Übersetzungswissenschaft - Holger Siever - E-Book

Übersetzungswissenschaft E-Book

Holger Siever

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Beschreibung

Diese Einführung bietet Anfänger:innen und Fortgeschrittenen einen kompakten, verständlichen Überblick zu Themen, Theorien und Theoretiker:innen der Übersetzungswissenschaft von den Anfängen bis in die Gegenwart. Zur besseren Orientierung und Verdeutlichung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Theorien nutzt der Autor ein Paradigmenkonzept, das sich im Unterricht einsetzen lässt, aber auch Lernenden im Selbststudium als Leitfaden dienen kann. Am Ende jeder mit Beispielen, Merksätzen und Zusammenfassungen didaktisch aufbereiteten Einheit finden sich Fragen und Aufgaben, Hinweise zu weiterführender Literatur, ein detailliertes Begriffsregister sowie Anregungen zum Weiterdenken. Ein Downloadbereich unter www.narr.de hält überdies weitere Aufgaben samt Lösungen sowie zusätzliche Materialien bereit. Die zweite Auflage wurde überarbeitet und um das nachmetaphysische Paradigma erweitert.

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[I]Übersetzungswissenschaft

[II]narr bachelor-wissen.de ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge

die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt

das fachliche Grundwissen wird in zahlreichen Übungen vertieft

der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert

auf www.narr.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band

Holger Siever

[III]Übersetzungswissenschaft

Eine Einführung

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

[IV]Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394310

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 20221. Auflage 2015

© 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

CPI books GmbH, Leck

ISSN 1864-4082ISBN 978-3-8233-8431-1 (Print)ISBN 978-3-8233-9431-0 (ePDF)ISBN 978-3-8233-0265-0 (ePub)

[V]

Vorwort

0.1Sinn und Zweck des Buches

0.2Das Paradigmenkonzept

0.3Danksagung

0.4Verwendete Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 1:Die Anfänge

Einheit 1:Die vorwissenschaftliche Periode

1.1Einleitung

1.2Übersetzen in der Antike

1.3Übersetzen im Mittelalter und in der Renaissance

1.4Übersetzen im Barock und in der Aufklärung

1.5Übersetzen in der Romantik

1.6Übersetzen in der Moderne

1.7Fragen und Aufgaben

1.8Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 2:Neubeginn

Einheit 2:Das linguistische Paradigma

2.1Gemeinsamkeiten der linguistischen Ansätze

2.2Die konstrastiv-stilistischen Ansätze

2.3Die systemlinguistischen Ansätze

2.4Die textlinguistischen Ansätze

2.5Sonstige linguistische Ansätze

2.6Fragen und Aufgaben

2.7Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 3:Neuorientierung

Einheit 3:Das handlungstheoretische Paradigma

3.1Gemeinsamkeiten der handlungstheoretischen Ansätze

3.2Skopostheorie

3.3Theorie des translatorischen Handelns

3.4Die funktionalistischen Ansätze

3.5Fragen und Aufgaben

3.6Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Einheit 4:Das semiotisch-interpretationstheoretische Paradigma

4.1Gemeinsamkeiten der semiotisch-interpretationstheoretischen Ansätze

4.2Die semiotischen Ansätze

4.3Der sozialkonstruktivistische Ansatz

4.4Der interpretationstheoretische Ansatz

4.5Fragen und Aufgaben

4.6Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 4:Tradition und Abkehr

Einheit 5:Das verstehenstheoretische Paradigma

5.1Gemeinsamkeiten der verstehenstheoretischen Ansätze

5.2Die hermeneutischen Ansätze

5.3Die Théorie du Sens

5.4Übersetzen als Verhandeln

5.5Die dekonstruktivistischen Ansätze

5.6Die anthropophagischen Ansätze

5.7Fragen und Aufgaben

5.8Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 5:Literatur und Kritik

Einheit 6:Das literaturtheoretische Paradigma

6.1Gemeinsamkeiten der literaturtheoretischen Ansätze

6.2Die sowjetische Schule des literarischen Übersetzens

6.3Die Descriptive Translation Studies

6.4Die Göttinger Schule

6.5Der kultursemiotische Ansatz

6.6Fragen und Aufgaben

6.7Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Einheit 7:Das machttheoretische Paradigma

7.1Die Gemeinsamkeiten der machttheoretischen Ansätze

7.2Die machtkritischen Ansätze

7.3Die feministischen Ansätze

7.4Die postkolonialen Ansätze

7.5Fragen und Aufgaben

7.6Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Teil 6:Neuland

Einheit 8:Das systemtheoretische Paradigma

8.1Gemeinsamkeiten der systemtheoretischen Ansätze

8.2Allgemein systemtheoretische Ansätze

8.3Die Intertheorie

8.4Fragen und Aufgaben

8.5Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

Einheit 9:Das nachmetaphysische Paradigma

9.1Die Gemeinsamkeiten der nachmetaphysischen Ansätze

9.2Die Komplexe Translationstheorie

9.3Fragen und Aufgaben

9.4Verwendete und weiterführende Literatur

Schluss

Zum Weiterdenken

Literaturverzeichnis

Handbücher, Einführungen, Überblicksdarstellungen

Anthologien klassischer Texte zum Übersetzen

Geschichte des Übersetzens

Lehrbücher zum Übersetzen

Übersetzen als Beruf

Sachregister

Personenregister

Bildnachweis

Verzeichnis der Rubrik „Zum Weiterdenken“

1.Die disziplinäre Verortung der Übersetzungswissenschaft

2.Die These der prinzipiellen (Un-)Übersetzbarkeit

3.Die Abgrenzungsproblematik

4.Übersetzungstypen

5.Das Modell des strategischen Übersetzens

6.Auslegen, Deuten, Interpretieren, Verstehen

7.Die Übersetzungseinheit: Wort, Satz, Text oder Kultur

8.Präskription – Deskription – Prospektion

9.Definitionen: Übersetzen als…?

10.Paradigmen der Übersetzungswissenschaft

[1]Vorwort

0.1 Sinn und Zweck des Buches

Der vorliegende Band wendet sich vornehmlich an Studierende der Translationswissenschaft ab dem ersten Semester und an alle Interessierten, die sich einen Überblick über die Theorieentwicklung im Bereich Übersetzen seit Mitte des 20. Jahrhunderts verschaffen wollen.

Es handelt sich um eine leicht verständliche Einführung in die Übersetzungswissenschaft, die Anfängern und Fortgeschrittenen einen kompakten und strukturierten Überblick über die unterschiedlichen Theorien und Ansätze bieten will. Die Einteilung in Themenblöcke und Paradigmen sorgt dafür, den Überblick angesichts der verwirrenden Vielzahl von Übersetzungstheorien nicht zu verlieren. Das Paradigmenkonzept (siehe Abschnitt 0.2) wird hier zum ersten Mal systematisch für eine einführende Darstellung in die Übersetzungswissenschaft genutzt.

Der Band eignet sich sowohl zum Selbststudium wie auch als Begleitlektüre für einführende Vorlesungen zur Translationswissenschaft. Lehrende an übersetzungswissenschaftlichen Ausbildungsstätten können den Band zur Orientierung ihres eigenen Unterrichts verwenden.

Materialien unter www.narr.de

Am Ende jeder Einheit finden sich ein Abschnitt mit Fragen und Aufgaben, die zur Überprüfung des gelernten Stoffs bearbeitet werden können. Die Lösungen sind auf der Website des Narr Verlags unter www.narr.de abrufbar. Dort befindet sich auch ein Downloadbereich mit zusätzlichen Materialien für Lehrende und Lernende.

Um der von Lawrence Venuti beklagten Unsichtbarkeit der Übersetzer entgegenzuarbeiten, haben wir uns entschlossen, Fotos der wichtigsten Übersetzungstheoretikerinnen und Übersetzungstheoretiker – soweit uns dazu das Recht zugestanden wurde – abzudrucken. Auf diese Weise hoffen wir auch, der »grauen Theorie« ein Gesicht zu geben, auch wenn es aus drucktechnischen Gründen bei einem schwarzweißen Abbild bleiben musste.

In diesem Band wird das generische Maskulin verwendet, wenn von Funktionen – wie z.B. der des Übersetzers – die Rede ist, da es keinen Sinn ergibt, Funktionen ein biologisches (Sexus) oder soziokulturelles (Gender) Geschlecht zuzuordnen. Wenn auf Menschen Bezug genommen wird, kommen genderspezifische Formulierungen zum Tragen.

fettgedruckte Worte und Passagen

Fettgedruckte Worte und Passagen stammen – auch in Zitaten – ausschließlich vom Autor dieses Bandes und dienen dazu, wesentliche Begriffe und Aussagen hervorzuheben, damit die Leserinnen und Leser [2](a) sich besser an sie erinnern können und (b) bestimmte Themen schneller wiederfinden.

Anführungszeichen

In diesem Band werden zwei Arten von Anführungszeichen verwendet, nennen wir sie die deutsche und die französische Art. Die deutschen Anführungszeichen („“) werden ausschließlich für Zitate benutzt, während die französischen Anführungszeichen (»«) alle sonstigen metasprachlichen Verwendungsweisen markieren.

In den Abschnitten zur verwendeten und weiterführenden Literatur und im Literaturverzeichnis am Ende des Buches sind jeweils bestimmte Werke fettgedruckt. Hierbei handelt es sich um Lektüreempfehlungen zu den einzelnen Theorien. Im Literaturverzeichnis sind wesentliche Referenzwerke für ein vertiefendes Studium übersetzungswissenschaftlicher Fragestellungen aufgeführt. Die Lektüreempfehlungen sind durch ein Buchsymbol am Rand zusätzlich hervorgehoben.

