Übersetzungstheorien - Radegundis Stolze - E-Book

Übersetzungstheorien E-Book

Radegundis Stolze

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Beschreibung

Dieses mittlerweile in 7. Auflage vorliegende Standardwerk der Translationswissenschaft stellt die einzelnen wissenschaftlichen Schulen in ihren Kernaussagen mit zentralen Modellen und Anwendungsbeispielen vor. Auf Querverbindungen und Gegensätze wird hingewiesen. Die Neuauflage wurde gründlich überarbeitet, aktualisiert und um drei Unterkapitel erweitert. Pressestimmen: "Die beste Einführung in die übersetzungswissenschaftliche Diskussion" - Info DaF 2/3, 2014 "Radegundis Stolze hat ein Buch geschrieben, das kompetent und anschaulich in grundlegende Fragen einführt, mit denen sich jeder auseinandersetzen muß, der sich übersetzerisch betätigt." - IFB 1/2, 2009 "Ein didaktisch überlegt aufgebautes, von fundierter Kenntnis der Diskussion getragenes Buch, das dank seiner guten Lesbarkeit sich vorzüglich eignen dürfte, Studierenden einen soliden Einstieg in die Thematik zu ermöglichen und ihnen von da ausgehend eine verlässliche Grundlage für weitere Beschäftigung zu liefern." - Info DaF 2/3, 1996 "Die Aufarbeitung der Theorien erfolgt nicht als trockenes Konstrukt, sondern arbeitet mit stetigem Praxisbezug. Das schult bereits beim Durchlesen die eigene Empfindsamkeit gegenüber dem Übersetzen." - Webcritics.de

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Seitenzahl: 831

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Radegundis Stolze

Übersetzungstheorien

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0087-3

Inhalt

Vorwort1 Zur Vorgeschichte1.1 Der Begriff Übersetzung1.2 Die historische Rolle der Übersetzer1.3 Die griechisch-römische Antike als Übersetzungsepoche1.4 Verdeutschende Übersetzung (Luther)Der Blick auf die Sprachsysteme2 Relativistisch orientierte Theorien2.1 Einheit von Sprache und Denken (Humboldt)2.2 Verfremdendes Übersetzen (Schleiermacher)2.3 Die Sprachinhaltsforschung (Weisgerber)2.4 Das linguistische Relativitätsprinzip (Sapir/Whorf-Hypothese)2.5 Formbetontes Übersetzen (Benjamin)2.6 Dekonstruktion und Unübersetzbarkeit (Derrida)3 Universalistische Übersetzungstheorie3.1 Sprache als Kommunikationsinstrument3.2 Zeichentheorien und Funktionen der Sprache3.3 Der Zeicheninhalt3.4 Universalienforschung3.5 Strukturelle Semantik3.6 Die absolute Übersetzbarkeit (Koschmieder)4 Der Übersetzungsvorgang als interlingualer Transfer4.1 Wissenschaftliche Maximen moderner Linguistik, MÜ4.2 Das kommunikationstheoretische Modell des Übersetzungsvorgangs (Kade, Neubert)4.3 Die potentiellen Entsprechungen zwischen AS und ZS4.4 Translation shifts (Catford)4.5 Translation quality assessment (House)4.6 Übersetzen als Transferprozess (Wilss)4.7 Schemabasierung des Transfers als Fertigkeit5 Die sprachenpaarbezogene Übersetzungswissenschaft5.1 Die Stylistique comparée (Vinay/Darbelnet, Malblanc)5.2 Umsetzungsprozeduren (Jumpelt)5.3 Translation rules (Newmark)5.4 Fehleranalyse und Übersetzungsdidaktik (Truffaut, Friederich, Gallagher, Henschelmann)Der Blick auf die Texte6 Übersetzungswissenschaft und Äquivalenzdiskussion6.1 Ausgangspunkt Bibelübersetzung (Nida)6.2 Die Übersetzungsmethode (Nida/Taber)6.3 Philologische Genauigkeit (Schreiber)6.4 Die normativen Äquivalenzforderungen (Koller)6.5 Der Begriff „Äquivalenz“7 Textlinguistik und übersetzungsrelevante Texttypologie7.1 Textkonstitution durch Satzverknüpfung (Harweg)7.2 Sprachspezifische Unterschiede der Syntax7.3 Gliederungssignale in Texten (Gülich/Raible)7.4 Übersetzungsorientierte Texttypologie (Reiß)7.5 Übersetzungsrelevante Textgattungen (Koller)7.6 Aspektliste zum Übersetzen (Gerzymisch-Arbogast)8 Die pragmatische Dimension beim Übersetzen8.1 Die Sprechakttheorie (Austin, Searle)8.2 Illokutionsindikatoren in Texten8.3 Die funktionale Satzperspektive und Fokussierung8.4 Textsorten durch Kommunikationskonventionen8.5 Strategie des Übersetzens (Hönig /Kußmaul)9 Die Rolle der literarischen Übersetzung9.1 Literarische Qualität in Übersetzungen (Levý, Popovič)9.2 Literarische Übersetzung als Mimesis (Steiner)9.3 Manipulationistische Fallstudien (Bassnett, Hermans, Lefevere)9.4 Literatur als Polysystem (Even-Zohar)9.5 Kulturgeschichte der Übersetzung (SFB Göttingen)Der Blick auf die Disziplin10 Übersetzungsforschung als Feldtheorie10.1 Der empirische Ansatz (Holmes)10.2 Descriptive Translation Studies DTS (Toury)10.3 Korpusanalysen und übersetzerische Regularitäten (Toury, Baker)11 Übersetzungswissenschaft als Interdisziplin11.1 Prototypologie der Texte (Snell-Hornby)11.2 Integration linguistischer Theorien11.3 Das Scenes-and-frames-Konzept (Vannerem/Snell-Hornby)11.4 Textstatus und Stil (Leech/Short)12 Translationstheorie als Handlungstheorie12.1 Eine allgemeine Translationstheorie (Vermeer)12.2 Die SkopostheorieDer Blick auf das Handeln13 Die funktionale Translation13.1 Übersetzen als interkultureller Transfer (Reiß/Vermeer)13.2 Das Faktorenmodell der Translation (Reiß)13.3 Translation als Expertenhandeln (Holz-Mänttäri)13.4 Das Konzept der Berufsprofile14 Der didaktische Übersetzungsauftrag14.1 Die übersetzerische Loyalität (Nord)14.2 Analyse des Übersetzungsauftrags14.3 Die Übersetzungsprobleme14.4 Der interpretationstheoretische Ansatz (Siever)15 Übersetzen und Ideologie15.1 Postmoderne Strömungen des cultural turn (Arrojo, Venuti)15.2 Feministische Translation (v. Flotow, Wolf)15.3 Translation als Machtspiel und politische Ethik (Bhabha, Tymoczko)15.4 Translationssoziologie (Gouanvic, Prunč, Wolf)15.5 Der systemtheoretische Ansatz (Hermans, Tyulenev)Der Blick auf den Übersetzer16 Übersetzen als Interpretation16.1 Die Pariser Schule (Seleskovitch, Lederer)16.2 Die Deverbalisierung16.3 Ein sprachphilosophischer Ansatz (Ladmiral)16.4 Die Relevanztheorie (Gutt)17 Das hermeneutische Denken17.1 Denken – Sprache – Verstehen (Schleiermacher)17.2 Der Umgang mit Texten (Gadamer, Ricœur)17.3 Grundbegriffe der Übersetzungshermeneutik17.4 Übersummativität, Multiperspektivität, Individualität von Texten (Paepcke)17.5 Orientierungsfelder beim Übersetzen (Stolze)17.6 Formulierungsziel Stimmigkeit18 Kognitionspsychologische Forschung zum Übersetzen18.1 Der Blick in die ‘Black Box’ – Lautes Denken (Krings)18.2 Psycholinguistische Studien: Intuition und Kognition (Wilss)18.3 Konstruktives Übersetzen (Hönig)18.4 Kognitive Grundlagen der Expertentätigkeit (Risku)18.5 Kreativität beim Übersetzen (Kußmaul)18.6 Empirische Untersuchung von Verhaltensmustern (Hansen)18.7 Translationsprozessforschung (Göpferich)19 ZusammenfassungInterdisziplinaritätModellstrukturenForschungsinteresseProblembewusstsein: Theorie und PraxisBibliographiePersonenregisterSachregister

Vorwort

Für Studierende des Faches ÜbersetzenÜbersetzen stellt sich die wissenschaftliche Beschreibung ihres Studieninhalts am Anfang recht unübersichtlich und komplex dar. Bei einer „Einführung in die ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft“ ist die oft unvereinbare Begrifflichkeit der verschiedenen Richtungen der ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie auffällig, die doch alle den Anspruch haben, das Gleiche, den Vorgang der Umsetzung eines Textes in eine andere Sprache,Sprache zu beschreiben. Dieses schillernde Bild wird durch das weitgehend unverbundene Nebeneinander der deutschen Übersetzungswissenschaft und von Forschungsansätzen aus anderen Ländern noch unklarer.

Die Komplexität wird besonders deutlich, wenn man Festschriften oder Kongressakten durchsieht, die ja Beiträge von Wissenschaftlern unterschiedlicher Provenienz enthalten, welche einander oft auch direkt widersprechen. In den einzelnen Theorien wird jeweils meist ein Gedanke besonders hervorgehoben, der an anderer Stelle zu wenig oder noch nicht gesehen worden war. Problematisch ist dann allerdings der Versuch, eine Einzelerkenntnis zum Dreh- und Angelpunkt einer allgemeinen ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie zu machen.

Obwohl sich die Forschungstätigkeit zum Übersetzen mittlerweile durchaus als eine Disziplin etabliert hat, zeigt das Erscheinungsbild einer Wissenschaft nach außen hin wenig Konturen, wenn sich in ein und demselben Sammelband zum ThemaThema „ÜbersetzenÜbersetzen“ die Einzelbeiträge unversöhnlich gegenüberstehen. Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass das Übersetzen außerhalb des Kreises der damit unmittelbar Befassten zuweilen eher geringschätzig betrachtet worden ist und dass die Wissenschaft vom Übersetzen sehr lange nicht als eine eigenständige Disziplin anerkannt worden ist.

