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Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder Lookismus – gesellschaftliche Ungleichheit und Diskriminierung kommen nicht von ungefähr, sondern sind anerzogen. Wie groß dabei der Einfluss von Kinderbüchern ist, wurde lange Zeit übersehen, abgestritten oder unterschätzt. Kinderbücher haben einen hohen ideellen Wert und die von ihnen propagierten Menschen- und Weltbilder beeinflussen junge Menschen oft über die Kindheit hinaus. Doch konventionelle und klassische Kinderbücher repräsentieren nicht alle Kinder gleichermaßen positiv, sondern nur eine ganz bestimmte Gruppe: weiße, schlanke, nicht-behinderte Mittelschicht-Kinder mit deutsch klingenden Namen und christlich geprägter Biografie. Dieses Buch möchte zeigen, wie reale Diskriminierung und Diskriminierung im Kinderbuch zusammenhängen, wie Kinder durch ihre Bücher für die Akzeptanz diskriminierender Muster sozialisiert werden und weshalb es sich lohnt, auch geliebte Klassiker kritisch zu hinterfragen.
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dr. Lisa Pychlau-Ezli ist freiberufliche Literaturwissenschaftlerin. Sie schreibt und rezensiert zu den Themen Rassismus- und Diskriminierungskritik und berät Bildungseinrichtungen wie Universitäten, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Stiftungen. 2022 erschien von ihr der Titel Wer darf in die Villa Kunterbunt? Über den Umgang mit Rassismus im Kinderbuch (zs. mit Özhan Ezli).
Lisa Pychlau-Ezli
Und raus bist du!
Wie Kinderbücher zu Diskriminierung erziehen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Lisa Pychlau-Ezli:
Und raus bist du!
1. Auflage, Oktober 2024
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024
ISBN 978-3-95405-209-7
© UNRAST Verlag, Münster 2024
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Und raus bist du. Wie Kinderbücher zu Diskriminierung erziehen.
Wer schreibt? Und von wo aus?
Vorbemerkung
Lesen mit Kindern
Mitgedacht werden
Theorieteil: Wie funktioniert Diskriminierung?
Diskriminierung, Privilegierung und Intersektionalität
Stories matter: Die Gefahr einer einzigen Geschichte
Diskriminierung in der Sprache
Rassismus in der Sprache
Sexismus in der Sprache
Antisemitismus in der Sprache
Lookismus in der Sprache
Selbstbezeichnung versus Fremdbezeichnung
In den Blick genommen
Praxisteil: Diskriminierung in Realität und in Fiktionalität
Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Lookismus im Zusammenspiel und Widerstreit
Diskriminierungskritik ist schmerzhaft
Rassismus
Nicht-weiß sein in Deutschland: Zahlen und Fakten zu Rassismus
Ideologie und Menschenbilder von Rassismus
Die Dominanz der weißen Gesellschaft: Erscheinungsformen von Rassismus
Weder Schwarz noch weiß: rassistische Farbignoranz
Kritisches Weißsein
Rassismus im Kinderbuch
Aktuelle Debatten: Jim Knopf und Winnetou
Antisemitismus
Zahlen und Fakten zu Antisemitismus
Die Juden sind an allem schuld: Ideologie und Menschenbild des Antisemitismus
Christusmörder, Strippenzieher, Geldjuden: Erscheinungsformen von Antisemitismus
Gojprivilegien: Der Nutzen von Antisemitismus
Antisemitismus in Kindermedien
Jüdinnen:Juden als heimatloses und raffgieriges Volk: Harry Potter und Asterix
Asterix
Jüdinnen:Juden als Schweine: Wall Street und Disney
Sexismus
Zahlen und Fakten: die sexistischen Ungleichheitsverhältnisse des Patriarchats
Sex und Gender, Zweigeschlechtlichkeit, Cis- und Heteronormativität
Geschlechternormen des Patriarchats
Sexismus im Kinderbuch
Geschlechtsspezifische Zuordnungen: Die drei ???, die Kickerbande
Gewaltvolle Männlichkeit und hilflose, kümmernde Weiblichkeit: TKKG
Lookismus
Körperunzufriedenheit: Zahlen und Fakten zu Lookismus
Schönheitsideale und Halo-Effekt
Mehrgewicht und Diätkultur
Fat Acceptance, Body Positivity, Body Neutrality und Body Diversity
Lookismus im Kinderbuch
TKKG
Mehrgewicht als Witz
Mehrgewicht und Bösartigkeit
Ausblick
Quellenverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Anmerkungen
Die Perspektive schreibt immer mit. Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Satz gelesen oder gehört habe, aber er ist so wahr. Gerade wer mit Menschen lebt oder arbeitet weiß, dass sich eine Geschichte, ein Ereignis, ein Sachverhalt aus einer anderen Perspektive vollkommen anders darstellen kann. Gefährlich wird es immer dann, wenn eine Person von sich selbst behauptet, neutral oder objektiv zu sein und die Wahrheit zu verkünden. In der Regel entpuppen sich diese ›objektiven‹ Perspektiven in unserer Kultur als die von privilegierten weißen cis Männern.
