abhängig von einer Reihe von Überbeanspruchungen der Umwelt, die gegen die simpelsten Prinzipien der Nachhaltigkeit verstoßen. Die Abnahme der Fruchtbarkeit landwirtschaftlicher Nutzflächen, die Sättigung der Kohlenstoffspeicher in der Atmosphäre, der Einbruch der Biodiversität – all das sind Indikatoren für die begrenzte Fähigkeit der Umwelt, die Schläge aufzufangen, die ihr zugefügt werden, und von ihrer Tendenz, sie in unerwarteten, oft unvorhersehbaren, manchmal katastrophischen Formen freizusetzen. Einige der biogeochemischen Zyklen und evolutionären Dynamiken, welche die Erde zu einer bewohnbaren Umwelt machen, werden heute über ihre Toleranzschwelle hinaus strapaziert, wobei das Klima nur eine dieser Transformationen darstellt, wenn auch zweifellos die spektakulärste.[12] So werden gleichzeitig der Zugang zu Land, die gemeinsame Zukunft und die grundlegendsten Voraussetzungen für Gerechtigkeit gefährdet, das heißt das, was das Fundament der politischen Existenz bildet.

Doch es reicht nicht zu sagen, Ökologie und Politik tendieren dazu, sich zu überlagern, denn auf diese Feststellung stützen sich unterschiedliche ideologische Strategien. So sehen wir zum Beispiel ein »grünes Finanzwesen« aufkommen, das versucht, bestimmte, als verantwortungsvoll angesehene Geldanlagen mit einem Gütesiegel zu versehen und damit Kapital in Projekte zu lenken, die das natürliche Gleichgewicht oder die Prinzipien der Energieeffizienz respektieren.[13] Dahinter verbirgt sich das Bestreben, Märkte aufzubauen, die mit den Anforderungen des Umweltschutzes vereinbar sind, womit die von der Ökologiebewegung seit langem gegen sie vorgebrachte Kritik unterlaufen wird. Die Ansammlung und Zirkulation von Kapital scheint damit nunmehr Umweltstandards zu genügen, ohne dass die Idee einer grundsätzlichen Freiheit der Transaktionen von Börse und Markt beeinträchtigt wird.

Seitens konservativer und reaktionärer Bewegungen setzt sich zum Beispiel die Idee durch, dass die Natur als Norm für die Organisation der Gesellschaft fungieren kann.[14] So will die sogenannte »integrale« Ökologie zu Prinzipien zurückkehren, die dem gesunden Menschenverstand entsprechen sollen und dennoch von der modernen politischen Kultur fallengelassen wurden. Die Familie und die Nation werden als natürliche Gemeinschaften betrachtet, angelehnt an eine aus dem Boden der Ahnen gespeiste Identität, die sich aus einer vorgeblichen Kontinuität der Besiedlung ergeben habe. Und die Erhaltung der Umwelt würde sich reibungslos in diesen substantialistischen Rahmen einpassen, in welchem die als natürlich angesehene Ordnung der Dinge die Grundlage der Legitimität bildet. Die diffuse Forderung, unsere Organisationsformen wieder mit dem physischen und lebendigen Substrat der Welt in Einklang zu bringen, mündet in unterschiedliche Formen, die offensichtlich nicht miteinander kompatibel sind. Und so geht die späte Vermählung der Modernen mit »der Natur« mit einer gewissen Unübersichtlichkeit einher.

Einige meinen, das Schlachtfeld der Ökologie könne leicht befriedet werden, indem man sich auf die Verlangsamung der Wirtschafts- und Rohstoffgewinnungsmaschinerie beschränke. Wäre der aus der Vergangenheit ererbte und mittlerweile durch technische Effizienz obsolet gewordene Akkumulationstrieb erst einmal eliminiert, würde sich die ökonomische Megamaschine fügsam den Zwängen der Natur beugen – womit sich dieselbe Gesellschaft und dieselbe politische Organisation entfalten würden, die einzig ihrer produktivistischen Übergriffe entledigt wären. Doch wie bereits angedeutet, implizieren die Abkehr von der Überbeanspruchung der Umwelt und die Dekarbonisierung der Wirtschaft eine komplette Neudefinition dessen, was die Gesellschaft ist, sowie eine Neuordnung der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und eine Neubestimmung der Gerechtigkeitserwartungen. Mit anderen Worten: Dekarbonisiert werden müssen sowohl die demokratische Organisation als auch die Bestrebungen, die sie stützen – und nicht nur die Wirtschaft. Ohne Wachstum zu Wohlstand zu gelangen, um den Titel eines berühmten Buches aufzugreifen, geht nicht von einer technologischen Lösung, sondern von einer politischen Veränderung aus, deren historische Entsprechungen in den großen technischen und rechtlichen Revolutionen zu suchen sind, welche die Moderne begründet und unseren gemeinsamen Idealen als Laboratorium gedient haben.[15]

Der Klimawandel und die tiefgreifenden Veränderungen der öko-evolutionären Dynamiken sind somit keine Krisen der Natur, sondern Ereignisse, die eine Neudefinition des Projekts der Autonomie verlangen. Dieses Projekt, das im Zeitalter der Revolutionen an der Wende zum 19. Jahrhundert geboren und ständig zurückgestellt und behindert wurde – vor allem abseits des Bereichs der westlichen Industrialisierung –, bestand darin, willkürliche Autoritäten abzusetzen und dem versammelten Volk die Macht zu übertragen, sich Regeln zu geben, das Ruder der Geschichte zu übernehmen und die Freiheit von Gleichen zu verwirklichen. Zu der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit dieser Errungenschaft kommt heute bezüglich der materiellen Möglichkeiten, die sie zunächst gestützt haben, jedoch noch eine Herausforderung hinzu. Das Wachstum und die intensive Technisierung, die das Ideal der Kontrolle über unser historisches Schicksal lange greifbar gemacht haben, führen heute zu einer wachsenden Unterwerfung unter die Willkür der Natur. Dies ist die Grundhypothese dieses Buches: Überfluss und Freiheit gingen lange Zeit Hand in Hand, wobei Letzteres als die Fähigkeit betrachtet wurde, sich dem für den Menschen demütigenden Zufall von Reichtum und Mangel zu entziehen. Doch diese Allianz und der historische Weg, den sie beschreibt, geraten nun in eine Sackgasse. Die Alternative, die sich angesichts dessen bietet, stellt unter dem Druck harter ökologischer Zwänge zuweilen einerseits die gänzliche Abkehr von den Idealen der Emanzipation und andererseits den Genuss der letzten uns verbleibenden Momente von Autonomie einander gegenüber. Aber wer möchte eine autoritäre Ökologie oder eine Freiheit ohne ein Morgen? Der theoretische und politische Imperativ von heute besteht somit darin, die Freiheit im Zeitalter der Klimakrise, das heißt im Anthropozän, neu zu erfinden. Im Gegensatz zu dem, was zuweilen zu hören ist, geht es folglich nicht darum, zu beweisen, dass unendliche Freiheit in einer endlichen Welt unmöglich ist, sondern darum, zu beweisen, dass die Freiheit nur durch den Aufbau einer vergesellschaftenden und nachhaltigen Beziehung zur materiellen Welt zu erringen ist.