Der interdisziplinäre Charakter der Wissenschaft vom ÜbersetzenÜbersetzen, die mit unterschiedlichen Nachbardisziplinen in Kontakt steht, ist ein weiterer Grund für die Vielfalt der theoretischen Ansätze und damit auch für die Uneinheitlichkeit im Begriffsapparat. Die Fortentwicklung der noch relativ jungen Disziplin führte nicht zu einer allmählichen Herausbildung einer allgemeinen Übersetzungstheorie, vÜbersetzungstheorieielmehr wurden und werden ständig neue „Ansätze“ entwickelt.

Die Entwicklung verlief keineswegs geradlinig, sondern eher wie eine Spirale, immer wieder aus einem anderen Blickwinkel um dieselben Fragen kreisend. Viele Gedanken wurden unabhängig voneinander oft gleichzeitig geäußert, weil andere Denkrichtungen nur ungenügend zur Kenntnis genommen wurden. Andererseits wurden fremde Einsichten bei der Einarbeitung in eigene Überlegungen häufig anders bewertet und führten dann neben begrifflicher Umdeutung auch zu neuen Schlussfolgerungen. Die Orientierung hier zu erleichtern ist ein Anliegen des vorliegenden Studienbuches, indem Querverbindungen und Berührungspunkte der verschiedenen Übersetzungstheorien hervorgehoben werden.

TheorieTheorie ist ja der Versuch, die vielfältigen Strukturen und Zusammenhänge eines konkreten Sachverhalts in einem abstrakten Modell darzustellen, sodass eine Problematik klar hervortritt. Doch allein die Bezeichnungen des Forschungsgegenstandes variieren zwischen Ausdrücken wie (dt.) ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft, Übersetzungstheorie,TranslationslinguistikTranslationslinguistik, Translationswissenschaft, Translationstheorie,TranslatologieTranslatologie,TranslatorikTranslatorik, (engl.) theory of translation, translation theory, translation science, translation studies, translatology, (frz.) traductologie, translatistique, traductique, théorie de la traduction, (it.) teoria della traduzione, translatica, (sp.) traductología, teoría de la traducción, (pg.) teoria da tradução. Die Konkurrenz zwischen „ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie“ und „Übersetzungswissenschaft“ zeigt außerdem, dass noch nicht entschieden ist, ob es sich hier um eine allgemeine, reine Theoriediskussion handelt oder vielmehr um eine angewandte SprachwissenschaftSprachwissenschafts. Linguistik, welche die Verbesserung konkreter Übersetzungsleistungen zum Ziel hat.

Die fortschreitende DifferenzierungDifferenzierung der Wissenschaft bringt auch eine Differenzierung der Wissenschaftssprache mit sich. So gilt, dass einerseits Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Modellen nicht notwendig auch Übereinstimmung in der Sache und andererseits neue Terminologien nicht auf jeden Fall auch neue Erkenntnisse beinhalten. Gleiche Benennungen werden in den Geisteswissenschaften oft unterschiedlich definiert, mit anderen Inhalten versehen, ja sie wandern auch zwischen den Disziplinen. Daher wird ein wissenschaftlicher BegriffBegriff vor allem im Rahmen seiner Entstehung und seines geisteswissenschaftlichen Hintergrundes richtig verstanden. Umgekehrt sind für den Kenner der Materie die Begriffsbenennungen für sich schon ein Indiz dafür, um welche „Schule“ es sich gerade handelt. So zeigt sich ein Unterschied der wissenschaftlichen Herkunft, wenn etwa von „der ÜbersetzerinÜbersetzer“, vom „TranslatorTranslator“ oder vom „zielsprachlichen SenderSenders. Autor, Produzent“ die RedeRedes. parole ist. Das vorliegende Studienbuch möchte hier eine Orientierung bieten, indem Herkunft und InhaltInhalt von Kernbegriffen erläutert und verbreitete Übersetzungstheorien vorgestellt werden. Zu diesem Zweck werden die ausgewählten theoretischen Ansätze bewusst mit reichlichen Originalzitaten vorgestellt, um die jeweilige Diktion erkennbar werden zu lassen. Damit soll der Zugang zu den Haupttexten der vorgestellten Richtungen erleichtert werden, wobei diese jeweils am Kapitelende als „Lektürehinweise“ genannt sind.

Fragt man sich also, worin denn – kurz gefasst – die wesentlichen Unterschiede zwischen den heute gängigsten Übersetzungstheorien liegen, so wird deutlich, dass kaum jemand eine klar umrissene, stringente TheorieTheorie als solche entworfen hat. Vielmehr wurde die eigene Vorstellung meist in der Diskussion konkreter ÜbersetzungsproblemeÜbersetzungsprobleme und nach ausführlicher kritischer Würdigung anderer Ansichten mehr oder weniger implizit mit zum AusdruckAusdruck gebracht. Kernfragen wie die ÜbersetzbarkeitÜbersetzbarkeit überhaupt, Möglichkeiten der Textanalyse, die Übereinstimmung zwischen TextvorlageTextvorlages. Ausgangstext, AS, Original und Übersetzung, die Wirkung des Übersetzungstextes als einzelner, sowie im Rahmen einer Nationalliteratur, konzentrieren jeweils eine Wolke unterschiedlicher Kommentare, Analysen und kritischer Darstellungen um sich, die oft genug die Verwirrung eher noch steigern, weil der eigene Standpunkt nicht klar genug definiert wird. Dies gilt auch für die wiederholten Versuche einer Aufarbeitung der Geschichte des Übersetzens, weil auch hier nicht nach „Schulen“ differenziert wurde, sondern wiederum die Meinungen verschiedener Autoren zu wesentlichen Übersetzungsproblemen zusammengetragen und undifferenziert miteinander verglichen wurden.

Es gibt aber gewisse Grundtendenzen im Denkansatz, die herausgearbeitet werden können. Diese verständlich zu machen dient dem Bestreben, ein gewisses Vorverständnis für die Lektüre einschlägiger Werke zu entwickeln. So lässt sich in einem Überblick über die neueren übersetzungswissenschaftlichen Studien inzwischen ein gewisser Perspektivenwandel der Wissenschaftler in der Problemdiskussion ausmachen.

Zunächst konzentrierte man sich auf die Sprachenpaare, die beim ÜbersetzenÜbersetzen aufeinandertreffen und verglich deren Wort- und Satzstrukturen. Da aber nicht nur Wörter und Sätze, sondern Texte im Rahmen einer gesellschaftlichen SituationSituation übertragen werden, wandte sich das wissenschaftliche Interesse produktorientiert alsbald mehr textlinguistischen Fragestellungen zu. Die Beobachtung der Vielschichtigkeit von Texten und die Einwirkung außersprachlicher Bedingtheiten hat schließlich den Blick auf die übersetzenden Personen selbst und prozessorientiert auf deren DenkenDenken und HandelnHandeln gelenkt. Dabei wurden einerseits Handlungsmodelle entwickelt und andererseits auch der Versuch unternommen, das Verstehen zu reflektieren und das übersetzerische Denken zu untersuchen, um so dem Prozess auf die Spur zu kommen.

Dass hier für Studienanfänger ein gewisser Klärungsbedarf besteht, macht das Erscheinen mehrerer Überblicksversuche in der ersten Hälfte der neunziger Jahre deutlich. In der vorliegenden durchgesehenen und überarbeiteten siebten Auflage der „Einführung“ wurden zwischenzeitlich erfolgte Weiterentwicklungen, einige bisher übersehene Strömungen und Perspektivenverschiebungen sowie neuere LiteraturLiteratur aufgenommen.

Zunächst geht es darum, die wichtigsten Forschungsrichtungen im Einzelnen vorzustellen und zu erläutern. Nach Denkschulen geordnet werden die wesentlichen Ansatzpunkte und Grundaussagen wichtiger Autoren zum ÜbersetzenÜbersetzen, ggf. mit Originaldefinitionen und Beispielen, vorgestellt und durch Angaben der wichtigsten LiteraturLiteratur zu jedem Kapitel ergänzt. Diese Literaturhinweise sind am Ende des Buches noch einmal in einer Gesamtbibliographie zusammengestellt. Quellenangaben zu speziellerer Literatur erscheinen in den Fußnoten. Kernbegriffe werden besonders hervorgehoben und erläutert. Während in den Naturwissenschaften das Erscheinungsdatum eines Beitrags auf dessen Aktualität schließen lässt, kann hier das Vorgehen nicht rein chronologisch erfolgen, da vieles gleichzeitig oder in partieller Auseinandersetzung entstanden ist. Dennoch ist natürlich auch eine gewisse zeitliche Weiterentwicklung ersichtlich.

Das vorliegende Studienbuch versucht, in die Vielfalt von miteinander konkurrierenden übersetzungstheoretischen Erörterungen eine gewisse Ordnung zu bringen, indem nach der PerspektivePerspektive auf den Forschungsgegenstand (SprachsystemSprachsystem, Text, Disziplin, HandlungHandlung, ÜbersetzerÜbersetzer) unterschieden wird. Die Darstellung konzentriert sich absichtlich nicht auf einige wenige „Schule machende“ Richtungen, denn der junge Wissenschaftler ist ja gerade mit der Vielfalt unterschiedlicher Ansätze konfrontiert. Und auch dem weniger anspruchsvollen „Neuling“ muss nicht unbedingt die Anstrengung der eigenen kritischen Stellungnahme und Auswahl abgenommen werden. Eine strenge Trennung zwischen „Theoretikern“ und „Didaktikern“ erschien auch nicht sinnvoll, weil jeder sich als Didaktiker gerierende AutorAutors. Sender stets auch implizit eine bestimmte TheorieTheorie vertritt (und um die geht es hier), und weil die meisten sog. Theoretiker insgeheim doch auch eine praktische Anwendung ihrer Theorie im Auge haben, sonst würden sie nicht stets ihre Modelle mit praktischen Textbeispielen ausschmücken. PraxisPraxis ohne Theorie ist funktionaler Leerlauf, und Theorie ohne Praxis ist tote Begrifflichkeit.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen gegenwärtiger Übersetzungstheorien sowie deren Reichweite werden so deutlich gemacht und miteinander verglichen. Im Durchgang durch diese vielen Theorien ist es faszinierend zu sehen, wie diese immer umfassender werden. Dabei ist es nicht so, dass die jeweils spätere Theorie immer die bessere wäre. Vielmehr wird eher eine Gesamtwahrnehmung der verschiedenen Ansätze der tatsächlichen Komplexität des Übersetzens gerecht. Keineswegs sollen hier aber die Grenzen einer Disziplin „Translationswissenschaft“ aufgezeigt werden, weil sich die Perspektiven der Wissenschaftler und ihr frei wählbarer Standort nicht festlegen lassen.

