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Die Krisen der Gegenwart sind auch Vermittlungs- und Übersetzungskrisen. Übersetzungsprozesse zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und Öffentlichkeit werden notwendiger denn je – gerade angesichts von Abwehrreaktionen und Konflikten, wie sie in Zeiten von Pandemie, Kriegen, Migration und Klimawandel, im Alltag wie in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen immer wieder aufbrechen. In diesem Buch wird »Übersetzung« weit über Sprach- und Textübersetzung hinaus als Analysekategorie sowie als wichtige Handlungsform zur Diskussion gestellt. Sie baut nicht nur Brücken, sondern setzt realitätsnah an Differenzen, Brüchen und Verwerfungen an. Wie kann Gesellschaft über die Schlüsselpraxis von Übersetzung neu gedacht werden? Mit Blick auf transkulturelle Überlagerungen, Diversität und Machtungleichheiten, spannungsträchtige Kontextwechsel sowie Erfahrungsbrüche in Migrationssituationen werden gesellschaftliche Übersetzungsszenarien neu beleuchtet: Menschenrechte, Migration, »Trading Zones« zwischen den Disziplinen, Translationale Medizin, historische Rezeptionsprozesse, aber auch KI-Übersetzung und Ecological Translation. Wieweit kann Übersetzung mit der Macht einer »Kulturtechnik« als Triebkraft von Gesellschaftsbildung wirken?
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Doris Bachmann-Medick
Übersetzung neu denken
Eine gesellschaftliche Perspektive
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Die Krisen der Gegenwart sind auch Vermittlungs- und Übersetzungskrisen. Übersetzungsprozesse zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und Öffentlichkeit werden notwendiger denn je – gerade angesichts von Abwehrreaktionen und Konflikten, wie sie in Zeiten von Pandemie, Kriegen, Migration und Klimawandel, im Alltag wie in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen immer wieder aufbrechen. In diesem Buch wird »Übersetzung« weit über Sprach- und Textübersetzung hinaus als Analysekategorie sowie als wichtige Handlungsform zur Diskussion gestellt. Sie baut nicht nur Brücken, sondern setzt realitätsnah an Differenzen, Brüchen und Verwerfungen an. Wie kann Gesellschaft über die Schlüsselpraxis von Übersetzung neu gedacht werden? Mit Blick auf transkulturelle Überlagerungen, Diversität und Machtungleichheiten, spannungsträchtige Kontextwechsel sowie Erfahrungsbrüche in Migrationssituationen werden gesellschaftliche Übersetzungsszenarien neu beleuchtet: Menschenrechte, Migration, »Trading Zones« zwischen den Disziplinen, Translationale Medizin, historische Rezeptionsprozesse, aber auch KI-Übersetzung und Ecological Translation. Wieweit kann Übersetzung mit der Macht einer »Kulturtechnik« als Triebkraft von Gesellschaftsbildung wirken?
Vita
Doris Bachmann-Medick, Dr. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und Distinguished Research Fellow am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Universität Gießen.
Für HansThe concept of translation, better than transmission, communication, or mediation, brings out the bumps, losses, and makeshift solutions of social life.(James Clifford, Returns. Becoming Indigenous in the Twenty-First Century)
The challenge of translating between disparate and divergent struggles is one of the most pressing political tasks of the day.(Brett Neilson, Knowledge on the Move)
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
I.
Einleitung. Hineinwirken in die Gesellschaft: Die Relevanz von Übersetzung als Handlungsmodus und kritische Analysekategorie
1.
Übersetzung als gesellschaftliche Schlüsselpraxis – Gesellschaft als Übersetzung?
2.
Eine neue sozial- und kulturwissenschaftliche Analysekategorie
II.
Erhaltung von Komplexität: Übersetzung in der Krisenkommunikation
1.
Ein Instrument gesellschaftlicher Komplexität
2.
Ein Modus der Krisenkommunikation
3.
Kulturwissenschaften als Übersetzungswissenschaften
III.
Von der Translational Medicine zu Translational Humanities: Neue Initiativen translationaler Forschung
1.
Translationale Forschung schafft gesellschaftliche Transparenz
2.
Translational Medicine und der Blick auf Translational Humanities
3.
Neue Praktiken von Interdisziplinarität – Trading Zones oder Übersetzungshandlungen?
IV.
Kulturelle Logistik in einer globalisierten Welt: Travelling Concepts im Zeichen von Übersetzung
1.
Eine Triebkraft für aktive Vermittlung und Lokalisierung
2.
Travelling Concepts zwischen hybrider Vermischung und gezielter Übersetzung
3.
Eine infrastrukturelle Kompetenz
4.
Travelling Models
V.
Zwischen Übersetztwerden und Selbst-Übersetzen: Migration als konfliktreiches Handlungsfeld
1.
Sprach-Regelungen und migrantische Übersetzungsszenarien
2.
Herausforderungen durch migrantisches Wissen ›in Bewegung‹
3.
Verhandlung von »In-Between-Positionen«
4.
Integration oder Assimilation
5.
Selbst-Übersetzung und Aneignung
6.
Positionierung zwischen Mehrsprachigkeit und Etikettierung
7.
Bezugnahme auf ein ›drittes Idiom‹
8.
Transformation und Eröffnung neuer Kontexte
VI.
(Mehr als) Eine soziale Form: die Dreierbeziehung der Übersetzung
1.
Eine gesellschaftlich relevante soziale Form
2.
Eine gesellschaftlich innovative Form des Dritten
3.
Dreierbeziehung über pre-translations oder »hidden translations«
4.
Dreierbeziehung über Adressierung und Referenzpunkte
VII.
Übersetzungsprozesse zwischen den Zeiten: Überlieferung und historische Handlungsstrategie
1.
Wo liegt das historische ›Original‹?
2.
Wo liegen die Referenzpunkte?
3.
Wo finden sich vertikale Assemblagen?
VIII.
Weltpolitische Horizonte: Menschenrechte als Übersetzungsproblem
1.
Normative Deklaration – Divergierende Menschenrechtserklärungen
2.
»Partial Translations«
3.
Lokalisierung und globale Rückübersetzung
4.
Strategischer Universalismus
5.
Wechselübersetzungen zwischen Literatur und Menschenrechten
6.
Translatorische Neuverknüpfungen des Menschenrechtsdiskurses
IX.
Ausblick: Neue Übersetzungsdynamiken und Grenzen der Übersetzbarkeit
Nachwort und Dank
Literatur
Die gegenwärtigen Zeiten stehen im Zeichen gesellschaftlicher Krisen, die sich durch ihre Vervielfältigung kaskadenartig auftürmen – eine Feststellung, die mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden ist. Diese Krisenkaskaden in den üblichen Endlosschleifen zu beschreiben, führt aber nicht weiter. Stattdessen wäre dort anzusetzen, wo ihre Bewältigungsversuche in einer Sackgasse zu stecken scheinen. Dabei ist die Suche nach ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und sozialen Auswegen und Lösungen ein entscheidender Faktor, wenn auch nicht der einzige. Was verstärkt ins Scheinwerferlicht rückt, ist die subtile, vielleicht sogar unterschätzte Ebene von Grundeinstellungen: Welche Haltungen und Praktiken stehen uns eigentlich zur Verfügung, um sich aus der handlungslähmenden rhetorisch heißgelaufenen Krisenspirale zu befreien? Es ist ein ganzes Cluster pragmatischer Übersetzungsoperationen, das hier anwendungsbereit wäre. Jedenfalls scheint in der zunehmenden Krisenstimmung der Ruf nach praxiswirksamen Einstellungen wie Brückenbauen, Vermittlungsleistungen, Konsensfindung, Synergiebildung, Resilienz immer lauter zu werden. Diese Tendenz wird zugleich kritisch-analytisch flankiert, geradezu ins Forschungsprogramm aufgenommen durch die Kultur- und Sozialwissenschaften. Dabei sticht vor allem der Leitbegriff der Übersetzung heraus, der sich seit einiger Zeit im Zuge des sogenannten Translational Turn zu einem neuen Schlüsselkonzept gegenwärtiger Gesellschaften und internationaler Beziehungen entwickelt hat. Weit über Sprach- und Textvermittlung hinaus wird Übersetzung zu einem zentralen Handlungsmodus, aber auch zu einer augenöffnenden Analysekategorie.1 Die mittlerweile stark erweiterte Übersetzungskategorie ist unaufhaltsam auf dem Weg, zu einem empirischen wie theoretischen Leitkonzept zu werden.