Die andere Geschichte: Ökologie und soziale Frage

Wie kann man heute eine theoretische Untersuchung dieser Fragen aufbauen? Zunächst, indem man die richtige Geschichte erzählt. Denn im Gegensatz zu dem, was die Philosophie traditionell suggeriert, bilden das Gefühl für die Natur und der Wille, sie mehr als Person statt als Ding zu behandeln, nicht den einzigen oder gar wichtigsten Rahmen, um das Aufkommen einer Umweltkritik zu verstehen. Anstatt abstrakt eine Natur zu konzipieren, für die wir Empathie entwickeln könnten, möchte ich die soeben beschriebenen Widersprüche anhand der Geschichte der sozialen Frage beschreiben. Wir dürfen die soziale Frage nicht länger von der ökologischen Frage trennen, denn es handelt sich um zwei Phasen ein und desselben Konflikts, der unsere Geschichte durchzieht.

Als »soziale Frage« bezeichnet man die Spannungen, die daraus resultieren, dass die Gesellschaften gleichzeitig auf die Steigerung des materiellen Wohls und auf den Aufbau eines politisch-rechtlichen Systems ausgerichtet sind, in dessen Mittelpunkt Gleichheit und Freiheit stehen. Denn die spezifischen Erfordernisse für die Verwirklichung des ersten Ziels und die Opfer, die dafür von einem großen Teil der Bevölkerung gebracht wurden, gefährdeten die Verwirklichung des Projekts der Angleichung der Bedingungen, dessen bedeutendstes historisches Symbol die Französische Revolution war. Die soziale Frage steht für die Suche nach einem angemessenen Gleichgewicht zwischen Bereicherung und Gleichheit, zwischen Wachstum und der Verteilung der daraus hervorgehenden Gewinne. Semantisch geprägt im 19. Jahrhundert, bezieht sich der Begriff auf die Gesamtheit der Pathologien, von denen die Industriegesellschaften betroffen sind, sowie auf die Maßnahmen, die zu ihrer Abschwächung oder Kompensierung ergriffen werden: Die Transformation der Arbeitsteilung und insbesondere ihre Strukturierung in Form eines Marktes setzen die Gesellschaft der Gefahr der Zersplitterung aus, auf welche die Institutionen reagieren, indem sie den vergesellschaftenden Charakter der Arbeit schützen. Anders gesagt: In einer Ökonomie des Überflusses stellt die Armut ein besonderes Problem dar. Sie wird gewissermaßen noch skandalöser als in einem Subsistenzsystem – wo sie, wenn nicht dauerhaft, so doch zumindest strukturell auftrat. Denn sie betrifft nicht nur das Leben der Menschen, sondern auch und vor allem ihren zivilen Status.

Zu behaupten, dass die politische Ökologie historisch einem roten Faden folgt, der uns zu dieser Art von Problemen führt, bedeutet wiederum, davon auszugehen, dass die soziale Frage eng mit der Form verknüpft ist, in der sich ein zentraler politischer Wert auf das materielle Umfeld ausgewirkt hat. Die sozialen Beziehungen sind so eng, ja untrennbar mit den Beziehungen zur Natur verbunden. Die massive Transformation der materiellen Lebensordnung von Gesellschaften infolge neuer Formen des Verhältnisses zu Ressourcen und Räumen, die sich in den europäischen Ländern und ihren Kolonien herausgebildet haben, war für den Wandel der Arbeitsbedingungen und damit der gesellschaftlichen Dynamik zentral. Wenn man sagen kann, dass der Aufbau der modernen Industriegesellschaften für das physische Lebensumfeld, in dem sie sich entfalteten, absolut nicht ohne Belang war, dann ganz einfach deshalb, weil die Hoffnung auf ein prosperierendes, kontrolliertes und Sicherheit bietendes Verhältnis zur Welt, das heißt die Herstellung einer produktiven, vertrauten und stabilen Natur, den allgemeinen Rahmen für Ideale bildete, die man gewöhnlich eher als politisch ansieht.

Damit sind diese Ideale von vornherein in eine historische Dynamik eingebunden, bei der die Durchlässigkeit des Natürlichen und des Sozialen ignoriert wird. Sobald aber das System der Rechte und das materielle System als zwei Dimensionen ein und desselben historischen Prozesses betrachtet werden, gibt es keinen Grund mehr, die Bezeichnung »politisch« ersterem vorzubehalten.