Den Kapiteln ist jeweils ein kurzes Abstract zur Grundorientierung vorangestellt. Da in der ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft die einzelnen Ansätze mit Autorennamen verbunden sind, werden diese in den Abschnittüberschriften genannt, doch gelegentlich wird ein Ansatz auch in mehreren aufeinander folgenden Abschnitten behandelt. Am Ende jeden Kapitels erscheint ein kurzer Kommentar, welcher die LeserLesers. Empfänger und Leserinnen zu kritischer Distanz und zusammenfassendem Nachdenken anregen soll. Bewusst werden in der Bibliographie nur die für diese Einführung wichtigeren Werke der genannten Autoren aufgeführt, sodass einige speziellere und ergänzende Angaben nur in der jeweiligen Fußnote zu finden sind.

Diese Einführung ist gedacht als erste Orientierung im Bereich der Übersetzungstheorien für Studierende der Übersetzerstudiengänge, der Philologien sowie für Praktiker, die schon immer einmal wissen wollten, was denn ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie eigentlich soll. Allerdings ersetzt die Lektüre dieser Einführung nicht das Studium der Originale. Weil eine solche Einführung naturgemäß plakativ und verkürzend ist, möchte dieses Studienbuch zu selbständigem Weiterforschen anregen.

1Zur Vorgeschichte

Frühe Äußerungen zur ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie dienen der Rechtfertigung der eigenen Arbeit und erläutern einzelne ÜbersetzungsproblemeÜbersetzungsprobleme. Römische ÜbersetzerÜbersetzer wollten ihre MutterspracheMuttersprache bereichern. Zentral war jahrhundertelang die Dichotomie von wörtlicher und sinngemäßer Übersetzung, von TreueTreue und FreiheitFreiheit. Der Ausgangstext galt als ‘heiliges Original’.

1.1Der BegriffBegriff Übersetzung

Solange Menschen verschiedene Sprachen sprechen, gehört das Dolmetschen und ÜbersetzenÜbersetzen zu den unentbehrlichen Bemühungen um die Überwindung der Sprachbarriere – im politischen wie im wirtschaftlichen Verkehr, bei machtpolitischer Expansion wie beim friedlichen Reisen, aber vor allem bei der Übermittlung von Philosophie, Wissenschaft, Literatur und ReligionLiteratur.

Doch was ist eigentlich „ÜbersetzenÜbersetzen“? Nach dem Brockhaus1 in der 16. Auflage von 1957 ist es

die Übertragung von Gesprochenem oder Geschriebenem aus einer SpracheSprache in eine andere.

In der Encyclopædia Britannica2 heißt es ähnlich:

translation, the act or process of rendering what is expressed in one language or set of symbols by means of another language or set of symbols.

Jene unbestimmte Definition war freilich bald überholt. In der nächsten Auflage des Brockhaus von 19743 hieß es schon:

Übersetzung, die Übertragung von Gesprochenem oder Geschriebenem aus einer SpracheSprache (AusgangsspracheAusgangsspraches. AS) in eine andere (durch einen ÜbersetzerÜbersetzer oder Dolmetscher). Dabei ist die Gefahr einer Bedeutungsverschiebung dort am geringsten, wo die Wiss. bereits durch eine einheitl. TerminologieTerminologie die beste Vorarbeit für eine Ü. geleistet hat: die eindeutige Zuordnung der Wörter zu den gemeinten Sachen oder Vorstellungen. (…) Freie Ü. oder Nachdichtung ist der Versuch, das Original im anderen sprachlichen Medium gleichsam neu zu erschaffen.

In Meyers Enzyklopädischem Lexikon4 von 1979 wird dann unterschieden:

Die Übersetzung ist die Wiedergabe eines Textes in einer anderen SpracheSprache. Sie ist FormForm der schriftlichen KommunikationKommunikation über Sprachgrenzen hinweg im Gegensatz zur aktuellen, mündlichen Vermittlung des Dolmetschers.

In der Web-Enzyklopädie Encarta 2005 heißt es:

Übersetzung. Übertragung von Informationen einer Sprache in eine andere. Unter Übersetzung versteht man im Allgemeinen sowohl Vorgang als auch Resultat. (…)

Im Internet bei Wikipedia findet sich gegenwärtig nur noch der Hinweis, man solle bei „Übersetzungen“ sehr vorsichtig sein.

In der jetzt aktuellen Brockhaus Enzyklopädie5 lesen wir:

1. Computerlinguistik: das ÜbersetzenÜbersetzen eines größeren gesprochenen oder geschriebenen Sprachkomplexes aus einer natürl. SpracheSprache (Quellsprache) in eine andere (ZielspracheZielspraches. ZS) mit Hilfe eines Computers. Man unterscheidet dabei grundsätzlich zw. (voll-)automat. maschineller Ü. und maschinen- oder computerunterstützter Ü. (…)

2. Philologie: schriftl. FormForm der Vermittlung eines Textes durch Wiedergabe in einer anderen SpracheSprache unter Berücksichtigung bestimmter Äquivalenzforderungen. Zu differenzieren sind einerseits die interlinguale (Ü. von einer SpracheSprache in eine andere), die intersemiot. (Ü. von einem Zeichensystem in ein anderes, z.B. vom Text ins Bild) und die intralinguale Ü. (Ü. von einer Sprachstufe in eine andere, z.B. vom Althochdeutschen ins Neuhochdeutsche, vom Dialekt in die Standard- oder Hochsprache), andererseits umfaßt der Oberbegriff die unterschiedlichsten Typen von Ü., z.B. Glossen, Interlinearversion, Übertragung (BearbeitungBearbeitung), Nachdichtung (Adaption) oder auch Neuvertextung (z.B. Filmsynchronisation). (…)

In den verschiedenen Bezeichnungen des Übersetzens als „Übertragung“, „Wiedergabe“, „Nachdichtung“ oder „FormForm der KommunikationKommunikation“ deutet sich schon an, dass die Auffassung von dem, was ÜbersetzerÜbersetzer und Übersetzerinnen seit Jahrhunderten leisten, bis heute durchaus nicht einheitlich ist. Die Bezeichnungen für die schriftlich fixierte Übersetzerarbeit und die spontane mündliche Sprachmittlung, die wir heute Dolmetschen nennen, variieren in den verschiedenen Sprachen erheblich, sowohl in der oft exotischen Etymologie als auch in der Verwendung.

Dafür ist gerade das deutsche Wort Dolmetschen ein Paradebeispiel: Seinen Ursprung hat es wahrscheinlich im 2. Jahrtausend vor Christus in der kleinasiatischen Mitannisprache (talami), und von dort stammt das nordtürkische Wort tilmaç mit der BedeutungBedeutung „Mittelsmann, der die Verständigung zweier Parteien ermöglicht, die verschiedene Sprachen reden“; über das Magyarische gelangt dieses dann ins Mittelhochdeutsche und erscheint im 13. Jh. als tolmetsche.6 In Martin Luthers berühmtem „Sendbrief vom Dolmetschen“ aus dem Jahre 1530 ist dagegen von schriftlicher Übertragung die RedeRedes. parole, und Friedrich SCHLEIERMACHERSchleiermacherunterschied 1813 zwischen der Arbeit des Dolmetschers als dem eher mechanischen Übertragen für den Bedarf des Geschäftslebens und dem „eigentlichen ÜbersetzerÜbersetzen vornämlich in dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst“.7SchleiermacherStörig

Heute bezeichnen wir mit „Dolmetschen“ nur noch die mündliche Übertragung gesprochener Mitteilungen. Als „Konferenzdolmetschen“ bezeichnet man die Tätigkeit der Sprachmittler auf internationalen Konferenzen, die meist in FormForm des „Simultandolmetschens“ in einer Dolmetschkabine geschieht, wobei sich jeweils zwei Dolmetscher regelmäßig abwechseln. Dies unterscheidet sich von „synchron“, der gleichzeitigen Anwesenheit von Gesprächsteilnehmern, z.B. im Chat. Neu ist das „Remote-Dolmetschen“ wo die Dolmetscher aus dem Heimbüro oder an einem anderen zentralen Ort mittels Laptop und Headset remote, also aus der Ferne, die Vorträge einer Veranstaltung dolmetschen. „Schriftdolmetscher“ bringen gesprochene Texte fast zeitgleich elektronisch in Schriftform für Hörgeschädigte, die dies auf dem Tablet lesen können.

Das „Konsekutivdolmetschen“ ist demgegenüber die Aufgabe, eine RedeRedes. parole in der Fremdsprache anzuhören, sich deren InhaltInhalt und Aufbau zu merken, um sie hernach zusammenhängend in der eigenen SpracheSprache wiederzugeben. Hierzu wird meist eine bestimmte „Notizentechnik“ verwendet. Beim „Gesprächsdolmetschen“ oder „Verhandlungsdolmetschen“ geht es darum, in kleinen Gruppen oder bei Besprechungen RedeRedes. parole und Gegenrede dialogisch hin und her zu dolmetschen. Immer mehr Bedeutung gewinnt heute das „Kommunaldolmetschen“ als Sprachmittlung für Ausländer bei der Justiz und den staatlichen Behörden eines Landes.

Das „ÜbersetzenÜbersetzen“ als schriftliche Übertragung unterscheidet sich vor allem dadurch vom mündlichen Dolmetschen, dass die TextvorlageTextvorlages. Ausgangstext, AS, Original längere Zeit zur Verfügung steht und der Übersetzungstext nach einem ersten Entwurf überarbeitet werden kann. Das „Urkundenübersetzen“ unterliegt zudem gewissen rechtlichen Vorschriften. Während es beim Dolmetschen vor allem um zwischenmenschliche Verständigung geht, steht beim Übersetzen Genauigkeit und Wirkung der übermittelten Botschaft im Vordergrund. Die nachfolgend vorgestellten Theorien beziehen sich nur auf das Übersetzen, denn die Dolmetschwissenschaft ist ein eigenständiger Forschungsbereich.

1.2Die historische Rolle der ÜbersetzerÜbersetzer

Die ältesten erhaltenen Übersetzungen reichen bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurück (altbabylonische Inschriftentafeln religiösen Gehalts in sumerischer und akkadischer SpracheSprache). Jahrtausendelang dominierte – neben Texten wissenschaftlichen und administrativen Charakters – die Übersetzung der religiösen LiteraturLiteratur.