So trifft es auch einen Nerv, wenn die kritische Publizistin Carolin Emcke in ihrer Rede zur Eröffnung der Ruhrfestspiele 2016 eindringlich »Vom Übersetzen«2 spricht. Es sind schwerwiegende gesellschaftliche Defizite, die sie anspricht: die zunehmende Aushöhlung der Sprache, die öffentliche Verrohung im Umgang, die rhetorische Verselbstständigung von gesellschaftlichen Grundwerten zu bloßen Floskeln, das resignative Leerlaufen der demokratischen Überzeugungen, um nur einige zu nennen. In einem solchen Umfeld wird klar: »Es braucht Übersetzungen der Begriffe und Werte, die ausgehöhlt und verstümmelt worden sind, es braucht eine Übersetzung von Normen in Anwendungen, es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden.«3 Übersetzung wird gebraucht, damit demokratische Rechte nicht abstrakt und substanzlos bleiben, sondern in konkrete Ansprüche und Lebensrealitäten übertragen und umgesetzt werden, denn »sie zählen nur etwas, wenn sie auch in vielstimmige Versionen einer offenen, pluralen Gesellschaft aufgefächert, wenn sie übersetzt werden in die unterschiedlichsten Sprachen und Bilder.«4 Eine Gesellschaft lebt nicht allein schon davon, dass sie ihre demokratischen Normen und Grundwerte wie eine Fahne vor sich herträgt und sie zugleich einfordert. Vielmehr ist sie aufgerufen, sie zu übersetzen, zu vermitteln, zu verhandeln, umzusetzen – und sich ihrerseits einem Leitsatz zu verpflichten: Übersetzung heißt, »eine Norm mit der Anwendung verbinden.«5
Könnte man also so weit gehen und behaupten, die Gegenwartsgesellschaften erhielten ihre Basis wie Energie durch die anhaltende Notwendigkeit, zu übersetzen? Der Eindruck könnte täuschen. Denn es ist schlicht nicht zu übersehen, dass gleichzeitig andere, ausgesprochen übersetzungsfeindliche Verhaltenstendenzen auf dem Vormarsch sind: Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird verweigert, Solidarität aufgekündigt, ethnisch vielfältigen und diversen Konstellationen wird mit Intoleranz und Ablehnung begegnet, soziale Empathie weicht immer mehr der Durchsetzung von Eigeninteressen. Es sind heftige Kommunikations- und Verständigungskrisen, welche ihrerseits die Kaskaden der Krisenspirale noch vorantreiben und sich von Übersetzungsbemühungen weit zu entfernen scheinen: Aneinander-Vorbeireden, Kommunikationsverweigerung, Polarisierung durch populistische Verzerrung nehmen überhand, ganz zu schweigen von den enorm zunehmenden Übersetzungskonflikten aufgrund von Ungleichheiten – zwischen jeweiligen Interessengruppen, zwischen Stadt und Land, zwischen West und Ost, Nord und Süd. Jedenfalls lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Übersetzungshindernisse und -konflikte auch innerhalb von Kulturen zu lenken und von dort aus die Chancen von gesellschaftlichen Übersetzungsprozessen abzuschätzen. Lange Zeit war diese innerkulturelle Blickrichtung durch das Credo der kulturellen Übersetzung zwischen unterschiedlichen Kulturen verstellt. Dabei sind es beide Schauplätze gleichermaßen, die mich zu meiner Grundthese führen: Übersetzungs- und Vermittlungspraktiken sind mächtige gesellschaftliche Triebkräfte. Es sind Schlüsselpraktiken, über die sich Gesellschaften, aber auch gesellschaftliche Beziehungen über kulturelle Grenzen hinweg erst konstituieren. Wie realistisch ist es, Übersetzung als eine Schlüsselpraxis von Gesellschaft zu behaupten? Schließlich bleibt das Dilemma, weiterhin den untrüglichen Anzeichen für Gegenbewegungen und Widerstände ins Auge sehen zu müssen, dem Beharren auf Unüberbrückbarkeiten, den Übersetzungsverweigerungen durch soziale Gruppen oder gar dem Scheitern von Übersetzungsbemühungen. In Migrationsfällen nur noch abschieben, im Alltag an Verständigungsklippen stranden, zwischen sozial-kulturellen Gruppen hegemoniale Übersetzungsmacht ausüben, Erinnerungskulturen hierarchisieren – Übersetzung hat es in der heutigen Situation jedenfalls schwer; sie steht als Praxis in unterschiedlichen gesellschaftlichen Anwendungsfeldern massiv unter Druck.
Am Anfang dieses Buches steht somit ein unübersehbarer Befund: »Letztlich stellen sich die Herausforderungen moderner Gesellschaften als ›Übersetzungskonflikte‹ dar. Es stellt sich stets die Frage, wie ein Problem, ein Thema, ein Konfliktpunkt aus je unterschiedlichen Perspektiven erscheint.«6 In der Bilanz – so der Soziologe Armin Nassehi – sind Übersetzungskonflikte die Normalität. Sie entspringen der Vielfalt, aber auch dem Zusammenprall von oftmals unvereinbaren Sichtweisen und grundverschiedenen Auslegungen, welche die gesellschaftliche Dynamik vorantreiben. Übersetzungstätigkeiten müssten allenthalben an der Tagesordnung sein. Sie sind unverzichtbar, weil sie diese spannungsvolle Vielstimmigkeit kanalisieren, vor allem aber die Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Prozesse als »Übersetzungskonflikte« sichtbar machen und verarbeiten.
So wesentlich dieser Aspekt ist, so ergänzungsbedürftig ist er auch. Unbestritten ist, dass gesellschaftliche Übersetzungsprozesse und -konflikte als Funktionselemente im Feld von Sprache, Kommunikation und Interaktion von größter Bedeutung sind und unbedingt stärker beleuchtet werden müssten. Noch erkenntnisreicher aber wäre es, wenn man einerseits die Praxisform der Übersetzung umfassender denkt, indem man sie als solche genauer ausbuchstabiert, andererseits aber an einer grundlegenderen Fragestellung interessiert ist: Wieweit wird Übersetzung zu einer unverzichtbaren Bedingung für die Herausbildung und das Funktionieren der gesellschaftlichen Zusammenhänge selbst – auch über kulturelle Grenzen hinaus? Schon diese Frage markiert die durchgreifende gesellschaftliche Relevanz der Übersetzungskategorie. Und sie verweist auf ihr weitreichendes Potenzial: auf die epistemologische Energie, mit der Übersetzung neuerdings zu einer unverzichtbaren gesellschaftlichen Analysekategorie aufrückt.
Auch wenn es von daher verlockend wäre, mit großer Geste von »Gesellschaft als Übersetzung« zu reden, fragt man sich doch: Ist ein solches Idiom vielleicht wieder nur eines der vielen gegenwärtigen Beispiele für ein Gesellschaftsverständnis, das auf Metaphern beruht?7 Würde damit nicht wiederum nur eine weitere Formel für metaphorische soziologische Zeitdiagnosen in die Welt gesetzt, wie sie neuerdings den Buchmarkt überschwemmen: griffige Etikettierungen gesellschaftlicher Entwicklungszustände wie Risikogesellschaft, Gesellschaft der Singularitäten, berührungslose Gesellschaft, Gesellschaft ohne Empathie, Gesellschaft als imaginäre Institution oder narzisstische, traumatische, vulnerable, postheroische oder postmigrantische Gesellschaft?8 Diese und ähnliche Formeln finden sich allesamt auf aktuellen Buchtiteln. Und das kritische Beäugen derselben folgt auf dem Fuß: »Sieht man sich andere soziologische Schriften der jüngeren Zeit an, dann arbeiten auch sie mit gleichermaßen totalisierenden wie reduktionistischen Metaphern: sei es der der Resonanz oder der Singularitäten.«9 Derartige Selbstetikettierungen und Selbstproblematisierungen gegenwärtiger westlicher Gesellschaften schießen seit einiger Zeit wie Pilze aus dem Boden. Sie neigen dazu, Gesellschaftszustände mit dem Pathos von Zeitsignaturen zu fixieren, ohne in jedem Fall mit stringenten Gesellschaftstheorien verknüpft zu sein.10
Spreche ich also von Übersetzung als einer gesellschaftlichen Schlüsselpraxis oder gar von Gesellschaft als Übersetzung, um wiederum eine umfassende Gesellschaftsvorstellung über eine Leitmetapher zu transportieren? Ganz sicher nicht. Denn es macht wenig Sinn, Übersetzung zu einer totalisierenden Gesellschaftsmetapher aufzuladen, die mit dem Bild der Überbrückung das nicht darstellbare »Ganze der Gesellschaft« stellvertretend literarisch, rhetorisch oder imaginär greifbar machen würde.11 Zwar wird in Teilen der Soziologie die These vertreten, dass in letzter Zeit aus den Verunsicherungen der postmodernen Fragmentierung heraus erneut ein öffentliches Bedürfnis nach »umfassenden Synthesen der Gesellschaftsentwicklung«12 aufgekommen sei. Bis in die soziologische Gesellschaftstheorie hinein sei ein »drängender Wunsch nach Gesamtanalysen des gesellschaftlichen Zustandes«13 spürbar, wie es Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa in ihrem großangelegten Panorama der krisenhaften Spätmoderne feststellen. Doch dies bedeutet noch längst nicht, dass auch die Analysewerkzeuge großflächig operieren sollten. Im Gegenteil, Gesamtanalysen könnten sogar davon profitieren, wenn man wie im Folgenden die Übersetzungslinse schärft und damit auch Mikroprozesse stärker in den Blick rückt. Ausdrücklich nicht synthetisierend, nicht »großflächig« angelegt, geht es dabei weder um eine Neubestimmung noch metaphorische Selbstbeschreibung von Gesellschaft, schon gar nicht um eine neue Gesellschaftstheorie. Vielmehr handelt es sich um einen kulturwissenschaftlichen Beitrag, der noch am ehesten eine Nähe zur Sozialtheorie besitzt.14
Einheits- und Systemvorstellungen von Gesellschaft stehen hier nicht zur Debatte, gehen die Kulturwissenschaften doch weniger von »Einheitssemantiken« aus, eher von »Differenzsemantiken« (Lüdemann). Eines ihrer Hauptelemente ist Übersetzung – ein differenzbewusster und differenzierender Handlungsmodus. Die Vielfalt, aber eben auch die Widersprüchlichkeiten und Ungleichheiten von Lebensformen und Handlungsmöglichkeiten in pluralisierten Gesellschaften kommen nicht aus ohne eine solche komplexe Operation, die Differenzen vermittelt und bewältigt, zugleich aber auch wieder neue schafft. Der Literaturwissenschaftler Anselm Haverkamp hat es einmal auf eine kurze Formel gebracht: »Übersetzung […] ist die Agentur der Differenz.«15 Und wenn in den letzten Jahren und Jahrzehnten reichlich von »Übersetzung als Aushandlung von Differenzen« (Homi Bhabha) die Rede gewesen ist, besonders unter postkolonialen Vorzeichen, dann ist genau dies gemeint: Übersetzung ist ein konkreter Aushandlungsmodus von Unterschieden und Unterscheidungen im Feld der (inter-)kulturellen und sozialen Auseinandersetzung – keineswegs harmlos, sondern zutiefst machtdurchsetzt. Jede Vorstellung von glatt erscheinenden Übertragungsvorgängen oder gar Überbrückungen von Unterschieden fällt in sich zusammen angesichts des widersprüchlichen Problemfelds von Differenz-, Identitäts- und Ausgrenzungspolitik auf der einen Seite, Überlappungen, Kontaktzonen und Vermittlungsprozessen auf der anderen Seite.