0.2 Das Paradigmenkonzept

vorwissenschaftliche Periode

wissenschaftliche Periode

Die Geschichte des übersetzerischen Denkens – und darin eingeschlossen der Übersetzungswissenschaft – zeichnet sich durch zwei grundlegende Perioden aus: Zum einen die vorwissenschaftliche Periode, die ungefähr bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte, und die wissenschaftliche Periode, die um ca. 1950 begann und bis heute andauert.

In der vorwissenschaftlichen Periode finden wir über die Jahrhunderte verstreut nur wenige theoretische Werke, die ausschließlich dem Übersetzen gewidmet sind; die meisten Zeugnisse übersetzerischen Denkens sind Rechtfertigungen der eigenen übersetzerischen Vorgehensweise von Denkern, die auch übersetzerisch tätig waren. Mit vorwissenschaftlicher Periode ist nicht gemeint, dass die Autoren jener Zeit »unwissenschaftlich« gearbeitet hätten; vielmehr galt das Übersetzen bis weit ins letzte Jahrhundert hinein nur als praktische Tätigkeit, aber nicht als wissenschaftliches Fach, das eine eigene – gar universitäre – Ausbildung verdient hätte.

Bei der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und vorwissenschaftlicher Periode geht es darum, den Aufschwung – und den damit einhergehenden Bewusstseinsumschwung – zu akzentuieren, mit dem sich die Übersetzungswissenschaft – nach zarten Anfängen in der Zwischenkriegszeit – mit voller Wucht erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren beginnt. Dies findet seinen Ausdruck (a) in der Institutionalisierung von Studiengängen, die primär dem Übersetzen und/oder Dolmetschen gewidmet sind, und (b) in der Einrichtung von entsprechenden übersetzungswissenschaftlichen Professuren. Dieser Prozess findet in den wichtigsten europäischen Staaten seinen Abschluss in den 1990er Jahren.

[3]Seit der ersten Auflage ist die Theorieentwicklung weitergegangen und hat ein neues Paradigma hervorgebracht: Das nachmetaphysische Paradigma. Die philosophische Kritik an der abendländischen Metaphysik und deren erkenntnistheoretischen Aporien im Allgemeinen und Deridas Kritik am Grundbegriff der Übertragbarkeit haben in den letzten fünf Jahren dazu geführt, dass diese kritische Sichtweise auch innerhalb der Translationswissenschaft aufgegriffen wurde und zu einem grundsätzlich neuen theoretischen Ansatz ausgebaut wurde, die als Komplexe Translationstheorie bezeichnet wird.

acht Paradigmen

Innerhalb der gut siebzigjährigen Geschichte der wissenschaftlichen Periode lassen sich die folgenden acht Paradigmen unterscheiden:

Das linguistische Paradigma

Das verstehenstheoretische Paradigma

Das handlungstheoretische Paradigma

Das semiotisch-interpretationstheoretische Paradigma

Das literaturtheoretische Paradigma

Das machttheoretische Paradigma

Das systemtheoretische Paradigma

Das nachmetaphysische Paradigma

In den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wird der Ausdruck Paradigma in der Regel verwendet, um sich auf ein Modell, Beispiel oder Muster zu beziehen. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn (1967) gab dem Ausdruck Paradigma seine aktuelle, theoriebezogene Bedeutung, als er damit die Gesamtheit von theoretischen Grundannahmen, Begriffen, Praktiken und Methoden bezeichnete, die eine wissenschaftliche Disziplin oder eine wissenschaftliche Theorie während eines bestimmten Zeitraums definieren.

Jedes übersetzungswissenschaftliche Paradigma vereint verschiedene Ansätze oder Theorien, die derselben Grundidee im Hinblick darauf verpflichtet sind, was Übersetzen ist oder worin es bestehen sollte. Darüber hinaus teilen sie im Großen und Ganzen dieselben Begriffe und dieselbe Methodologie.

Ich bevorzuge den Paradigmabegriff, um die verschiedenen übersetzungswissenschaftlichen Theorien zu ordnen und zu klassifizieren, im Gegensatz zu Klassifikationen, die sich an einzelnen Theorien, Ansätzen, Modellen oder Theoretikern orientieren. In diesem Sinne unterscheiden Neubert/Shreve (1992: 12–32) sieben Übersetzungsmodelle (critical, practical, linguistic, text-linguistic, sociocultural, computational, and psycholinguistic model), während Hurtado (2001: 130 f.) zu diesem Zweck den Begriff Ansatz (enfoque) verwendet. Stolze (1994/2018: 5–8) ordnet in ihrem [4]vielgelesenen Buch die ausgewählten Theorien unterschiedlichen »Blicken« zu. So unterscheidet sie den Blick auf die Sprachsysteme, den Blick auf die Texte, den Blick auf die Disziplin, den Blick auf das Handeln und den Blick auf den Übersetzer.

Die begriffliche Entscheidung ist auch eine methodologische, denn sie hat Auswirkungen auf die Einordnung der jeweiligen Theorien. In der Klassifikation von Hurtado werden zum Beispiel Funktionalismus und Manipulation School in dieselbe Kategorie eingeordnet, während sie meines Erachtens zu zwei verschiedenen Paradigmen gehören, da – um nur einen Aspekt zu nennen – der Funktionalismus prozessorientiert, die Manipulation School hingegen produktorientiert ist.

Die übersetzungswissenschaftlichen Paradigmen sind nicht gleichzeitig entstanden, sondern aufeinander folgend. Sie folgen insofern einer bestimmten Chronologie. Sobald sie sich aber einmal etabliert haben, existieren sie nebeneinander her, auch wenn sie im Verlauf der Zeit von neuen Paradigmen »abgelöst« werden und damit im wissenschaftlichen Diskurs – entsprechend den Präferenzen des Zeitgeistes, wie man mit Nietzsche formulieren könnte – an Bedeutung verlieren, aber nicht völlig verschwinden. Auch ein Revival von aus der Mode gekommenen Paradigmen ist möglich.

Bevor wir uns der paradigmatischen Einteilung der modernen Übersetzungswissenschaft weiter widmen, müssen wir im ersten Kapitel noch in aller gebotenen Kürze auf die Entwicklungen während der vorwissenschaftlichen Periode eingehen. Dadurch gewinnen wir ein klares Verständnis der Ausgangssituation zu dem Zeitpunkt, als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Übersetzungsthema einsetzt und allmählich deutlichere Konturen anzunehmen begann.

0.3 Danksagung

Die erste Auflage dieses Bandes ist im Frühjahr und Sommer des Jahres 2014 während eines Lehrfreisemesters entstanden, das mir die Johannes Gutenberg-Universität gewährt und durch das Gutenberg Lehrkolleg großzügig gefördert hat. Die nun vorliegende zweite Auflage ist während der Corona-Pandemie zwischen dem Sommer 2020 und 2021 entstanden.

Die Inhalte des Buches basieren auf meinen Forschungen im Rahmen meines Habilitationsprojekts (Siever 2010) sowie ergänzenden Untersuchungen der letzten fünf Jahre. In meiner Habilitationsschrift habe ich zum ersten Mal das Paradigmenkonzept vorgestellt und zur Einteilung der verschiedenen Translationstheorien verwendet. Insofern gibt es hinsichtlich des zugrundeliegenden Materials und der Formulierung bestimmter – bereits allgemeinverständlich formulierter – Passagen einige Überschnei[5]dungen zwischen diesem Band und meiner Habilitation. Während letztere sich aber vor allem an eine translationswissenschaftlich informierte Leserschaft wendet, ist der vorliegende Band für ein breiteres Publikum gedacht, das Erstsemester und fachfremde Laien ausdrücklich einschließt. Im Hinblick auf die Studierenden einschlägiger Studiengänge wurden Gedankengang und Schreibstil vereinfacht sowie das Material ausgebaut und stärker didaktisiert. Außerdem wurde der theoretische Ansatz weitergeführt und aktualisiert.

In die Arbeit eingeflossen sind natürlich auch die vielen Gespräche mit meinen Kolleginnen und Kollegen an meiner Heimatuniversität, aber auch der fachliche Gedankenaustausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Universitäten, so z.B. während meiner Aufenthalte als Gastdozent in Spanien oder Lateinamerika.

Mein herzlicher Dank gilt Ina Besler, die mir mit ihrer Masterarbeit (Besler 2019) die Welt der russischen Übersetzungstheorien erschlossen hat. Sämtliche Zitate aus russischen Publikationen stammen von ihr.

Zu großem Dank bin ich den jeweiligen Rechteinhabern an den hier abgedruckten Fotos der Übersetzungstheoretikerinnen und Übersetzungstheoretiker verpflichtet, dass sie uns die Genehmigung zur Verwendung der jeweiligen Fotos gegeben haben. Für ihre wertvolle Unterstützung bei aufwändigen Recherchearbeiten zu diesem Band bin ich Frau Anna-Lena Müller zu Dank verpflichtet.

Der größte Dank gebührt allerdings „meinen“ Studierenden am FTSK, die in den vergangenen Semestern in meinen Lehrveranstaltungen mit dem Paradigmenkonzept und der entsprechenden Auswahl und Anordnung von Übersetzungstheorien konfrontiert wurden und durch ihre nimmermüden Nachfragen und klugen Diskussionsbeiträge dazu beigetragen haben, dass das Konzept allmählich reifen konnte. Für die verbliebenen Inkonsistenzen und Ungereimtheiten ist natürlich allein der Autor verantwortlich.

0.4 Verwendete Literatur

Holmes, James (1972/1988): The Name and Nature of Translation Studies. In: Holmes 1988: 67–88.