Im vorliegenden Buch geht es darum, wie genau solche ›objektiven‹ und ›normalen‹ Perspektiven, die in Wirklichkeit subjektiv und normativ sind, seit Jahrhunderten mittels unserer Kinderbücher von Generation zu Generation weitergegeben und als allgemeingültige Wahrheit deklariert werden. Es geht darum, wie Herrschaft durch die Behauptung von Neutralität verschleiert wird. Ich möchte mich in diese Erzähltradition nicht einreihen. Dieses Buch ist aus meiner eigenen Perspektive als weiße, normgewichtige, gojische (nicht-jüdische), akademisch gebildete und able-bodied cis Frau geschrieben, die ich aus Gründen der Transparenz offenlege. In diesem Buch schreibe ich über Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Lookismus. Einige dieser Diskriminierungsformen erfahre ich nicht selbst. Ich weiß nicht, wie es ist, im Alltag Rassismus und Antisemitismus zu erleben. Ich genieße das Privileg, mich mit diesen Diskriminierungen nicht zwangsläufig auseinandersetzen zu müssen.
Doch heutzutage ist es wichtig, sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen und bewusst antirassistisch, antisexistisch, gegen Antisemitismus, Lookismus und jede andere Diskriminierungsform zu sein. Denn wenn ich mit meinen Kindern Bücher lese, die auf die eine oder andere Art diskriminierend sind (und das sind sie fast alle), wird die Auseinandersetzung mit diesen Diskriminierungsformen extrem relevant für meine eigene Lebenswirklichkeit, und die meiner Kinder. Ich bin unmittelbar verantwortlich dafür, wie ich mit diskriminierenden Darstellungen und Beschreibungen in Kinderbüchern umgehe. Was mache ich, wenn in Kinderbüchern das N-Wort steht und Schwarze Menschen abwertend dargestellt werden? Will ich meinen Kindern beibringen, über mehrgewichtige Figuren zu lachen? Will ich ihnen anhand einer schier unendlichen Reihe barbieähnlicher Prinzessinnen eine einseitige Vorstellung von weiblicher Attraktivität vermitteln? Will ich ihnen verharmlosende Vorstellungen über die Schoa vermitteln oder die verschwörungsideologische Vorstellung, dass Jüdinnen:Juden im Hintergrund die Strippen ziehen? Wie gehe ich damit um, dass Kinderbücher fast immer Mädchen und Jungs in binären Kontexten verorten? Will ich meinen Kindern die Botschaft vermitteln, dass es immer die Mütter sind, die kochen, putzen, einkaufen und sich kümmern, während die Väter lohnarbeiten gehen? Diskriminierungen sind komplex; wie erkenne ich überhaupt, ob Bücher diskriminierende Botschaften vermitteln? All diese Fragen machen die Beschäftigung mit Diskriminierung aus literaturwissenschaftlicher und pädagogischer Perspektive unerlässlich. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Diskriminierungsformen und den daran anschließenden Analysen von Kinderbüchern greife ich auf die Forschung derjenigen zurück, die selbst von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und/oder Lookismus betroffen sind. Von Diskriminierung betroffene Menschen haben viel Forschungsarbeit geleistet, die uns allen zugänglich ist. Auf ihre Forschungsergebnisse stütze ich mich und multipliziere dadurch ihre Perspektiven. Möglichst oft lasse ich ihre Stimmen zu Wort kommen. Deshalb stehen in diesem Buch an sehr vielen Stellen Zitate.
