Ukraine – Wie alles begann - Jens Piske - E-Book

Ukraine – Wie alles begann E-Book

Jens Piske

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Beschreibung

Am 24. Februar 2022 eskalierte der seit 2014 andauernde Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die am meisten gestellte Frage lautet: "Wieso?". Wieso behauptet der Aggressor, dass die Ukraine zu Russland gehört? Dass sie »Brüder« wären? Viel Unwissenheit und Propaganda vernebeln den Blick auf die Zusammenhänge. Die historischen Begebenheiten in Osteuropas sind bei vielen ein weißer Fleck. Und dabei ist es eine äußerst spannende Geschichte voll mit Heldenmut, Intrigen, Rittertum, Kämpfe um den Thron – ohne in das Reich der Phantasie einzutauchen. Vor mehr als tausend Jahren entstand mit den Fürstentümern der Kyjiwer Rus ein geeintes, gewaltiges Reich im Osten Europas, das sich vom Schwarzen Meer bis zum Baltikum erstreckte. Die Einigkeit dauerte jedoch nur wenige Jahrzehnte, bis es zur Sezession kam, und die Länder, die wir heute als Ukraine und Russland kennen, sich sehr verschieden entwickelten. Politisch, kulturell, sprachlich und auch moralisch. Mit diesem Buch lassen wir nun diesen äußerst interessanten Teil der europäischen Geschichte wieder aufleben, der die Weichen für Konflikte bis in die heutige Zeit stellte.

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Jens Piske

UkraineWie alles begann

Die Chronik der Kyjiwer Rus

Impressum

Texte:          © Copyright by Jens Piske Umschlag:   © Copyright by Jens Piske Verlag:         Verlag Njemoskal                      19644 Sahunivka / Ukraine E-Mail:         [email protected] Internet:        https://verlag-njemoskal.com Druck:           epubli - ein Service der neopubli GmbH Berlin

Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die der Ukraine in dieser schweren Zeit beistehen, besonders all jenen, die mit ihrem Leben dieses Land schützen.

Slava Ukraini! Herojam Slava!

November 2022

1  Vorwort

Glücklich das Volk, dessen Geschichte sich langweilig liest.

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689 - 1755)

Die Worte des Barons de Montesquieu treffen auf die Geschichte der Ukraine gewiss nicht zu, denn diese ist alles andere als langweilig. Man kann auch nicht sagen, dass das Volk der Ukraine eine friedliche Vergangenheit hatte. Die Lage am Übergang zwischen Europa und Asien, gesegnet mit einem fruchtbaren Boden und angenehmen Klima, war dieses Land, was wir heute als Ukraine kennen, immer wieder Spielball fremder Völker. Durch die Ereignisse in den letzten Jahrhunderten unter fremder Herrschaft, dazu der Diebstahl ihrer eigenen Identität, verlor man die Ukraine im Weltgeschehen mit der Zeit aus den Augen, bis sie es in jüngster Zeit schaffte, endgültig ihre Unabhängigkeit zu erlangen und diese zu verteidigen. Dabei war sie in einer Zeit, die als Epoche der Kyjiwer Rus in die Geschichte einging, in ganz Europa bekannt, und es ist eine sehr spannende Geschichte mit Auswirkungen auch auf den Rest von Europa. Diese zu kennen und zu verstehen ist nicht nur ein Gebot der Stunde, in der sich das Schicksal von Millionen Menschen und der Zukunft von ganz Europa entscheidet. Alles was wir tun, alles was die Führer der Nationen entscheiden, hat Auswirkungen über unsere Lebensspanne hinaus. Was vor tausend Jahren passierte, stellte auch die Weichen für das Leben, welches wir heute führen, mit allem Positiven wie Negativen. Und die Geschichte der Ukraine ist voller Abenteuer, Eroberungen, Verschwörungen, Rittertum, Kämpfe um den Thron. Das ist spannendes Material, ohne in die Welt der Phantasie eintauchen zu müssen.

Was um die erste Jahrtausendwende herum geschah, das wissen wir aus der »Erzählung der vergangenen Jahre«, die bei uns auch als »Nestorchronik« oder im Englischen als »The Rus‘ Primary Chronicle« bekannt ist. Mein Vorhaben, diese wortgetreu als Band 2 in die Sammlung historischer Werke aufzunehmen, diese Idee gab ich sehr schnell auf. Es ist ein einzigartiges Dokument aus dem 12. Jahrhundert, geschrieben von Mönchen, das leider nur in diversen Abschriften die Zeit überdauert hat. Und wie Mönche so sind, wird dem geistlichen Aspekt eine gebührende Rolle eingeräumt. Die Chronik beginnt auf den ersten Seiten bei der Sintflut und der Aufteilung der Erde unter Noahs Söhnen Sem, Ham und Jafet. Weiterhin enthält die Chronik viele Passagen über seltsame Zeichen am Himmel, Wetterphänomene, unerklärliche Erscheinungen, Missernten, Erdbeben, sowie Mitteilungen, welcher Priester wann und wo lebte und tätig war. In dieser Form ist es für wissenschaftliche Zwecke durchaus interessant, ich bin jedoch ebenso wie die meisten Leser kein Wissenschaftler und möchte die Geschichte für Jung und Alt kurzweilig, auf unterhaltende und auch spannende Art erzählen. Mit einem Blick auch über die Grenzen der Rus hinaus, sowie Erkenntnissen aus anderen Quellen, ergibt sich ein stimmiges Bild aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende.