Holmes, James (1988): Translated! Papers on Literary Translation and Translation Studies. Amsterdam: Rodopi.

Hurtado Albir, Amparo (2001): Traducción y traductología. Introducción a la traductología. Madrid: Cátedra.

Kuhn, Thomas S. (1967/131995): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt: Suhrkamp.

Siever, Holger (2010): Übersetzen und Interpretation – Die Herausbildung der Übersetzungswissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin im deutschen Sprachraum im Zeitraum von 1960 bis 2000. Frankfurt: Lang.

[6]Stolze, Radegundis (1994/2018): Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen: Narr.

Wilss, Wolfram (1977): Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden. Stuttgart: Klett.

[7]Zum Weiterdenken

Die disziplinäre Verortung der Übersetzungswissenschaft

Bemerkenswert ist, dass keine Einigkeit unter den Forscherinnen und Forschern besteht, welchen Status die Übersetzungswissenschaft hat: Ist sie ein Teilbereich einer anderen Wissenschaft? Und wenn ja, welcher? Oder ist sie eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin?

Zu Beginn der wissenschaftlichen Periode in den 1950er Jahren galt die Übersetzungswissenschaft als Teilbereich der Linguistik und wurde zunächst als „Teildisziplin des synchron-deskriptiven Sprachvergleichs“ gesehen (Wilss 1977: 9), um sie später in den 1970er Jahren als Teildisziplin der Angewandten Sprachwissenschaft zuzuschlagen.

Von James S. Holmes wurde 1972 der Vorschlag gemacht, die Forschung im Bereich Übersetzen als disziplinenübergreifendes Feld aufzufassen, das er unter der Bezeichnung Translation Studies zusammenfasste. Im englischen Sprachraum verdrängte diese Bezeichnung andere terminologische Vorschläge wie Science of Translating, Science of Translation oder Translatology. In den 1990er Jahren wurde diese Feldtheorie der Übersetzungsforschung – u.a. von Mary Snell-Hornby – mit dem Begriff Interdisziplin umschrieben.

Zu Beginn der 1980er Jahre vertraten Hans Vermeer und die Funktionalisten vehement die Auffassung, dass die Übersetzungswissenschaft eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin sei. Besonders im deutschsprachigen Raum wurden daraufhin Maßnahmen zur Institutionalisierung getroffen, wie z.B. die Umbenennung von Instituten und Fachbereichen, die Einrichtung von Professuren für Übersetzungs-, Dolmetsch- bzw. Translationswissenschaft, die Habilitation mit der Venia (Lehrbefugnis) für Translationswissenschaft.

Während im deutschsprachigen Raum – und übrigens auch in Spanien – inzwischen die Auffassung vorherrscht, dass die Übersetzungswissenschaft eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin ist, bevorzugt der angelsächsische Raum die Auffassung eines disziplinenübergreifenden Feldes im Sinne einer Interdisziplin.

[9]Einheit 1: Die vorwissenschaftliche Periode

Inhalt

1.1Einleitung

1.2Übersetzen in der Antike

1.3Übersetzen im Mittelalter und in der Renaissance

1.4Übersetzen im Barock und in der Aufklärung

1.5Übersetzen in der Romantik

1.6Übersetzen in der Moderne

1.7Fragen und Aufgaben

1.8Verwendete und weiterführende Literatur

Zum Weiterdenken

1.1 Einleitung

Die Übersetzungswissenschaft ist eine sehr junge Wissenschaft, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts allmählich aus der Linguistik und Literaturwissenschaft heraus als eigenständige Disziplin entwickelt hat. Das Übersetzen ist aber – wie auch das Nachdenken über das übersetzerische Tun – sehr alt. Dementsprechend unterscheiden wir zwischen einer vorwissenschaftlichen Periode bis ca. 1950 und einer wissenschaftlichen Periode ab ca. 1950.

vorwissenschaftliche Periode

Das Übersetzungsdenken während der vorwissenschaftlichen Periode war vor allem von zwei Gegensätzen geprägt:

dem Gegensatz zwischen wortgemäßem und sinngemäßem Übersetzen

dem Gegensatz zwischen richtiger und falscher Übersetzungsmethode

Wer sich in der vorwissenschaftlichen Periode mit dem Übersetzen beschäftigte, gehörte somit einer von zwei Fraktionen an: Die einen vertraten [10]die Meinung, dass das richtige Übersetzungsverfahren nur ein wortgemäßes (wörtliches) sein könne; während sich die anderen vehement für das sinngemäße (freie) Übersetzen als das richtige Übersetzungsverfahren einsetzten. Als Kompromissformel bildete sich allmählich die klassische Übersetzungsregel heraus: »Übersetze so wörtlich wie möglich und so frei wie nötig.«1

Die Herausbildung der Übersetzungswissenschaft als eigenständiger Disziplin ist auch und gerade durch das Bemühen gekennzeichnet, sich von dieser klassischen Übersetzungsregel insofern loszusagen, als man versuchte allgemeine Regeln anzugeben, wann ein wörtliches, wann ein freies Vorgehen zielführend ist.

Die Anfänge des Übersetzens und des übersetzerischen Denkens verlieren sich im Dunkel der Frühgeschichte. Die ersten Übersetzungen, von denen wir Kenntnis haben, wurden in Mesopotamien (Sumerer, Assyrer, Babylonier) und Ägypten verfertigt. Es ist anzunehmen, dass die ersten Schriftgelehrten, die vor die Aufgabe gestellt wurden, Übersetzungen anzufertigen oder ihre Nachfolger »einzulernen«, bereits über die richtige Methode des Übersetzens nachdachten. Aus dieser frühgeschichtlichen Phase besitzen wir jedoch keine im weiteren Sinne theoretischen Aufzeichnungen. Bezeugt ist lediglich, dass bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. in Mesopotamien das Wort-für-Wort-Übersetzen praktiziert wurde (Vermeer 2000: 88).

Sichere Kenntnis von einem systematischen Nachdenken über das Übersetzen haben wir erst aus der römischen Antike. Einer der ersten Übersetzungstheoretikerante litteram, dessen Überlegungen heute noch nachzulesen sind, war der römische Philosoph, Schriftsteller, Rhetor und Übersetzer Cicero. Dementsprechend ist es sinnvoll, die vorwissenschaftliche Periode des übersetzerischen Denkens in der Antike beginnen zu lassen. Sie dauerte mehr als 2000 Jahre und wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund der sich nach dem Zweiten Weltkrieg ergebenden politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen durch die wissenschaftliche Periode abgelöst.

Die vorwissenschaftliche Periode lässt sich analog zu den bei Literatur oder Kunst üblichen Epocheneinteilungen in sechs Phasen gliedern. Für jede Phase werden wichtige Autoren genannt, deren übersetzungstheoretische Reflexionen typisch für ihre Zeit waren:

Tab. 1.1 Phasen und Vertreter der vorwissenschaftlichen Periode

Phase

Vertreter

Antike(bis 500 n. Chr.)

Terenz, Cicero, Quintilian, Hieronymus, Boethius

Mittelalter(500–1450)

Gerhard von Cremona, Roger Bacon, Robert Grosseteste, Wilhelm von Moerbecke, Nicolas Oresme, Maimonides, Übersetzerschule von Toledo

Renaissance (1450–1600)

Niklas von Wyle, Heinrich Steinhöwel, Leonardo Bruni, Martin Luther, José Luis Vives, Fray Luis de León, Baltasar Céspedes, Joachim Du Bellay, Étienne Dolet, Jacques Amyot, Bernardo Davanzati

Barock(1600–1720)

John Dryden, François de Malherbe, Jean Baudoin, Perrot d’Ablancourt, Pierre Daniel Huet

Aufklärung(1720–1790)

Tytler, D’Alembert, Venzky, Gottsched, Bodmer, Breitinger, Wieland, Herder, Goethe, Jacques Delille

Romantik(1790–1850)

Novalis, Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt

Moderne (1850–1950)

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Wolfgang Schadewaldt, Walter Benjamin, José Ortega y Gasset, Francisco Ayala, Kornei Chukovsky, Valéry Larbaud

Rückt man inhaltliche Aspekte in den Vordergrund, statt sich an gängigen historischen oder literarischen Epochen zu orientieren, kommt man zu einer Dreiteilung der vorwissenschaftlichen Periode. Von Stackelberg (1972) schlägt eine Periodisierung in Antike (Zeit der rhetorischen Übersetzung), Mittelalter (Zeit der pragmatischen bzw. inhaltlichen Übersetzung) und Neuzeit (Zeit der literarischen Übersetzung) vor.

Seele (1995: 107 f.) sieht hingegen den ersten Epochenbruch zwischen heidnischer Antike und christlicher Spätantike (also im 4. Jh.n. Chr.), als „das Wörtlichkeitspostulat der Bibelübersetzer auch die Maximen der Übersetzer weltlicher … Literatur“ zu beeinflussen begannen. Den zweiten Epochenbruch verortet sie im 18. Jh. mit dem Einsetzen der Aufklärung, die „für die literarische Übersetzung erstmals verbindliche Regeln“ festzulegen versucht (Seele 1995: 108).

Nach der Periodisierung von Stackelberg ist es der Schlüsselbegriff der Treue und die sich daran anschließende Debatte um das wörtliche oder freie Übersetzen, was alle Ansätze der vorwissenschaftlichen Periode miteinander verbindet. Nach der Einteilung von Seele ist hingegen von einer ersten Epoche in der heidnischen Antike auszugehen, in der zwischen Bearbeitung und Übersetzung noch nicht kategorisch unterschieden wird (Seele 1995: 102), der Übersetzer also eine sehr große Freiheit genießt, die durch keinerlei präskriptive Vorgaben eingeschränkt wird. Mit Cicero setzt dann die „Übersetzungsreflexion im engeren Sinne“ ein (Seele 1995: 102), in deren Verlauf sich allmählich ein eigentlicher Übersetzungsbegriff herauszubilden beginnt, der andere Formen der Texttransformation ausschließt.