Ein translationales Handlungsvermögen, wie man es nennen könnte, trifft damit in ein gesellschaftliches Umfeld, das ausgesprochen hybridisiert ist durch das Wechselspiel und die Gegenläufigkeit vielfacher sozialer Identitäten und das deshalb dringend ein Werkzeug braucht, um die dabei ausgelösten Spannungen managen zu können. Das gelingt in wirklichen Handlungssituationen nicht unbedingt, stößt man doch immer wieder an Mauern der Verständnislosigkeit, Abwehr und identitätsfixierter Selbstbehauptung. So könnte es auch ein bloß demonstrativ-spektakulärer Akt bleiben, wenn sich bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris kulturell diverse Gruppen auf den Seine-Brücken von Paris treffen, buchstäblich »über die Brücken« tanzen und das Recht auf Diversität und non-binäres Selbstverständnis als eine Überbrückungs- und Übersetzungsbotschaft aussenden. Eine solche ins Bild gesetzte und im Spektakel evident gemachte Botschaft wäre – so könnte man annehmen – auf einer anderen, analytischen Ebene fortzusetzen und weiter zu bearbeiten, kurz gesagt mit dem Übersetzungsinstrumentarium der Kulturwissenschaften. Mit Nachdruck wird es schon seit längerem eingesetzt, um kulturelle Zwischenräume produktiv zu machen und soziale Differenzen gerade in ihren Spielräumen anzuerkennen, statt sie auf Wesensmerkmale hin festzuschreiben. Dass dies immer im Bewusstsein hierarchisch-asymmetrischer Machtbeziehungen geschieht, ist schon fast eine Selbstverständlichkeit, zumal es unter postkolonialen Vorzeichen mittlerweile längst zu einem Gemeinplatz geworden ist. Dennoch ist ein solch kritisches Bewusstsein weiterhin nötig angesichts der ausgeprägten Abweichungen und Ungleichheiten in den Lebensweisen, Vorstellungswelten, Positionen und kulturellen Bezugsrahmen innerhalb und zwischen globalisierten Gesellschaften. Und diese lassen sich eben nicht so leichtfüßig »überbrücken«. Nur mit einer entschiedenen Übersetzungshaltung – und zwar in gesellschaftlicher Praxis wie in wissenschaftlicher Analyse – ließe sich vor Augen führen, wo in einem solchen Spannungsfeld Sollbruchstellen und Brüche zum Vorschein kommen, wo aber auch Vermittlungsschritte und Anknüpfungsmöglichkeiten aktiv angebahnt werden können.
Es lohnt sich also, das Augenmerk gezielt auf translationale Verfahrensweisen zu richten, um Gegenwartsgesellschaften gleichsam aus ihrer kulturellen Infrastruktur heraus besser verstehen zu können. Translationalen Verfahrensweisen kommt man in nationalen, besonders aber auch in globalen Kontexten auf die Spur, nicht zuletzt angesichts der kolonialen Differenzachsen, die die Welt zwischen den Kontinenten, aber auch innerhalb derselben durchziehen. Und doch erhebt sich zunehmend Zweifel an einer einseitig differenzgeprägten Übersetzungsperspektive: Ist die gegenwärtig vorherrschende Differenzfixierung der Kultur- und Sozialwissenschaften, die der Sozialpsychologe Jürgen Straub für eine übertriebene »Differenzsensibilität«16 hält, mittlerweile vielleicht doch zu weit gegangen? Sicher wäre es an der Zeit – nicht nur inter- sondern auch innerkulturell – stärker als bisher auf Ähnlichkeiten zu achten und zu versuchen, in den unterschiedlichsten Interaktionsszenarien Anknüpfungspunkte ausfindig zu machen. Eine solche Strategie würde zur längst fälligen Kurskorrektur einer einseitigen kulturwissenschaftlichen Grundeinstellung beitragen.17 Sie würde keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass Übersetzung schließlich auch eine auf Verständigung bezogene Handlungsform ist. Mit ihr lassen sich nicht nur Differenzen aushandeln, sondern trotz unterschiedlicher Lebenszusammenhänge auch Ähnlichkeits- und Anknüpfungsbeziehungen für das gesellschaftliche Zusammenleben fruchtbar machen: nicht zuletzt mit dem Ziel, durch Beteiligung an Kommunikationsprozessen gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern und Integrationsprozesse aktiv voranzutreiben. Im Kulturbetrieb wird solche Suche nach Anschlussfähigkeit bereits an verschiedensten Stellen praktiziert. Besonders bekannt ist ein Kooperationsprojekt mit vornehmlich syrischen Geflüchteten, die in Berliner Museen zu Tutoren und Guides werden und in ihrer Muttersprache Führungen anbieten. In den Museen für Islamische Kunst und Vorderasiatische Kunst treffen sie auf Artefakte aus ihren Heimatländern, deren Fremdartigkeit sie für die Besucher:innen übersetzen, indem sie sie mit ihren eigenen Herkunftserfahrungen anreichern und damit für Außenstehende verstehbarer machen. Solche neuen Vermittlungsformate, die ausdrücklich Anknüpfungsbeziehungen lebendig machen, eröffnen vielversprechende Partizipationsmöglichkeiten.18
Ob differenz- oder ähnlichkeitsinteressiert, die Übersetzungslinse ist jedenfalls auf kulturelle und soziale Handlungsformen und Interaktionsmuster gerichtet, um diese umzulenken, für neue Akteure zu öffnen und sie dadurch veränderbar zu halten. Denn Übersetzen bedeutet immer auch, Entscheidungsspielräume zu nutzen, um flexible Gelenkstellen, Zwischenräume, Anschlussstellen, ja Vermittlungsschritte und damit auch Eingriffsmöglichkeiten auszuloten. Dadurch wächst die Chance, mehrdeutige Zwischenzonen freizulegen, um gesellschaftlich eingefahrene Muster und Routinen zu durchbrechen. So sind Handlungsspielräume zu gewinnen, gerade auch in Kontakt- oder gar Konfrontationssituationen, die oftmals in Sackgassen zu laufen scheinen.
Bevor man daraus gleich eine handlungsethische Maxime ableitet, sollten erst einmal strukturelle Voraussetzungen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Übersetzungspraxis genauer erkundet werden. Einzelne Interaktionsbeispiele bzw. Übersetzungsszenarien in der Gesellschaft zu untersuchen, ist erhellend. Ausreichend ist es jedoch nicht. Über den Tellerrand von Einzelbeispielen hinaus wird verlangt, die Linse auf eine grundsätzlichere translationale Analyseeinstellung hin zu erweitern und deren Möglichkeiten zu erkunden. Lassen sich mit einer solchen Einstellung Weichen stellen für ein gesellschaftliches Zusammenwirken, das über ein Vermittlungsinteresse die Lösung gemeinsamer Probleme vorantreibt, oder können gar Keimzellen für gesellschaftliche Transformation freigelegt werden? Gibt es Anzeichen für einen epistemologischen Sprung, mit dem man zur Übersetzungskonstitution von Gesellschaft vorstoßen könnte oder – konkreter gesagt – auf die Ebene einer grundlegenden translationalen Infrastruktur von Gesellschaft?
Um tiefer in diese Fragen einzusteigen, sollte man das bereits vorhandene Reservoir an gesellschaftsbezogenen Übersetzungsreflexionen nicht einfach überspringen. Schon gar nicht kommt man vorbei an dem grundlegenden Übersetzungsblick auf Gesellschaft, wie ihn Bruno Latour und seine Mitstreiter der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) propagiert haben. Diese erklärten ihre eigenen Ansätze immerhin zu Fundamenten einer bahnbrechenden »Soziologie der Übersetzung«, und zwar ausgehend von Michel Callons berühmter empirischer Fallstudie zu den Wechselbeziehungen zwischen Jakobsmuscheln, Meeresforschern und Fischern in der Normandie.19 Dieser Aufschlagstext der ANT aus den 1980er Jahren war spektakulär. Denn er wagte den Versuch, die Muscheln in der Brieuc-Bucht mit den Fischern und Forschern in eine gemeinsame, »symmetrisch« verstandene »Assoziation« zu versetzen. Das heißt in diesem Fall nichts anderes, als allen Beteiligten die gleiche Handlungsmacht zuzuschreiben, um das akute Überfischungsproblem zu lösen – Handlungsmacht eben nicht nur für die menschlichen Akteure, sondern auch für die Materie, die Muscheln, die Fischernetze, die Mikroben und Korallen. Die wechselseitigen Interessenverknüpfungen zwischen dem Überlebenstrieb der Kammmuscheln, den wissenschaftlichen Interessen der Forscher und den ökonomischen der Fischer werden auf Assoziationen, Allianzbildungen und Transformationen zurückgeführt, kurzerhand auf Übersetzungsketten, welche nicht abreißen. Kein Zweifel, dass damit die bisherige Soziologie erschüttert wurde, vor allem ihre langlebige Grundannahme, Menschen, Institutionen und natürliche Entitäten entstammten separierten Sphären, entweder der Sphäre des ›Sozialen‹ oder der Sphäre des ›Natürlichen‹. Diese soziologische Provokation war und ist immer noch eine einzige Generalabrechnung mit dem gängigen Gesellschaftsmodell der Moderne und seiner Privilegierung der menschlichen Handlungsmacht. Dessen eingefleischter Trennungshabitus, seine hartnäckigen Abgrenzungen und Zweiteilungen zwischen Menschen und Dingen, Kultur und Natur, Wissenschaft und Politik sollten danach eigentlich nur noch von historischem Wert sein. Stattdessen, so die ANT, müsste man von Akteurskollektiven ausgehen, die – befreit vom Monopol menschlicher Akteure auf soziale Handlungsfähigkeit – Menschen zusammen mit Techniken, Pflanzen, Tieren und Objekten in permanenten Übersetzungsketten vernetzen.20
Reicht aber dieses kritische Plädoyer, die Handlungsmacht auf mehr-als-menschliche Akteure zu erweitern, um gesellschaftliche Beziehungsnetze mit dem Werkzeug und Transformationspotenzial der Übersetzung wirklich neu zu denken? Ein wichtiger Ausgangspunkt für alle weiteren translationalen Forschungsansätze wäre Latours Abkehr von der konventionellen Annahme, ›Gesellschaft‹ sei ein übergreifender Rahmen, eine (vor)existierende Einheit oder ein eigener Wirklichkeitsbereich. Im Gegenteil, ›Gesellschaft‹ müsste ganz anders wahrgenommen werden: als erst »vor unseren Augen hergestelltes« Netzwerk.21 Auf den ersten Blick scheint eine solche Auffassung zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten nahezulegen, wenn man – wie in diesem Buch – Gesellschaft durch die Übersetzungslinse neu sehen will. Dennoch wird es notwendig, das Gleis zu wechseln.
Denn trotz unstrittiger Impulswirkung bleibt doch ein gewisses Unbehagen: Die Übersetzungslinse selbst erscheint in der ANT ausgesprochen trüb und vage. Der Latoursche Übersetzungsmotor von Gesellschaft gibt eben nur lückenhafte Einblicke in seine genaue Funktionsweise. In erster Linie dient er dazu, eine innovative Assoziationstheorie von Gesellschaft umzusetzen, die auf zirkulierenden »Übersetzungsströmen«22 aufbaut, auf der performativen Wirkung von Übersetzung als Transformation. Gemeint sind die oft unvorhersehbaren Veränderungen und die immer wieder neuen Entwicklungen in den Handlungskollektiven, wie sie sich durch die ständigen Verknüpfungen und Neuverknüpfungen von Entitäten und Akteuren ergeben. Übersetzung – so definiert sie Latour – ist »eine Relation, die (…) zwei Mittler dazu veranlaßt zu koexistieren.«23 Das heißt aber auch, so erstaunlich es klingt: Die Muscheln drängen die Fischer zu einem bestimmten Handeln, die Kammmuscheln »verhandeln« mit den Fischern. Übersetzung wäre dann also Verhandlung? Hier sicher nicht im Sinn der neueren Kulturtheorie, die Übersetzung für einen konkreten Aushandlungsmodus hält, sondern eher als ein bloßer »Passagepunkt«24 im Verlauf netzwerkbildender »Übersetzungsströme«.