Da sich die überlieferten Schriften der Nestorchronik teilweise unterscheiden, halte ich mich an die Version, die Johann Benedict Scherer im Jahre 1774 übersetzt, und mit zahlreichen Anmerkungen versehen hat. Die Nowgoroder Chronik, nordische Sagen, daneben Erzählungen arabischer und byzantinischer Gelehrter, sowie viele Erkenntnisse aus der heutigen Zeit von Historikern und Archäologen, fließen in dieses Buch mit ein.

Kyjiw, das ehemalige Zentrum der Rus, ist heute Hauptstadt der Ukraine und wir behandeln in erster Linie die Frühgeschichte dieses Landes. Gleichwohl werden wir auch in Gegenden geführt, die heute nicht zur Ukraine gehören. Um jedoch nicht immer wieder vom „Gebiet der heutigen Ukraine“ zu sprechen, werde ich, sofern sich die Ereignisse auf diesem Gebiet ereigneten, nur von der Ukraine sprechen. Darüber hinaus verwende ich die Schreibweise von Namen und Orten vorwiegend aus der ukrainischen und nicht der russischen Transliteration.

Hinweis für Besitzer eines eBook-Readers: Die verwendeten Karten sind bei diversen Geräten eventuell schlecht zu erkennen. Alle Grafiken sind deshalb noch einmal auf unserer Webseite zu finden unter https://verlag-njemoskal.com/de/buchbilder.html. Hier der QR-Code zu der Seite:

2  Vorgeschichte

Es gibt nur eine Sünde, die gegen die ganze Menschheit mit all ihren Geschlechtern begangen werden kann, und dies ist die Verfälschung der Geschichte.

Friedrich Hebbel (1813 - 1863)

Bevor die Kyjiwer Rus die Bühne der Weltgeschichte betreten, war die Ukraine kein unbewohntes Land. Seit Jahrtausenden lebten Menschen in diesem Gebiet. Durch archäologische Funde entstand nach und nach ein Bild, welche frühe Kulturen dieses Land besiedelten, schriftliche Überlieferungen gab es damals noch nicht. Immer wieder stoßen ganz aktuell Archäologen bei Ausgrabungen auf Jahrtausende alte Bestattungshügel und Siedlungen, die überraschen und viele Rätsel aufgeben. Die ältesten Funde von Urmenschen sind ca. 1 Millionen Jahre alt und wurden in Korolevo, einem Dorf in Transkarpatien gefunden. Zwischen Karpaten und Dnipro, Pripyat und Schwarzem Meer fand man zahlreiche Hinweise auf die sogenannte Trypillia-Kultur, die zwischen 5500 und 2700 v. Chr. auf den Gebieten Rumäniens, der Republik Moldau und der Ukraine mit einer Gesamtfläche von über 350 000 km² existierte. Während der Blütezeit der Kultur besaß es die größten Siedlungen in Europa. Die Einwohnerzahl einiger von ihnen überstieg 15 000 Menschen.

In den Aufzeichnungen des antiken Griechenlands findet man erste Erwähnungen von nomadisierenden Reitervölkern, vor allem den Skythen und Sarmaten, diese sind uns auch heute noch ein Begriff. Entlang des Schwarzen Meeres gründeten ab dem 5. Jhd. v. Chr. die alten Griechen das Bosporianische Reich, erstellten Kolonien und bauten Städte, darunter auf der Krim und den Küsten des Schwarzen Meeres1. Theodosia (Feodossija), Pantikapaion (Kertsch), Kerkinitis (Jewpatorija), Kalamita (Sewastopol), Kalos Limen (Tschornomorske); auf dem Festland Olbia an der Mündung des Bug, Tyras (Bilhorod-Dnistrowskyj) an der Mündung des Tyras/Dnisters, der Fluss führt heute beide Namen, Harpis (nahe der Donaumündung), sowie Borysthenes (gemeint ist die Insel Beresan nahe der Dnipromündung, die Griechen nannten den Fluss ebenfalls Borysthenes).

Griechische Kolonien am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres

Herodot war einer der ersten, der im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. über die Skythen und Sarmaten schrieb, Nach ihm wäre dieses Volk aus einer Vereinigung des Halbgottes Herkules mit einer Schlangenfrau entstanden, tatsächlich kamen sie aus dem heutigen Irak in das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres. Unter den Frauen der Skythen und Sarmaten gab es wagemutige Kriegerinnen, die mit den Männern in den Kampf zogen. In griechischen Mythen und Sagen gingen sie als Amazonen in die Geschichte ein. Bei Ausgrabungen in der Ukraine, am Don und der Wolga fand man Kurgane, Kriegergräber aus dieser Zeit, die weibliche Skelette enthielten und deren Kleidung und Grabbeigaben denen der männlichen Krieger entsprachen.

Dass die Griechen nicht nur die Küste des Schwarzen Meeres kannten, beweist auch die Sage von Prometheus in der griechischen Mythologie, soll er doch im Kaukasus, an einen Fels geschmiedet gewesen sein.

Im ersten Jahrhundert n. Chr. berichten römische Quellen als erstes von Wenden, die sich an der Weichsel niederließen und Häuser bauten. Wenden ist ein anderes Wort für Slawen, noch heute verwendet man in der Niederlausitz diesen Namen für die Sorben. Dieser Volksstamm wird uns später noch begegnen.

Grob aufgeteilt kann man sagen, dass Europa bis ins 4. Jahrhundert in fünf Reiche aufgeteilt war.