Wörtlich-Frei-Debatte

[12]In der zweiten, christlich geprägten Epoche verbindet sich dieser enge Übersetzungsbegriff mit dem biblisch inspirierten Wörtlichkeitspostulats und mündet schließlich in die sattsam bekannte Wörtlich-Frei-Debatte. Die theoretischen Diskussionen dieser zweiten Epoche drehen sich vornehmlich um die Frage, mit welcher Methode die Treue der Übersetzung zum Original erreicht werden könne und – damit eng verbunden – um welche Art von Treue es denn gehe. Der Freiheit des Übersetzers wurden mit der Vorgabe, ein getreues Abbild zu schaffen, enge Grenzen gesetzt.

Mit der Aufklärung setzt dann die dritte Epoche ein, die zu einer weiteren Einengung der übersetzerischen Freiheit führte. Neben die Treue als Zielvorgabe gesellten sich seit dem 18. Jh. verbindliche Regeln, die der Übersetzer bei seiner Tätigkeit zu befolgen hatte. Erst in der wissenschaftlichen Periode haben Skopostheoretiker wie Vermeer und Dekonstruktivisten wie Derrida die kategorische Grenzen zwischen Übersetzung und Bearbeitung wieder einzureißen versucht, um die Freiheit des Übersetzers wiederherzustellen.

1.2 Übersetzen in der Antike

Im europäischen Kontext setzt das erste systematische Nachdenken über das Phänomen Übersetzen – soweit wir es aufgrund der Quellenlage nachvollziehen können – in der römischen Antike ein. „Sie ist die erste historisch greifbare Übersetzungsepoche“ (Seele 1995: 4). Dabei galt ein zielsprachenorientiertes Übersetzen als selbstverständlich (Seele 1995: 7).

Mounin (1967: 23 f.) stellt fest, dass „die erste systematische Beschäftigung mit der Kunst und dem Handwerk des Übersetzens … in Rom zu beobachten“ ist, wo „die Literatur praktisch aus der Übersetzung oder wenigstens aus der Adaptation entstanden ist“. Römische Autoren haben philosophische, wissenschaftliche und literarische Werke aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt. Der erste bekannte römische Übersetzer ist Livius Andronicus(gest. ca. 207 v. Chr.), der Homers Odyssee ins Lateinische übertragen hat.

Die Dokumente, die uns aus der Antike erhalten geblieben sind, zeigen, dass die Übersetzungspraxis zunehmend reflektiert und von Beginn an kontrovers diskutiert wurde. Wir finden Dokumente, die (1) das eigene übersetzerische Tun begründen; die (2) das Übersetzen als rhetorische Übung empfehlen; die (3) Beschreibungen legitimer Übersetzungsverfahren aufführen; die (4) ein normatives Übersetzungsideal rechtfertigen; und die (5) Ansätze zu einer normativen Übersetzungskritik enthalten (Seele 1995: 89 ff.).

[13]In der ersten, archaischen Periode der römischen Literaturgeschichte wird zwischen Übersetzung und freier Bearbeitung noch nicht kategorisch unterschieden. Erste rudimentäre Zeugnisse einer Übersetzungsreflexion finden wir in den Prologen des Komödiendichters Terenz (ca. 184–158 v. Chr.). Er tendiert in seinen Übersetzungen „zu einer freien Adaptationsweise“, die er – modern gesprochen – mit dem „Postulat der Wirkungsäquivalenz“ rechtfertigt (Seele 1995: 7). Der Umgang mit Fremdheit wurde dadurch natürlich zum Problem: Einige Autoren (wie Terenz) suchten aus ihren Übersetzungen „alles Fremde auszuschalten bzw. abzumildern“, während andere (wie Plautus) den Plot „in eine irreale Welt“ entrückten und so noch zusätzlich verfremdeten (Seele 1995: 84).

Bei Terenz (1986: V. 9–11) taucht übrigens im Prolog zu den Adelphen zum ersten Mal in der Geschichte der römischen Literatur „die verbum-de-verbo-Formel auf, die zusammen mit der sensum-de-sensu-Formel die Grundantithese der Übersetzungsgeschichte bis in unsere Tage bildet“ (Seele 1995: 85).

Motto von Terenz

Das übersetzerische Motto von Terenz könnte lauten: Eine allzu wörtliche Übersetzung führt zu schlecht geschriebenen Stücken.

Cicero (106–43 v. Chr.)

Der bedeutendste Übersetzer und wichtigste Übersetzungsdenker der klassischen römischen Antike war Cicero. Seine, vom Konzept der konkurrierenden Nachahmung (aemulatio) geprägten Übersetzungen zeichnet ein starker literarischer „Gestaltungs- und oft Überbietungswillen“ aus (Seele 1995: 8). Bei der aemulatio geht es nicht um die sklavische Nachahmung des originalen Wortlauts. Deshalb empfiehlt Cicero auch, dass man nicht verbum pro verbo – also Wort für Wort – übersetzen solle, sondern „plädiert statt dessen für sinngemäße Wiedergabe der Vorlage“ (Seele 1995: 9).

Spätestens mit Ciceros übersetzerischer Selbstreflexion setzt die Debatte über die Wörtlichkeit der Übersetzung ein, die die folgenden zweitausend Jahre Übersetzungsgeschichte prägen sollte und als Wörtlich-Frei-Debatte bekannt ist.

Man kann Cicero bereits entnehmen, wie unsinnig die landläufige Unterscheidung zwischen »wörtlichem« und »freiem« Übersetzen ist, insofern die »freie« Übersetzung sinn- und formgetreuer sein kann als die »wörtliche«. Der Römer spricht als Redner. Sein Übersetzungsideal ist rhetorisch. (von Stackelberg 1972a: 3)

In der römischen Antike galt das Übersetzen als rhetorische Übung, um die eigene literarische Ausdruckskraft zu verbessern. Diese Ansicht finden wir bei Cicero, Quintilian oder Plinius dem Jüngeren. Neben der „Auswahl optimaler Äquivalenzen aus dem Bereich potentieller Äquivalenzen“ ging es [14]dabei auch um die Schöpfung von Neologismen und Etablierung von Übersetzungslehnwörtern (Seele 1995: 76), um den Wortschatz der eigenen Sprache zu erweitern (ein Motiv, das in der frühen Neuzeit wiederkehrt). Besonders Plinius meint, dass das Übersetzen eine nützliche Übung zur „lexikalischen und stilistischen Erfindungsgabe“ sei (Seele 1995: 77). Die Aufgabe des Übersetzens besteht demzufolge (1) in der inhaltlichen Vermittlung für andere und (2) der sprachlichen Schulung für den Übersetzer selbst (von Stackelberg 1972a: 3).

Der Gedanke, durch die Übersetzung das Originalwerk oder den Originalautor entweder an Sachgenauigkeit oder an poetischer Ausdruckskraft zu übertreffen, lag den römischen Autoren sehr nahe; es war geradezu „eine conditio sine qua non des römischen Übersetzerehrgeizes, die sich aus dem literarkritischen Konzept der aemulatio herleitete“ (Seele 1995: 79).

Quintilian (35–96 n. Chr.)

Der Rhetoriker Quintilian steht in der Tradition Ciceros und sieht ebenfalls in der Übersetzung ein Schulungsmittel für den Gebrauch der eigenen Sprache. Er unterscheidet zwischen Übersetzung (Beibehaltung der literarischen Gattung) und Paraphrase (Änderung der literarischen Gattung), in der er „nicht bloß eine Deutung“, sondern einen „Wettstreit um die Darstellung derselben Gedanken“ sah (Quintilian 1974: 101). Ausdrücklich stellt er fest, dass „das nicht Ausgesprochene ergänzt und das breit Ausgeführte kürzer gefaßt werden“ kann (Quintilian 1974: 101). Und falls in der eigenen Sprache kein treffender Ausdruck zuhanden ist, so mag der „nächstbeste“ genügen (Quintilian 1974: 103).

Fasst man die Empfehlungen Ciceros und anderer römischer Autoren an den Übersetzer zusammen, so sollte er bei formbetonten Texten (Lyrik) auf stilistische Äquivalenz achten, bei inhaltsbetonten Texten (Philosophie) auf inhaltliche Äquivalenz und bei Bühnenwerken auf Wirkungsäquivalenz (Seele 1995: 88). Ähnlich sieht auch Vermeer (1992: 1.198) für die Antike drei grundlegende Übersetzungsmaximen, bei denen es je nach Textvorlage darum geht, (a) möglichst wörtlich zu übersetzen, (b) das Original zu übertreffen oder (c) eine rhetorische Wirkung zu erzielen.

Hieronymus (347–420 n. Chr.)

Eine weitere große Übersetzerfigur jener Zeit war der aus Stridon in Dalmatien stammende Kirchenvater Hieronymus, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts die heute unter dem Namen Vulgata bekannte Bibelübersetzung ins Lateinische schuf. Er ist der erste wichtige Übersetzungsdenker der christlichen Spätantike. Außerdem ist er auch der Schutzpatron der Übersetzerzunft.