In einem für diese Fragen grundlegenden Werk hat der britische Historiker Gareth Stedman Jones darauf hingewiesen, dass sich bei der Entstehung des politischen Republikanismus das moralische und geistige Erbe der Aufklärung nicht in den Ideen von Gleichheit und Freiheit zusammenfassen lässt. Ebenso wichtig war das Versprechen vom Ende der Armut, das heißt die Beseitigung des bislang endemischen Problems der Knappheit.[16] Dieser gleichermaßen ideologische wie praktische Anspruch, der am klarsten bei Autoren wie Condorcet und Thomas Paine formuliert ist, verleiht dem Prinzip der Gleichheit eine materielle Bedeutung, da die Entwicklung von Technik und Handel als Mittel verstanden wurde, um die Kluft zwischen den besitzenden und den übrigen Klassen zu verringern. Die Idee von der Verbesserung der Lebensbedingungen für möglichst viele ist offensichtlich eng mit der Vorstellung von der Natur als produktive Ressource verbunden, womit nicht zuletzt deren übermäßige Ausbeutung zusammenhängen dürfte. Aber auch wenn wir diese Idee im Kopf behalten sollten, sagt sie doch ebenso etwas über die Beziehung zwischen Natur und Politik in den modernen Gesellschaften aus. Zwar wurde die Natur sicher nicht im Sinne eines Erbes geschützt oder gewürdigt, doch war sie auch keine bloße Bühne, auf der sich eine im Wesentlichen soziozentrierte Dramaturgie entfaltete. Das Soziale, das Politische und das Materielle sind miteinander verbunden, weil diese verschiedenen Ebenen der Reflexion und historischen Entwicklung miteinander zusammenhängen, aneinander anschließen, und weil der Raum der theoretischen Betrachtungen voll ist von Überlegungen, wie unsere Beziehungen zur Natur aussehen sollen und können. Der Wandel, der die Arbeit, die Rechte und die materielle Welt erfasst, ist so ein und derselbe, und als solchen gilt es, ihn zu denken.

Diese historischen Überlegungen zur sozialen Frage sind mit einer breiter angelegten Infragestellung der Trennung von Natur und Gesellschaft verbunden, die aus den Arbeiten der modernen Anthropologie hervorgegangen ist. Diese Werke, insbesondere die von Bruno Latour und Philippe Descola, haben in der Tat eine heilsame Skepsis gegenüber dem modernistischen Triumphalismus genährt, der im 19. und 20. Jahrhundert in der westlichen Welt vorherrschte und sich lange rühmte, die Menschheit durch einen entscheidenden Sieg über die Natur, den Mangel und die Heteronomie auf den Weg des Fortschritts gebracht zu haben. Die Vorstellung vom Sozialen als einer autonomen Sphäre, das heißt als einem Raum, der seine Geschichtlichkeit mit eigenen Mitteln und nach eigenen Zielen produziert, hat sich im Kielwasser der Aufklärung de facto allmählich als ein zentrales Merkmal von Gesellschaften herausgebildet, die modern sein wollten. Von entscheidender Bedeutung ist sie insbesondere in Frankreich in der revolutionären und postrevolutionären Zeit,[17] doch sie sollte sich auch in der Emanzipationsbewegung der Sklavenkolonien gegen die europäischen Imperien verbreiten: Der Kampf für Selbstbestimmung ist so ein Ableger des Projekts der Autonomie, der sich gegen seine ursprünglichen Erfinder richtet.[18]

Auch bei der Konstituierung der Sozialwissenschaften spielte diese Form von Reflexivität eine zentrale Rolle, da sie schon sehr früh behaupteten, der endogene Charakter gesellschaftlicher Transformationen sei das, was »das Soziale« als eigenständigen wissenschaftlichen Gegenstand beobachtbar mache. Und – vor allem – weil sie es sich zur Aufgabe machten, die praktische Umsetzung des Ideals der Autonomie sowie die ihm eigenen Pathologien zu beleuchten.[19] Es ist auch diese Form von Reflexivität, die erlaubt, eine enge Verbindung zwischen dieser neuen Art von politischem Denken und den Prinzipien der Demokratie herzustellen. Denn die so verstandene Autonomie bringt die Forderung nach einem idealerweise vollständigen Zugriff des Volkes auf sein politisches Schicksal mit sich. Heute erkennen wir jedoch eine Spannung zwischen jener Modernität, für die der endogene Charakter des konstruktiven und kritischen Prozesses zentral ist, und der aktuellen Neubewertung eben dieser historischen Phase, in der die politische Autonomie in vielerlei Hinsicht den Modus über- und verdeckt, der für die Beziehung zur Natur konstitutiv ist. Anders gesagt: Die Infragestellung des Begriffs der Natur, so wie wir ihn in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten verstanden haben, hat zu einer grundlegenden Erschütterung unserer Denkkategorien geführt, die nicht bei der Frage stehenbleibt, ob man der Natur einen eigenen Wert beimessen muss oder nicht. Worum es geht, ist vielmehr die Art und Weise, in der ihre materiellen, räumlichen und produktiven Eigenschaften in die Dynamik der Modernisierung, so wie sie sich tatsächlich entwickelte, mit ihren Erfolgen und Misserfolgen, einbezogen wurden.

Für eine ökologische Ideengeschichte

Die vorliegende Untersuchung beruht auch auf einer Reihe von Revisionen dessen, was man üblicherweise als Grundlage einer ökologischen Kritik der politischen Ordnung ansieht.

Die gängige Formulierung des ökologischen Problems ist in der Philosophie hauptsächlich normativ: Es geht darum, Prinzipien auszuarbeiten, mit denen die Wertehierarchie verändert werden kann, und darum, aus einer apologetischen Perspektive möglichst viele davon zu überzeugen, dass die Wiederherstellung eines Gleichgewichts zwischen Menschen und Nicht-Menschen richtig ist. Die Werte wurzeln im Allgemeinen in gesellschaftlich situierten Praktiken, in denen sich neue Präferenzen, neue Bindungen und neue Vorstellungen davon entwickeln, was gerecht und was ungerecht ist. Doch beschränkt sich die philosophische Arbeit oft auf eine rein normative Rückübersetzung dieser Praktiken: Es geht vor allem um Prinzipien. Die Philosophie macht es sich eher zur Aufgabe, eine bereits existierende Überzeugung bezüglich des Werts der Natur zu formalisieren, um sie besser begründen zu können, statt Veränderungen in den Praktiken, die mit der Ausbeutung der Natur zu tun haben, zu beobachten oder anzustoßen.