Die politische BedeutungBedeutung des Übersetzens zeigt das „Dolmetscherrelief“ in einem ägyptischen Edlengrab1, nämlich des Statthalters Haremhab in Memphis.2 Das Bild zeigt auch etwas über den sozialen Status des Dolmetschers. Er ist in der Mitte des Bildes in Doppelgestalt als Hörender und als Redender abgebildet. In Altägypten wurde der Ehrentitel „Mensch“ nur den eigenen Leuten zugebilligt, Fremdvölker galten schlicht als „elende Barbaren“ (KURZ1986:73), ähnlich wie auch bei den Griechen, und sind deshalb im Bild kleiner dargestellt. So ergibt sich die Kommunikationsrichtung von oben nach unten, was auch auf den Dolmetscher abfärbt. Er ist als bloßer Handlanger viel kleiner als der Gaugraf, ja sogar noch kleiner als die Ausländer, obwohl er mit diesen auf gleicher Stufe redet. Dolmetschen ist eben nur eine Dienstleistung für die Verständigung, keine Tätigkeit eigenen Rechts, und zudem verdächtig. Man beachte das uralte italienische Epigramm mit dem Diktum traduttore traditore. Erst in dem Maße, wie Vorurteile und Misstrauen gegenüber fremden Völkern abgebaut werden und die KommunikationKommunikation sich auf Gleichberechtigte einpendelt, wird auch die Stellung des Dolmetschers aufgewertet. Ein Dolmetscher oder ÜbersetzerÜbersetzer durfte damals nicht eigenmächtig handeln. Am 3. August 1546 wurde deshalb Étienne Dolet an seinem 38. Geburtstag in Paris auf dem Scheiterhaufen hingerichtet und seine Übersetzungen verbrannt.3ÜbersetzerOriginals. AusgangstextSeeleSnell-Hornby

Bis heute liegt noch keine Gesamtgeschichte des Übersetzens vor. Allerdings hat Hans J. Vermeer in den 1990er Jahren sechs Teilbände von „Skizzen zur Geschichte der Translation“ vorgelegt, welche die Zeit von der Antike bis in die Renaissance abdecken.4Vermeer Die unermessliche Fülle der Übersetzungen wurde und wird meist in der Stille der Anonymität angefertigt. Dennoch sind Übersetzungen von allergrößter BedeutungBedeutung gewesen für die Erfindung der Schriften, die Entwicklung der Nationalsprachen und das Entstehen nationaler Literaturen, für die Verbreitung von Wissen und die Ausbreitung politischer Macht, bei der Weitergabe der Religionen und der Übertragung kultureller Werte, beim Verfassen von Wörterbüchern seit der Antike, und nicht zuletzt als Dolmetscher in diplomatischer Mission.

Heute gilt der ÜbersetzerÜbersetzer- und Dolmetscherberuf als hochqualifizierte Tätigkeit, und die Leistung der Übersetzer über die Jahrhunderte wurde inzwischen auch in einem von der Unesco geförderten Buch gewürdigt.5 Und Johann Wolfgang v. Goethe6Snell-Hornby hatte schon angemerkt:

Wer die deutsche SpracheSprache versteht und studiert befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert. Und so ist jeder ÜbersetzerÜbersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn, was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.

1.3Die griechisch-römische Antike als Übersetzungsepoche

Die griechisch-römische Antike ist für uns die erste historisch greifbare Übersetzungsepoche. In ihr haben sich bestimmte übersetzerische Grundkonzeptionen erstmals herausgebildet, die auch für die Folgezeit Gültigkeit behalten sollten, ja teilweise bis heute ausgeübt werden. Zugleich aber unterscheidet sich die antike Übersetzungspraxis grundsätzlich von der modernen. Die RezeptionRezeption der Griechen durch die Römer1Rezeption diente auch dem Zweck, das Lateinische als SpracheSprache zu bereichern, es literaturfähig zu machen, die im Griechischen schon vorhandenen literarischen Gattungen auf dem Wege der Übersetzung zu gewinnen (vgl. SEELESeele1995:4).

Anfangs, in der archaischen Zeit, werden die griechischen Vorbilder experimentierend und bezogen auf den Textinhalt oft frei angeeignet. „Die römischen Komödiendichter waren sich durchaus ihrer Entfernung von den griechischen Vorlagen bewußt und formulierten auch explizit das Postulat der Wirkungsäquivalenz. Zeugnis hierfür sind insbesondere die Prologe des Terenz“ (SEELESeele1995:7). Die antiken ÜbersetzerÜbersetzer wetteiferten mit ihren Originalen, amplifizierten oder reduzierten sie, modifizierten die SemantikSemantik ihres Ausgangstextes, wenn dies im eigenen oder im Interesse ihrer LeserLesers. Empfänger lag. Dies konnte bis zur Parodie gehen. Dass ein und derselbe Text in mehreren Übersetzungen durch verschiedene Übersetzer je andersartig ausfällt, ist dabei eine Erfahrungstatsache.2Übersetzerwörtlich

Eine stärkere Selbstreflexion römischer ÜbersetzerÜbersetzer tritt erst in der klassischen Zeit auf, als die römischen Autoren sich in ihren Originalwerken mehr von den Vorbildern lösten, und umgekehrt sich in den Übersetzungen stärker um genaue Nachbildung bemühen konnten. Der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) sprach von einem „fidus interpres“, dem man trauen könne, weil er seine Aufgabe zuverlässig ausübe. Der wichtigste Übersetzer der klassischen Zeit war aber Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Er übersetzte seine Vorlagen in der Regel mit starkem literarischem Gestaltungs- und oft Überbietungswillen, was durch das literarkritische Konzept der aemulatio, der konkurrierenden Nachbildung, bedingt ist. Seine theoretischen Reflexionen über das ÜbersetzenÜbersetzen sind von starkem patriotischem Selbstbewusstsein getragen. So warnt Cicero stets vor allzu sklavischer Nachahmung des originalen Wortlauts. In aller Schärfe fasst er die Antithese „non ut interpres sed ut orator“, man orientiere sich als Dolmetscher nicht wie ein Ausleger am Wortlaut der Vorlage, sondern wie ein Redner an seinen Zuhörern.

Er fordert also nicht wörtliche Abbildung, sondern sinngemäße Wiedergabe. Gleichzeitig aber bemüht er sich insbesondere auf der Ebene des Wortschatzes um möglichst präzise Umsetzung der philosophischen TerminologieTerminologie der Griechen und legt darüber in zahlreichen Äußerungen übersetzerischer Selbstreflexion Rechenschaft ab.3Seele Die nachklassische Zeit hat dem theoretisch nicht viel hinzuzufügen. Weittragende ÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahren sind entwickelt worden. Man kann feststellen,

daß der antike ÜbersetzerÜbersetzer sich vor eine ganz ähnliche Typologie von Übersetzungsschwierigkeiten gestellt sah wie der moderne: vor lexikalische Lücken, semantische Ambivalenzen, divergierende Sprachsysteme, unübersetzbare Idiomatismen, Bilder und Metaphern, metrische Zwänge, glossierungsbedürftige Stellen usw.

Auch wenn der antike ÜbersetzerÜbersetzer sich bei der Übersetzung ganzer Texte oft unbefangen über solche Schwierigkeiten hinwegsetzte, so hat er doch zumindest punktuell schon ein weites Spektrum von Lösungsmöglichkeiten erarbeitet (SEELESeele1995:17).

Nachstehend werden einigeÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahrender Antike genannt (vgl. SEELESeele1995:24ff). Im Umgang beispielsweise mit der lexikalischen Lücke, dem Fehlen eines passenden Ausdrucks in der ZielspracheZielspraches. ZS, haben die ÜbersetzerÜbersetzer verschiedene Strategien entwickelt:

1. Das Übersetzungslehnwort (exprimi verbum e verbo), das in der Regel einen zielsprachlichen Neologismus darstellt. So wurde der lateinische Wortschatz erweitert, indem Worbildungsgesetze imitiert und nach Analogie der griechischen Komposita lateinische Zusammensetzungen geformt wurden: omnipotens, altivolans, altisonus. Auch in der deutschen Übersetzung der Odyssee von J.H. Voß finden wir solche Ausdrücke: die schönäugige Jungfrau Nausikaa, die rosenfingrige Morgenröte. Produktiv sind auch die Zusammensetzungen mit Präfix: ανεφελοϛ – innubilus – wolkenlos.

2. Bei Bedeutungslehnwörtern wurden bereits existente lateinische Wörter mit neuen Bedeutungen gefüllt, so wenn z.B. griechische Götternamen (Ερμειαϛ) durch lateinische ersetzt wurden (Mercurius).

3. Manchmal wurden lexikalische Lücken auch geschlossen, indem das griechische Wort einfach als Fremdwort, als Exotismus in den lateinischen Text aufgenommen wurde,

4. oder mit mehreren lateinischen Wörtern umschrieben wurde (ParaphraseParaphrase). (Quod uno Graeci … idem pluribus verbis exponere).

Grundsätzlich neue Gedanken fügt der übersetzungstheoretischen Tradition erst die christliche Ära der Spätantike hinzu. Hier wird nach der Autorität von Texten unterschieden. Bei „heiligen Texten“ wie der Bibel darf nichts verändert oder verschoben werden. So entstand die „Interlinearversion“, das ist eine zwischen die Zeilen geschriebene Wort-für-Wort-Übersetzung, besonders auch in frühen mittelalterlichen Handschriften. Wichtig war insbesondere die berühmte Epistel des HIERONYMUS (348–420) an Pammachius4Störig, wo der lateinische Bibelübersetzer einräumt:

Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist – nicht ein Wort durch das andere, sondern einen SinnSinn durch den anderen ausdrücke; und ich habe in dieser Sache als Meister den Tullius (Cicero) (…).

Diese spezielle Problematik der Übersetzung der Bibel, in der schon die Wortstellung ein (unantastbares) Mysterium sei, sollte freilich auch die ÜbersetzerÜbersetzer weltlicher LiteraturLiteratur beeinflussen. Nachdem nämlich die Übersetzer biblischer Schriften durch ihr gewissenhaftes Bemühen um adäquate Nachbildung der Originale das sprachliche Instrumentarium geschaffen hatten, konnten auch die Übersetzer weltlicher Schriften sich um ausgangssprachlich genaues ÜbersetzenÜbersetzen bemühen. Die Kirchenväter hatten im 4. Jh. n. Chr. die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn entwickelt, und die mittelalterliche Tradition hat daran angeknüpft.5 Bis zur Neuzeit erfolgt dann ein allmählicher Übergang von der mittelalterlichen Allegorese hin zur modernen Hermeneutik, indem der Buchdruck neue Kommunikationsformen ermöglichte.