 Den größten Teil Europas beherrschte das römischen Imperium. Obwohl es nun von zwei Kaisern regiert wurde, dem weströmischen mit Sitz in Ravenna, sowie dem oströmischen mit Sitz in Konstantinopel, war es im 4. Jahrhundert doch noch ein Reich. Die Teilung geschah eher aus praktischen Gründen, was die Verwaltung dieses riesigen Gebietes vereinfachen sollte. Beide Reiche hatten zunächst die gleichen Gesetze, und neue Gesetze galten in beiden Reichen. Natürlich gab es unter den herrschenden Kaisern Intrigen und Versuche, Alleinherrscher zu werden. Vorausgegangen war im Jahr 330 die Ernennung der Stadt Byzanz zur zweiten Hauptstadt von Kaiser Konstantin. Ihm zu Ehren hieß sie alsdann Konstantinopel, unter den Osmanen viele Jahrhunderte später wurde sie parallel auch Istanbul oder Stambul genannt, erst 1930 wurde Istanbul der offizielle Name dieser Stadt. Die Skandinavier nannten sie früher Miklagard, was „Große Stadt“ bedeutet.

Die Geschicke des römischen Reiches interessieren uns nur am Rande, es sei noch erwähnt, dass die kulturellen Unterschiede beider Imperien später auch zur Kirchenteilung führten. Während sich der Papst zu Rom als Oberhaupt aller Christen sah, Lateinisch war hier die vorherrschende Sprache, sahen im byzantinischen Reich die dort lebenden, griechisch sprechenden Christen ihre Patriarchen als Oberhäupter der Kirche an. Nun ging es auch innerhalb der christlichen Kirche immer mehr um Machtfragen und im Jahre 1054 kam es zum endgültigen Bruch. Ein gewisser Kardinal Humbert wurde vom Papst nach Konstantinopel gesandt, um diverse Unstimmigkeiten zu klären. Diplomatie war diesem Kardinal wohl ein Fremdwort, statt eines Kompromisses beschimpfte er den Patriarchen Michael Kerullarios als Ketzer und schloss ihn aus der Kirche aus. Dasselbe geschah dann auch umgekehrt, wobei der Papst selbst nicht ausgeschlossen wurde.

Der endgültige Bruch kam dann im Jahre 1204, als katholische Kreuzritter Konstantinopel überfielen und verwüsteten. Und als dann islamische Osmanen 1453 die Stadt Konstantinopel angriffen und eroberten, kam keine Hilfe aus Rom, obwohl es doch Glaubensbrüder waren.

Für die Geschichte der Ukraine ist dieses Wissen besonders wichtig, diese religiöse Trennung spielt später eine große Rolle und war eine der treibenden und verheerenden Kräfte bei den Streitigkeiten und dem Zerwürfnis mit den Polen. Es sei nur noch erwähnt, dass diese Trennung der Kirche auch heute noch gilt, man kann aber davon ausgehen, dass kriegerische Auseinandersetzungen Geschichte sind. Eine Wiedervereinigung der beiden Kirchen ist aber nicht in Sicht, dazu sind die Bräuche und Riten zu unterschiedlich. Der Konflikt zieht sich nun schon fast über tausend Jahre hin und Kirchen reagieren bei grundlegenden Änderungen sehr langsam. Wenn man sich vorstellt, dass erst vor wenigen Jahrzehnten, nämlich 1965, der katholische Papst und der orthodoxe Patriarch den gegenseitigen Kirchenbann aufgehoben haben, bekommt man eine Vorstellung von dieser »Langsamkeit«. Trotzdem, nach so vielen Jahrhunderten eine wahrlich christliche Tat – und ein Anfang.

Auf der Karte ist auf der Krim und am Nordufer des Schwarzen Meeres ein Bereich zu sehen, der den germanischen Völkern zuzuordnen ist. Hierbei handelt es sich um die Greutungen, später als Ostgoten bezeichnet, einem germanischen Volk, das nach Beginn der neuen Zeitrechnung (nach Christus Geburt) vermutlich aus den nordwestlichen Gebieten an der Weichsel nach Süden wanderte und als Tschernjachow-Kultur in die Geschichte eingingen. Ein Teil von ihnen bauten die berühmten Gotenburgen auf der Halbinsel Krim, südlich der heutigen Stadt Bachtschyssaraj. Als Theoderich der Große mit den Ostgoten gen Italien zog, hat er auch die Krimgoten aufgefordert, ihm zu folgen. Sie blieben aber auf der Krim und vermischten sich mit den nachfolgenden Stämmen, unter denen sie sich noch viele Jahrhunderte halten konnten. Man geht davon aus, dass erst im 18. Jahrhundert die krimgotische Sprache endgültig ausstarb. Aber wir greifen hier in der Geschichte etwas vor, denn bevor Theoderich nach Italien zog, begann eine Ära, die als Zeit der Völkerwanderung in die Geschichte einging.

2.1  Völker, welche die Ukraine bewohnten oder durchquerten

„Die Hunnen kommen!“ Nichts konnte die Bewohner des europäischen Kontinents mehr erschrecken als dieser Ruf. Im Jahre 374 überschritten, aus Asien kommend, Hunnen die Wolga und zerschlugen das Reich der Alanen und verbündeten sich mit ihnen. Ein Jahr später erreichten sie die Ukraine und zerstörten das Reich der Greutungen. Als berittene Krieger mit ihrem enorm durchschlagskräftigen Kompositbogen begann eine neue Ära der Kriegsführung. Dazu kommt, dass sie einen furchterregenden Eindruck gemacht haben müssen. Es heißt, dass sie schon ihren Kleinkindern die Gesichter zerschnitten, um den Bartwuchs zu verhindern. Außerdem praktizierten sie die Sitte der Schädeldeformation, mit ihrem hohen Turmschädel müssen sie ihren Gegnern fast wie Außerirdische vorgekommen sein. Mit ihrer flexiblen Kampftechnik zu Pferde und keine Gnade kennend, überwältigten sie die Greutungen. Deren König Ermanarich beging angesichts dieser Schrecklichkeit und der drohenden Niederlage Selbstmord.