Eine der wichtigsten Folgen dieser theoretischen Perspektive ist, dass sie dazu neigt, Begrifflichkeiten, die als »ökologisch« gelten, und andere, die dies nicht seien, strikt auseinanderzuhalten. Diese prinzipielle Trennung dient nun aber vielen Denkern als Ersatz für eine historische Methodologie. Denn sie unterstellt, dass man die Geschichte des ökologischen Denkens schreiben kann, indem man die ethische Überzeugung als Leitfaden nimmt, die propagiert werden soll. Die spontane Haltung des Ökologen zur Ideengeschichte besteht somit darin, eine Erzählung zu produzieren, welche die allmähliche Genese von Ideen in Szene setzt, die prototypisch aus der Umweltethik, der Kritik der technischen Instrumentalität oder anderen Paradigmen abgeleitet sind, die den Anthropozentrismus und Objektivismus in der Philosophie zu relativieren oder zu beseitigen suchen.[20] Derartige Arbeiten sind vor allem dadurch begrenzt, dass das zugrunde gelegte Umweltempfinden nur teilweise funktioniert. Zugegeben, dieses Empfinden besteht tatsächlich darin, für eine systemische Neubewertung der Beziehungen zwischen den Menschen und der materiellen Welt einzutreten und damit diese Beziehungen zum Fokus der Begriffsbildung zu machen. Doch wenn man diesen theoretischen und historischen Weg konsequent verfolgt, ist es unmöglich, einen Rückblick nach dem Prinzip der Ähnlichkeit der Ideen zu strukturieren. Allzu oft folgt die ökologische Geschichte des Denkens tatsächlich der Spur ihrer eigenen normativen Prinzipien, die sie nach und nach auftauchen sieht und zurückverfolgt, bis diese sich in einer zu weit zurückliegenden Vergangenheit verlieren. Manchmal tritt ein anderes Modell an die Stelle des Paradigmas des allmählichen Entstehens: das Spiel des historischen und geographischen Übersprungs, das beispielsweise John Baird Callicott verfolgt, wenn er in einer breiten Palette außerwestlichen Denkens nach ökologischen Zügen sucht – um den Preis der Entkontextualisierung bestimmter Aussagen, die der Notwendigkeit geschuldet ist, Ähnlichkeiten zu suchen.[21] Die zugrunde liegende Logik bleibt indes dieselbe, da es noch immer das Prinzip der Identifikation ist, das die Rolle der historischen Methodologie übernimmt.

Die Ideengeschichte der Ökologie setzt mithin auf einen geistigen Separatismus, für den sich in sukzessiven Einwürfen eine Denktradition zeigt, die sich von einem weitverbreiteten Fundus moralischen und politischen Denkens unterscheidet, der implizit für nicht relevant gehalten wird. Dem kann man eine ökologische Ideengeschichte gegenüberstellen, bei der die zentrale Stellung der Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft als Sonde für die Analyse sämtlicher Ideen und theoretischen Kontroversen sowie ihrer Geschichte fungiert. Der Unterschied zwischen diesen beiden Grundmustern besteht darin, dass in letzterem der Korpus, der als relevant erscheinen mag, ein ganz anderer ist. Er bezieht jedes konzeptuelle Unterfangen ein, durch das die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft in Bewegung geraten, sei es nun auf die Konstitution eines normativen Umweltideals ausgerichtet oder nicht. Allerdings muss man einräumen, dass der epistemische Ort, der an der Schnittstelle zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen erscheint, sobald wir die unmittelbare Vergangenheit hinter uns lassen, hauptsächlich besetzt ist von Philosophen, Ökonomen oder Soziologen, die man nicht als ausgemachte Umweltschützer identifizieren kann: Was sie relevant macht, ist nicht ihr Respekt gegenüber der Natur.

Dies ist der zweite Unterschied zum separatistischen Modell: Die historische Untersuchung ist nicht mehr auf das Prinzip der doktrinalen Ähnlichkeit ausgerichtet, sondern auf die Suche nach historischen Transformationen, die – innerhalb der Geschichte des Denkens – das Verhältnis zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen betreffen. Schon bevor die Galaxie der Ideen und Normen entstanden ist, die man legitimerweise als »umweltpolitisch« oder »ökologisch« bezeichnen kann, und schon bevor soziale Kämpfe explizit auf solche Ideale ausgerichtet waren, waren die kollektiven Beziehungen zur Natur Gegenstand der Reflexion und kritischen Distanzierung. Diese Erkenntnisse und Debatten droht man zu übersehen, wenn man sich zu sehr an das Prinzip der Identität hält, als historiographisches Instrument und zugleich als Grundlage der ideologischen Anerkennung. Das Beispiel von Bentham mag dieses Problem veranschaulichen. Der englische Philosoph wurde oft als Stammvater des Tierschutzes dargestellt, da er die Beseitigung des Leidens fühlender Wesen – seien es Menschen oder nicht – in den Mittelpunkt seines moralischen Denkens gestellt hat.[22] Aber was ist dieses abstrakte normative Prinzip wert, wenn man es von den Überlegungen desselben Bentham zur Konsolidierung des englischen Handelsimperiums und zur Autonomie der Märkte trennt? Auch sie folgen aus seinen Grundprinzipen und haben mit der ökologischen Frage genauso viel zu tun wie das Tierwohl, denn bei all diesen Prozessen stand die Zukunft großer Landstriche und der Menschen, die sie bearbeiteten, auf dem Spiel.

Für eine ökologische Geschichte der Ideen ist die Umwelt weniger ein Gegenstand als eine Perspektive: Der ökologische Analysator demonstriert seine Vielseitigkeit, indem er eine beliebige Soziallehre zu seinem Gegenstand macht und ihre Relevanz anhand der Beziehungen zur materiellen Umwelt überprüft, die sie für möglich oder unmöglich erachtet. Gegenüber der »separatistischen« Strategie, gegenüber der Ideengeschichte der Ökologie handelt es sich um eine integrativere Methode. Dabei ist das ökologische Denken nicht auf ein zuvor festgelegtes Register der Demonstration beschränkt und bewahrt sich die Möglichkeit, in der konventionellen Geschichte der sozialen Beziehungen zur Natur für Überraschungen zu sorgen.