1.4Verdeutschende Übersetzung (LutherLuther)

Der deutsche Bibelübersetzer Martin LUTHERLuther (1483–1546) entschied sich dann sogar bei der Heiligen Schrift für die freiere Formulierung: „rem tene, verba sequentur“ (erfasse die Sache, dann folgen die Worte von selbst), wie schon Cato gesagt haben soll. Für ihn war es wichtig, dass der ÜbersetzerÜbersetzer eine innere Nähe zum Gegenstand der Aussage hat und ein sensibles SprachgefühlSprachgefühl für den Rhythmus und die Melodie des Textganzen, damit die Übersetzung auch die rechte Wirkung erzielen kann. Bei seiner zehnjährigen Arbeit an der Psalmenübersetzung wünschte er sich z.B. eine hebräische Stilkunde, die über die von ihm verwendete reine GrammatikGrammatik und das Lexikon Reuchlins hinausgehen würde. In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530)1Störig verteidigt er sein Vorgehen mit vielen Beispielen gegen Kritiker, die ihm eine zu freie Übersetzung vorwarfen.

MartinLutherLuthererklärt: „… man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.

So wenn Christus spricht: ‘Ex abundántia cordis os lóquitur’ [Matth. 12, 34]. Wenn ich den Eseln soll folgen, die werden mir die Buchstaben vorlegen und so dolmetschen: aus dem Überfluß des Herzens redet der Mund. Sage mir: ist das deutsch geredet? Welcher Deutsche verstehet solches? Was ist Überfluß des Herzens für ein Ding? Das kann kein Deutscher sagen, es sei denn, er wollte sagen es bedeute, daß einer ein allzu groß Herz habe oder zu viel Herz habe; wiewohl das auch noch nicht recht ist. Denn ‘Überfluß des Herzens’ ist kein Deutsch, so wenig als das Deutsch ist: Überfluß des Hauses, Überfluß des Kachelofens, Überfluß der Bank, sondern s o redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Das heißt gutes Deutsch geredet, des ich mich beflissen und leider nicht allwege erreicht noch getroffen habe. Denn die lateinischen Buchstaben hindern über die Maßen sehr, gutes Deutsch zu reden“ (Sendbrief, S. 21f).

Von LUTHERLuther stammt die BezeichnungBezeichnung „Verdeutschen“, mit der er sein Übersetzungsprinzip umreißt.2 Eine solche Übersetzung ist dann sinngemäß, „frei“. Natürlich kann eine solche Einstellung immer auch zu Fehlleistungen führen, wie das gängige Diktum „traductions – les belles infidèles“ andeutet.3Originals. Ausgangstext Dagegen wirkt eine Übersetzung, die sich wort„getreu“ an der FormForm der Vorlage orientiert, meist „verfremdend“, weil sie für den zielsprachlichen LeserLesers. Empfänger befremdlich, fremdartig wirkt; es ist nicht „seine Sprechweise“. Aus diesem Spannungsverhältnis ist das Bedürfnis nach der Festlegung gültiger Maximen des Übersetzens entstanden.

Wie ein roter Faden zieht sich seither die Auseinandersetzung über die Methode der übersetzerischen Tätigkeit durch die Geschichte der ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie. Im deutschen Sprachraum hat sie sich in den beiden einander entgegenstehenden Grundforderungen nach „wörtlicher, getreuer, verfremdender Übersetzung“ einerseits und nach „freier, eindeutschender Übersetzung“ andererseits verdichtet. Schon Hieronymus beschrieb das Dilemma (Epistel, S. 2):

Es ist schwierig, nicht irgend etwas einzubüßen, wenn man einem fremden Text Zeile für Zeile folgt, und es ist schwer zu erreichen, daß ein gelungener AusdruckAusdruck in einer anderen SpracheSprache dieselbe Angemessenheit in der Übersetzung beibehält. Da ist etwas durch die besondere BedeutungBedeutung eines einzigen Wortes bezeichnet: in meiner Sprache habe ich aber keines, womit ich es ausdrücken könnte, und, während ich den SinnSinn zu treffen suche, muß ich einen langen Umweg machen und lege kaum ein kurzes Wegstück zurück.

In diesen frühen Äußerungen zum ÜbersetzenÜbersetzen folgte praktisch die TheorieTheorie aus der PraxisPraxis als deren Begründung. Solche einzelfallbezogenen Hinweise dokumentierten die Übersetzungsschwierigkeiten des jeweiligen Übersetzers und zeigten den von ihm gewählten Lösungsweg auf. Das ist aber noch keine ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie.

Auf der Suche nach einer „Regel des Übersetzens“ gab es immer wieder allgemein gefasste Grundprinzipien als übersetzerische Zielvorstelllung, die freilich in ihrer Allgemeinheit wenig über das tatsächliche Vorgehen im Einzelfall aussagen. Im 18. Jh. ist Alexander TYTLERTytler (1791) zu nennen. Als Grundvoraussetzungen für eine gute Übersetzung forderte er, was unwiderleglich ist: Kenntnis beider Sprachen, Einblick in die angesprochene Sache, Stilsicherheit und ein Verständnis der Mitteilungsabsicht des Autors. Das Verhältnis von TextvorlageTextvorlages. Ausgangstext, AS, Original und Übersetzung fasste er bündig zusammen4Tytler:

I. That the translationTranslation should give a complete transcript of the ideas of the original work. II. That the style and manner of writing should be of the same character with that of the original. III. That the translation should have all the ease of the original composition.

Kommentar

Seit jeher haben Übersetzungen zwischen den Völkern vermittelt. Frühe ÜbersetzerÜbersetzer begründen zwar ihre Methode, doch es gelingt noch nicht, das ÜbersetzenÜbersetzen als eine spezifische SprachverwendungSprachverwendungs. Sprachgebrauch theoretisch zu fassen und wissenschaftlich zu beschreiben. Die zahlreichen Anmerkungen zum Übersetzen kreisen im Grunde immer um den grundsätzlichen Streit zwischen der abbildend-wörtlichen und der sinngemäß-übertragenden, also der „treuen“ und der „freien“ Übersetzung, was vielleicht mit einzelnen Beispielen belegt, aber nicht stringent theoretisch begründet wird.

Als Faustregel lehrte man lange Zeit, und im schulischen Fremdsprachenunterricht teilweise bis heute, man solle „so wörtlichwörtlich wie möglich und so frei wie nötig übersetzen“, wobei dies eigentlich ein Zirkelschluss ist. Man könnte also sagen, dass sich, sobald die PraxisPraxis nicht mehr reibungslos funktioniert, ein BewusstseinBewusstsein der jeweiligen Problematik entwickelt. Einsichten werden beschreibend zusammengefasst, jedoch handelt es sich hierbei noch nicht um eine ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie.

Lektürehinweise

HIERONYMUS: „Epistel an Pammachius“, in: Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens, S. 1–13.

Werner KOLLERKoller (1992, 82011): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. 4. erw. Aufl., Tübingen; besonders Kapitel 1.2.

Martin LUTHERLuther: „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530), in: Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens, S. 14–32.

Astrid SEELESeele (1995): Römische Übersetzer – Nöte, Freiheiten, Absichten. Darmstadt.

Hans J. STÖRIGStörig (Hrsg.) (1969): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt.

Der Blick auf die Sprachsysteme

2Relativistisch orientierte Theorien

Die deutsche Romantik betonte den eigentümlichen Geist der SpracheSprache und sah das ÜbersetzenÜbersetzen künstlerischer Werke als nur unvollkommen möglich. Die SprachinhaltsforschungSprachinhaltsforschung betrachtet die Sprachen als geschlossene Systeme und gelangt zum linguistischen RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip der unüberwindlichen Strukturverschiedenheit. Die Dekonstruktion untersucht die Sprachstrukturen als Spiegel des Unbewussten, der Wortsinn flottiert. Die Folge all dessen ist Unübersetzbarkeit.

2.1Einheit von SpracheSprache und DenkenDenken (HumboldtHumboldt)

Bis ins 19. Jahrhundert wurde nur das ÜbersetzenÜbersetzen der Heiligen Schrift und literarischer Kunstwerke als anspruchsvolle Aufgabe angesehen, die eine theoretische Erörterung überhaupt lohnt. Für die heiligen Schriften galt weiterhin wegen der Unantastbarkeit der Wortfolge die Interlinearversion (s. Kap. 1.3), und sonst legte man eine allgemeine Übersetzungsmaxime, eine Art idealer TreueTreue zum Originaltext und zum AutorAutors. Sender zu Grunde: oberstes Gebot war stets, die Stimme des Autors zu Gehör zu bringen. Dahinter steckt aber eine bestimmte Vorstellung vom „Geist der SpracheSprache“, die besonders in der deutschen Romantik formuliert wurde.

Wegweisend für dieses DenkenDenken war Wilhelm von HUMBOLDTHumboldt (1767–1835), der in der Einleitung1Störig zu seiner Übersetzung von Aeschylos’ Agamemnon (1816) feststellt, ein solches Werk sei „seiner eigenthümlichen Natur nach“ unübersetzbar (ebd.:80). HUMBOLDT sieht das Denken in Abhängigkeit von der MutterspracheMuttersprache: „Die SpracheSprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nicht identisch genug denken.“2Humboldt Sich eine Sprache aneignen, in eine KulturKultur hineinwachsen heißt, die Wirklichkeitsauffassungen und die Sprache, in der diese Kultur tradiert wird, zu übernehmen. Die Sprache ist kein beliebig austauschbares Anhängsel der Identität, sondern grundlegend für die je besondere Erfassung von Welt, für ihre Beschreibung und ihr VerstehenVerstehen durch den Einzelnen. Hierauf gründet die Vorstellung von der UnübersetzbarkeitUnübersetzbarkeit, die natürlich besonders für dichterische Texte geltend gemacht wird. HUMBOLDT3KollerHumboldt sagt:

Alles ÜbersetzenÜbersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe. Denn jeder ÜbersetzerÜbersetzer muß immer an einer der beiden Klippen scheitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der SpracheSprache seiner Nation zu genau an sein OriginalOriginals. Ausgangstext oder auf Kosten seines Originals zu sehr an die Eigentümlichkeiten seiner Nation zu halten. Das Mittel hierzwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich.

Der Grund für die Unmöglichkeit liegt in der Verschiedenartigkeit der Einzelsprachen, weil „kein Wort einer SpracheSprache vollkommen einem in einer andren Sprache gleich ist“, und dies gründet in der Identität von Sprache und DenkenDenken:

Ein Wort ist so wenig ein Zeichen eines Begriffs, dass ja der BegriffBegriff ohne dasselbe nicht entstehen, geschweige denn fest gehalten werden kann; das unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen (Einleitung, S. 80).