Der größte Teil der Greutungen und auch die Gepiden, ein germanisches Volk im Gebiet des heutigen Ungarns und Rumäniens, unterwarfen sich den Hunnen und zogen mit ihnen gen Westen. Sie passten sich den neuen Umständen an, Gotisch wurde im Reich der Hunnen eine wichtige Verkehrssprache. Trotzdem vergaßen die Greutungen nicht, wer sie waren und immer wieder entzogen sich Gruppen von ihnen der hunnischen Herrschaft.

Den Höhepunkt erreichten die Hunnen unter dem legendären Attila. Nachdem er Ende 444, Anfang 445 seinen Bruder Bleda ermordete, begannen sie im Balkanraum sesshaft zu werden. Die Hunnen waren jedoch immer abhängig von der Beute aus Raubzügen und Tributzahlungen. Nachdem sich der römische Kaiser Markian erfolgreich weigerte, weiterhin Tribut zu zahlen, zog Attila im Frühjahr 451 in das weströmische Reich. Bis nach Gallien, in das Reich der Franken drang er vor. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Juni 451 endete zwar ohne klare Sieger, allerdings mit hohen Verlusten und die Moral der Hunnen war am Boden, ihr Nimbus der Unbesiegbarkeit dahin.

Im Jahre 453 starb Attila in der Hochzeitsnacht mit der Gotin Ildico, es heißt, an einem „Blutsturz“…

Ildigo, die Gotin und Gemahlin Attilas ging später als Kriemhild in die Sage der Nibelungen ein!

Das Ende Attilas war auch das Ende des Hunnenreiches. Die Gepiden und Ostgoten fielen von ihnen ab und besiegelten in der Schlacht am Nedao, einem Fluss in Pannonien2, das Ende der hunnischen Schreckensherrschaft. Die verbliebenen Hunnen gingen in anderen Völkern auf oder kämpften als Söldner für das oströmische Reich. Die Gepiden siedelten im heutigen Siebenbürgen, die Ostgoten vorerst in Pannonien, später zogen sie unter Theoderich gen Rom, eroberten dieses auch, im Herbst 552 bei der Schlacht am Milchberg endete dann auch die Zeit der Ostgoten.

2.2  Die Wanderung und Verbreitung der Slawen

Nach diesem kleinen Exkurs in westeuropäische Geschichte kommen wir nun wieder zur Ukraine. Die Hunnen haben mit brutaler Gewalt ganze Landstriche regelrecht entvölkert. Diese Gegenden blieben jedoch nicht lange leer. Wir sind ja noch mitten in Zeiten der Völkerwanderung und da nutzten die Slawen ihre Chance. Die Diskussion unter Wissenschaftlern über die Herkunft der Slawen ist noch lange nicht abgeschlossen. Jedenfalls ist im 6. Jahrhundert das Einzugsgebiet der Slawen gewachsen und erstreckt sich von der Ostsee im Norden, dem Dnipro im Osten, dem Schwarzen Meer im Süden und den Karpaten im Westen. In den folgenden Jahrhunderten besiedelten Slawen allmählich weitere Gebiete Mittel- und Osteuropas, das Gebiet umfasst dann das Schwarze und Ägäischen Meer bis zur Ostsee; von der Elbe, der Saale, den Alpen und der Adria bis zum oberen Don und unteren Dnipro. Wobei dieses Volk nicht nur einen Ursprung hat, sondern über die Jahrhunderte auch andere Völker assimilierte, und sie durch die slawische Sprache vereinte. Im Exkurs IV, der die Entstehung des polnischen Staates behandelt, gehen wir noch auf eine Theorie ein, wonach die Wanderung der Slawen durch Naturkatastrophen initiiert worden sein könnte.

Dass die Slawen sich aus vielen Völkern zusammensetzten, sehen wir auch in der Ukraine und angrenzenden Gebieten, die später zu den Kyjiwer Rus gehörten. Diese schauen wir uns einmal näher an.

2.3  Die Völker im Osten und Süden der Ukraine

Im Osten der Ukraine, auf einem Großteil der Krim, rund um das Asowsche Meer und im Bereich des Don und der Wolga entwickelte sich das Großbulgarische Reich, in der Wissenschaft auch Protobulgaren genannt. Man nimmt an, dass nach 454 einige der Hunnen in die Steppe nördlich des Schwarzen Meeres zogen, sich mit weiteren, aus Asien kommenden Turkvölkern und auch nach Süden strebenden slawischen Stämmen verbanden. Das Reich existierte nicht sehr lang. Aus dem Osten kommend, war der Druck der Chasaren zu groß, es erfolgte eine Teilung und Abwanderung. Ein Teil unterwarf sich den Chasaren, ein Teil wanderte nach Norden und siedelte sich an der mittleren Wolga an, man spricht unter Historikern zur Unterscheidung von Wolgabulgaren, eine dritte Gruppe wanderte nach Westen und gründeten das heutige Bulgarien, bzw. das Erste Bulgarische Reich.