Diese Methode versucht, Verbindungen zur politischen und ökonomischen Ideengeschichte, aber auch zur Umweltgeschichte herzustellen. Letztere hatte als Geschichte der Umweltverschmutzung und -zerstörung begonnen, die sich gegen das herrschende Narrativ von einer Modernisierung ohne negative externe Effekte richtete.[23] Später war sie nicht mehr so leicht von der allgemeinen Geschichte der industriellen Entwicklung, ihren rechtlichen und ideologischen Strukturen sowie ihren sozialen Folgen zu unterscheiden. In der Folge bezogen auch Historiker, die nicht explizit ökologische Ziele verfolgten, Problematiken in ihre Überlegungen ein, die ihren Ökologen-Kollegen am Herzen lagen.[24]

Statt die kurze und kontinuierliche Geschichte des Umweltbewusstseins zu schreiben, werde ich daher die lange, von Brüchen durchzogene Geschichte der Zusammenhänge zwischen dem politischen Denken und den Formen der Subsistenz, der Territorialität und der ökologischen Erkenntnis erzählen. Mag die Erfindung der modernen politischen Legitimität auch mit einer bestimmten Weise des Umgangs mit der Welt zusammenfallen, ist dieser Prozess doch von vielen Kontroversen und Krisen erfüllt. Auf den folgenden Seiten werden so einige kritische Momente untersucht, die beispielsweise mit den Begriffen des Eigentums, der Produktion, des Mülls, des Territoriums, des Risikos und des Klimas verbunden sind. Diese kontroversen Bereiche beschreiben zusammen das, was man als ökologische Reflexivität unserer Gesellschaften bezeichnen könnte. Gemeint ist mit diesem Begriff die Fähigkeit einer jeden Gesellschaft, nicht nur Techniken für den Umgang mit der Natur zu entwickeln, sondern auch ein davon nicht zu trennendes Wissen bezüglich der Sinnhaftigkeit dieser Techniken und damit eine Kritik dieses Wissens und dieser Orientierungen.

Subsistieren, bewohnen, erkennen

Zweifellos ist ein terminologisches Zögern zu spüren, wenn hier von »Natur« die Rede ist. Sie ist in der Tat der Gegenstand dieses Buches, doch ist der Begriff zugleich ein Hindernis, wenn man versucht, eine ökologische Geschichte des Politischen zu schreiben. Die Philosophie und die Sozialwissenschaften haben sich mit den Sackgassen des Naturbegriffs sehr beschäftigt, vielleicht allzu sehr: Wenn es wahr ist, dass es sich um einen problematischen Begriff handelt, dann ganz einfach deshalb, weil er eine bestimmte Vorstellung von den Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen einschließt. Wie nunmehr zu Klassikern gewordene Arbeiten gezeigt haben, isoliert der Begriff »Natur« mehr oder weniger willkürlich eine Reihe von Phänomenen, die man zum Gegenstand machen oder sich aneignen kann, die man aber auch als außerhalb der politischen Sphäre liegend betrachten kann: Der Naturalismus – verstanden als soziohistorische Konfiguration, bei der die Welt als »Natur« kategorisiert werden kann – ist somit ein singuläres Arrangement von Dingen und Menschen, das bereits eine bestimmte Ordnung, bestimmte Hierarchien, bestimmte Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einschließt.[25] Der Begriff der Natur muss daher – anders gesagt – ein Teil der zu analysierenden intellektuellen Konzepte sein, nicht ein Werkzeug für deren Analyse.

Wir haben jedoch keine befriedigendere semantische und begriffliche Option: Milieu, Umwelt, Ökosystem und selbst der Begriff des Nicht-Menschlichen implizieren theoretische Entscheidungen, die weder transparent noch allgemeingültig sind. Was terminologische Neuschöpfungen wie die Naturkultur betrifft,[26] so haben sie zwar ein durchaus willkommenes Potenzial zur Provokation. Doch wollen sie zugleich ein ontologisches Kontinuum bezeichnen, das zweifellos ein weiteres Problem darstellt, dem man sich stellen muss: Wenn wirklich alle Dinge denselben ontologischen Rang haben, warum lösen dann die Qualifikation und Kategorisierung von Entitäten so viele Kontroversen aus? Die hier verfolgte Strategie besteht darin, unseren Gegenstand in mehrere Teile zu zerlegen und drei Themenblöcke zu unterscheiden: subsistieren, bewohnen und erkennen.

Der erste ist zweifellos der evidenteste der drei, da er alle Aktivitäten abdeckt, aus denen menschliche Kollektive ihre Mittel zur physischen Reproduktion beziehen. Es handelt sich um die Arbeit als funktionelle Aufgabe, die der Bedürfnisbefriedigung gewidmet ist, aber auch als kollektive Aktivität, die koordiniert und unter den verschiedenen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe aufgeteilt ist. Die Subsistenz betrifft somit die Beziehung zu lebensnotwendigen Ressourcen und stellt heraus, dass es sich immer um eine kollektive Beziehung handelt. Subsistenz wird gewöhnlich als ein Begriff angesehen, der in den Bereich der Ökonomie fällt, doch ihn hier an den Anfang zu setzen, bedeutet, diese scheinbare Evidenz zu erschüttern. Tatsächlich definiert sich die aus dem neoklassischen Paradigma entstandene zeitgenössische Ökonomie sowohl als Kunst des Tauschs als auch als Wissenschaft von der Verknüpfung und Optimierung subjektiver Interessen. Diese Bedeutung weist den konkreten Erscheinungsformen der Subsistenz einen sekundären Status zu, wie Karl Polanyi bemerkt hat: Der Gegenstand der Ökonomie erfuhr eine Spaltung, als sich das neoklassische oder »formale«[27] Paradigma durchsetzte und ein tiefes Ungleichgewicht zwischen den beiden so getrennten Aspekten schuf. Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Subsistenz im schlimmsten Fall als eine primitive Vorstufe der wahren Ökonomie, die formalisiert, mathematisiert und in fine gesteuert werden kann, und im besten Fall als eine Sphäre unter anderen, die vom Markt organisiert werden kann. Und doch lässt sich – so kann man berechtigterweise annehmen – die »substanzielle« Dimension des kollektiven Handelns nicht auf das bloße Spiel individueller Interessen reduzieren, insbesondere sofern sie auf die Welt der materiellen Ressourcen ausgerichtet ist. Sie spielt die entscheidende Rolle für die Reproduktion des Kollektivs und seines Lebensumfelds sowie für die allgemeinen Existenzbedingungen.