Seit über zehn Jahren streiten sich privilegierte Menschen aus der deutschen Gesellschaft medienwirksam darüber, ob es legitim sei, Kinderbücher diskriminierungskritisch zu überarbeiten. Es sind mehrheitlich ihre Meinungen und Ansichten, die verbreitet und gehört werden. Das vorliegende Buch soll den Fokus dieser Diskussion von den streitenden Erwachsenen weglenken, hin zu den Kindern, die diese Bücher letzten Endes rezipieren. Dieses Buch will dabei, wie Margarete Stokowski einmal formuliert hat, als Anfang, aber nicht als Ende einer Diskussion dienen.[1] Auch dieses Buch hat keine fertigen Lösungen parat, sondern will stattdessen darauf aufmerksam machen, wie problematisch und schädlich die Konfrontation von Kindern mit diskriminierenden Mustern und Narrativen in Kindermedien (insbesondere in Kinderbüchern) ist, vor allem dann, wenn sich diese ab dem frühesten Kindesalter ständig wiederholen, mit der Zeit internalisiert werden und somit massiv auf das Welt- und Menschenbild von Kindern einwirken. Auf diese Weise erziehen Kinderbücher Kinder zur Diskriminierung. Dieses Buch will niemandem vorschreiben, was er:sie mit seinen:ihren Kindern lesen ›darf‹. Es möchte stattdessen darauf hinweisen, dass öffentliche Diskurse über Diskriminierung in Deutschland standardmäßig von jenen Menschen dominiert werden, die von den jeweiligen Diskriminierungsformen überhaupt nicht betroffen sind. Diese rechtfertigen dann immer wieder, weshalb die jeweiligen Diskriminierungen gar nicht ›so schlimm‹ seien. Privilegierte weiße und oft cis männliche Menschen maßen sich die Deutungshoheit darüber an, ob Darstellungen diskriminierend sind oder nicht und kommen dann zu dem Urteil, dass die Einordnung von Die kleine Hexe, Pippi Langstrumpf oder Winnetou als Kulturgüter höher zu werten sei als die realen Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die weniger privilegiert sind als sie selbst.[2]
Dieses Buch möchte dem etwas entgegensetzen. Ich stütze mich dabei in erster Linie auf die Forschungsergebnisse und Publikationen von Menschen, die selbst von den unterschiedlichen Diskriminierungsformen betroffen sind. Zudem beziehe ich die Erkenntnisse und Daten der aktuellen (statistischen) Forschung ein, wie zum Beispiel den Afrozensus 2020, den Lagebricht zu Rassismus in Deutschland 2023 der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, die Leipziger Autoritarismus Studie von 2022, die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Informationen der Antonio Amadeu Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung.
Statt also irgendetwas zu ›verbieten‹, will dieses Buch dazu anregen, (Kinder-)Literatur und anderen (Kinder-)Medien ganz grundsätzlich mit viel Hintergrundwissen und einer gesunden Portion Skepsis gegenüberzutreten und sie zu hinterfragen, statt sie unreflektiert zu konsumieren und somit zu konservieren und zu ihrer Ikonisierung beizutragen.
Warum lesen wir mit unseren Kindern? Was wollen wir dadurch erreichen?
Bücher haben im Gegensatz zum Fernsehen einen extrem hohen (pädagogischen) Stellenwert in Deutschland. Während das Fernsehen ständig abgewertet und die Zeit vor dem Fernseher (oder einem digitalen Äquivalent) kontrolliert, beschränkt und sogar von der WHO vorgeschrieben wird, ist das Lesen durchwegs positiv konnotiert. Kinder werden von klein auf fortwährend zum Lesen angeregt. Der Inhalt der Kinderbücher erscheint dabei aber oft zweitrangig. Es wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Kinderbücher nur ›gut‹ sein können.
Zunächst geht es dabei natürlich um die Lesekompetenz der Kinder. Lesen ist eine Grundvorrausetzung für Partizipation in unserer Gesellschaft. Kinder müssen lesen lernen. Damit das gut klappt, sind Texte für Kinder vorzugsweise interessant, informativ oder sogar spannend, fesselnd und aufregend. Sie dienen somit also auch der Unterhaltung.