Im Norden Osteuropas bis zum Ural siedelten die finno-ugrischen Völker. Aus diesen gingen auch die Magyaren hervor, das Urvolk der Ungarn. Etwa im 5. Jahrhundert verließen sieben magyarischen Stämme als nomadisierendes Reitervolk ihr Gebiet am südöstlichen Ural und zogen in das Gebiet des heutigen Baschkiriens. Auf ihrem weiteren Weg kamen sie wohl Anfang des 8. Jahrhunderts in das Gebiet der Chasaren und unterwarfen sich diesen. Im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts kam es im Reich der Chasaren zu Aufständen, an denen sich die Magyaren beteiligten. Der Versuch, den Khan zu stürzen scheiterte und die Magyaren sahen sich genötigt weiterzuziehen.

Ihre nächste Station war „Etelköz“, das Zwischenstromland. Man geht davon aus, dass damit die Gegend zwischen Dnister und Dnipro gemeint ist. Hier trafen sie auf ein weiteres Turkvolk, die Onoguren, die zu den Protobulgaren gezählt werden und vermischten sich mit diesen. Von den Onoguren, auch Unnuguren genannt, leitet sich auch die Bezeichnung „Ungar“ ab, wie die westeuropäischen Völker noch heute die Magyaren nennen. An der Seite von Byzanz kämpften sie erfolgreich gegen das Erste Bulgarische Reich und lernten so auch die Pannonische Tiefebene kennen. Ende des 9. Jahrhunderts verbündeten sich die Bulgaren mit den aus Osten kommenden Petschenegen und schlugen die Magyaren in ihrer damaligen Heimat, worauf sich ein großer Teil von ihnen gezwungen sah, weiter westwärts zu ziehen. Sie überquerten die Karpaten und kamen in das Gebiet des heutigen Ungarns. Von den Zurückgebliebenen leben selbst heute noch Magyaren auf dem Gebiet der Ukraine, Ungarn ist heute ein Nachbarland, man teilt sich eine 136,7km lange Grenze.

2.4  Die besondere Rolle der Chasaren

Die Ära der Chasaren wird in der Geschichte der Ukraine und auch für die Geschicke ganz Europas oft übersehen. Neben diversen Reitervölkern und Nomaden gibt es noch eine weitere Partei, welche die damalige Welt erschütterte. Im Jahre 632 starb Mohammed, der Gründer des islamischen Glaubens. Der Islam spielte zu seinen Lebzeiten nur auf der arabischen Halbinsel eine Rolle. Nach seinem Tod war der Islam nahe daran, in den Annalen der Geschichte zu verschwinden, denn viele der arabischen Stämme fühlten sich nur ihm selbst als Propheten verpflichtet. Mohammed hatte keinen Erben, der Kalif Abu Bakr wurde als sein Nachfolger gewählt, die Bezeichnung als „Kalif“ bedeutet nichts anderes als Nachfolger oder Stellvertreter. Mit ihm begann die „Ära der rechtgeleiteten Kalifen“. Abu Bakr entschied sich, nicht nur religiös, sondern auch politisch die Führung zu übernehmen, unterwarf die Abtrünnigen und begann mit der weiteren Verbreitung des Islam. Er hatte Glück. Das oströmische Imperium und Persien haben sich über viele Jahre bekriegt und waren erschöpft, ihre Ressourcen aufgebraucht. Hinzu kommt, dass keine der beiden Parteien mit den Arabern gerechnet hat. Abu Bakr eroberte Syrien, starb aber 634. Ihm folgten die Kalifen Umar ibn al-Chattāb (634–644), Uthmān ibn Affān, (644–655) und Alī ibn Abī Tālib (656–661). In diesen fast dreißig Jahren gelang es ihnen, den Islam und ihren Machtbereich enorm auszuweiten.

Karte der islamischen Expansion

Um 640 nun standen die islamischen Eroberer am Kaukasus und dieses Gebirge allein trennte sie vom Reich der Chasaren. Der Kaukasus war ein gewaltiges Hindernis, es gab nur zwei Pässe, um diesen zu überwinden. Im Jahre 642 hatten die Araber es geschafft und eroberten die Stadt Derbent am Kaspischen Meer und nutzen diese als Ausgangspunkt für weitere Eroberungen. Ihr Ziel war Balanjar, die damalige Hauptstadt der Chasaren, ebenfalls am Kaspischen Meer gelegen. Es war eine für diese Zeit große Stadt und gut befestigt. Nach acht Jahren Kampf kam es hier zu einer großen und entscheidenden Schlacht. Die Chasaren setzten eine Menge Balliste und Katapulte ein, 4000 Muslime wurden getötet, darunter auch ihr Anführer Abdal-Rahman ibn-Rabiah. Jetzt wurden die Araber über die Berge zurückgetrieben und diese gaben den Versuch auf, hier nach Norden und Europa zu expandieren. Eine Eroberung von Balanjar wäre ein wichtiger Stützpunkt in Europa für die Araber gewesen und sie hätten wie die zuvor genannten Steppenvölker nach Westen ziehen und Konstantinopel vom Norden aus angreifen, und diese wichtige Stadt so in die Zange nehmen können. Die Geschichte Europas könnte einen ganz anderen Verlauf genommen haben. Einem Zweifrontenkrieg wäre das Oströmische Reich nicht gewachsen. Die Chasaren schützten also Europa im Osten vor den Muselmanen, gleichzeitig stoppten die Franken im Westen das weitere Vordringen des Islam nach Europa, die iberische Halbinsel hatten diese ja schon eingenommen.