Während Cicero und die anderen römischen Übersetzer vor allem vor dem Problem standen, die klassischen Werke der griechischen Autoren für die römische Kultur zu erschließen und fruchtbar zu machen, musste sich der heilige Hieronymus keiner geringeren Herausforderung stellen, als das Wort Gottes zu übertragen, ohne es dabei zu verfälschen. In Bezug auf die [15]Bibel ist er laut eigener Aussage ein Verfechter des wörtlichen Übersetzens:

Ich gebe nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist, nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausgedrückt habe. (Hieronymus 1973: 1; Hervorh.H.S.)

Hieronymus führt hier einen bemerkenswerten, neuen Gedanken ein:

Die zu wählende Übersetzungsmethode ist abhängig von der Art des zu übersetzenden Textes.

Die Bibel ist wörtlich zu übersetzen, alle anderen Texte können frei übersetzt werden. Er plädiert also dafür, dass es nicht nur die eine richtige Übersetzungsmethode gibt, sondern dass der Übersetzer die für seinen Text angemessene Methode wählen muss.

Zur Rechtfertigung seines übersetzerischen Vorgehens bei nicht-biblischen Texten greift Hieronymus (1963: 1) in seinem Brief an Pammachius auf den Ausdruck Sinn zurück, als er behauptete: Non verbum e verbo sed sensum exprimere de sensu – man solle nicht ein Wort durch ein anderes wiedergeben, sondern Sinn durch Sinn ausdrücken. Die Rede vom »freien« Übersetzen wird dadurch näher spezifiziert. Abweichungen vom Wortlaut waren zulässig und sogar erwünscht, solange die Treue zum Sinn des Ausgangstextes gewahrt blieb. Insofern spricht man auch vom sinngemäßen Übersetzen.

Gebot der Treue

Für Hieronymus steht sowohl das wörtliche als auch das sinngemäße Übersetzen unter dem Gebot der Treue, worunter er das „dauernde Bemühen“ versteht, „alles, was im fremdsprachigen Text vorgefunden wurde, zu bewahren. Wenn dies nicht möglich ist, muß das Sinnganze bewahrt werden“ (Klöpfer 1967: 34). Die von Hieronymus praktizierte sinngemäße Übersetzungsmethode, die Vermeer spezifischer „kotextsensitiv“ (ohne „n“, kontextsensitiv ist etwas anderes, nämlich: freies Übersetzen) nennt, berücksichtigt nur Wörter und Phrasen „bis hinauf zum Satzrang“, aber keine transphrastischen Einheiten oder gar den Gesamttext (Vermeer 2000: 88).

Vermeer stellt fest, dass Hieronymus auch bei seiner Bibelübersetzung nicht so wörtlich übersetzt, wie das obige Zitat vermuten lässt, sondern auch dort die sinngemäße Übersetzungsmethode anwendet:

Er übersetzt nicht wörtlich …, nicht genus- und numeruskonstant, also nicht »morphematisch«, … nicht die Wortform nachbildend, sondern ad sensum, das heißt bei ihm aber nicht: frei und souverän …, sondern auf der Ebene der jeweils minimalen (autonomen) Sinneinheit, im wesentlichen auf der Wort[16]ebene, also von der Kontextbedeutung eines Wortes/einer Phrase her … Hieronymus’ Übergang vom verbum zum sensus ließe sich im Deutschen dann eventuell als Übergang von den Wörtern zu den Worten beschreiben. (Vermeer 1992: 1.301 f.)

Die Diskussion der hieronymianische Übersetzungsmethode zeigt zweierlei: Erstens, dass Ausdrücke wie wörtliches, sinngemäßes und freies Übersetzen von jedem Autor etwas anders ausgelegt werden und man angesichts der über zweitausendjährigen Übersetzungsgeschichte nicht davon ausgehen kann, dass zwei Autoren mit demselben Ausdruck auch dasselbe meinen. Zweitens zeigt sie, dass man als kritischer Leser die Selbstaussagen von Übersetzern hinsichtlich der von ihnen angewandten Methoden nicht einfach unhinterfragt übernehmen sollte.

Für die Geschichte des Übersetzens bleibt zum einen festzuhalten, dass spätestens seit Hieronymus die Unterscheidung zwischen isolierter Wortbedeutung (verbum) einerseits und kotextueller Bedeutung (sensum) andererseits in der Übersetzerpraxis nachweisbar ist (Vermeer 2000: 93). Zum anderen können wir resümieren, dass bereits in der Antike – wenn auch in anderer Begrifflichkeit – ein Zusammenhang zwischen Übersetzungsmethode und Textgattung postuliert wurde.

Mit den Grundgedanken von Cicero und Hieronymus ist der Rahmen des übersetzerischen Denkens abgesteckt, der sich über Jahrhunderte kaum ändern sollte. Mit dem Verfall des Römischen Reiches Ende des 5. Jahrhunderts, dem Niedergang der spätantiken Stadtkultur und dem gravierenden Rückgang der Bildung ab ca. 550 erstarrte auch das übersetzerische Denken im westlichen Abendland.

1.3 Übersetzen im Mittelalter und in der Renaissance

Im Mittelalter und in der Renaissance führten zwei voneinander unabhängige Entwicklungen zu einem neuen Bedarf an Übersetzungen. Zum einen bestand die Notwendigkeit, sich mit der wissenschaftlich überlegenen islamisch-arabischen Kultur auseinanderzusetzen, die zunächst im Zuge der Reconquista in Spanien (718–1492), dann durch die Kreuzzüge (ab 1095) und schließlich durch den Fall Konstantinopels 1453 ins Blickfeld des Abendlandes geraten war. Zum anderen entstand durch die allmähliche Herausbildung europäischer Nationalsprachen das Bedürfnis, die auf Lateinisch oder Griechisch verfassten Werke auch auf Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch oder Deutsch verfügbar zu haben. „Literarische Übersetzungen aus der Volkssprache in das Lateinische waren vergleichsweise seltener“ (Vermeer 2000: 78).

Übersetzerschule von Toledo

[17]Nach der Rückeroberung Toledos fand dort in der Zeit von etwa 1130 bis 1284 eine zunächst von Raymond, dem Erzbischof von Toledo, inspirierte, später während der Regentschaft von König Alfons dem Weisen fortgeführte rege Übersetzungstätigkeit statt. Neben den Texten arabischer Wissenschaftler wurden auch einige, im Westen für verloren gehaltene Werke des Aristoteles und anderer griechischer Autoren aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt. Im 19. Jh. etablierte sich dafür die Bezeichnung Übersetzerschule von Toledo. Das Wort Schule meint hier allerdings weniger eine Lehrinstitution, als vielmehr ein Netzwerk an Gelehrten, die sich mit Fragen des Übersetzens praktisch und theoretisch auseinandersetzten. Zu den Gelehrten zählten Juden, Moslems und Christen, die aus allen Teilen Europas stammten.

Gerhard von Cremona

Der bedeutendste Übersetzer war Gerhard von Cremona (1114–1187), der in rund 40 Jahren mehr als 70 philosophische und naturwissenschaftliche Werke aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt hat, darunter die Physik von Aristoteles. Dabei ging er zumeist so vor, dass ein mozarabischer Assistent den Text mündlich aus dem Arabischen ins mittelalterliche Kastilische übertrug und Gerhard danach den Text auf Lateinisch niederschrieb. Er hat also mit Hilfe einer Relaissprache übersetzt.

Weitere wichtige Übersetzer aus dieser Zeit sind der Engländer Robert Grosseteste (1170–1253), der Flame Wilhelm von Moerbecke (1215–1286) und der Franzose Nicolas Oresme (1330–1382), die als Geistliche vorwiegend Werke der antiken Philosophie übersetzt haben. Da im Mittelalter kaum literarische, sondern vornehmlich philosophische und wissenschaftliche Werke übersetzt wurden, hatte das Übersetzen für sie eine vorbereitende Funktion: Sie diente der Aneignung fremden Gedankenguts und der Vermittlung faktisch-nutzbarer Kenntnisse (von Stackelberg 1972a: 6).

Baltasar Céspedes

Aus übersetzungstheoretischer Sicht ist vor allem Roger Bacon(1214–1292) zu nennen, der den meisten als erster Verfechter empirischer Methoden in der Wissenschaft bekannt sein dürfte. Er war auch Übersetzer und stellte als erster die – für uns heute fast selbstverständliche – Forderung auf, dass der Übersetzer über dreierlei Kenntnisse verfügen müsse: Kenntnis der Muttersprache, Kenntnis der Fremdsprache und Kenntnis des Sachgebiets, von dem der zu übersetzende Text handelt. Dieselbe Forderung findet sich dann später auch bei anderen Autoren, zum Beispiel bei dem spanischen Humanisten Baltasar Céspedes (vor 1583–1615), der sie anscheinend als erster im spanischsprachigen Raum vertreten hat (Céspedes 1600/1965; Calero 1990: 457).

Den Übersetzern des Mittelalters wurde in späteren Epochen, vor allem von den Humanisten (Noe 1993: 39), der Vorwurf gemacht, sie hätten zu wörtlich übersetzt. Zur oft geübten mittelalterlichen Übersetzungsstrategie gehörte jedoch auch, den Ausgangstext formalen Änderungen zu unterzie[18]hen, so etwa wurde „paraphrasiert, kommentiert, aktualisiert und dabei aufgeschwellt oder gekürzt“ (Vermeer 2000: 77; vgl. Vermeer 2000: 122). Insofern ist für das Mittelalter festzuhalten, dass sich zwei Tendenzen überlagern: Zum einen der Hang zur strikten Worttreue und zum anderen der Hang zum freien Umgang mit dem Ausgangstextmaterial.