Doch was steht eigentlich genau drin in unseren Kinderbüchern? Neben dem expliziten Inhalt, also einer spannenden Geschichte, lehrreichen Informationen oder schönen Bildern, besitzen Kinderbücher auch einen impliziten Inhalt, einen Subtext, der jedoch mindestens genauso wichtig für die Rezipierenden ist wie der vordergründige Inhalt des Textes. Der Subtext gibt Auskunft über die Gesellschaft, der der Text entstammt; er beinhaltet ganz automatisch die Werte und Normen dieser Gesellschaft. Erwachsenen Rezipient:innen erscheint der Subtext so ›normal‹, dass sie ihn kaum registrieren. Kinder jedoch erlernen und verinnerlichen diese gesellschaftlichen Normen und Werte vor allem auch mittels ihrer Kinderbücher: Sie lernen, wer ›normal‹ ist und dazu gehört und wer nicht, wer überhaupt vorkommt und wer nicht, was man machen darf und was nicht, was erwünscht ist und was nicht, wer ernst genommen wird und über wen man sich lustig machen darf, wer handlungsmächtig ist; kurz: Kinder lernen mittels ihrer Bücher, wie unsere Gesellschaft funktioniert, wer sie repräsentiert und wer partizipieren darf.
Doch finden sich alle Kinder in ihren Büchern wieder? Verkünden unsere Kinderbücher allen Kindern dieselbe Botschaft? Wie ist das für Mädchen, wenn vor allem die Jungs Abenteuer erleben, stark, klug und mutig sind und Fußball spielen? Wie fühlen sich Jungs, die sich mit diesem Rollenbild nicht identifizieren können? Gibt es eigentlich auch Figuren, in denen sich nicht-binäre und trans Kinder wiedererkennen können? Was macht das mit Schwarzen Kindern und Kindern of Color, wenn sie die Repräsentation ihres Selbstbildes in ihren Kinderbüchern überhaupt nicht oder gar negativ verkörpert sehen? Gibt es überhaupt Kinderbücher für Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung und können Kinder ohne Behinderung behinderten Kindern in Büchern begegnen und sie als Held:innen erleben? Was denken sich wohl Kinder aus einkommensschwachen Familien, wenn sie darüber lesen, wie Kinder in Büchern Wohlstand als Norm erleben? Fühlen sich muslimische, jüdische oder atheistische Kinder ausgegrenzt, wenn in Kinderbüchern regelmäßig christliche Feste wie Ostern und Weihnachten gehypt werden? Wo werden jüdische Kinder positiv repräsentiert? Wie fühlen sich Jungs, wenn männliche Figuren immer sportlich sind und wie Mädchen, wenn sie in Büchern ständig unerreichbar hübschen Prinzessinnen oder Topmodels begegnen? Beschämt es mehrgewichtige Kinder, wenn in Büchern Witze auf ihre Kosten gerissen werden? Und wie es für die Kinder alleinerziehender oder gleichgeschlechtlicher Elternteile, wenn sie in Büchern, die Alltagssituationen darstellen, standardmäßig ›Mutter-Vater-Kind-Familien‹ abgebildet sehen?
Wie fühlen sich alle diese Kinder, wenn ihre Lebenswirklichkeit gar nicht oder falsch repräsentiert wird?
Diese Diskriminierungserfahrung schildert beispielsweise der Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit und Blogger Raul Krauthausen, der als Schulkind mit seiner Klasse den Film Vorstadtkrokodile (basierend auf dem gleichnamigen Buch von Max von der Grün) gesehen hat, und sich mit dem Jungen im Rollstuhl nicht identifizieren konnte:
»Ich dachte, vielleicht bin ich auch so traurig wie der Junge im Film und will es nur nicht wahrhaben. Ich habe mich umgeschaut und mich gefragt, ob meine Freunde auch hinter meinem Rücken über mich lästern. Es ging sogar soweit, dass ich dachte, dass meine Eltern meine Freunde bezahlen, damit sie mit mir spielen. Mir war vorher nie bewusst, dass ich ›behindert‹ bin. Irgendwann habe ich begriffen, dass ich nie der Außenseiter war, der mir im Film suggeriert wurde. Und dass ich keine Heldentaten vollbringen muss, damit ich gemocht werde. Aber das hat Jahre gedauert«.[3]
Erst die Darstellung eines Kindes im Rollstuhl durch den Film hat Raul Krauthausen also bewusstgemacht, dass er als behindert und somit als anders und nicht normal angesehen wird. Diese Erfahrung hat bei ihm zu einer tiefen und langanhaltenden Verunsicherung geführt.