HUMBOLDTS für die ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie eher pessimistische Vorstellung, dass der Gedanke mit der RedeRedes. parole eins sei, hat fortgewirkt, wenn es im Großen Brockhaus von 19804 zum ÜbersetzenÜbersetzen heißt:

Wenn SpracheSprache und Gehalt eine Ganzheit bilden – das gilt für dichter. Kunstwerke so gut wie für das alltäglich in individueller, bes. auch mundartlicher Färbung Gesprochene –, kann jede Ü. nur eine möglichst starke Annäherung an das OriginalOriginals. Ausgangstext sein. Freie Ü. oder Nachdichtung ist der Versuch, das OriginalOriginals. Ausgangstext im anderen sprachl. Medium gleichsam neu zu erschaffen.

2.2Verfremdendes ÜbersetzenÜbersetzen (SchleiermacherSchleiermacher)

Der wohl wichtigste theoretische Beitrag zum ÜbersetzenÜbersetzen im 19. Jh. stammt von HUMBOLDTS Zeitgenossen Friedrich D.E. SCHLEIERMACHERSchleiermacher (1768–1834). In seiner Abhandlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“ von 18131Störig stellt SCHLEIERMACHER die Prinzipien dar, die seiner Platon-Übersetzung zugrunde lagen. Er reflektiert über die Schwierigkeit, den „Geist der Ursprache“ in eine Übersetzung einzubringen, und hebt auf drei Unterscheidungen ab:

 

(1) Zunächst unterscheidet er Texte, in denen einfaches Berichten über einen Sachverhalt im Vordergrund steht, wie beispielsweise im Wirtschaftsleben, in Zeitungsartikeln, Reiseberichten usw., von solchen Texten, in denen „des Verfassers eigenthümliche Art zu sehen“ (ebd.:40) zum AusdruckAusdruck kommt, nämlich in Kunst und Wissenschaft. Bei Ersteren komme es in der „Uebertragung auf ein bloßes Dolmetschen an“, und es könne im Grunde nicht allzuviel falsch gemacht werden. „Deshalb ist das Uebertragen auf diesem Gebiet fast nur ein mechanisches Geschäft, welches bei mäßiger Kenntniß beider Sprachen jeder verrichten kann“ (ebd.:42). Das Übertragen von Kunstwerken dagegen sei viel schwieriger und allein einer theoretischen Betrachtung wert.

 

(2) Die Gründe für diese Zweiteilung der Textvorkommen liegen nach SCHLEIERMACHERSchleiermacher in verschiedenartigen Wörtern. Er unterscheidet zwischen Ausdrücken, die sich in verschiedenen Sprachen genau entsprechen, da sie sich auf genau eingrenzbare Gegenstände und Sachverhalte beziehen2SchleiermacherStörig, und anderen Wörtern, welche Begriffe, Gefühle, Einstellungen erfassen und sich im Lauf der Geschichte verändern. In solchen Wörtern äußert sichHumboldt der Geist der SpracheSprache und das DenkenDenken des Einzelnen, besonders in der Kunst. So spricht er nicht vom Griechischen oder Lateinischen als Sprachen, sondern davon, dass man „deutsch“, oder „römisch“ oder „hellenisch“ rede (ebd.:48). Es geht ihm um den Autor. Im Grunde hat SCHLEIERMACHER damit die bis heute akzeptierte Zweiteilung von Textvorkommen in den Naturwissenschaften und in den Geisteswissenschaften begründet, deren Begriffsbildung verschieden ist.

 

(3) In Bezug auf das künstlerisch anspruchsvolle ÜbersetzenÜbersetzen unterscheidet SCHLEIERMACHERSchleiermacher zwei „Methoden“, womit er das gängige Diktum von TreueTreue oder FreiheitFreiheit etwas präzisieren möchte, indem er jeweils auf das Gesamtwerk eines Autors verweist.

(a) Bei der ersten Methode werde versucht, eine Übersetzung so zu gestalten, dass sie wie ein OriginalOriginals. Ausgangstext wirkt und den AutorAutors. Sender „reden lassen will wie er als Deutscher zu Deutschen würde geredet und geschrieben haben“ (ebd.:48), also ihn zu den Lesern hinbewegt. Ein solches Vorhaben erweist sich aber angesichts der Einheit von DenkenDenken und Reden in der „angebornen SpracheSprache“ als unmöglich (ebd.:60).3SchleiermacherLeserStörig

(b) Bei der anderen Methode des Verfremdens herrscht dagegen eine „Haltung der SpracheSprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei“ (ebd.:55), wo also die LeserLesers. Empfänger zum AutorAutors. Sender hin bewegt werden. Nur so sei die „treue Wiedergabe“ des fremden Originals in der ZielspracheZielspraches. ZS gewährleistet. Der Vorwurf der Ungelenkheit im AusdruckAusdruck durch die Nachbildung sei dabei in Kauf zu nehmen, denn anders sei der „Geist der Sprache“ aus dem OriginalOriginals. Ausgangstext gar nicht in die Übersetzung zu retten. Das eigene Idiom des Übersetzers soll mit dem fremden so verschmelzen, dass in der Übersetzung die „Ursprache“ erhalten bleibt. Notwendig ist allerdings eine Bildung der Leserschaft.

Daher erfordert diese Art zu uebersezen durchaus ein Verfahren im großen, ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine SpracheSprache, und hat also nur SinnSinn und Werth unter einem Volk welches entschiedene Neigung hat sich das fremde anzueignen. Einzelne Arbeiten dieser Art haben nur einen Werth als Vorläufer einer sich allgemeiner entwickelnden und ausbildenden Lust an diesem Verfahren (ebd.:57).

Die „Kennerschaft geistiger Werke“ anderer Völker, die SCHLEIERMACHERSchleiermacher voraussetzt, vermag dies dann auch zu goutieren. Durch solches ÜbersetzenÜbersetzen wird die eigene SpracheSprache bereichert, wie es auch schon die Römer sahen (s. Kap. 1.3).

2.3Die Sprachinhaltsforschung (WeisgerberWeisgerber)

Durch verschiedene Sprachen entstehen unterschiedliche Weltansichten, ja aus dem Blickwinkel des Einzelnen sogar unterschiedliche Wirklichkeiten. Als stellvertretend für eine solche Sprachauffassung sind neben HUMBOLDTHumboldt (s. Kap. 2.1) und SCHLEIERMACHERSchleiermacher (s. Kap. 2.2) auch J. Leo WEISGERBERWeisgerber(1899–1985) und BenjaminBenjamin Lee WHORFWhorf (1897–1941) zu nennen. Sehr einleuchtend zeigt z.B. WEISGERBER, wie SpracheSprache die Funktion erfülle, eine Realität zu erschaffen, indem sie beobachtbare faktische Gegebenheiten ordnet.1WeisgerberSprache

WeisgerberWeisgerberverweist auf den Sternenhimmel, der zunächst für den Menschen ein unendliches Gewirr darstellt und erst dann begreifbar wird, wenn der Mensch zwischen den Gestirnen unterscheidet, wenn er Konstellationen wie die einzelnen Sternbilder benennt und damit bestimmt (op. cit. 41971: 25–72). Dabei werden dieselben Gestirne in Asien und im Okzident zu unterschiedlichen Sternbildern geordnet. – Es handelt sich hier um ein schönes Beispiel für den menschlichen Versuch, in ein unüberschaubares Gewirr mittels der SpracheSprache eine Ordnung zu bringen. Dann wird aus dem Chaos des Faktischen ein Kosmos der Ordnung.

Entscheidend ist jeweils die PerspektivePerspektive der Menschen auf die Dinge. „Ein Beispiel für eine solche kulturbedingte und sprachlich vermittelte Sehweise stellt das Wort Unkraut dar. Die Pflanzenwelt wird aufgrund wirtschaftlicher, vielleicht auch ästhetischer (nicht aber biologischer) Interessen in zwei Klassen eingeteilt: in Kulturpflanzen und in Pflanzen ohne wirtschaftlichen Wert“ (KOLLERKoller1992:162).

WEISGERBERWeisgerber als Hauptvertreter der sogenannten Sprachinhaltsforschung oder Inhaltbezogenen GrammatikGrammatik hat im Anschluss an HUMBOLDTHumboldt die These von der SpracheSprache als geistiger Zwischenwelt, vom „WeltbildWeltbild der MutterspracheMuttersprache“ entworfen. Jede Sprache gilt als ein relativ geschlossenes, gegen andere Sprachen abgegrenztes System. Dabei wird betont, dass sich nicht für jedes Wort einer Sprache in jeder anderen ein genaues Äquivalent finde, sondern dass gewisse Unterschiede auftreten. Schon Arthur SCHOPENHAUER (1788–1860) hatte Beispiele charakteristischer Wörter gesammelt,2Störig die eigentlich unübersetzbar sind:

απαιδευτος, rudis, roh.

ingénieux, sinnreich, clever.

ορμη, impetus, Andrang.

Geist, esprit, wit.

μηχανη, Mittel, medium.

witzig, facetus, plaisant.

seccatore, Quälgeist, importun.

malice, Bosheit, wickedness.

Als Beweis für die Existenz eines einzelsprachlichen Weltbilds werden angeführt:

U.a. die Schwierigkeiten bei der anderssprachigen Wiedergabe sogenannter charakteristischer Wörter, wie z.B. esprit, patrie, charme; cereals, gentleman, fairness; Sehnsucht, Gemütlichkeit, Weltschmerz, Innerlichkeit, Tüchtigkeit, Gestalt usw.

Die Unterschiede im System der Verwandtschaftsbezeichnungen und Farbskalen, von Naturerscheinungen (Schnee, Wüstenformen) usw. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Frequenz der Wörter ergibt sich aus der verschiedenen geographischen Lage.

Die Existenz von Wortfeldern: Ein Einzelwort gewinnt seine inhaltliche Bestimmtheit erst in der Struktur eines ganzen Wortfeldes. So ist mangelhaft in einer viergliedrigen Skala (mangelhaft – genügend – gut – sehr gut) etwas anderes als in einer sechsgliedrigen Skala (ungenügend – mangelhaft – ausreichend – befriedigend – gut – sehr gut). Der Wortschatz einer SpracheSprache ist in solche Wortfelder gegliedert. Einzelne Wörter sind kaum vergleichbar, weil ihr Stellenwert in den einzelsprachlichen Wortfeldern je verschieden ist (vgl. WEISGERBERWeisgerber1950:68).