Fragen der Subsistenz eine zentrale politische Bedeutung zuzugestehen mag paradox erscheinen, da die politische Ordnung gerade den Anspruch erhebt, im Wesentlichen auf symbolischen Verfahren zu beruhen, die mehr den Willen als das Bedürfnis, mehr die Übereinkunft als die Notwendigkeit zum Tragen bringen. Doch wie wir später sehen werden, regt eine aufmerksame Lektüre der politischen Theorien, die den Prozess der Modernisierung begleiten, dazu an, diese brüchige Evidenz zu überdenken. Die grundlegende Veränderung der Lebensbedingungen, die zunächst vom Übergang zur Agroindustrie und dann vom massiven Rückgriff auf fossile Energien im 19. Jahrhundert ausgelöst wurde, hat ein gesellschaftliches Verhältnis zu Überfluss und Mangel geschaffen, das sich völlig von dem der Gesellschaften unterscheidet, die auf dem organischen Kreislauf der Fruchtbarkeit der Erde und den dadurch legitimierten statutarischen Hierarchien beruhten. Diese Transformationen spiegeln sich in den Debatten wider, aus denen die politischen und moralischen Positionen hervorgingen, die traditionell von der Ideengeschichte gewürdigt werden – nicht weil sie deren unbewusste Grundlage wären, sondern weil die materielle und die politische Reflexivität ständig miteinander vermischt werden.

Das zweite Element, das uns erlaubt, die Konturen der kollektiven Beziehungen zur materiellen Welt nachzuzeichnen, ist das, was wir um den Begriff des Bewohnens zusammentragen können. Dieser Begriff hat zwei Facetten: Territorialität und Sicherheit. Einerseits entfaltet sich die Gesellschaft in einem ständig neu erschaffenen geographischen Raum: Die Menschen verteilen sich im Raum nach ihren Aktivitäten und anderen soziologisch definierten Kriterien in Verbindung mit dem, was die klassischen Geographen »Möglichkeiten« nannten, das heißt stillschweigend in das Territorium eingeschriebenen Affordanzen:[28] Ebenen, Berge, Flüsse, Küstenstreifen etc. tragen dazu bei, die innere Vielfalt des sozialen Körpers hervortreten zu lassen. Wie die Humangeographie gezeigt hat, ist der Raum nicht nur eine abstrakte Koordinate der kollektiven Existenz. Er ist auch ein materieller Attraktor für Phänomene, die mit Ungleichheit, Identitätsbildung, Zugehörigkeit und kultureller Differenz, aber auch mit Eroberung und Machtverhältnissen zwischen Zentren und Peripherien zusammenhängen. Die Vernetzung des Territoriums durch technische Infrastrukturen, vor allem Verkehrsinfrastrukturen, aber auch die Fähigkeit bestimmter politischer Einheiten, ihre Macht auf neue Räume zu übertragen (wobei deren politisches Schicksal an ein räumliches und rechtliches Gefälle gekoppelt ist), sind bemerkenswerte Beispiele für die Bedeutung, welche die politische Geographie in der Moderne gewonnen hat.

Die andere Facette des Bewohnens bezieht sich auf die Möglichkeit, im Lebensraum eine Quelle der Sicherheit zu finden, das heißt sowohl die von der natürlichen Umwelt ausgehenden Gefahren zu minimieren als auch die Möglichkeit zu haben, seine Aktivitäten auf der Grundlage einer nachhaltigen Beziehung zu den Elementen der Umwelt zu entfalten. Die Sicherheit ist eine Kombination aus einem räumlichen und einem zeitlichen Faktor, da es um das Verhältnis zur Zukunft geht, das durch die tendenzielle Beseitigung der Unsicherheit gekennzeichnet ist, indem die Zukunft einer Verstetigung der Gegenwart möglichst nahekommen soll. Das Sicherheitsbedürfnis ist zutiefst mit der Angst vor dem materiellen und räumlichen Kontext verbunden, weil die Bedrohung allgemein als ein Versagen der Dispositive der Kontrolle und Regulierung des Raums verstanden wird – wobei die Natur in den modernen politischen Vorstellungen sicher der typische Fall eines zu kontrollierenden Objekts ist. Nahrungsmittel- und Energiesicherheit, Hygiene, aber auch ganz einfach die Sicherheit des eigenen Heims sind Teil der kollektiven Beziehungen zur materiellen Welt, und all diese Dimensionen überschneiden sich ganz offensichtlich mit den Veränderungen in den Beziehungen zu Überfluss und Knappheit. Wie zahlreiche Historiker bemerkt haben, ging die Errichtung der Industriegesellschaft mit der Gefährdung sehr vieler Menschen einher, die in der Regel der Produktionsmittel beraubt waren: So wurde der Schutz zu einer zentralen Erwartung der Gesellschaft, um einer Zunahme der materiellen Verwundbarkeit vorzubeugen. Die Belastung durch industrielle und technische Risiken ist nur eine von vielen Ausprägungen eines allgemeineren Verhältnisses zur Welt als Lieferant von Sicherheit, für das es seit dem 19. Jahrhundert umfangreiche Zeugnisse gibt. Eigentum und Sicherheit sind sehr eng miteinander verknüpft. Das haben zum Beispiel die Verfasser der verschiedenen Versionen der Menschenrechtserklärung so gesehen: Sicherheit und Eigentum standen stets im Mittelpunkt der modernen politischen Erwartungen, wurden aber oftmals gegenüber den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit vergessen.

Mit dem Begriff des Bewohnens sollte somit gezeigt werden, dass der territoriale Charakter jeglicher sozialen Existenz, der sich im lokalen Maßstab der Kommunen und »Regionen« ebenso zeigt wie im breiteren Maßstab der Nationen und ihrer Reiche, und das Bedürfnis nach Sicherheit, das der Beziehung zum Lebensraum eine qualitative Bedeutung verleiht, miteinander verschränkt sind.

Der dritte Aspekt der kollektiven Beziehungen zur Natur kann schließlich unter dem Begriff der Erkenntnis zusammengefasst werden – das heißt den Verfahren, durch die man sich der intellektuellen Beherrschung der Dinge versichert. Dieser Bedeutungsfokus wurde gewissermaßen durch die ersten Kritiken an der modernen Beziehung zur Natur herausgestellt: Ein breites Spektrum philosophischer Ansätze, die zuweilen mit der Ökologiebewegung in Verbindung standen, nutzte den Begriff der Objektivierung, um zu zeigen, dass die Welt durch die experimentellen Wissenschaften und ihre technologische Anwendung auf den Status eines Instruments reduziert wurde. Das Motiv für diese Kritik liefert die Vorstellung von einer Beziehung zur Welt, die vor diesen Dispositiven der Objektivierung bestand und die den nunmehr vergessenen Sinn des In-der-Welt-Seins in seiner Vollumfänglichkeit in sich birgt.[29] Diese philosophische Vorgängigkeit, die zu einem moralischen Vorrang gemacht wird, erklärt jedoch nicht, wie sich diese Beziehung für etwas weniger Wahres und weniger Gutes als das, was sie selbst ist, geopfert haben soll. Denn die Kritik wird an eine rein dogmatische Aussage abgetreten.