Maimonides (1135–1204)

Maxime der Verständlichkeit

Aber wir finden im Mittelalter auch die Meinung vertreten, dass das sinngemäße dem wortgemäßen Übersetzen vorzuziehen sei. Ein Vertreter dieser Auffassung ist der in Córdoba geborene jüdische Philosoph und Arzt Maimonides. In einem seiner Briefe an seinen Übersetzer Schmuel Ibn Tibon findet sich die folgende Auffassung vom Übersetzen, die der Maxime der Verständlichkeit verpflichtet ist:

Wer aus einer Sprache in eine andere übersetzen will und sich dabei vornimmt, jeweils ein gegebenes Wort nur durch ein anderes wiederzugeben, der wird große Mühe haben und eine zweifelhafte und verworrene Übersetzung liefern. So sollte man nicht vorgehen. Vielmehr muß ein Übersetzer zunächst einmal den Gang der Gedanken erfassen, dann muß er ihn auseinanderlegen und so vorführen, daß er in der neuen Sprache verständlich und klar wird. Das erreicht man mitunter nur, indem man das, was voraufgeht, und das was folgt, mit ändert; indem man ein Wort durch mehrere wiedergibt und mehrere durch ein einziges; indem man einige Ausdrücke fallen läßt und andere hinzufügt – bis die Entwicklung der Gedanken völlig klar und übersichtlich und der Ausdruck verständlich und der Sprache, in die man übersetzt, gemäß wird. (Maimonides, zit.n. Mounin 1967: 27)

Nach 1453 kamen viele, vor den osmanischen Eroberern fliehende byzantinische Gelehrte nach Italien und brachten weitere, bisher im Westen unbekannte Schriften griechischer Autoren u.a. von Platon mit, die übersetzt werden mussten (Vermeer 2000: 91). Diese Übersetzungen trugen wesentlich erst zur Aristoteles-Rezeption, dann zur Platon-Rezeption bei und führten im Endeffekt zur Ausdifferenzierung von Theologie und Philosophie in der beginnenden Neuzeit.

Der Pendelumschlag im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance betrifft weniger die Dichotomie von wörtlichem und sinngemäßem Übersetzen als vielmehr die zunehmende Verpflichtung zur getreulichen Abbildung der Oberflächenstruktur des Ausgangstexts (Vermeer 2000: 123). Mit Pendelumschlag ist gemeint, dass während der Renaissance keine eigenständigen, neuen Übersetzungsstrategien verfochten werden (Vermeer 2000: 121), sondern lediglich auf Altbewährtes zurückgegriffen wird.

Niklas von Wyle

Heinrich Steinhöwel

Während der frühhumanistische Schriftsteller und ÜbersetzerNiklas von Wyle (oder Nicolaus von Weil, 1410–1478) als Vertreter des wörtlichen Übersetzens gilt, verficht sein Zeitgenosse Heinrich Steinhöwel (oder Steinhäuel, 1412–1483) – auf Hieronymus zurückgreifend – das sinngemäße [19]Übersetzen. Denn er habe, wie er in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Petrarcas2Griseldis formuliert, „nit von wort zu wort, sunder von sin zu sin getütschet“ (zit.n. Fischer-Heetfeld 1992: 671).3 Bei Steinhöwel finden wir dann auch erste Überlegungen zum „Übersetzen transphrastischer bis textrangiger Einheiten“ (Vermeer 2000: 89).

sinngemäßes Übersetzen

Mit Sinn bzw. sinngemäßem Übersetzen ist in der gesamten vorwissenschaftlichen Periode häufig nur gemeint, dass der Übersetzer sich nicht an isolierten Wörtern, sondern an zusammenhängenden Syntagmen oder ganzen Sätze als Übersetzungseinheiten hält. Aus heutiger Sicht erscheinen sinngemäße Übersetzungen der damaligen Zeit immer noch sehr stark an der syntaktisch-semantischen Oberfläche des Ausgangstexts orientiert und alles andere als frei. Dementsprechend kann Vermeer (2000: 122) – den Selbstzeugnissen eines Steinhöwel zum Trotz – konstatieren, dass wir „in der Renaissancezeit häufig ein extrem wörtliches Übersetzen“ vorfinden.

Leonardo Bruni (1369–1444)

Der italienische Humanist Leonardo Bruni (1369–1444) gilt als einer der bedeutendsten Übersetzer der Renaissance; allerdings übersetzte er aus dem Griechischen nicht ins Italienische, sondern ins Lateinische. Er steht in der Tradition Ciceros und betont in seiner kleinen Schrift De interpretatione recta aus dem Jahr 1420, dass das Übersetzen eine Kunst sei, bei der es sowohl auf eine kunstvolle Wiedergabe der Form als auch auf die sinngemäße Wiedergabe des Inhalts ankomme. Neu bei ihm – gegenüber Cicero – ist die Forderung nach einer stiladäquaten Wiedergabe, für die neben vollkommener Sprach- und Sachkenntnis besonders „Belesenheit, literarische Bildung und sprachkünstlerische Fertigkeit“ erforderlich seien (von Stackelberg 1972a: 8).

Die Gewalt der Sprache reißt den Übersetzer hin zur Ausdrucksweise desjenigen, den er übersetzt. Und den Sinn kann nur der richtig wiedergeben, der sich mit den Eigenheiten seiner Sprache und dem Abbild seiner Rede in Inhalt und Umfang seiner Vorlage gänzlich anpaßt und anschmiegt. Denn die beste Übersetzung ist diejenige, die die Form des Urtextes am besten bewahrt, so daß weder den Worten der Sinn, noch der Sprache die kunstvolle Form fehlt. (Bruni, zit.n. von Stackelberg 1967: 70)

Obwohl die Renaissance – auch in Fragen des Übersetzens – zu den antiken Ursprüngen zurück wollte, dauerten mittelalterliche Übersetzungspraktiken gemildert fort (Vermeer 2000: 76). Durch das Aufweichen klarer Translationsnormen „entstand ein translatorisches Dilemma“ (Vermeer 2000: 76), für das sich drei Lösungen anboten:

[20]Die meisten Übersetzer jener Zeit favorisierten es, „möglichst an der Ausgangstextoberfläche entlang zu übersetzen“, da so angeblich am wenigsten schiefgehen könne. Aus heutiger Sicht bringt „gerade dieses Verfahren die Gefahr einer Sinnänderung mit sich“.

Die wort-wörtliche Übersetzung wurde vor allem als didaktische Methode eingesetzt. Bei ihr war der Sinn zweitrangig und „mitunter gar nicht mehr leicht zu erkennen“.

Das freie kultursensitive Übersetzen, das Freiheit mit Verantwortung zu verbinden suchte, gewann zwar allmählich die Oberhand, wurde aber damals wie heute „weithin als infidèle geschmäht“. (Vermeer 2000: 77)

Martin Luther (1483–1546)

Aus deutscher Sicht ist natürlich Martin Luther (1483–1546) aufgrund seiner Bibelübersetzung der wichtigste Übersetzer der Renaissance bzw. des Humanismus. Mit seinem Sendbrief vom Dolmetschen (Luther 1963) gehört er außerdem epochenübergreifend zu den einflussreichsten Übersetzungstheoretikern. Luther knüpft an Hieronymus an und übersetzt „ausgangstextorientiert“, indem er bei seiner Übersetzung von der „Ausgangstextoberflächenstruktur“ ausgeht (Vermeer 2000: 89). Allerdings berücksichtigt auch er die Bedeutung nur bis zum Satzrang.

Luther wollte die Bibel als Wort Gottes lebendig übersetzen. Dazu musste er die zeitliche Kluft von rund 1500 Jahren und die räumliche Kluft von einigen Tausend Kilometern zwischen dem Nahen Osten und Europa überbrücken. Die fremde Vorstellungswelt der Bibel wollte er in Sprachbildern zum Klingen bringen, die den damaligen Deutschen geläufig waren. Zu diesem Zweck empfiehlt Luther, die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse und den gemeinen Mann auf dem Markt zu befragen „und denselbigen auf das Maul zu sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen“, damit „es eine völlige, deutsche, klare Rede wird“ (Luther 1963: 21).

Luther wendet bei seiner Bibelübersetzung sowohl die Methode des wörtlichen als auch des sinngemäßen Übersetzens an, wobei letztere Methode überwiegt. Für beide Vorgehensweisen gibt Luther selbst Beispiele. Den lateinischen Satzex abundantia cordis os loquitor könnte man wörtlich mit Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund übersetzen. Luther aber meint:

Welcher Deutsche verstehet solches? Was ist Überfluß des Herzens für ein Ding? Das kann kein Deutscher sagen, …, sondern so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Das heißt gutes Deutsch geredet, … (Luther 1963: 21)

Luther vermag seinen Vorsatz, in gutes und verständliches Deutsch zu übersetzen nicht immer durchzuhalten, denn die lateinischen Worte „hindern über die Maßen sehr, gutes Deutsch zu reden“ (Luther 1963: 22). Und so [21]gibt er im Sendbrief auch ein Beispiel, wo er „nicht allzu frei“ vom Wortlaut abgewichen ist (Luther 1963: 25). Gemeint ist die Stelle Johannes 6,27, die Luther recht wörtlich übersetzt: Diesen hat Gott der Vater versiegelt. Auf alternative Formulierungen wie diesen hat Gott der Vater gezeichnet oder diesen meint Gott der Vater hat Luther verzichtet, denn er habe „eher wollen der deutschen Sprache Abbruch tun, denn von dem Wort weichen“ (Luther 1963: 25).