Die Chasaren nun ihrerseits eroberten weitere Gebiete im Norden, unterwarfen wie erwähnt die Magyaren und Bulgaren. Ihr Reich hatte als Führer wie die alten, türkischen Völker einen Khagan und eine stabile Administration, sie setzten in den eroberten Gebieten Gouverneure ein, welche die Ländereien verwalteten. Und auch slawische Völker waren ihnen zumindest Tributpflichtig, unter ihnen zum Beispiel die Drewlanen und die Wjatitschen. Der Kaukasus war weiterhin von Chasaren und Arabern umkämpft. Im Jahre 721 überquerten nun die Chasaren ihrerseits den Kaukasus und drangen recht erfolgreich in Armenien und den nordwestlichen Iran ein. Es begann ein fünfzehnjähriger, äußerst brutaler Krieg, der als »Zweiter chasarisch-arabischer Krieg« in die Geschichte einging und damit endete, dass der Kaukasus weiterhin die Grenze zwischen Chasaren und Arabern blieb.

Es gibt dann noch etwas, was die Chasaren aus anderen Völkern in diesem Gebiet hervorhebt. Seit der Antike gab es in den griechischen Städten rund um das Schwarze Meer jüdische Gemeinden. Aus dem byzantinischen Reich, aus Persien und der islamischen Welt flüchteten verfolgte Juden in das Reich der Chasaren. Hier waren sie angesehene und erfolgreiche Händler, durch ihr diplomatisches Geschick gelangten sie auch auf politischer Ebene zu immer mehr Einfluss.

Die Chasaren praktizierten bisher den alttürkischen Schamanismus, in dessen Mittelpunkt der Himmelsgott Tengri stand. Ihr Anführer, der Khagan, galt als von Tengri auserwählt. Versagte ein Kaghan, so hieß es, er hätte die Gunst Gottes verloren und wurde rituell hingerichtet. Vielleicht war das ja ein Grund, warum sich die Herrscher der Chasaren einer neuen Religion gegenüber offen zeigten?

Denn zwischen den monotheistischen Religionen – den Christen Europas und den Muslimen in Arabien – hatten sie einen schweren Stand. Würden sie sich für eine der beiden Religionen entscheiden, hieße das gleichzeitig, entweder dem Kaiser oder dem Kalifen untergeordnet zu sein und in der anderen Religion einen erbitterten Feind zu haben. Noch waren die Chasaren ein mächtiges Reich und stellten eine dritte Kraft dar und hatten sich als kluge Diplomaten erwiesen. Sie wählten die dritte Option und wanden sich im 8. Jahrhundert dem Judentum zu, an welches auch nicht so viele Bedingungen geknüpft waren. Die jüdischen Flüchtlinge und Händler wie die Radhaniten brachten eine alte, hoch entwickelte Kultur mit und schafften ein kosmopolitisches Reich der Toleranz, welche arabische Reisende oft bewunderten. Die Chasaren hatten fruchtbares Land und wurden zum Mittelpunkt im Handel zwischen Osten und Westen, Norden und Süden und vor allem zwischen Muslimen und Christen. Ihre jetzige Hauptstadt und Handelszentrum war die Stadt Itil an der Mündung der Wolga, eine multireligiöse und polyethnische Stadt, in der Juden, Christen, Muslime und Heiden friedlich nebeneinander lebten, sowie viele Händler aus anderen Ländern. Sie handelten mit Indien, mit China – und auch mit Schweden! Dort, am Mällarsee gab es im 8. Jahrhundert den Ort Birka, der als wichtigster Handelsplatz Skandinaviens galt und die Chasaren hatten dort eine eigene, wenn auch kleine Kolonie. War das der Grund, warum etwas später die Waräger selbst gen Süden zogen?

Die Chasaren waren ein interessantes Volk, wir werden ihnen später noch einmal begegnen. Jetzt ist es erst einmal an der Zeit, unseren Blick weiter gen Westen zu richten und in der Zeit etwas zurück zu gehen, denn am mittleren Dnipro entstand eine Stadt, die bis heute eine große Rolle in Osteuropa spielt und dazu schauen wir, was die Chronik des Nestor uns zu erzählen hat.

3  Die Gründung von Kyjiw

3.1  Die Reise des Apostel Andreas

Nach der Kreuzigung des Jesus von Nazareth, übernahmen es die Apostel, den christlichen Glauben zu verbreiten. Auf seiner Mission gelang der Apostel Andreas nach Sinope in Anatolien, und kam danach auf die Krim nach Chersonesos. Als er sah, dass die Mündung des Dnipros nah war, beschloss er, nach Rom zu gehen. Auf seiner Reise den Dnipro hinauf übernachteten sie eines Tages am Ufer einer bergigen Landschaft. Als Andreas am Morgen erwachte, sagte er zu den Schülern, die bei ihm waren: „Sehet dieses Gebirge, denn auf diesen Gebirgen wird die Gnade Gottes erscheinen, es wird eine große Stadt werden, und Gott wird viele Kirchen darinnen aufführen.“ Er bestieg die Berge, segnete sie, setzte ein Kreuz und betete zu Gott; stieg hierauf von den Bergen herab, wo später Kyjiw angelegt und erbaut wurde und reiste weiter den Dnipro hinauf und kam zu den Slawen, wo heute Nowgorod ist. Von da führte ihn seine Reise zu den Warägern und von da zurück nach Rom.