Der Schwarze amerikanische Schriftsteller James Baldwin hingegen drückt das Gefühl, nicht mitgedacht und in die Rolle des ›anderen‹ gedrängt zu werden, folgendermaßen aus:
»Es ist ein Schock wenn du im Alter von sechs oder sieben Jahren, während du im Kampf gegen die I[*] mit Gary Cooper sympathisierst, feststellen musst, dass du selbst der I[*] bist! Es ist ein Schock, festzustellen, dass das Land, in dem du geboren wurdest und dem du dein Leben und deine Identität verdankst, in seinem System keinen Platz für dich vorgesehen hat«.[4]
James Baldwin hat durch die Darstellungen in Filmen somit aktive Ausgrenzung erlebt, indem seine eigene Lebensrealität negativ als die der bösen Gegenspieler:innen repräsentiert wurde.
Ein tiefes Unbehagen schildert auch die Antirassismus-Trainerin und Autorin Tupoka Ogette, wenn sie an ihre Sozialisation mit den in Deutschland als Klassikern geltenden Kinderbüchern Jim Knopf von Michael Ende und Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren zurückdenkt:
»Ich habe Jim Knopf geliebt als Kind. Der Junge, der aussah wie ich und der der Held der Geschichte war. Ich erinnere mich daran, in (gefühlt) stundenlange Tagträume versunken gewesen zu sein, in denen ich Seite an Seite mit Jim gegen die Wilde 13 kämpfte. Er war mein Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte. Dass Jim in einem Postpaket geschickt wurde, fand ich allerdings immer eine ziemlich gruselige Vorstellung. Über das blöde N-Wort am Anfang des Buches, als Frau Waas aufschreit, weil es ein N-Baby ist, habe ich immer ganz schnell hinweggelesen. Dieses Wort, welches mich im wahren Leben oft verfolgte und mich immer dann kalt erwischte, wenn ich am wenigsten damit rechnete, sollte mir nicht auch noch in meine Tagträume folgen. Daher habe ich es übermalt. An der Stelle, wo das Wort einst stand, ist seitdem ein großer roter Fleck. […] Warum kann Pippis Vater einfach in ein Land in der Südsee fahren und dort König werden, ohne dass das die Menschen dort stört? Warum denken die Schwarzen Kinder in Taka-Tuka-Land, dass Pippis weiße Haut ›viel feiner sei als schwarze‹ und waren deshalb voller Ehrfurcht? Irgendwann wollte ich die Bücher nicht mehr lesen. Sie erinnerten mich zu sehr an Situationen, die mir außerhalb meiner Traumwelt oft genug selbst passierten. Sie machten mir Magenschmerzen«.[5]
Tupoka Ogette ist in ihren Kinderbüchern also genau demselben Rassismus begegnet, dem sie auch in der realen Welt ausgesetzt war. Oder andersherum: Tupoka Ogette war als Kind noch nicht einmal zuhause beim Lesen vor Rassismus geschützt.
Die amerikanische Autorin und Illustratorin Phoebe Wahl, die sich selbst als »fette Person«[6] bezeichnet, bringt das Problem sehr genau auf den Punkt:
»Als pummeliges Kind sehnte ich mich in den Büchern, die ich konsumierte, nach der Darstellung von Körpern wie meinem eigenen. […] Mit acht Jahren schrieb ich in mein Tagebuch, dass mein Gewicht mich davon abhalte, Liebe zu verdienen. Wäre das anders, wenn ich genauso viele dicke Prinzessinnen erlebt hätte, die in Märchen umworben werden wie dünne? Wie wären meine Annahmen, dass ich fauler und weniger sportlich sei, in Frage gestellt worden, wenn ich von mehr dicken Abenteurer:innen und Superheld:innen gelesen hätte? Unsere Kultur vermittelt Kindern eine sehr klare Botschaft: dass ihr Wert an Bedingungen geknüpft ist. […] Und Kinderbücher tragen leider ihren Teil zu dieser Botschaft bei, sowohl durch offene Stereotypisierung, versteckte codierte Sprache oder visuelle Darstellungen als auch durch völlige Unsichtbarkeit.«[7]
Phoebe Wahl zweifelte als Kind daran, dass sie Liebe verdient; und zwar allein aufgrund ihrer Körperform, die in ihren Medien nicht oder negativ repräsentiert wurde.