Obwohl Luther in der einschlägigen Literatur für das „Prinzip des Verdeutschens“ oder die sinngemäße Übersetzungsmethode steht (Koller/Henjum 2020: 44), ist festzustellen, dass auch er bei seinen Übersetzungsentscheidungen zwischen Wortgemäßheit und Sinngemäßheit schwankt.

Joachim du Bellay (1522–1560)

Joachim Du Bellayhat in seinem sprachpolitischen Manifest Défense et illustration de la langue française eine strikte Vorstellung der Übersetzung vertreten und sie von der freieren Form der Imitatio (hier im Sinne von Nachdichtung) unterschieden. Während die Übersetzung nur zur Vermittlung von Stoff tauge, bestehe der Vorzug der Imitatio darin, auch die Formqualitäten wiedergeben zu können. Dies führt ihn letztlich zu der Überzeugung, dass das – inhalts- und formgetreue – Übersetzen von Dichtung unmöglich sei. In seiner Tätigkeit als Übersetzer erweist er sich als Anhänger des freieren, sinn- und formadäquaten Übersetzens (von Stackelberg 1972a: 19), denn mit einer wörtlichen Übersetzungsweise könne man allenfalls den Schatten des Originals einfangen.

Theorie der verschobenen Entsprechung

Von Du Bellay stammt auch die Theorie der verschobenen Entsprechung, die später besonders für die Praxis der belles infidèles prägend war. Gelingt es dem Übersetzer nicht an der einen Stelle die Stilqualität des Originals angemessen wiederzugeben, dann sollte er dies dadurch kompensieren, dass er die Stilqualität an einer anderen Stelle (wo sie im Original nicht zu finden war) hinzufügt.

Étienne Dolet (1509–1546)

Der Franzose Étienne Dolet ist der bekannteste Übersetzungstheoretiker der französischen Renaissance. Er vertrat in seinem Werk La Manière de bien traduire d’une langue à autre die Ansicht, dass nur Narren Zeile für Zeile oder Vers für Vers übersetzen, vielmehr bestehe das Übersetzen wesentlich darin, die Äußerungen eines Autors durch Neuanordnen der Worte zu reformulieren. Allerdings hat er ein trauriges Schicksal erlitten, da er von der Theologischen Fakultät der Sorbonne wegen seiner Übersetzung eines Platon-Dialogs zum Tode verurteilt wurde. Er ließ darin Sokrates sagen, dass nach dem Tode nichts mehr käme, und habe – so seine Richter – damit die Unsterblichkeit der Seele geleugnet. Bevor er starb, hat Dolet aber noch in seinem Werk Von der Art und Weise, gut aus einer Sprache in eine andere zu übersetzenfünf Grundregeln den Übersetzern an die Hand gegeben:

fünf Grundregeln

[22]Sinn und Stoff des Autors, den man übersetzen will, völlig verstehen;

sowohl Ausgangssprache als auch Zielsprache völlig beherrschen;

sich nicht an den Wortlaut klammern;

sich vor Latinismen hüten und sich an die gute französische Umgangssprache halten;

sich um einen guten, glatten, eleganten, unprätentiösen und vor allem gleichmäßigen Stil bemühen. (Dolet, zit.n. Mounin 1967: 33)

Jacques Amyot (1513–1593)

Ein weiterer Franzose, Jacques Amyot (1513–1593), hatte mit seinen Übersetzungen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Übersetzungspraxis. Er wollte nicht nur den Sinn, sondern auch den Stil und die Sprechweise des Originals wiedergeben, und zwar so, dass es einen flüssig und leicht zu lesenden Zieltext ergibt. Amyots interpretative Übersetzung zeichnet sich durch sechs Punkte aus:

exakte Wiedergabe des Sinns;

schamhafte, im Rahmen der Schicklichkeit bleibende Wiedergabe sexuell expliziter Stellen;

Tendenz zur Verdeutlichung von Ausdrücken und Sachverhalten;

Tendenz zur Einbürgerung von Personen- und Ortsnamen, Titeln, Dienstgraden usw.;

Tendenz zur Verchristlichung heidnischer Bezeichnungen;

Tendenz zur künstlerischen Formung, einschließlich der Verwendung plastischer, volkstümlicher Wendungen.

Bernardo Davanzati

Die Wirkung von Amyots Übersetzungsweise bestand in einer „Ermutigung zum eigenen Sprechen und Schreiben“ (von Stackelberg 1972a: 28). Sie wurde zum Vorbild der sogenannten belles infidèles – der schönen, aber untreuen Übersetzungen, die seither vor allem – aber nicht nur – in Frankreich gepflegt wurden. So kann u.a. die Tacitusübersetzung des Italieners Bernardo Davanzati (1529–1606) mit ihrer Einbürgerungs- und Modernisierungstendenz und ihrem Hang zur bildhaften Volkssprache als Beispiel für eine italienische belle infidèle gelten.

Man beachte, dass das Übersetzen im Mittelalter und in der Renaissance vor allem dem Zweck diente, das kulturelle Erbe der Antike für das Abendland zu erschließen. Übersetzt wurden philosophische, wissenschaftliche und literarische Texte. Die Übersetzung juristischer Texte, die in der Regel ohnehin auf Latein – der damaligen Sprache der Kirche, der Staatsverwaltung, der Wissenschaft und der Gebildeten insgesamt – abgefasst wurden, oder anderer Gebrauchstexte blieb die Ausnahme, zumindest waren sie kaum Gegenstand der übersetzerischen Reflexion.

Hang zur einbürgernden Übersetzung

[23]Während sich die Intellektuellen im Mittelalter erst mühsam ihre Kenntnisse des Griechischen oder Arabischen – teilweise durch den Übersetzungsprozess selbst – aneignen mussten, da es kaum brauchbare Wörterbücher oder Grammatiken gab, konnten die Humanisten der Renaissance schon auf bessere Hilfsmittel zurückgreifen, so dass ihre Sprachkenntnisse profunder als die ihrer Vorgänger waren. Dies führte zu einem vertieften Verständnis der Ausgangstexte, was es ihnen erleichterte, den Sinn zu erfassen, ohne sich sklavisch an die Ausgangstextformulierungen zu klammern. Deshalb verwundert es kaum, dass sich in der Renaissance der Hang zur einbürgernden Übersetzung – bis hin zu deren Extremform der belles infidèles – zu etablieren beginnt. Das Ausmaß der fremdsprachlichen Kompetenz beeinflusst also sehr stark die vom Übersetzer gewählte Übersetzungsmethode.

Juan Luis Vives

Fray Luis Ponce de León

So wichtig die in dieser Zeit angefertigten Übersetzungen für die kulturelle Entwicklung Europas auch waren, sie änderten nichts an der Stagnation des Übersetzungsdiskurses. Während der Renaissance entwickelten zwar Autoren wie Martin Luther, die spanischen Humanisten Juan Luis Vives (1492–1540) und Fray Luis Ponce de León (1527–1591), Étienne Dolet und andere ihre eigenen Gedanken zum Übersetzen, verblieben aber innerhalb des in der Antike von Cicero und Hieronymus abgesteckten Rahmens. Die grundlegende Dichotomie zwischen wortgemäßer und sinngemäßer Übersetzung blieb der Referenzpunkt ihres Denkens. Vor allem aber gingen sämtliche „bis zur Renaissance genannten Übersetzungsstrategien“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – „kaum jemals über den Satzrang hinaus“ (Vermeer 2000: 89).

Während der Renaissance und des Barock waren es vor allem die präskriptive Anweisungspoetik und die Grundüberzeugung, dass jegliche Übersetzung eine spezielle Form der Nachahmung (imitatio) sei, die eine Öffnung des Übersetzungsdenkens hin zu grundlegend neuen Einsichten verhinderten.

Darüber hinaus bestand ein wesentlicher Zweck des Übersetzens in der Zeit der Renaissance und des Barock vor allem darin, die einzelnen Volkssprachen zu Literatur- und Wissenschaftssprachen zu entwickeln bzw. zu perfektionieren. Das Interesse an einer (wörtlich oder sinngemäß) getreuen Wiedergabe fremdsprachlicher Texte nahm dementsprechend in dieser Zeit ab.

1.4 Übersetzen im Barock und in der Aufklärung

Die Übersetzungsgeschichte war bis ins 16. Jahrhundert hinein geprägt von Übersetzungen aus dem Griechischen und Arabischen ins Lateinische oder aus dem Lateinischen in die modernen europäischen Nationalsprachen. Erst im 17. Jahrhundert treten Übersetzungen aus dem Italienischen, Spanischen [24]oder Englischen ins Französische oder aus dem Französischen ins Deutsche, Englische und andere moderne Sprachen hinzu.

Die Übersetzungen, die von der Renaissance bis zur Aufklärung angefertigt wurden, hatten einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Herausbildung der modernen europäischen Nationalsprachen und der entsprechenden Nationalliteraturen. Allerdings wird diese wesentliche Funktion der Übersetzung oftmals verschwiegen (Meschonnic 1973: 410). Seit dem 18. Jahrhundert kommt den Übersetzungen noch eine erhebliche Bedeutung „bei der Herausbildung der modernen Denkweisen und Kunstformen“ zu (von Stackelberg 1972a: 58).

Zu den wichtigsten Vertretern in der Barockzeit gehören John Dryden, François de Malherbe, Jean Baudoin und Perrot d’Ablancourt.