Was also wäre fürs Weiterdenken festzuhalten? Wenn hier Übersetzung zu einem zentralen »analytische(n) Werkzeug« für eine neue Form der Soziologie aufgewertet wird,25 dann ist allein schon dies ein markanter Denkanstoß. Mein Hauptinteresse hingegen ist darauf gerichtet, dieses analytische Werkzeug der Übersetzung als solches noch genauer zu beleuchten, die subtilen Triebkräfte in den Translationsvorgängen aufzudecken und letztlich der Struktur dieses Werkzeugs selbst auf den Grund zu gehen. In dieser Richtung nehmen die folgenden knapp skizzierten soziologischen Ansätze, sowie mein eigener kulturwissenschaftlicher Zugang, andersgelagerte Akzentsetzungen vor. Übersetzung mag in der fluiden Assoziation unterschiedlicher Sphären bestehen und daraus ihre gesellschaftliche Energie schöpfen. Aber sie ist eben auch – und das sei betont – eine ausdrücklich methodische Operation, die von sinnhaften Verweisungen lebt. Mehr noch: Übersetzung erschöpft sich nicht im Zirkulieren und Relationieren, sondern kann auch Brüche und Verwerfungen unbeschönigt markieren. Damit wird sie zu einem unentbehrlichen Instrument im Umgang mit Konflikten.
Es braucht diese andere Blickrichtung einer kulturwissenschaftlichen Einstellung, um bisher noch wenig ausgeleuchtete Facetten zum Vorschein zu bringen. Voraussetzung ist allerdings, dass man sich auf die Kategorie der Übersetzung als solche gezielt einlässt: als Praxis, als Analysekategorie, jedenfalls als ein herausgehobenes Untersuchungsobjekt, das auf seine eigenen Strukturen und sozialen Formen, ja auf seine besondere Dynamik hin analysiert werden sollte. Davon könnte am Ende auch die erweiterte Soziologie der Übersetzung profitieren, wie sie Callon und Latour angebahnt haben. Mit einem neuen kulturwissenschaftlichen Akzent könnte sie noch handlungsnäher beschrieben und gezielter einsetzbar gemacht werden. Und dieser Akzent liegt mit Nachdruck auf Übersetzung als einer aktiv zu betreibenden Kulturtechnik.
An dieser Perspektive kreuzen sich gegenwärtig kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze. So kann es auch in diesem Buch nicht darum gehen, die Kulturwissenschaften gegen die Sozialwissenschaften auszuspielen, sondern eher den Blickwinkel sozialwissenschaftlich profilierter Kulturwissenschaften einzunehmen. Anschlussfähig sind dazu bemerkenswerte Anstöße, wie sie der Soziologe Joachim Renn zur Diskussion gestellt hat, indem er Gesellschaft auf eine durchgängige Übersetzungsbasis stellt: Ohne das Konzept der Übersetzung dabei zu überdimensionieren, wird es in ein Integrationskonzept soziologisch »übersetzt«, um es für eine »Revision des Integrationsbegriffs«26 fruchtbar machen zu können. Integration, dieser ebenfalls großflächige Allgemeinbegriff, lässt sich auf diese Weise aufgliedern in Teilsysteme, in soziale Kontexte, Milieus, Organisationen, Institutionen. Und diese rufen untereinander zu ständigen einzelnen Übersetzungsleistungen auf: zwischen nicht verallgemeinerbaren, divergierenden Perspektiven, Interessen, Positionen und Lebensformen. Verfolgt man Integration als gesellschaftliche Zielvorstellung – wovon die Migrationsgesellschaft lebt –, sollte man also nicht von vornherein größere soziale Einheiten mit gemeinsamen Ordnungsvorstellungen ansteuern. Eher wäre von gesellschaftlichen Teilbereichen und Milieus auszugehen, um sie auf ihr eigenes pragmatisches Austausch- und Verhandlungspotenzial hin zu untersuchen.
Wie wären dann moderne Gesellschaften insgesamt angemessen zu erfassen? Bei all ihrer Vielstimmigkeit und inneren Widersprüchlichkeit ist dies sicher nicht möglich durch ihre ganzheitliche oder gar einheitliche »Repräsentation«. An ihre Stelle – so die These – treten prekäre und keineswegs widerspruchsfreie »Übersetzungsverhältnisse«, die nicht auf normativen Integrationsvorstellungen basieren, sondern aus dynamischen Übersetzungsbeziehungen heraus erst entstehen. Damit käme es – paradox ausgedrückt – zur Herstellung einer »zersplitterte(n) Einheit der Gesellschaft als komplexe Interdependenz zwischen ausdifferenzierten Teilen.«27 So abstrakt diese Formulierung auch klingt, so betrifft sie doch die konkreten Spannungsfelder gesellschaftlicher Pluralität, an deren inneren Rändern und Grenzlinien auch das schon erwähnte Problem der Teilhabe verhandelt wird.28 Hier ist ein Ort, an dem sich die zentrale Bedeutung von Übersetzung entfaltet: gleichsam als ein Schlüsselscharnier einer Gesellschaft, die mit fortwährenden Übergängen und Kontextwechseln, mit Brüchen, Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen umgehen muss. Hier braucht es Übersetzungskompetenzen wie Übertragen, Vermitteln, Aushandeln; es braucht Übersetzung als einen modus operandi der unterschiedlichsten Übergangssituationen, wie sie das Leben der einzelnen Menschen, aber auch die ständigen Wechselbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen zunehmend bestimmen – gerade um solche Übergänge machtkritisch auszuleuchten, sie aber auch anschlussfähig zu machen. Derartig interpretiert, bedeutet dies »für die Einheit der Gesellschaft, dass sie nicht anders realisiert werden kann als in permanenter Übersetzung in eine Vielzahl von Kontexten.«29
Allerdings wäre es ein Irrtum anzunehmen, solche Kontexte existierten bereits als vorgegebene Einheiten; oft werden sie gerade erst geschaffen, und zwar durch die Wirkungskraft vielfältiger Übersetzungsvorgänge in einem komplexen Umfeld. In den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen ist eine Vielzahl von Elementen im Spiel, die im Übersetzungsgeschehen gleichzeitig aktiviert werden: vorhergehende Erfahrungen, sinnhafte Verweise, Antizipationen und Verknüpfungen, kurz gesagt subjektive Perspektivierungen. Die Handlungskontexte als Sinn- und Wirkungszusammenhänge werden dadurch oft erst innerhalb des Prozesses selbst herausgebildet, abgesteckt und transformiert. In diesem Sinn hat der Soziologe Andreas Langenohl die Augen geöffnet für die zunächst überraschende Einsicht, »dass Übersetzung Kontexte erzeugt.«30 Diese Einsicht ist meines Erachtens ein entscheidender Anstoß, der die gesellschaftsbildende Funktion von Übersetzung auf den Punkt bringt. Er lässt unser herkömmliches Übersetzungsverständnis, das immer noch auf gegeneinander abgegrenzte Sprachkontexte rückbezogen bleibt, in weiten Teilen hinter sich und gibt ihm eine ganz neue Ausrichtung. Übersetzung müsste eher als ein Versuch der Verständigung, Vermittlung und Bewältigung gesehen werden, der über soziale »Ansprache« verläuft. Mit ihrem derart performativen, wirklichkeitskonstituierenden Vermögen wirft die Übersetzungspraxis neues Licht auf gesellschaftliche Interaktionsvorgänge insgesamt. Auch diese weisen oft über sich hinaus oder, anders gesagt, entfalten eine Überschussdynamik: »Die Szene der Übersetzung enthüllt gewissermaßen die performativen Komponenten, auf denen soziale Interaktionsprozesse beruhen.«31 Darin liegt eine der Keimzellen für einen neuen Blick auf die besondere »Sozialität«32 von Übersetzung.
Schon an dieser Stelle wird klar: Es kommt ein neues Element ins Spiel, das die Wirkungsmacht von Übersetzung als modus operandi noch unterstreicht. Übersetzung setzt etwas in Kraft, realisiert und aktiviert, stellt aufgrund von Perspektivierung die Kontexte der eigenen Wirksamkeit erst her. Da in diesem Übersetzungskonzept auch »Visionierung«, Hoffnung, Aspirationen, Adressierungen, Wirkungsabsichten als Grundelemente mitgedacht werden, wird schon hier auf ein deutlich nach vorn gewandtes Übersetzungsverständnis hingearbeitet. In ersten Ansätzen ist es richtungweisend für eine noch umfassendere Erkenntnis, die sich im Verlauf dieser Studie in ihrer gesellschaftlichen, politischen, ja weltpolitischen Tragweite zeigen wird: Übersetzen scheint zukunftsträchtiger zu sein, wenn auch übergreifende oder gar vorausschauende Bezugsebenen in den Prozess einbezogen werden. Um es schon hier vorwegzunehmen: Solche weiteren Bezugshorizonte gewinnen höchste Relevanz, da sie in einer Gesellschaft weiterreichenden, auch grenzüberschreitenden Zielvorstellungen Raum geben.