Dazu noch folgende Anekdote aus Nestors Chronik:

In Rom angekommen, erzählte er, wie viele Menschen er gelehrt und was er auf der Reise gesehen hätte.Über die Slawen erzählte er: „Ich habe das bewundernswürdige Land der Slawen gesehen, als ich dahin ging, und habe die hölzernen Badestuben betrachtet, wie sie solche stark einheizen, sich entblößen und sich nackend mit Seifenwasser besprengen, worauf sie Ruten nehmen und anfangen, sich zu geißeln. Und sie geißeln sich so sehr, dass sie kaum lebendig heraus kommen. Hierauf besprengen sie sich mit kaltem Wasser, und so erholen sie sich wieder; und dies tun sie täglich. Da sie keiner Qual oder Tyrannei ausgesetzt sind, so quälen sie sich selbst und bereiten sich auf diese Art kein Bad, sondern eine Peinigung.“

Das war also sein Eindruck von der Saunakultur und auch seine Zuhörer sollen sehr verwundert gewesen sein…

3.2  Die Brüder Kyj, Schtschek, Choriw und ihre Schwester Lybid

Im Jahre 1982 beging man die 1500-Jahr-Feier Kyjiws. Obwohl man sich nicht ganz sicher ist, geht man davon aus, dass im Jahr 482 die Stadt gegründet wurde. Auf beiden Seiten des Dnipros lebten zu der Zeit die Polanen. Den Namen bekamen sie, weil sie auf offenem Land lebten und Felder bestellten. Feld heißt in den slawischen Sprachen heute noch »pole«3. Ihre Nachbarn im Norden waren die Drewlanen, ein ebenfalls slawischer Stamm, der in Wäldern lebte, daher auch ihr Name4. Die Geschwister gründeten auf den umliegenden Bergen Dörfer, auf dem Berg aber, auf dem der älteste der Brüder, Kyi lebte, gründeten sie eine befestigte Stadt und nannten sie Kyjiw.

Andere sagen – so die Chronik des Nestors – dass Kyi ein Fährmann gewesen wäre, denn es gab dort eine Übergangsstelle über den Dnipro, und man nannte sie „Zur Fähre des Kyi“. Das hält aber schon Nestor nicht für möglich, denn dieser Kyi sei nach Zargrad5 gereist und wurde vom damaligen Kaiser mit großen Ehren empfangen. Also konnte Kyi kein einfacher Fährmann gewesen sein, sondern eher ein Fürst seines Stammes.

Es gibt dann noch Historiker, welche die These vertreten, dass Kyjiw von Chasaren gegründet wurde. Bei der Ausbreitung ihres Reiches im 8./9. Jahrhundert kamen die Chasaren auch den Dnipro hinauf und legten Befestigungen entlang des Dnipros an. So auch an der Stelle des heutigen Kyjiws. Bei dieser Version geht man von einer Gründung der Stadt nicht vor 830 aus.

Was sagt die moderne Wissenschaft? Es gibt archäologische Funde auf dem Gebiet des heutigen Kyjiws, welche auf eine Siedlung gegen Ende des 5. Jahrhunderts hinweisen. Das erhärtet die Legende aus der Nestorchronik und es ist eine nette Geschichte für die Gründung einer so großen und wichtigen Stadt wie Kyjiw.

4  Exkurs I – Die Nachbarn der Slawen

Die Slawen unterteilt man in die östlich, südlich und westlich lebenden Völker. Sie entwickelten sich zwar unterschiedlich, haben aber bis heute sprachlich einen gemeinsamen Ursprung. Anders die nördlich und weiter im Osten lebenden Völker, diese gehören zu den finno-ugrischsprachigen Stämmen.

Verbreitung der slawischen Völker ab dem 6. Jahrhundert

Etwas speziell sind die Awaren, die vom 6. bis zum 9. Jahrhundert zwischen den Alpen und Karpaten ihr Reich hatten. Mitte des 6. Jahrhunderts zogen sie, aus Zentralasien kommend, durch die ukrainische Steppe. Sie schlossen einen Vertrag mit dem byzantinischen Kaiser Justinian I., der ihnen einen Tribut zusicherte im Gegenzug dafür, dass sie Byzanz nicht angreifen und für das Reich kämpfen. Das taten sie dann auch erfolgreich gegen die Franken und Bulgaren; gemeinsam mit den Langobarden zerstörten sie das Reich der Gepiden und ließen sich dann in Pannonien nieder, nachdem die dort lebenden Langobarden weiter nach Italien zogen. Die Slawen in ihrem Gebiet machten sie sich tributpflichtig. Interessant ist vor allem, dass die Awaren nicht als ein spezielles Volk wahrgenommen werden. Als Aware bezeichnete man die herrschende Oberklasse und selbst Bulgaren und Slawen, die es zu Reichtum und Macht gebracht hatten, nannten sich fortan Awaren.

Dabei waren die Awaren nicht sehr nett zu ihren Untertanen, was sie später auch büßen mussten. Nestor schreibt über sie in seiner Chronik:

„Die Awaren führten Krieg mit den Slawen und erfochten über die Duleben einen Sieg und versklavten diese und taten ihren Weibern Gewalt an. Wenn ein Aware ausfahren wollte, so wurde weder Pferd noch Ochs eingespannt, sondern er befahl, drei, vier oder fünf Weiber vor den Wagen zu spannen, die ihn, den Awaren fahren mussten. So wurden die Duleben von ihnen gequält. Die Awaren aber waren von großer Statur und aufgeblasenem Gemüt, und Gott vertilgte sie und sie starben alle, und es blieb nicht ein einziger Aware übrig. Daher stammt das Sprichwort im Land der Rus, welches bis auf den heutigen Tag gebräuchlich ist: sie sind untergegangen wie die Awaren“.