Abgrenzungsdebatte

John Dryden (1631–1700)

In dieser Zeit gewann die Abgrenzungsdebatte an Bedeutung. Lange Zeit, „bis etwa ins 13. Jh.“ hinein, war nämlich die „Grenze zwischen Übersetzung, Bearbeitung und Originalproduktion fließend“ (Schreiber 2001: 110; vgl. Delisle/Woodsworth 1995: 36). Der englische Schriftsteller und ÜbersetzerJohn Dryden schlug z.B. vor, zwischen Metaphrase, Wort-für-Wort-Übersetzung, Paraphrase und Imitation zu unterscheiden (Dryden 1950). Seit Dryden kamen unzählige Unterscheidungen – mit gleicher oder ähnlicher Begrifflichkeit – hinzu, bis die Debatte in der Romantik mit Schleiermachers (1813/1963: 45 ff.) weithin akzeptierter Einteilung in Übersetzung, Paraphrase und Nachbildung langsam abebbte.

Diese Abgrenzungsversuche haben den Nachteil, dass sie oft zu einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis geführt haben. So gibt Dryden im Vorwort zu seiner Ovid-Übersetzung zu, dass er „transgressed the rules which I have given; and taken more liberty than a just translation will allow“ (Dryden 1680/1950b: 155). Mit anderen Worten: Er hat zwar übersetzt, aber eigentlich doch nicht, weil er sich dabei mehr Freiheiten erlaubt hat, als es seiner Meinung nach definitorisch gesehen einer Übersetzung geziemt.

Während auf theoretischer Ebene die Abgrenzungsdebatte mit dem Versuch geführt wurde, das eigentliche Übersetzen von anderen Formen der Textbearbeitung exakt zu unterscheiden, gingen die Übersetzer in der Praxis sehr frei mit den Texten um: „Nur ausnahmsweise stellten Übersetzer sich auf den Standpunkt der Originaltreue“ (von Stackelberg 1972a: 11). Die „Rücksicht auf den Leser“ galt ihnen mehr als die „Verantwortung gegenüber dem Original“ (von Stackelberg 1972a: 11). Man könnte also von einer rezipientenorientierten Übersetzungsmethode sprechen.

Im Zeitalter des Früh- und Hochbarock (ca. 1600–1720) wurde – vor allem in Frankreich – das Ideal der belles infidèles verfochten. Dabei ging es den französischen Übersetzern in der Regel vor allem darum, den fremden Autor zu »französieren« und so passten sie ihn dem geltenden strengen Stilideal und dem daran orientierten Publikumsgeschmack an. Das Ergebnis [25]waren sehr stark einbürgernde Übersetzungen (Albrecht 1998: 75). Der Übersetzer ging relativ frei mit seinem Original um, so dass man von einer willkürlichen Nutzung des Ausgangstextes als schieres Informationsangebot sprechen könnte, die keinerlei ausgangstextorientierten Zwängen unterlag.

Bei Übersetzungen, die dem Ideal der belles infidèlesentsprachen, erfolgte eine „Anpassung des historischen Umfelds der Texte an die Lebenswelt der Leser“, und es „wurde unbekümmert in die Makrostruktur von Texten eingegriffen. Es wurde gestrichen, umgestellt, hinzugefügt“ – alles natürlich, um aus »unlesbaren« Originalen »genießbare« Texte zu machen (Albrecht 1998: 79).

François de Malherbe (1555–1628)

Die Seneca-Übersetzung von François de Malherbe weist als eine der ersten fast alle Merkmale der belles infidèlesauf. Stilistisch orientiert sich Malherbe allerdings nicht an der Volkssprache, sondern am Geschmack des französischen Königshofes, was den Schutz der empfindlichen adligen Ohren vor einer zu drastischen Ausdrucksweise einschließt. Seine umfassende Rezipientenorientierung verlangte „den Umbau der Sätze, die Herstellung von fließenden Übergängen, die Streichung überflüssiger Wörter, die Erklärung des Sinnes, die Erläuterung von Anspielungen sowie die Milderung allzu kühner Redefiguren“ (von Stackelberg 1972a: 37). Malherbes Übersetzungsweise mit ihrer rhetorischen Klarheit und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Stil des Originals wurde für die Übersetzer des 17. Jahrhunderts zum bewunderten Vorbild (von Stackelberg 1972a: 38).

Weitere wichtige Übersetzer dieser Epoche sind Jean Baudoin (1590–1650) und NicolasPerrot d’Ablancourt (1606–1664), die mit ihren einbürgernden Übersetzungen den von Malherbe eingeschlagenen Weg fortsetzten. Sie zeichnen sich durch eine starke Rhetorisierung, Modernisierung und Nobilitierung sowie eine rationalisierende und explikative Tendenz aus (von Stackelberg 972 a: 46). Als letzter großer Vertreter der Richtung der belles infidèlesgilt Jacques Delille (1738–1813), der schon zum Zeitalter der Aufklärung zählt. Auch wenn Delilles Übersetzungen oft negativ beurteilt wurden, gilt es positiv hervorzuheben, dass er „nicht ängstlich Vers für Vers“ übersetzt hat, vielmehr überblickt er „längere Passagen und gibt sie in eigener Regie als Ganzes wieder“ (von Stackelberg 1972a: 57).

Christoph Martin Wieland

Im Zeitalter der Aufklärung (ca. 1720–1800) und verstärkt nach der Durchsetzung des Klassizismus als ästhetische Norm erfolgt die langsame Abkehr vom Ideal der belles infidèles. Während es in Frankreich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer „zweiten Blütezeit der belles infidèles“ (Albrecht 1998: 77) kam, begannen besonders in Deutschland aufklärerische Autoren wie Georg Venzky (1704–1757), Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Johann Jakob Breitinger (1701–1776) oder Christoph Martin Wieland (1733–1813) ab Mitte des 18. Jahrhunderts die „unbedingte Treue zum Original“ (Sdun 1967: 23) zu verfechten.

Alexander Fraser Tytler (1747–1813)

[26]In den anderen europäischen Ländern vertraten Autoren wie Alexander Tytler (1747–1813), Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) und der Aufklärungsphilosoph Voltaire (1694–1778) ähnliche Ansichten.

Voltaires zeilengenaue Hamlet-Übersetzung gilt als „eine der frühesten großen »getreuen Häßlichen«“ (von Stackelberg 1972a: 68). Mit ihr spricht sich Voltaire für eine wörtliche und stiladäquate Übersetzungsmethode aus. Ansonsten weisen die französischen Übersetzungen jener Zeit allerdings zwei typische Merkmale auf: zum einen den Hang zur Vermeidung unangemessener Worte (mots bas) und zum anderen den Hang zur Explikation.

Der schottische Professor für Universalgeschichte Alexander Fraser Tytler stellte drei Grundsätze guten Übersetzens auf, die Nida (1964: 19) wie folgt zusammenfasst:

drei Grundsätze guten Übersetzens

The translation should give a complete transcript of the idea of the original work.

The style and manner of writing should be of the same character with that of the original.

The translation should have all the ease of the original composition.

Ideal der originalgetreuen Übersetzung

Der aufklärerische Übersetzer durfte sich nie die Freiheit nehmen, vom Wortlaut des Originals abzuweichen (Breitinger 1740: 136–199). Das Ideal der originalgetreuen Übersetzung entsprach den rationalistischen Grundannahmen jener Epoche. Damit verbunden war der „Glauben an die Möglichkeit eines fast mechanischen Umsetzens der Texte“ (Sdun 1967: 23). Diese Auffassung erinnert natürlich stark an das Rekodierungsprinzip der linguistischen Übersetzungstheorien.4

Gegen Ende der Aufklärung wurde deutlich, dass die Dichotomie wortgemäß vs. sinngemäß nicht ausreicht, um das Für und Wider in der Auseinandersetzung um das Ideal der belles infidèles angemessen zu beschreiben. Die aufklärerischen Autoren führten eine neue Dichotomie in das übersetzerische Denken ein. Sie kritisierten an Übersetzern der belles infidèles, dass diese einer allzu freien und zu stark einbürgernden Übersetzungsmaxime gefolgt seien. Statt dessen sprachen sie sich wieder für das Ideal der treuen Übersetzung aus und propagierten die verfremdende Übersetzungsmethode. Seit der Aufklärung wurde es Usus zwischen der einbürgernden und der verfremdenden Übersetzungsmethode zu unterscheiden. Bei Goethe lesen wir:

[27]Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, …; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben. (Goethe 1963: 35)

An anderer Stelle erweitert Goethe dieses binäre Schema durch ein ternäres Schema und stellt neben die einbürgernde und die verfremdende Übersetzungsmethode noch als dritte jene Übersetzungsmethode, mit der „man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte“ (Goethe 1963: 36).

Für das Übersetzungsdenken der Aufklärungszeit war das Ideal der Identität von Übersetzung und Original bestimmend.

In der Aufklärungszeit sollten dem zielsprachlichen Lesepublikum Wort bzw. Sinn des Originaltextes nähergebracht werden. Die übersetzerischen Entscheidungen und deren Rechtfertigung orientierten sich also an der Verständlichkeit des Zieltextes für den zielsprachlichen Leser und an dessen Vorwissen. Paradigmatisch hierfür stehen die »rezipientenorientierten« Übersetzungen Wielands oder die Prämissen der einbürgernden Übersetzung von Gottsched (Marín 2005: 113). Zumal in Deutschland dienten Übersetzungen im 17. und 18. Jahrhundert auch dem Nebenzweck, ein angemessenes Selbstbild und ein genaueres Bild der eigenen Sprache und Literatur zu entwerfen (Fuhrmann 1987: 2).

Bemerkenswert ist, dass die übersetzungstheoretischen Überlegungen im 18. Jahrhundert im Rahmen der Philosophie und Ästhetik angestellt wurden. Das Übersetzen antiker Autoren galt in dieser Zeit für angehende Dichter als Vorstufe und poetologische Schule, bevor an das Abfassen eigener Gedichte zu denken war.