Gerade dieses Potenzial stellt unser herkömmliches Übersetzungsverständnis in Frage. Denn es erschüttert eine konventionelle Vorstellung, die sich nach dem Muster der Sprachübertragung in unseren Köpfen festgesetzt hat. Sie geht von der Annahme aus, das Hauptgeschäft der Übersetzung bestünde darin, vorgängige »Bedeutungen« zu übermitteln und Sinnbezüge herzustellen – sei es zwischen Sprachen, Texten oder zwischen Kontexten, die man für abgrenzbar hält. Besteht es aber nicht auch darin, von sich aus »Wirkungen« auszulösen? Wenn man einschlägige Szenarien auf solche Ausrichtung hin liest, könnte ein verändertes Übersetzungsverständnis und mehr noch: ein veränderndes Übersetzungsverständnis zur Anwendung gebracht werden. Elemente kommen ans Licht, die neue Wege bahnen – Elemente einer prospektiven Übersetzung, wie ich sie nennen würde. Diese Neuausrichtung ließe sich an einem ganzen Spektrum von Problemfeldern erproben: an mehrsprachigen Migrationssituationen, kommunikativen Herausforderungen der Pandemiebekämpfung, diplomatischen und anderen Verhandlungssituationen, an militärischen Konfliktzonen, Auseinandersetzungen über Menschenrechte, an Brennpunkten der aktuellen Klimadebatte. Aber auch in neueren Protestformen scheint eine prospektive Übersetzungsrichtung enthalten zu sein, in den Demonstrationen von Fridays for Future sowie in den schwerer vermittelbaren Klimakleber-Aktionen und Blockaden der Letzten Generation. Diese und die anderen angedeuteten gesellschaftlichen Szenarien bestehen aus ganzen Bündeln von Ausdrucksformen und Praktiken, die das Übersetzungsgeschehen performativ aufmischen und in neue Richtungen lenken oder sogar umlenken. Hier geht es weniger um Transfer oder gar Reproduktion von »Bedeutungen«, eher um aktivierende »Sprechakte«, vor allem wenn bloße Ideen, Vorstellungen und Vorschläge in Handlungen übersetzt werden sollen. In solchen performativen Fällen, die Realitäten erst schaffen, sind soziale »Adressierungen« das Gebot der Stunde. Es sind Ansprachen, die wirkungsorientiert in neue Kontexte ausgreifen, nicht selten noch bekräftigt durch nichtsprachliche Ausdrucksformen, durch Gestik, Mimik und demonstrative Akte. In den vielschichtigen Interaktionsszenarien, wie sie in gegenwärtigen Gesellschaften gang und gäbe sind, spielt diese prospektive und zugleich »transformative Kraft der Übersetzung«33 eine wichtige Rolle.
Um es noch einmal zu betonen: Man muss gar nicht so weit gehen und Übersetzung in den Kommunikations- und Handlungsfeldern zwischen Kulturen ansiedeln. Da in jeglichen Interaktionssituationen unterschiedliche, ja disparate Wahrnehmungs- und Handlungsebenen ins Spiel kommen, aber auch mögliche Verwerfungen und Missverständnisse bewältigt werden müssen, sind Übersetzungsmomente auch innerhalb von Kulturen und Gesellschaften allgegenwärtig.34 Dabei ist Sprachvermittlung das eine; eine weitergreifende Übersetzungsaktivität, die in den Szenarien der gesellschaftlichen Vermittlung selbst Kognitives und Sprachliches, Vorstellungen, Absichten und Ziele in konkretes Handeln überführt, ist das andere. Doch selbst dabei bleibt es nicht. Immer grundlegender wird dem Übersetzen eine existentielle und politische Wirkungskraft für gesellschaftliche »Erfahrungsbildung und Wissensvermittlung«35 zugesprochen – basierend darauf, dass in einem machtgeprägten gesellschaftlichen Handlungsumfeld immer auch Eingriffsmöglichkeiten freigesetzt und einmal eingeschlagene Wege auch umgelenkt werden können. Auch für die machtungleiche globale Entwicklungspolitik werden solche gesellschaftlichen Übersetzungsinterventionen zunehmend fruchtbar gemacht – vor allem, um im Zusammenhang der Entwicklungsförderung der Tendenz entgegenzuwirken, internationale Ideen, Konzepte, auch Normen zumeist einseitig in Länder des globalen Südens zu übertragen. Dagegen ließen sich solche Wissensübertragungen in andere lokale Sprachen und Umfelder hinein auch ausdrücklich als ein Projekt anlegen, durch Übersetzungsbemühungen die Erfahrungen und das Wissen der Einheimischen in den dortigen Gesellschaften einzubeziehen.36
Auch wenn die bisher erwähnten Übersetzungsreflexionen unterschiedlich akzentuiert sind, deuten ihre Strukturmerkmale auf einen gemeinsamen Grundzug. Die Hauptstränge des aktuellen Übersetzungsdiskurses, so lässt sich schon jetzt behaupten, laufen überwiegend in eine pragmatische Richtung. Dabei verschiebt sich die Aufmerksamkeit zunehmend weg von der enger gefassten sprachlich-textuellen Bedeutungsübertragung und hin zu der Einsicht, dass sich bereits die Bedeutungen selbst nur in praktischen, lebensweltlichen Vollzügen herausbilden können. Von hier aus kann genauer identifiziert werden, wie die soziale Praxis der Übersetzung funktioniert. Weit entfernt von den Repräsentations- oder Äquivalenzansprüchen, wie sie dem traditionellen, sprachbezogenen Übersetzungsverständnis anhaften, bildet sie stattdessen eine Art »Fortsetzung oder Anschlusshandlung (…), die zwischen verschiedenen Sprachspielen und Lebensformen vermittelt (…)«37 – und zwar überall dort, wo Kontextwechsel, Änderungen von Bezugsrahmen und Übertragungsprozesse im Spiel sind. Die Auswirkungen einer solchen Perspektivenverschiebung, die auch Deplatzierungsvorgänge erfasst, sind enorm. Sie stellen die Weichen für ein neues, gesellschaftsorientiertes Übersetzungsverständnis, das später noch in seiner umfassenderen Reichweite entfaltet wird. Es erstreckt sich unter anderem auf den Versuch, auch die Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen sowie zwischen Wissenschaften und Künsten durch eine translatorische Brille neu zu betrachten – Grenzüberschreitungen, wie sie nicht selten von den ineinandergreifenden gesellschaftlichen Problemstellungen selbst abverlangt werden. Es erstreckt sich aber auch auf den Versuch, historische Verläufe gesellschaftlicher Transformationen auf Translationsprozesse zurückzuführen. Und zwar auf solche, die mehr leisten als bloße semantische Umdeutungen. Indem sie Brechungen und Verschiebungen produktiv machen, greifen sie – wie sich zeigen wird – in erstaunlicher Weise in historische Handlungsabläufe ein und bahnen neue Kontexte an.
Bis hierher habe ich erst flüchtige Schlaglichter auf einige sozialwissenschaftliche Vorschläge geworfen, Gesellschaft aus einer Übersetzungsperspektive zu begreifen. Mit Absicht. Denn solche kaleidoskopartigen Einblicke in Szenarien und Strukturelemente von Übersetzung sollten zunächst skizzenhaft vor Augen führen, wie vielgestaltig schon jetzt das Spektrum gesellschaftlicher Übersetzungsperspektiven ist – die allesamt längst den vertrauten Rahmen eines sprachlichen und textuellen Übersetzungsbegriffs gesprengt haben.38 In den letzten Jahren ist dieses erweiterte Spektrum, wie schon erwähnt, bereits durch den Translational Turn entfaltet worden, deutlich in eine pragmatische Richtung ausgreifend. Dieser Turn hat sich allerdings nicht primär in der Soziologie, sondern in erster Linie in den Kulturwissenschaften abgespielt – erstaunlicherweise nicht etwa im Feld der eigenständig agierenden Disziplin der Translation Studies39, die sich zunächst recht zögerlich zu einem kulturwissenschaftlich erweiterten »outward turn«40 durchgerungen hat. Die Türen standen jedenfalls offen, um die Übersetzungskategorie in den vielfältigsten Anwendungsbereichen der Humanwissenschaften zu erproben. Damit waren jedoch auch Tür und Tor geöffnet für eine metaphorische Ausuferung. Umso unentbehrlicher für die Frage der gesellschaftskonstituierenden Funktion von Übersetzung wurden deshalb vor allem soziologische Translationsansätze, gerade wenn sie empirisch untermauert waren.
Allerdings fallen Gesellschaftsfragen und Muster sozialen Handelns bekanntlich nicht allein ins Revier der Soziologie; sie beschäftigen die Kulturwissenschaften in ihren eigenen Ansätzen. Im Fokus steht die Übersetzungskultur in pluralisierten Gesellschaften. Dort lassen die Verhältnisse ohnehin nicht zu, Reinheit, Authentizität oder Originalität zu behaupten, sondern eher Vermischungen und ein Immer-Schon-Übersetzt-Sein. Und doch werden immer wieder erneut konkrete Übersetzungsbemühungen notwendig. Dass es hier um eine aktive Gestaltungsform geht, darauf richtet sich das Augenmerk der Kulturwissenschaften. Wie ungemein flexibel diese Gestaltungsform ist, wird besonders in signifikanten gesellschaftlichen Schlüsselszenarien greifbar, die uns im Alltag ständig begegnen. Stichwort Willkommenskultur. Hier sind es ganze Übersetzungsketten hin zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, die in diesem Fall nicht nur als Latoursches Zirkulationsgeschehen, sondern viel konkreter in ihrer »praktischen Übersetzungsarbeit« sichtbar gemacht werden können – betrachtet man gleichsam die institutionellen Staffelübergaben und Vermittlungsbahnen zwischen Ausländerbehörden, Beratungsagenturen, Bürgerinitiativen, Arbeitsämtern und Arbeitgebern.41 Aber auch ein Fallbeispiel wie dieses gewinnt unter einer kulturwissenschaftlichen Übersetzungsperspektive eine übergreifende Bedeutung, die über den situativen Ereignischarakter solcher Wirklichkeitsszenarien hinausweist. Es wird zum Sprungbrett, um allgemeinere Muster freizulegen: Strukturen der Übersetzung in ihren zukunftsweisenden Möglichkeiten einer eigenen, fundamentalen Kommunikations- und Handlungsweise, über die sich die großen Verständigungs- und Vermittlungsaufgaben heutiger Gesellschaften vielleicht besser bewältigen lassen.