Die Zeit der Awaren war geprägt von Krieg, im 9. Jahrhundert waren sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Innere Konflikte, der jahrzehntelange Kampf gegen die Franken und Bulgaren forderte ihren Tribut. Sie wurden Christen, kamen unter fränkische Herrschaft und gingen in germanischen und slawischen Stämmen auf. Ihr Land in der Pannonischen Tiefebene übernahmen dann die Magyaren.

5  Exkurs II – Der Handel in früheren Zeiten

Ungefährer Verlauf der Seidenstraße im ersten Jahrtausend

Archäologen fanden Reste chinesischer Seide in einem keltischen Fürstengrab aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Auch im alten Rom kannte man die feinen Stoffen, sowie Porzellan, Jade und vor allem ostasiatische Gewürze, Aromen und Heilmittel. Im Reich der Mitte hingegen waren Gold, Edelsteine, Pelze und vor allem Glaswaren aus dem römischen Imperium ein begehrtes Handelsobjekt. Kannten sich also schon damals Chinesen und Europäer? Man geht davon aus, dass direkte Kontakte in der frühen Antike eher unwahrscheinlich waren. Ja, man wusste voneinander, die Waren gelangten indessen über viele Zwischenstationen an ihr Ziel und waren entsprechend teuer und purer Luxus. Das über die Seidenstraße offizielle Gesandte reisten ist auch nicht überliefert, obwohl es entsprechende Bestrebungen von beiden Seiten gab. Denn so eine Reise führte über mehrere tausend Kilometer, durch verschiedene Reiche, die ebenfalls am Handel verdienten und somit kein Interesse daran hatten, dass direkte Beziehungen aufgenommen wurden. Sie führte über Gebirge, durch endlose Steppen und Wüsten, war voller Gefahren und dauerte mehrere Jahre.

Erst nach der Zeitenwende und der Expansion des römischen Reiches in den Nahen Osten entwickelte sich der Seehandel bis in den Indischen Ozean und erst dann kam es zu direkten Beziehungen.

Eine besondere und nicht zu unterschätzende Rolle spielten dabei die Radhaniten, eine Gilde jüdischer Kaufleute, die den Handel zwischen den christlichen und islamischen Ländern, als auch über die Seidenstraße aufrecht erhielten. Laut der amerikanischen Historikerin Jane S. Gerber hatten sie ihren Hauptsitz vermutlich in Südfrankreich oder Spanien und ein weites Netzwerk von Filialen, unter anderem auch bei den Chasaren. Ihre umfangreichen Sprachkenntnisse kamen ihnen hier zu Gute. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches übernahmen die Radhaniten den länderübergreifenden Handel und hauptsächlich durch ihre Bemühungen funktionierten weiterhin die von den Römern mühsam eingerichteten Handelswege. Ihr beliebtestes Exportgut in die islamischen Länder waren Schwerter und… Sklaven. Für diese »Ware« war Verdun ein Zentrum und Zwischenlager. Vor dem Weiterverkauf ins muslimische Spanien wurden hier auch die Kastrationen vieler Sklaven vorgenommen. Eunuchen, weibliche Sklaven und Knaben waren ein Exportschlager. Es waren zumeist slawische Gefangene, die als Sklaven verkauft wurden. Da sie Heiden waren, war das für die damalige Zeit nichts anrüchiges und christliche Kaufleute handelten ebenfalls mit ihnen. Der florierende Handel, mit was auch immer, sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung in europäischen Städten. Es waren dann aber drei Ereignisse, die dem Handel und Aufschwung der Radhaniten vorerst ein Ende setzten und vielleicht dazu beigetragen haben, dass Europa ins finstere Mittelalter fiel.

Im Jahre 908 endete in China die Tang-Dynastie. Unter Historikern gilt diese als ein Höhepunkt in der Geschichte Chinas, erlebte das Land doch eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit, nicht zuletzt durch den Warenaustausch über die Seidenstraße, für deren Schutz sie sorgten. Nach mehreren, nationalistisch geprägten Aufständen, die mit der Ermordung aller Tang-Prinzen endete, wurden die Handelswege immer unsicherer.

Sechzig Jahre später brach mit dem Einfall der Rus das chasarische Reich zusammen. Dies führte zu einem weit verbreiteten Chaos im Handel zwischen Europa und Asien. Auch hier wurden die Handelswege immer unsicherer und brachen auf Jahrhunderte weitestgehend zusammen. Es gibt Beweise, dass viele der Gewürze, die schon im frühen Mittelalter verwendet wurden, vollständig verschwanden.

Mitte des 11. Jahrhunderts kam es in Europa zu ersten Judenpogromen. Juden und Muslime galten als Feinde des Christentums. Es begann das Zeitalter der Kreuzzüge. Um diese zu finanzieren, waren die wohlhabenden Juden, forciert und unter dem Deckmantel der Religion, eine leichte Beute und Geldquelle. Italienische Kaufleute, allen voran die Genuesen und Venezianer verdrängten die Radhaniten aus dem Fernhandel.

Gute Handelsbeziehungen waren also schon damals für beide Seiten von Vorteil, wenn da die dritte Seite nicht wäre: der Nachbar. Sei es Neid, sei es Gier, oder einfach Neugier und Entdeckergeist; so etwas spricht sich herum und bringt Menschen dazu, sich in neue Gefilde zu begeben. So wie die Wikinger, die ganz Europa lange Zeit in Atem hielten. Ihr schwedischer Zweig, die Waräger oder Rus, wie sie auch genannt werden, sind für uns von besonderer Bedeutung und die Chroniken haben uns da einiges zu erzählen.

6  Die Wikinger kommen!