Der hier vorgenommene Blick auf die Verbindungen zwischen Erkenntnis und Naturbeziehung unterscheidet sich stark von diesen Ansätzen, die monolithisch die technowissenschaftliche Modernisierung beklagen, die als Triumph der instrumentellen Vernunft definiert wird. Denn die weiter oben beschriebenen Prinzipien der ökologischen Geschichte der Ideen legen nahe, dass es keine Beziehung zur Natur, zur Welt überhaupt gibt, die nicht durch gesellschaftlich geteilte Denkkategorien und technische Instrumente vermittelt wäre. Freilich sind nicht alle kategorialen Systeme »Wissenschaften« im eigentlichen, eng begrenzten Sinne der im klassischen Zeitalter entstandenen experimentellen Wissenschaften, doch erfüllen alle eine elementare soziologische Funktion, die Durkheim und sodann die Wissenschaftssoziologie erkannt haben: die Artikulierung von wissenschaftlicher Autorität (mit der die Position beansprucht wird, sagen zu können, wie es sich mit den Dingen verhält) und politischer Autorität (mit der die Position beansprucht wird, sagen zu können, wie die Menschen regiert werden sollen). Es geht also nicht nur darum, die Zunahme von Erkenntnissen in Bezug auf die physikalischen und biologischen Dinge festzustellen (die in den modernen Gesellschaften in der Tat bemerkenswert ist), sondern vor allem auch darum, zu zeigen, dass die meisten Entscheidungen bezüglich der ökonomischen und territorialen Rahmung der Natur in Verbindung mit wissenschaftlichen Institutionen getroffen wurden. Der Raum der Kontroversen über die sinnvolle Nutzung der Welt hat systematisch eine Position übernommen, deren Besonderheit in dem Anspruch bestand, im Namen der Natur selbst, in Übereinstimmung mit den ihr eigenen Mechanismen und in einer Form zu sprechen, die idealerweise unverfälscht ist und auf Tatsachen beruht. Es ist Sache einer kritischen Wissenschaftsgeschichte, sich zur Stichhaltigkeit dieser Sicht und zur Tatsächlichkeit der Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Instanzen zu äußern – doch die Präsenz wissenschaftlicher Akteure in gesellschaftlichen Kontroversen bleibt dessen ungeachtet ein hervorstechendes Merkmal der Moderne. Sie ist ein Ausdruck der Säkularisierung der Beziehungen zur Welt, denn die fehlende Autorität der Religion konnte durch das Aufkommen technischer und wissenschaftlicher Eliten kompensiert werden, die eine ähnliche Rolle übernommen haben.

Die Agronomie, die Demographie, bestimmte Zweige der Soziologie, aber auch die Ingenieurwissenschaften waren zentrale Akteure bei der politischen und materiellen Organisation moderner Gesellschaften. Sie gaben ihr einige ihrer markantesten Impulse, insbesondere wenn es darum ging, das Territorium nutzbar zu machen und mit Dispositiven der Quantifizierung, Klassifizierung und Standardisierung des wirtschaftlichen und politischen Verhaltens zu umgeben. Die Welt der industriellen Technowissenschaften und insbesondere der Chemie gilt als wichtigste Verwirklichung der Macht der modernen Technologie über die Natur, doch darf man nicht vergessen, dass diese Anstrengungen nicht nur unternommen wurden, um die Produktion zu optimieren. Die experimentellen Wissenschaften haben auch (und zweifellos früher in der Geschichte) eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Fortschrittsideals gespielt, indem sie der Moderne die erste konsistente Figur einer linearen Entwicklung des Wissens in einer nach vorne gerichteten Dynamik lieferten. Sie haben nicht nur eine funktionale Rolle, sondern stellen auch einen Prototyp der auf den Fortschritt ausgerichteten Geschichte dar, dessen Nachahmung in der soziopolitischen Sphäre für die Denker der Aufklärung bis zum Positivismus das zentrale Problem war. Schließlich waren die empirischen Wissenschaften, wie die Botanik und die Zoologie oder die Geographie, bei den kolonialen Erkundungen ganz vorne mit dabei: Sie erlaubten, die quantitative und qualitative Vielfalt der Dinge aufzunehmen, und sie wurden sehr häufig an den vordersten Fronten der Modernisierung und Globalisierung eingesetzt. Dort erstellten sie Bestandsaufnahmen, zeichneten Karten und fertigten Verzeichnisse an, die den Boden für die Verwaltung und Bewirtschaftung der Territorien bereiten sollten.[30]

Die Erkenntnis der Welt ist somit in drei Grundmodalitäten eng mit der Dynamik der Modernisierung der Gesellschaft und Umwelt verbunden. Erstens durch das Aufkommen einer Form von Autorität, die dauerhaft und tief in das gesellschaftliche Leben eingreift, die Art und Weise unserer Beziehung zur Welt gestaltet und die Legitimität dieser Beziehungen diktiert; zweitens durch die erklärte Ambition, die Modernen zu Menschen zu machen, die Träger eines Wissens sind, das nach Allgemeingültigkeit strebt, sich auf alle Dinge erstreckt und fähig ist, seine Vielfalt überall in der Welt auszuschöpfen; und drittens weil die Formen der Erkenntnis der Welt nicht von der Art und Weise zu trennen sind, wie das Soziale sich selbst erkennt, wie es sich definiert und sich auf seine eigene Wirklichkeit bezieht.