Lenkt man derart die Aufmerksamkeit auf Grundstrukturen und Knotenpunkte von gesellschaftlichen Übersetzungsvorgängen, dann bleibt Übersetzung als sozial-kulturelle Praxis kein bloßer Untersuchungsgegenstand. Er wird zu einer Untersuchungslinse, die den Blick schärft: »reading translationally«42. Dies ist zweifellos ein epistemologischer Sprung mit erheblicher Wirkungskraft. Denn ein ausdrücklich translationaler Fokus ist weitreichend. Er ist ein wichtiges Sondierungsinstrument, indem er Merkmale oder gar typische Muster zum Vorschein bringt, wie sie bei jeglichen Übertragungsvorgängen im Spiel sind. Dieses zunächst strukturelle Interesse an Übersetzungsvorgängen mag im ersten Moment eher unanschaulich formal erscheinen. Dabei kann es methodisch regelrecht motivierend wirken. Denn immer dann, wenn man sich Interaktionsszenarien in gesellschaftlichen Beziehungsverhältnissen genauer anschaut, könnten diese auf eine folgenreiche Grundfrage hin durchleuchtet werden: Beharren sie eher auf Unübersetzbarkeit oder ermöglichen sie Übersetzbarkeit, und inwieweit werden offene oder versteckte Übersetzungspatterns erkennbar? Die Übersetzungslinse hat also eine erstaunliche Impulswirkung, noch dazu in einem breiten Anwendungsspektrum. Grundsätzlich scheint Übersetzung immer dann gefragt zu sein, wenn Erfahrungsbrüche, Kontextverschiebungen, Vermittlungsaufgaben im Spiel sind oder Sinngrenzen überschritten werden. Übersetzungsprozesse liefern den Modus, mit den dabei aufbrechenden Störungen umzugehen. Paradebeispiele sind die bekannten gesellschaftlichen Szenarien, in denen Gruppen mit unterschiedlichen politischen Positionen aufeinandertreffen und in ihren Interessengegensätzen kollidieren. Auf einer anderen Ebene sind es die »Eigenlogiken« und »Perspektivendifferenzen« unterschiedlicher, oftmals polarisierter gesellschaftlicher Systeme, besonders von Ost und West, die ausgesprochen übersetzungsbedürftig sind.43 Auch Migrationsszenarien, wie deplatzierend, verstörend und traditionsbrechend sie auch sind, enthalten nicht nur Sprengkraft für mögliche Konflikte, sondern erfordern besondere Übersetzungsanstrengungen. Vermittelnde Übersetzungspraktiken könnten hier zu zielführenden Bewältigungsinstrumenten werden.
Ein exemplarischer Fall deutet dies an: Zur Debatte steht ein schon 2012 entstandenes Refugee Protest Camp Vienna, eine kollektive Aktion von Geflüchteten, NGOs und Sympathisanten aus der Bevölkerung, die sich in Gegenbewegung zu den individualisierten Asylbewerberverfahren gebildet hatte. Dieser Fall ist ausdrücklich als ein umfassender und schrittweiser »Versuch der Übersetzung«44 der prekären Lebensumstände der Migranten in rechtlich abgesicherte Verhältnisse interpretiert worden. Auch hier wurde gegenüber den Behörden darauf gedrungen – man erinnere sich an Carolin Emckes Übersetzungsappell –, dass die gesellschaftlichen Normen von Humanität über bloße Lippenbekenntnisse hinaus dringend in verbesserte Lebensrealitäten der Migranten umgesetzt werden müssen. Dafür brauchte es eine gemeinsame Aktionsbasis: Um die unterschiedlichen Interessenlagen der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen gegenseitig übersetzbar zu machen, wurden sie über das Band der ›Solidarität‹ (wie man es nannte) miteinander verknüpft. Ob eine vergleichbare Übersetzungsperspektive auch Licht werfen könnte auf die pro-palästinensischen Protest-Camps von Studierenden auf amerikanischen und deutschen Universitätscampus und ob man dort vielleicht eher von einem Scheitern möglicher Übersetzungsbemühungen sprechen müsste – dies wäre im (Aus)handlungsnetzwerk der beteiligten Akteure (Studierende, Universitätsprofessoren, Administratoren, Politiker, Medien und Polizei) genauer zu untersuchen. Auf jeden Fall stünde diese Fragestellung unter dem Vorzeichen eines massiven Zusammenpralls von Deutungsansprüchen, ja von anhaltenden »Übersetzungskonflikten«, von denen schon zu Beginn die Rede war.
Durchleuchtet man Handlungszusammenhänge unter einer kulturwissenschaftlichen Übersetzungsperspektive und bezieht sich dabei auf Fallbeispiele wie das eben genannte, dann stößt man nicht nur auf die bewussten oder unbewussten Konzepte, Verfahren und Sinnhorizonte, nach denen die Akteure handeln. Man stößt auch auf das Phänomen, dass selbst scheinbar einfache und überschaubare Handlungen bei genauerem Hinsehen in einem komplexen Spannungsfeld von Kontextüberschneidungen stattfinden. Keine Übersetzung geschieht ohne den Versuch, Kontexte mitzuübersetzen. Doch Vorsicht. Diese Behauptung zeigt, wie erstaunlich unbekümmert einem die allzu pauschale und inflationäre Rede von Kontext und Kontextwechsel über die Lippen geht. Da lohnt ein kritisches Innehalten oder gleich der Versuch, das Kontextverständnis kulturanthropologisch sensibel gleichsam mit einer translationalen Klinge zu sezieren45: schattiert in jeweilige Geltungsbereiche von Sprachspielen, von Referenzsystemen oder diskursiven Sphären, von unterschiedlichen Lebensbezügen oder Handlungshorizonten. Wie irreführend zu meinen, man hätte es da immer mit strikt getrennten Kontexten zu tun. Kontextwechsel sind auch dann im Spiel, wenn man sich – wie dies zunehmend der Fall ist – in bereits miteinander verknüpften und dennoch oftmals gegenläufigen Konstellationen gleichzeitig bewegt. Wer bestimmt eigentlich, was der jeweilige Kontext ist, wie weit er reicht, wie er gefüllt ist? Das fragte schon Bruno Latour und hatte darauf eine akteursbezogene Antwort: Die Akteure selbst sind es, welche die Handlungskontexte prägen, nicht zuletzt durch ihre eigenen »Rahmungsaktivitäten«46.
Wieweit Kontexte reichen, wodurch sie begrenzt werden oder wie sie sich überlagern, ist aber auch eine Frage von pre-translations, wie man sie nennen könnte. Davon wird später ausführlicher die Rede sein. Doch schon hier muss diese Frage ins Spiel kommen. Denn die Rahmungsaktivität erhält unverhoffte Akzente, wenn sie zusätzlich auf eine epistemologische Ebene rückverlagert wird, auf der solche Rahmungen bereits vor jeglichen subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten präfiguriert sind. Auch dies kann durch die Übersetzungslinse ans Licht gebracht werden: Die Phänomene selbst, auch das, was wir Kontext nennen, gewinnen erst dadurch ihre Konturen, dass sie gleichsam »vorübersetzt« sind, schon allein aufgrund der begrifflichen Abgrenzungen, aber auch der historischen Vorbelastungen.
Beginnen wir mit Ganzheitsbegriffen wie Kultur, Identität, Tradition, Religion usw., mit denen wir oft viel zu bedenkenlos umgehen. Über den Zergliederungsmodus der Übersetzung können sie auf ihre konstitutiven Elemente, aber auch auf ihre inneren Widersprüchlichkeiten hin durchleuchtet werden. Ein harmloses Zerlegungsspiel ist dies in keiner Weise. Das wird erkennbar, wenn man zunächst historisch weiter ausholt. Immer – so der postkoloniale Historiker Dipesh Chakrabarty – schärft die Zergliederungslinse auch den historischen kritisch-analytischen Blick: Europäische Schlüsselkategorien (wie etwa Modernisierung, Industrialisierung, Kapitalismus, Demokratisierung), die wir gern scheinbar zeitlos zur Untersuchung von Gesellschaften heranziehen, sind eben nicht neutral, objektiv oder gar universell gültig. Sie haben sich im Zuge kolonialistischer Expansion über die Welt verbreitet und dabei die je eigenen Kategorien der Gesellschaften außerhalb Europas in sich aufgesogen und assimiliert. Postkoloniale Kritik setzt genau an dieser Art von machtbesetzter Übersetzung als Ortsverschiebung und Ent-Stellung an, buchstäblich als »translation-as-displacement«47 nicht nur von Kategorien, sondern auch von Menschen. In ähnlichen Tönen spricht der postkoloniale lateinamerikanische Theoretiker Walter Mignolo von »theorizing translation across the colonial difference.«48
Solche kolonialen Asymmetrien, ja die globalen Beziehungen insgesamt mit ihren Deplatzierungen und kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, führen zu entscheidenden Vor-Übersetzungen. Ihr langer Arm reicht bis in die Gegenwartsgesellschaften hinein und zwingt diese zu einer deutlichen gesellschaftlichen Selbstkritik. Man kennt die herausgehobenen Arenen, auf denen solche Selbstkritik gegenwärtig stattfindet und in praktischen Konsequenzen mündet: die aktuellen Debatten zur Restitution von Kulturgütern, die Kontroversen über Museumspolitik und ihre dekolonisierende Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ihrer Sammlungen bis hin zu den neueren Spielarten eines postkolonialen Aktivismus. Doch all diese kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzungen bleiben weitgehend an der Oberfläche, solange sie nicht bis zu den Grundbegriffen der Erkenntnisgewinnung innerhalb einer Gesellschaft vordringen und sie politisch und machtsensibel überdenken. Davon ist allerdings auch der Übersetzungsbegriff selbst nicht ausgenommen. Ist er neutral? Wird er kulturspezifisch verwendet? Welche Macht übt er aus? Ist er für alle Gesellschaften gleichermaßen bedeutsam? Wenn also von Gesellschaft als einem Übersetzungszusammenhang die Rede sein soll, sind solche Fragen auf dem Hintergrund der transnational und historisch aufgeladenen, machtungleichen Vorbedingungen, ja Vorübersetzungen immer im Blick zu behalten.
Die Zergliederungsperspektive geht aber noch weiter: So erfasst die Übersetzungslinse die (inner)gesellschaftlichen Übertragungsprozesse immer zugleich in ihren globalen Verflechtungszusammenhängen. Aber dennoch nicht mit pauschalem Duktus – obwohl die universalistische Anspruchshaltung des globalen Nordens dazu neigt, den weltweiten Entwicklungen eine generelle Theorie überzustülpen. Doch zunehmend unüberhörbar werden Stimmen aus nichteuropäischen Weltregionen. Sie verweisen darauf, dass sich (postkoloniale) historische und gegenwärtige Phänomene, Gesamtzusammenhänge, Problemkomplexe oder generelle Theorien erst aus einzelnen Übersetzungsschritten zusammensetzen und gerade deshalb auch unterlaufen werden können: »Die Alternative zu einer generellen Theorie ist die Arbeit der Übersetzung.«49 Dieses markante Statement eines Theoretikers des globalen Südens, des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos, hat die Schlagkraft einer politischen und wissenschaftspolitischen Intervention. Sie richtet sich gegen die globale, monokulturelle Ausbreitung westlich-universalistischer Theoriemonopole und Machtungleichheiten. Jede allgemeine, universelle Theorie globaler sozialer Veränderung absorbiere die globale Diversität, wie sie sich beispielhaft in den unterschiedlichsten sozialen, ökologischen, feministischen, indigenen Bewegungen auf dem jährlich stattfindenden World Social Forum abbildet. Diese globale Diversität könne nur durch die nuancierende und pluralisierende »Arbeit der Übersetzung« aufrechterhalten und zur Artikulation gebracht werden – um abzuklären, worin sich die vielfältigen sozialen Bewegungen aus allen Teilen der Welt unterscheiden und wie sie dennoch in der Lage sind, ihre Einzelziele in gemeinsame Zielvorstellungen zu übersetzen und damit zu bündeln. »Die Arbeit der Übersetzung zielt darauf ab, Verständlichkeit, Kohärenz und Ausdruckskraft zu schaffen – in einer Welt, die sich durch Vielfalt und Diversität bereichert sieht.«50 Übersetzung bedeutet hier »interpolitical translation«51 oder präziser gesagt »intermovement translation«52, das heißt explizite politische Übersetzungsarbeit, mit der soziale Bewegungen versuchen, ihre grenzüberschreitende Kritik an hegemonialer Globalisierung gemeinsam voranzutreiben.