Die unterschiedlichen Konnotationsbereiche: der Franzose verbindet mit dem Wort escargot die Vorstellung einer Delikatesse, während der Deutsche bei Schnecke eher an ein unappetitliches schleimiges Lebewesen denkt. Oder: Für die Franzosen ist pain ein knuspriges Weißbrot, für die Deutschen ist Brot häufig ein dunkler Vollkornlaib.

Die zutiefst menschliche Erfahrung von LEID wird in verschiedenen Sprachen mit völlig unterschiedlichen Zeichen benannt, die auch formal nicht aufeinander bezogen werden können:

 

d. Leid, Kummer, Schmerz

e. sorrow, grief, harm

f. peine, affliction

i. pena, dolore

DenkenDenken und Reden werden also gleichgesetzt. Jene geistige „Zwischenwelt“ zwischen Mensch und Außenwelt hat sprachlichen Charakter, und sie vermittelt den Angehörigen der Sprachgemeinschaft das „WeltbildWeltbild der MutterspracheMuttersprache“. Das Zusammenspiel von kulturbedingter Wirklichkeitserfassung und SprachgebrauchSprachgebrauch zeigt sich besonders deutlich in Bereichen des menschlichen Lebens, wie es schon SCHLEIERMACHERSchleiermacher im Gegensatz zu den äußeren Dingen festgestellt hatte (s. Kap 2.2). Mehrsprachige Vergleiche in diesem Sinne hat Mario WANDRUSZKAWandruszka vorgelegt, dessen Bücher bezeichnende Titel haben, wie zum Beispiel: „Das Leben der Sprachen“3Wandruszka.

WANDRUSZKAWandruszka unterscheidet durch den Vergleich vorliegender Übersetzungen für Gefühlsbezeichnungen, wie Hunger, Angst, Schmerz, Lust, Freude, Glück usw., wie diese Gefühle in den verschiedenen SprachenSprache ausgedrückt werden:

„Für die Römer war anxius, später anxiosus ‘angsterfüllt, beunruhigt’. Im Spanischen, im Italienischen aber kann ansioso, im Englischen anxious bald ‘angstvoll’, bald ‘begierig’ sein. (…) Diese Wanderung des Wortes von ‘angstvoll’ bis zu ‘begierig’, – und oft zu einem gesellschaftlich formelhaften, liebenswürdig bemühten ‘begierig’, ‘bestrebt’ –, bezeigt uns die DynamikDynamik des menschlichen Sprechtriebs, des spontanen Denkens in Metaphern und Metonymien, des impulsiven Sprechens und Gesprächs, die von SpracheSprache zu Sprache zu anderen Ergebnissen geführt haben. So kann anxiety, weit entfernt von jeder Beklemmungsangst, die Sorge, das Bemühen sein. Im Italienischen aber bedeutet erst recht ansia und ansietà, im Spanischen ansia und ansiedad bald Beklemmung, Angst, bald Unruhe, Ungeduld, bald Begierde, Sehnsucht!“ (WANDRUSZKAWandruszka1984:44/45).

2.4Das linguistische RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip (Sapir/WhorfWhorfSapir/Whorf-Hypothese)

Die Gleichsetzung von DenkenDenken und Reden und die These der mehr oder minder totalen Determiniertheit der Wirklichkeitserfassung durch die Struktur der SpracheSprache(n) ist Gegenstand des „linguistischen Relativitätsprinzips“, wie es BenjaminBenjamin Lee WHORFWhorf1956 formuliert hat1Whorf:

Aus der Tatsache der Strukturverschiedenheit der Sprachen folgt, was ich das „linguistische RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip“ genannt habe. Es besagt, grob gesprochen, folgendes: Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten von der Welt. (…) So geht zum Beispiel die Weltansicht der modernen Naturwissenschaft aus der höher spezialisierten Anwendung der grundlegenden GrammatikGrammatik der westlichen indoeuropäischen Sprachen hervor (1963:20f).

Um seine These einer Kausalrelation zwischen grammatischer Struktur und WeltbildWeltbild zu belegen, kontrastiert WHORFWhorf Sprach- und Denkstrukturen der Hopi-Indianer in Arizona und der Azteken in Mexiko mit dem Englischen, das er als Hauptbeispiel der „SAE-Sprachen“ (Standard Average European) bezeichnet. Dabei glaubte er – insbesondere hinsichtlich der Raum-Zeit-Auffassungen – grundlegende Unterschiede feststellen zu können. In seiner Sicht der Dinge wurde WHORF von Edward SAPIR, seinem Lehrer an der Universität Yale, unterstützt.

Die Grundthese hat SAPIR so ausgedrückt: „No two languages are ever sufficiently similar to be considered as representing the same social reality. The worlds in which different societies live are distinct worlds, not merely the same world with different labels.“2

Deshalb hat sich für den BegriffBegriff des linguistischen Relativitätsprinzips auch die BezeichnungBezeichnung „Sapir/WhorfSapir/Whorf-Hypothese“ durchgesetzt. Keine zwei Sprachen und keine zwei Kulturen seien ähnlich genug, um dieselbe Wirklichkeit abzubilden. Mit dieser Hypothese hat sich die SprachwissenschaftSprachwissenschafts. Linguistik eingehend auseinandergesetzt, jedoch liegen bis heute kaum Untersuchungen vor, die das RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip umfassend untermauert hätten.

Als direkte Konsequenz aus dem linguistischen RelativitätsprinzipRelativitätsprinzip folgt das Axiom, dass Sprachen ihrem Wesen nach unübersetzbar seien. Jede Übersetzung würde die sprachlichen Inhalte einer MutterspracheMuttersprache in solche einer anderen Muttersprache transponieren, die beide ja unterschiedliche geistige Zwischenwelten darstellen. Entscheidend ist hier, dass allein die Sprachen mit ihren Wortinhalten und ihrer GrammatikGrammatik in den Blick genommen werden. Während HUMBOLDTHumboldt aus sprachphilosophischen Gründen alles ÜbersetzenÜbersetzen für unmöglich hielt, sahen andere, wie z.B. Mario WANDRUSZKAWandruszka, noch eine gewisse Möglichkeit der Übertragung durch den „Geist der SpracheSprache“. Jene relativistische Auffassung ist weit verbreitet. Wenn aber Sprachen als direkter AusdruckAusdruck einer KulturKultur, einer nationalen Eigentümlichkeit gesehen werden, dann können fremde Texte immer nur annähernd übertragen werden. Die „UnübersetzbarkeitUnübersetzbarkeit“ eines fremden Weltbildes sperrt fremdsprachige Texte gegen eine Aneignung.

2.5Formbetontes ÜbersetzenÜbersetzen (BenjaminBenjamin)

Die Auffassung des Verfremdens im Übersetzen (s. Kap. 2.2) findet sich auch bei Walter BENJAMINBenjamin (1892–1940), der sich in dem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“1Störig1923 als Dichter gleichfalls zur Übersetzung des literarischen Kunstwerks geäußert hat. Er geht von der Existenz einer reinen Sprache vor dem babylonischen Sündenfall aus und betont die Selbstgeltung des Kunstwerks, völlig unabhängig von dessen RezeptionRezeption: „Denn kein Gedicht gilt dem LeserLesers. Empfänger, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft“ (ebd.:156). Und dabei ist die Gestalt das wichtigste, die MitteilungMitteilung des Textes eher nebensächlich.

BENJAMINS Sprach- und ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie liegt der Gedanke zu Grunde, dass das mimetische (abbildende) Prinzip für die Besonderheit der Einzelsprachen verantwortlich sei2Benjamin (s. Kap. 2.1) und die „onomatopoetische Erklärungsweise“ dafür noch am ehesten in Frage kommt. Er hebt die Besonderheit und Nichtvertauschbarkeit des einzelnen Wortes hervor und denkt dabei vor allem an die FormForm, der InhaltInhalt ist ihm weniger wichtig:

Was aber außer der MitteilungMitteilung in einer Dichtung steht – und auch der schlechteste ÜbersetzerÜbersetzer gibt zu, daß es das Wesentliche ist –, gilt es nicht allgemein als das Unfaßbare, Geheimnisvolle, ‘Dichterische’? Das der Übersetzer nur wiedergeben kann, indem er auch dichtet? (Aufgabe, S. 156)

BENJAMINBenjamin kommt es darauf an, den AusdruckAusdruckdes Originals, sein „Wie“, in der ZielspracheZielspraches. ZSnachzubilden. Er bezeichnet dieses „Wie“ als „Die Art des Meinens“, die er sorgfältig vom inhaltlich „Gemeinten“ unterscheidet: „In ‘Brot’ und ‘pain’ ist das GemeinteGemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten“ (Aufgabe, S. 161).

BENJAMINBenjamin betont das „Magische in der SpracheSprache“ und beruft sich auch auf SCHLEIERMACHERSchleiermacher, der ja mit HUMBOLDTHumboldt den Geist als wesenhaft in der Sprache gebunden sah. Der ÜbersetzerÜbersetzer soll versuchen, in seiner eigenen Sprache jene „Art des Meinens“ des fremden Textes nachzubilden:

Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das OriginalOriginals. Ausgangstext, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine SpracheSprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs OriginalOriginals. Ausgangstext fallen. Das vermag vor allem WörtlichkeitWörtlichkeit in der Übertragung der SyntaxSyntax, und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade. (Aufgabe, S. 166)

BENJAMINSÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie hat vor allem im englischen Sprachraum bis heute stark nachgewirkt, wo Theorien die wörtliche Übersetzung besonders betonen. BENJAMINBenjamin meinte ja: „Die Interlinearversion des Heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung“ (Aufgabe, S. 169). Damit aber wird Übersetzung zur Utopie.

2.6Dekonstruktion und UnübersetzbarkeitUnübersetzbarkeit (DerridaDerrida)

In einer sog. postmodernen Literaturtheorie und Philosophie, der u.a. von Jacques DERRIDADerrida (1930–2004) und Paul DE MAN begründeten „Dekonstruktion“, wird die These von der UnübersetzbarkeitUnübersetzbarkeit wieder aufgegriffen und der „unübersetzbare Rest“ in Texten in den Vordergrund der Betrachtung gestellt. Peter V. ZIMAZima (1994) hat einen stringenten Überblick über die Grundaussagen und den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Dekonstruktion vorgelegt; vgl. ferner Philippe FORGETForget(Hrsg.) (1984).