Autonomie und Überfluss

Beschreiben wir nun die Sackgasse, in die uns unser historisches Erbe führt. Als sich die Gesellschaften entschlossen haben, nicht mehr von transzendenten, willkürlichen und äußeren Autoritäten – Gott, König, Vorsehung – abhängig zu sein, haben sie eine neue entdeckt: ihre radikale Abhängigkeit von der Materie und den Mitteln, die eingesetzt werden, um sie so massiv wie möglich in die Wirtschaft einzubringen. Das Projekt der Autonomie impliziert so eine ambivalente Haltung gegenüber den ökologischen und evolutionären Prozessen. Auch wenn es sich von selbst versteht, dass der soziale Körper der Außenwelt immer etwas entnehmen muss, um sich zu reproduzieren, konnte die Emanzipation einen Moment lang davon träumen, sich im Namen des Kampfes gegen jede Form von Heteronomie von diesen Zwängen zu befreien. Aber dies geschah nicht univok und naiv: Das moderne politische Denken hat sich zu den kollektiven Beziehungen zur Natur geäußert, die es für möglich, valide, besser hält, und der aktuelle ökologische Imperativ ist nur die Form, welche die für den historischen Verlauf der Industriegesellschaften konstitutive Spannung heute annimmt. Dieser Imperativ ist also eine grundlegende Neuerung der Moderne: Als Ergebnis einer Transformation der sozialen Frage ist die ökologische Vernunft weder eine ahistorische Sorge, die mit dem etwas vagen Gefühl der ständigen Verwundbarkeit der Natur verbunden ist, noch das späte Aufkommen eines Bewusstseins für die Risiken und Gefahren der Modernisierung in ihrer fortgeschrittenen Phase, sondern das derzeitige Stadium eines kritischen Bewusstseins, das mit der wachsenden Bedeutung der Ideale des Überflusses und der Autonomie, das heißt der Freiheit, entstanden ist.

Die kollektiven Beziehungen zur Natur stehen seit jeher im Mittelpunkt des politischen und historischen Aufbaus von Gesellschaften, insbesondere von solchen, die sich als modern bezeichnen. Die Geschichte und Soziologie von Wissenschaft und Technik haben wichtige Arbeiten zu diesem Thema zusammengetragen und die Reflexion über die Arrangements zwischen Menschen und Nicht-Menschen geleitet, die für viele Forscher den Hauptanalysator der Moderne darstellen. Doch wenn die letzten zwei bis drei Jahrhunderte als der langsame und konfliktreiche Aufbau einer technowissenschaftlichen Gesellschaft interpretiert werden müssen, die letztlich in der Lage ist, die Gestalt der Erde und des Weltklimas völlig zu verändern, wie kommt es dann, dass wir immer noch nach der richtigen politischen Formulierung des ökologischen Problems suchen? Sollten wir nicht vollauf mit einem ökologischen Verständnis politischer Fragen vertraut sein, wenn damit ein Verständnis gemeint ist, bei dem das bestmögliche Arrangement zwischen Menschen und Nicht-Menschen herrscht? Hier besteht ein Paradoxon, das noch immer den philosophischen Analysen trotzt: Seit zwei bis drei Jahrhunderten sind wir in eine Welt eingetaucht, in der sich das gemeinsame Schicksal weitgehend in Aktivitäten der Qualifizierung, Transformation und Ausbeutung der materiellen Welt entscheidet, und dennoch sind wir nicht in der Lage, uns dieser Aktivitäten zu bemächtigen, um sie in eine Richtung zu lenken, die mit unserem Gerechtigkeitssinn in Einklang steht, das heißt in eine Richtung, die sich der blinden Dynamik von Extraktion und Akkumulation widersetzt. Der Boden, die Maschinen und die Energie standen seit jeher im Zentrum der Moderne, und dennoch sind sie nie so weit in die politischen Kategorien eingedrungen, dass sie uns für die politischen Probleme, die sie aufwerfen, ausreichend sensibilisiert hätten.

Dieses Paradoxon führt zu einer unhaltbaren Situation: Auf der einen Seite hätte man eine Geschichte der Moderne als ein technisches, materielles Phänomen, als ein komplexes Arrangement mit Nicht-Menschen, und auf der anderen Seite eine Geschichte der Moderne als das Aufkommen eines öffentlichen Raums, der ausschließlich auf den Menschen und seine Rechte ausgerichtet ist. Die Konsequenz dieses doppelten Fokus ist, dass die Probleme unlösbar sind, die sich an der Schnittstelle dieser beiden Geschichten stellen. Meine Hypothese lautet, dass ein jeder dieser beiden erkenntnistheoretischen und politischen Blöcke unvollständig ist, dass der Anspruch des einen, den anderen auf seine Logik zu reduzieren, illegitim ist, und dass man es sich zum Ziel machen muss, ihre Zusammenhänge besser zu verstehen. Gehen wir noch weiter: Die aktuellen politischen Themen sind völlig unverständlich, wenn man dabei bleibt, sie zu trennen. Um die Reflexion voranzubringen, muss man somit die Aufmerksamkeit auf die beiden Leitideale der Moderne richten und die Dynamik beobachten, die an ihrem Schnittpunkt entsteht. Denn der Wunsch nach Modernisierung drückt sich in Form einer doppelten Auflage aus. Die eine erstreckt sich auf den Überfluss, die andere auf die Freiheit, oder, um es genauer zu sagen, auf die individuelle und die kollektive Autonomie.

Beginnen wir mit dem ersten Ideal der Moderne, dem Überfluss. Der Schnitt zwischen einer Vergangenheit, die durch ständige Knappheit, den ständigen Bedürfnisdruck gekennzeichnet war, und einer Zukunft, die durch das Nachlassen dieses Drucks und den Zugang zu einem gewissen Wohlstand mehr oder weniger utopisch definiert wurde, spielte für das Festhalten der breiten Mehrheit am Modernisierungsprojekt eine zentrale Rolle. Dies bedeutete, dass jeder legitimerweise darauf hoffen konnte, bessere Lebensbedingungen zu haben als die eigenen Eltern, und dass sich diese Verbesserung in einem leichteren Zugang zu privatem Glück und in einem würdevolleren Leben niederschlagen würde. Vor allem der Bruch zwischen dem Vorher und Nachher des Überflusses hielt diese Zustimmung über einen sehr langen Zeitraum aufrecht, der von der Reaktion auf die pessimistischen Prophezeiungen von Malthus an der Wende zum 19. Jahrhundert bis zur gegenwärtigen Schrumpfung der Aussichten auf ein Wirtschaftswachstum und zur Häufung der ökologischen Bedrohungen reicht. Der Wunsch nach Überfluss führt eine neue Zeitlichkeit ein und verleiht der Moderne eine ihrer nachhaltigsten Triebkräfte und eine ihrer stärksten Rechtfertigungen.