Impliziter politisch wird es, wenn man de Sousa Santos’ Statement wiederum zurückzoomt auf eine andere Ebene, auf der die Weichen für eine begriffssensiblere Forschungseinstellung gestellt werden: Einheitsgebilde, Clusterbegriffe bzw. weit ausgreifende Großbegriffe wie Gesellschaft, Nation, Moderne, Demokratie usw. sollten mit Vorsicht verwendet werden. Denn ihr Unterfutter sind mitnichten einheitliche Phänomene, sondern vielschichtige und oft in sich widersprüchliche Szenarien, Praktiken und vor allem auch unterschiedliche Erfahrungshintergründe, die historisch, kommunikativ und situativ kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Auch hier setzt die »Arbeit der Übersetzung« an. Es ist eine Arbeit, welche die Dachbegriffe analytisch zergliedert, vervielfältigt und interkulturell präzisiert. So ist etwa Democracy in Translation als Projekttitel nicht zufällig gewählt, da er gerade kein globales Demokratiekonzept im Auge hat, sondern eine weltweite translationale Nuancierung, Lokalisierung und damit auch Kontextualisierung von demokratischen Erscheinungsformen und Verhältnissen.53 Statt pauschal von Demokratie zu reden und gar von einem universalistischen Konzept auszugehen, wären die übersetzungsträchtigen Gelenkstellen und Brüche nachzuvollziehen, an denen sich oft widersprüchliche Demokratieformen herausbilden – sei es über politisches Engagement, Mitbestimmungsvorgänge, Bildung von Koalitionen, aber auch über die Ermöglichung alternativer Äußerungen oder gar autoritär-populistischer Gegenbewegungen.
Hier entfaltet sich ein Blickwinkel, der nicht nur die Phänomene und Entwicklungen pluralisiert und sie dabei ausdrücklich dezentriert, sondern der zugleich auf konzeptuelle Schärfung gerichtet ist. Daraus könnte jetzt ein weitreichender methodischer Vorschlag gemacht werden: Auch Theorien mit einem generellen, verallgemeinerbaren Anspruch – Gesellschaftstheorien, Sozialtheorien, Kulturtheorien, Demokratietheorien usw. – sind nicht unbedingt der beste Ausgangspunkt, um die verzweigten Handlungszusammenhänge und Konzeptabweichungen innerhalb und zwischen Gesellschaften zu erfassen. Vielleicht wäre es erhellend, sich auch auf dieser Ebene erst einmal auf das weniger technische als vielmehr soziale Handwerk einer »Arbeit der Übersetzung« einzulassen. Mit ihrem Zergliederungsansatz ist Translation gleichsam ein Werkzeug dieser Zeit. Und es liegt in den Händen von Akteuren. Man kann es gebrauchen, um Großbegriffe aufzusplitten und komplexe Handlungsgebilde in einzelne Handlungsschritte aufzuspalten. Mehr noch: Als Zergliederungsinstrument ist Translation auch in der Lage, stärkere Nuancierungen ins gesellschaftliche Stimmengewirr einzubringen, um die diffusen Gemengelagen gesellschaftlicher Mehrdeutigkeiten und Interferenzen zu entflechten, sie klar und deutlich auseinanderzulegen, statt sie populistisch zu vernebeln. Das Nebeneinander oft unvereinbarer Interpretationsschemata und Handlungsoptionen, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, könnte dadurch sogar erstaunlich produktiv gemacht werden.
Von einer Handlungsweise zu einem analytischen Zergliederungsinstrument? Wenn bei diesem Argumentationsbogen der Eindruck entstanden ist, dass unterschiedliche Übersetzungsebenen bzw. Ebenen der Übersetzungsreflexion ständig ineinandergreifen, so sollte man sich davon nicht irritieren lassen. Denn Übersetzung ist in sich schon janusköpfig – einerseits ein Handlungsmodus, ein modus operandi gesellschaftlicher Interaktion, andererseits aber auch eine kulturwissenschaftliche translatorische Untersuchungseinstellung oder, anders ausgedrückt, ein operatives »Methodenkonzept« (Mieke Bal), das für die Wissensgewinnung und -vermittlung eine entscheidende Rolle spielt. Ob Handlungsform oder epistemologisch geschärfte Analysekategorie – für beide Ebenen ist das operative Potenzial von Übersetzung weiter als bisher auszuschöpfen: hin zu einer komplexitätserhaltenden Handlungsform, aber auch hin zu einer erkenntnisleitenden »Methode, die den Blick verändert« (Thomas Bedorf).
Diese Doppelbedeutung, dieses Changieren zwischen sozialer Übersetzungspraxis und translationaler Methodeneinstellung, ist in ihrer Schubwirkung für die Weiterprofilierung einer gesellschaftsprägenden Übersetzungskultur kaum zu überschätzen. Auch ist sie ein wichtiges Scharnier, das die akademische Forschung jetzt und in Zukunft noch enger an die gesellschaftspolitische Sphäre rückbinden könnte. Zwar sollten die Kulturwissenschaften stets alarmiert sein, wenn Kategorien der gesellschaftlichen Handlungswelten, wie beispielsweise Identität, Nation oder Grenze, gleichsam eins zu eins auch als analytische Forschungskonzepte in Anspruch genommen werden. In diese Falle läuft man immer wieder. Doch für die Übersetzungskategorie besteht offenbar eine geringere Gefahr, dass sie unreflektierte gesellschaftliche Alltagswahrnehmungen und Klassifizierungen auf der Analyseebene reifiziert und reproduziert. Denn bereits in der Sphäre der alltäglichen Lebenswelten selbst macht sich Übersetzung (im Unterschied etwa zum Kampfbegriff der Identität) als eine komplexe Kulturtechnik bemerkbar. Auch in schwierigen Kontakt- und Handlungssituationen kann sie reflektiert mit Differenzerfahrungen umgehen, wie sie nicht nur im Wechsel von Codes und Lebenswelten aufbrechen. Aushandlungs- und Vermittlungsschritte, Adressierungen und Transformationsvorgänge sind ihr Metier. Auf der Analyseebene wiederum entspricht einer solchen Kulturtechnik die Forschungseinstellung einer handlungsbezogenen, »methodischen Interkulturalität«54 – auch bereits innerhalb ein und derselben (vermischten, ineinander verschränkten) kulturellen Kontexte.
Wie ein solches Changieren konkret aussehen kann, zeigt sich in einem soziologischen Forschungsprojekt, das am Fallbeispiel der deutsch-tschechischen Grenze die gezielten Übersetzungsleistungen grenzüberschreitender Organisationen untersucht. In Grenzregionen – vor allem nach politischen Systemveränderungen – besteht offenkundig ein besonderer Übersetzungsbedarf, wenn man in den Handlungsfeldern der unterschiedlichsten Grenzorganisationen (u.a. Erwachsenenbildung, Polizei, Jugendarbeit, Kulturarbeit, Sozialarbeit) kooperieren will. Die Herausforderungen grenzüberschreitender Zusammenarbeit, so die Erkenntnis, verlangen hier einen ausdrücklichen Rückgriff auf die geistes- und kulturwissenschaftliche Kompetenz in Übersetzungsfragen, da diese »für den Umgang mit Übersetzungsanforderungen von besonderer Bedeutung« sei. Denn sie vermittelt »performative und reflexive Fähigkeiten, die einen flexiblen und zielführenden Umgang mit heterogenen Sprachen und kulturellen Praxen befördern und dazu beitragen, die Unaufhebbarkeit sprachlicher und kultureller Differenzen in kreative Strategien zu überführen.«55
Allerspätestens an dieser Stelle, an der die Problematik mehrsprachiger Situationen offenkundig wird, drängt sich die überfällige Frage auf: Wo bleibt denn eigentlich der vertraute, wichtige, ja notwendige Sprachbezug, wenn man derart gesellschaftlich ausgreifend von Übersetzung redet? Ist ein Sprachbezug denn nicht unentbehrlich, wenn von Übersetzung gesprochen wird? Die Auswirkungen der sprachlichen und mehrsprachigen Realitäten sind doch wohl nicht zu unterschätzen, nicht nur in derartigen Grenzregionen, sondern überhaupt in den gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaften, die immer multilingualer werden. Übersetzen und Dolmetschen in Gerichts- und Asylverfahren, aber auch in Krankenhausszenarien sind hier an der Tagesordnung. Ohne sie kommt man nicht aus. Die zahlreichen Beispiele sprachlicher Fallstricke, die oft erhebliche soziale Auswirkungen haben, sprechen für sich. Höchst problematisch, aber weitverbreitet ist der Fall, dass aufgrund von Übersetzungsfehlern Asylanträge abgelehnt werden. Nicht erst solche gesellschaftlichen Fehlleistungen führen deutlich vor Augen: Der ganze Komplex der Sprachübersetzung darf keineswegs aus dem Blick verloren werden. Allein schon die Kontextüberlagerungen aufgrund von Mehrsprachigkeit, wie wir sie in heutigen Einwanderungsgesellschaften beobachten, bilden ein ausgesprochen komplexes Setting, das die Übersetzungslinse immer auch auf Sprachübersetzung lenken sollte. Allerdings auch hier nicht auf »bloße« Sprachübersetzung, sondern ebenfalls auf ihren größeren Zuschnitt im Zeichen einer gesellschaftskonstituierenden »Kulturtechnik«. Denn es ist zugleich der umfassendere sprachliche Horizont mit seinen Verwerfungen, der unbedingt mitgedacht werden muss: Sprachhierarchien, Unterordnung unter eine dominierende Sprache, sprachliche Re-Semantisierungen innerhalb einer Gesellschaft, diskriminierender Begriffsgebrauch und Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen eingeschlossen. All dies gewinnt neue Macht durch den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit, bei dem sich in hohem Maße die öffentlichen Diskurse auf soziale Plattformen verschieben, die durch ihre »in sich kreisenden Echoräume(n)«56 dem Eindringen von Fake News Vorschub leisten.