Gemeinhin wird ja angenommen, dass man einen Text schon irgendwie verstehen, eben seinen SinnSinn erfassen und dann auch übersetzen könne. Den Grund hierfür bilden unsere Sprachkenntnisse und dann die Erfahrung durch die Tradition der Überlieferung, dass die Sprachzeichen durchaus immer wieder das Gleiche bedeuten. VerstehenVerstehen sei möglich, wenn nur der gute Wille zur Verständigung vorhanden ist. Dahinter steht der philosophische Gedanke eines Logos als sinntragendem Wort, das immer schon auf die allen gemeinsame WahrheitWahrheit eines auffindlichen Sinns im Ganzen verweist.

Hier hakt die Dekonstruktion ein. Grob vereinfachend ist zu sagen, dass sie sich vor allem gegen die „logozentrische“ Vorstellung einer eingrenzbaren Begrifflichkeit in der Sprache, ein „transzendentes Signifikat“,Sprache wendet. In der Nachfolge Nietzsches wird auf die grundlegende Ambivalenz der Wortbedeutungen in Texten verwiesen, die sich niemals auf einen bestimmten SinnSinn fixieren lassen würden. Zentral ist hier der Terminus écriture, das Schreiben, die Schrift, das Geschriebene, der schriftliche Text. Im Gegensatz zur mündlichen RedeRedes. parole, wo der Sinn des Gemeinten direkt präsent und eindeutig ist, sei es das Wesen schriftlicher Texte, vieldeutig und unbeständig zu sein, da sie in immer wieder neuen Situationen stets neu und anders gelesen werden. Hinter jeder Lektüre steht also eine Übertragung, und dadurch entstehe eine unabschließbare Sinnverschiebung, DERRIDADerrida nennt es die différance, nach dem Verb différer (abweichen). Interpretativ läßt sich kein „Sinn“ fixieren, da jedes Sprachzeichen auf andere verweist und jeder Autor Bedeutungen „endlos aufschieben“ kann.

Die Schrift bringt den Zerfall der semantischen Identität des Zeichens mit sich. Dessen Wiederholung in verschiedenen kommunikativen Kontexten hat abweichende Sinnzuordnungen zur Folge, welche die Identität eines Wortes erschüttern können. DerridaDerrida bezeichnet diese dekonstruierende Wiederholung als Iterabilität (itérabilité) (ZIMAZima1994:55).

Im Ergebnis entsteht eine Streuung des Sinns von Wörtern, eine Dissémination (DERRIDADerrida1972). Für DERRIDA besteht das Besondere an einem „Original“ darin, dass es überhaupt für wert befunden wurde, „ein Überleben“ (BENJAMINBenjamin) in einer Übersetzung zu erfahren, die erst zu seiner Erfüllung wird.

The translation will truly be a moment in the growth of the original, which will complete itself in enlarging itself … And if the original calls for a complement, it is because at the origin it was not there without fault, full, complete, total, identical to itself.1

Was hier von Texten und Übersetzungen gesagt ist, war ursprünglich vom einzelnen Zeichen her gesehen:

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß Derridas dissémination oder Streuung nicht mit dem semiotischen BegriffBegriff der Polysemie identisch ist, der von Greimas und Courtés als Pluri-Isotopie definiert wird: als Zusammenwirken von zwei oder mehreren heterogenen Isotopien (ZIMAZima1994:72).

Wörter sind geschichtlich und bedeuten niemals nur das, was am Anfang ihres Gebrauchs stand, oder was der AutorAutors. Sender genau damit sagen wollte, sondern ihr SinnSinn „flottiert“ und ist oft „unentscheidbar“ (indécidable). In der Literaturwissenschaft wird die Textinterpretation freilich gerne auf die sog. „Autorintention“ zurückgeführt, deren Festlegung von den Dekonstruktivisten als Illusion oder als Vorurteil entlarvt wird. Ist der Sinn eines Textes wirklich so sicher, gibt es da nicht Brüche (ruptures)? Durch die Infragestellung ihrer zentralen Begriffe werden die expliziten Behauptungen von Autoren „dekonstruiert“.

Das Interesse des Interpreten verlagert sich vom Gemeinten auf die Zeichenstrukturen. Wie autonom sind diese eigentlich? Wörter können sich verselbständigen und so Gedanken, das VerstehenVerstehen in neue Bahnen lenken. Wo ist dann der (ursprüngliche) SinnSinn? Und welcher Sinn wäre dann zu übersetzen? Wie verhindere ich, dass meine Übersetzung wieder anders verstanden wird? Verwiesen wird hier gerne auf das Wortspiel und die Ironie als Motivation des Schreibens:

Weil im Wortspiel und dessen unabsehbaren, nie ganz kontrollierbaren Konsequenzen sichtbar wird, daß kein BewußtseinBewusstsein, keine Vernunft, kein Logos über die SpracheSprache so verfügt, daß sie als Text im (guten) Willen zur Macht des hermeneutischen Regelapparats aufgehen kann, ja, daß sie den Schreibenden (ob Schriftsteller oder Interpret) immer schon hinterrücks (hinter seinem Rücken) überspielt oder – das Bild macht SinnSinn – übertrumpft (FORGETForget1984:10).2

Die Zweideutigkeit von Wörtern macht auch deren KontextKontext zweideutig:

Erschütterung

1) geschüttelt werden, nicht mehr unbewegt sein

 

2) schütter werden, es entstehen Brüche und Leerstellen

Ungerechtigkeit

1) unverdiente, nicht dem Recht entsprechende Behandlung

 

2) nicht mehr „recht“ sein, WahrheitWahrheit wird verrückt, entstellt

gleichgültig

1) indifferent, egal, nicht interessierend

 

2) gleich gültig, Egalität

aufheben

1) auflösen, vernichten

 

2) ineinander aufgehen lassen, Synthese

 

3) hochheben, aufnehmen

 

4) aufbewahren (Schwäbisch)

Aufgabe

1) Vorhaben, Problemstellung, Pflicht

 

2) Kapitulation vor etwas

excéder

1) übertreffen, hinausgehen über

 

2) ein Exzess sein, irritieren, übertrumpfen

sich auseinandersetzen mit

1) sich befassen mit, die Meinung zu etwas sagen

 

2) sich wegsetzen von

 

3) Güter trennen (jur.)

un posteur d’écriture

1) ein Schriftsteller (der entwirft, kein Garant der WahrheitWahrheit)

imposteur d’écriture

2) Betrüger, „Hochstapler der Schrift“.3Forget

Gras/Sarg: Das Anagramm (Wort rückwärts gelesen) wird auffällig, wenn in einem Roman oft Gras und Sarg verbunden werden, wie z.B. in „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe.

trace/écart: Gerne werden mit einem Anagramm auch die Spuren des Unbewussten (traces) im Text aufgespürt, die einen Sinnabstand (écart) zum bewusst Ausgesagten indizieren, die Behauptung im Text konterkarieren, überspielen, widerlegen (vgl. FORGETForget1984:172ff).

Das BewusstseinBewusstsein von der prinzipiellen Nicht-Beherrschbarkeit der SpracheSprache, der Nicht-Festlegbarkeit der Zeichen, die wir miteinander austauschen, widerspricht natürlich der Vorstellung einer bewussten kontinuierlichen Formulierung durch einen AutorAutors. Sender. Bei einer solchen Sprachauffassung ist es nicht verwunderlich, dass DERRIDADerrida auch die Übersetzung als eigentlich unmöglich, als eine Aporie ansieht, auch wenn er kein Übersetzungstheoretiker ist. Er knüpft an die Vorstellungen Walter BENJAMINS an, den er ausführlich kommentiert (vgl. DERRIDA1987:207). Dessen Sprach- und ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie (s. Kap. 2.5) liegt ja der Gedanke zu Grunde, dass das mimetische (abbildende) Prinzip für die Besonderheit der Einzelsprachen verantwortlich sei. Nicht etwa ein bestimmter Aussagewille, sondern das Unreflektierte in einem Diskurs sei das Entscheidende. Schon deswegen könne es nicht darum gehen, wie LUTHERLuther verlangt hatte (s. Kap. 1.4), die Übersetzung den Anforderungen der Empfänger anzupassen.

BENJAMINBenjamin stellte sich einen ÜbersetzerÜbersetzer vor, der in seiner eigenen SpracheSprache versucht, „die Art des Meinens“ des fremden Textes nachzubilden. Hier knüpft DERRIDADerrida (1987:201) an und unterstreicht mit dem Hinweis auf den Mythos von Babel die Unmöglichkeit des Übersetzens. Es sind vielfältige Sprachen entstanden, und der Übersetzer kann sich nicht über deren Ausdrucksebenen hinwegsetzen und so tun, als gäbe es ein Verhältnis der EntsprechungEntsprechung zwischen den Zeichen. Insbesondere Dichtung sei unübersetzbar, und so schreibt DERRIDA (1987:220, zit. nach ZIMA 1994:87):

Die Übersetzung strebt nicht danach, dies oder jenes zu sagen, diesen oder jenen SinnSinn zu übertragen oder eine bestimmte BedeutungBedeutung mitzuteilen, sondern sie will die Affinität zwischen den Sprachen aufzeigen und ihre Möglichkeit erkennen lassen [remarquer l’affinité entre les langues].

 

Das stets Intakte, Unfaßbare, Unberührbare ist es, was den ÜbersetzerÜbersetzer fasziniert und seine Arbeitsweise bestimmt. [Le toujours intact, l’intangible, l’intouchable, c’est-ce qui fascine et oriente le travail du traducteur] (ebd.:224).

Dieser „unfassbare Rest“ – wir denken an das Unbewusste – beherrscht auch Paul DE MANS Kommentar zu BENJAMINS oben erwähntem Aufsatz. „Der amerikanische Dekonstruktivist deutet das Wort Aufgabe in ‘Die Aufgabe des Übersetzers’ als Verzicht, als Kapitulation vor dem Unübersetzbaren, das aus einer Aporie hervorgeht. Diese kommt dadurch zustande, dass die Forderung nach Originaltreue unaufhebbar der Forderung nach einer freien, der ZielspracheZielspraches. ZS treuen Übertragung widerspricht. DE MAN spricht in diesem Zusammenhang von einer ‘Aporie zwischen FreiheitFreiheit und TreueTreue zum Text’“ (ZIMAZima1994:87).

Die Dekonstruktivisten nehmen vor allem die Widerstände wahr, auf die der ÜbersetzerÜbersetzer