Unausweichlich mitzudenken sind aber auch die weitreichenden sprachlichen Möglichkeiten, wie sie die maschinellen Übersetzungstechnologien eröffnen. Schon längst hat die gesellschaftliche Übersetzungskultur neue Akteure gewonnen, die sich mit Macht zur Geltung bringen und dennoch einen umstrittenen Stand haben: die Künstliche Intelligenz mit ihren Sprachversprechen durch Large Language Models und Chatbots wie ChatGPT. Diese technologischen Akteure im Feld der Maschinenübersetzung, wie sie mit erheblicher Durchsetzungskraft im Anmarsch sind, schaffen einen regelrechten Quantensprung – gemessen an der herkömmlichen Kommunikationsform, die noch auf Mehrsprachigkeit gründet und diese gleichsam zur Bildungsidee gemacht hat. Jetzt hingegen werden unerkannte Erwartungen einer möglichen grenzüberschreitenden Metasprache geweckt, die leicht zu der trügerischen digitalen Verheißung verleiten, dass man sich in Zukunft in der Weltgesellschaft barrierefrei von Sprache zu Sprache bewegen könne. Wer schon einmal einen Text oder eine Sprachnachricht durch ein Übersetzungsprogramm hat laufen lassen, hat es erfahren: Für Zwecke des oberflächlichen Umgangs, für Informationsvermittlung und als erster Schritt zur Herstellung von Verständigung mag sich diese Kommunikationsverheißung auch erfüllen. Die Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Sprachkontexten zurechtzufinden, wird jedenfalls enorm gesteigert. Zudem braucht man unter diesen Bedingungen auch längst kein Experte, kein professioneller Übersetzer mehr zu sein, um Sprachmittlung betreiben zu können. Gleichzeitig scheinen damit wiederum die Partizipationschancen durch Übersetzung zu wachsen, noch vorangetrieben durch die neuen, nichtoffiziellen Möglichkeiten von Übersetzung und Selbst-Übersetzung, aber eben auch Falschübersetzung, wie sie die Informationsnetzwerke der Social Media im großen Maßstab bieten.57
Im direkten Umgang hingegen, nicht zuletzt auch in den alltäglichen Lebenssituationen von Migrant:innen, bleibt es fraglich, wie weit man mit den digitalen Modi der Übersetzung wirklich kommt. Zu wichtig, ja unverzichtbar sind das hier ausgeblendete weiterreichende Kontextwissen, auch die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten, mit Missverständnissen und Störfaktoren umzugehen sowie nonverbale und emotionale Schattierungen zum Ausdruck zu bringen. Eines scheint sicher: Durch die digitalen Medien wird nicht allein das Übersetzungsverständnis verändert, sondern die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse insgesamt werden von Grund auf umgewandelt, mehr und mehr angepasst an die »Kulturtechnik digitaler Literalität«58. Die Vermittlungsleistung der Chatbots, denen Agency, Intentionen und Interpretationsvermögen mangelt, besteht allein in »technischer Mediation«59. Und doch hat sie eine erhebliche Macht. Die Grenzen zwischen der menschlichen Übersetzungstätigkeit und den jüngsten Entwicklungen der neuronalen maschinellen Übersetzung, die wie ein »künstliches Übersetzergehirn« aufgebaut ist, kommen ins Fließen.60
So rückt die Frage näher: Wieweit ist Übersetzung auf dieser Entwicklungsbahn eigentlich noch eine eigenständige, soziale und dialogisch-kommunikative »Kulturtechnik«? Braucht man sie dann noch als gesellschaftliche Kompetenz oder wird sie nach und nach komplett in digitale Maschinenübersetzung hinein verlagert? Ohne hier Zukunftsvorhersagen zu wagen oder angesichts dieser Entwicklungstendenz gleich einzustimmen in den Chor der Skeptiker, sollte man sich doch eine der folgenreichsten Erfahrungen der translationalen Wende unbedingt vor Augen halten: Eine zur »Kulturtechnik« gewordene Übersetzung kann auch die Erkenntnisebene einschneidend prägen. Doch genau hierfür braucht man das kulturell, sozial und historisch differenzierende Kontextualisierungsvermögen, das bei allen Übersetzungsprozessen am Werk sein sollte, das aber bei der meist ort- und zeitlosen Maschinenübersetzung bisher noch weitgehend außer Acht gelassen wird. Kontextualisierung, also der Versuch, Wort- und Handlungsbedeutungen aus historischen und gesellschaftlichen Sinnhorizonten abzuleiten, ist in jedem Fall ein starkes Differenzierungsmoment. So verstanden, kann Übersetzung als gesellschaftliche Praxis nicht nur ein bedenkliches digitales Übertragungs- und Verhaltensmuster in Frage stellen, das keinerlei Mehrdeutigkeiten mehr gerecht wird, sondern das dazu neigt, soziale, kulturelle, historische und wissenschaftliche Phänomene auf einen allgemeinen Nenner hin zu vereinheitlichen. In einem zweiten Schritt erstreckt sich eine grundlegendere kulturwissenschaftliche Übersetzungsreflexion auch darauf, die Prozesse der Erkenntnisgewinnung und der Analyse selbst translational zu durchleuchten. Wenn von einem Translational Turn die Rede sein soll, dann müsste er stärker als bisher auf diesen epistemologischen Schritt hin weitergetrieben, zugleich aber auch auf Wirklichkeitsbezüge hin konkreter zugeschnitten werden.
Schließlich wurde die Kategorie der Übersetzung im Zuge des Translational Turn in ihrem Anwendungsbereich oft allzu stark gedehnt oder gar überdehnt. Diese Gefahr der Ausuferung, so kritisch sie auch bisher gesehen wurde, sitzt jeglichem Bemühen, das Übersetzungsverständnis gesellschaftsbezogen neu zu definieren, immer noch und nachhaltig im Nacken. Sie hat sich durch die Drehungen des Translational Turn eingeschliffen. Man hat sich daran gewöhnt, Übersetzung zur Metapher auszuweiten und damit grenzenlosen Spielraum zu gewinnen, um den Begriff und das Konzept in den mannigfaltigsten Kommunikations- und Handlungszusammenhängen oft beliebig und bedenkenlos einzusetzen. Alles, was nur in irgendeiner Weise mit Übertragung und Vermittlung oder überhaupt mit Kommunikation zu tun hat, scheint dann als Übersetzung gelten zu können. Eine solche Konzeptausdünnung ausgerechnet durch Überdimensionierung lässt sich auch an der Karriere anderer kultureller Schlüsselkonzepte beobachten. Sie münden oft in abgegriffenen Pauschalbegriffen. Nation, Globalisierung, Hybridität, Identität usw., allesamt vollmundig angetreten, bleiben durch ihren inflationären Gebrauch der Gefahr von Leerformeln ausgesetzt. Läuft auch der Begriff der Übersetzung in diese Falle? Nur dann scheint er davor gefeit zu sein, wenn seine metaphorischen Ausuferungen eingedämmt und in eine pragmatischere Richtung kanalisiert werden: hin zu stetiger Konkretisierung und empirischer Untermauerung. Dies ist leichter gesagt als getan, gleitet man doch immer wieder allzu leicht in einen metaphorischen Gebrauch der Übersetzungskategorie ab – ein Dilemma, das sich aus ihrem breiten Anwendungsspektrum ergibt, das aber zugleich den Vorteil hat, selbst dort, wo man es nicht erwartet, auf Übersetzungsprozesse aufmerksam zu werden. Genau an dem Punkt wird jedoch ein translational zergliedernder, analytischer Ansatz unverzichtbar. Er ermöglicht den gesellschaftlichen sowie den kulturwissenschaftlichen/soziologischen Diskursen, sich der Sogwirkung von handlichen Schubladenbegriffen bewusst zu entziehen – indem er die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge mithilfe eines differenzierenden Translationsvokabulars zu erschließen versucht.
Ein Beispiel könnte dies veranschaulichen: Vor einiger Zeit galt es in der Kulturtheorie noch als innovativ und regelrecht aufrüttelnd, anstelle von holistischen Ganzheiten, von Konzepten kultureller Reinheit und anderen kulturtheoretischen Identitätsbegriffen eher von Verflüssigung, von Überlappung, von Vermischung, Third Spaces und In-Between-Positionierungen zu sprechen. Damit wurde ein neuartiges, relationales Vokabular in den Gesellschaftswissenschaften auf den Weg gebracht. Es ist weiterhin in Kraft, hat sich bis heute jedoch an vielen Stellen mantraartig und jargonhaft verfestigt. Betrifft dies nicht auch den oft allzu pauschal verwendeten Praxisbegriff selbst, so könnte man fragen? Wähnt man sich nicht zu sehr auf der sicheren Seite ohne jeglichen Definitionsdruck, wenn man in den Humanwissenschaften in letzter Zeit mit Vorliebe den gängigen praxeologischen Zugang einschlägt und in dessen Windschatten auch Übersetzung ohne große Umschweife zu einer sozialen Praxis erklärt?
Bevor man aber Übersetzung überhaupt als gesellschaftliche Schlüsselpraxis versteht, wäre es den (selbstkritischen) Versuch wert, erst einmal das Verständnis und die Reichweite des Konzepts von sozialer Praxis selbst zu überdenken. Mit einer fixen Praxistheorie jedenfalls kommt man der multiperspektivischen und netzwerkartigen Konstellation der Praxisphänomene kaum auf die Spur, viel eher – so Andreas Reckwitz – mit der Ausdifferenzierungskraft »praxeologischer Werkzeuge«61. Diesen Differenzierungsansatz, der buchstäblich handwerklich angelegt ist, könnte man mit einem anderen Akzent vielleicht noch weitertreiben, indem man das Konzept von sozialer Praxis seinerseits ausdrücklich zu einem »translation term« (Übersetzungsbegriff) entfaltet. Was ist darunter zu verstehen? Translational an das Konzept von sozialer Praxis (wie auch an andere Konzepte) heranzugehen, hieße, es in seine Elemente zu zergliedern, es aber zugleich in einem transkulturellen Vergleichskontext auf seine vielfältigen Schattierungen hin zu überprüfen. Ein derartiges Vorgehen »erinnert uns immer wieder daran, daß alle Übersetzungsbegriffe, die in globalen Vergleichen verwendet werden – Begriffe wie ›Kultur‹, ›Kunst‹, ›Gesellschaft‹, ›Bauer‹, ›Produktionsmethoden‹, ›Mann‹, ›Frau‹, ›Moderne‹, ›Ethnographie‹ –, uns ein wenig weiter bringen und dann zerfallen.«62