Kindermedien können Kinder, die von Diskriminierung betroffen sind, also ausgrenzen, verunsichern, sie an ihrem Selbstwert, ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem Recht auf Liebe zweifeln lassen, sie retraumatisieren und sie triggern beziehungsweise erschrecken (wenn James Baldwin von einem Schock spricht und Tupoka Ogette sich kalt erwischt fühlt). Oder sie können dazu beitragen, dass Menschen auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit und Repräsentation alleine gelassen werden, indem sie manche Identitäten einfach überhaupt nicht repräsentieren. So vermutet der trans Mann Linus Giese, dass der Grund für sein spätes Coming-out auch damit zusammenhing, dass er als Kind keine Vorbilder für seine Identität finden konnte:
»Es fiel mir unglaublich schwer, herauszufinden, wer ich eigentlich bin, weil ich keine Worte dafür hatte, was in mir vorging. Aber auch, weil es keine Vorbilder für mich gab. In Filmen, Serien oder Büchern […] sah ich keine Menschen, die so waren wie ich.«[8]
Wenn man genau hinschaut, dann repräsentiert die konventionelle deutsche Kinderliteratur nur einen sehr kleinen Teil jener Kinder, die diese Texte letztendlich rezipieren. Kinder, die nicht weiß sind, nicht cis sind, nicht normgewichtig sind oder nicht den gängigen Schönheitsnormen entsprechen, körperlich oder geistig beeinträchtigt sind, nicht christlich sind, nicht dem Mittelstand angehören, nicht sowohl einen männlichen als auch einen weiblichen Elternteil haben, sogar oft Kinder, die nicht männlich sind, finden sich in vielen literarischen Genres für Kinder nicht wieder oder sehen die Verkörperung ihres Selbstbildes stattdessen in diskriminierende Vorstellungen und Bilder gedrängt, mit denen sie sich nicht identifizieren können. Wiederholen sich diese Normen immer wieder, dann kann daraus für viele Kinder das Gefühl resultieren, nicht konform zu sein; nicht hübsch genug, nicht schlank genug, nicht reich genug, nicht weiß genug, also nicht richtig ›normal‹. Darüber hinaus besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Kinder, immer mit denselben Büchern konfrontiert, irgendwann die Perspektive dieser Texte übernehmen und ihrerseits Kinder als nicht normkonform betrachten, die Schwarz sind, die mehrgewichtig sind, die arm sind, die sich nicht mit dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht identifizieren können oder mit den gesellschaftlichen Erwartungen an ihr Geschlecht. Und es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Erwachsenen werden, die das auch nicht tun.
Kinderbücher richten sich somit in der Regel nicht an alle Kinder, sondern bilden ausschließlich normative Perspektiven ab, die sehr viele Lebensrealitäten ausschließen bzw. marginalisieren und abwerten. Auf diese Weise können die Darstellungen und Texte in Büchern Kindern das Gefühl vermitteln, nicht konform und erwünscht zu sein. Die Folgen hiervon können (Re-)Traumatisierung sein oder ein Gefühl von Ausschluss, Verunsicherung und Selbstzweifel, eine Verringerung der Körperzufriedenheit. Kinderbücher besitzen das Potenzial zu verletzen und zu diskriminieren, indem sie den Wert und die Daseinsberechtigung von Kindern infrage stellen, die die gesellschaftlich-kulturellen Normen nicht erfüllen.
James Baldwin, Tupoka Ogette, Raul Krauthausen, Linus Giese, Phoebe Wahl und viele weitere Menschen, die BIPoC[9] sind, die behindert, trans oder mehrgewichtig sind, haben also Diskriminierungserfahrungen durch ihre Kinderbücher erleben müssen und tun dies bis heute. Menschen beziehungsweise Kindern, die von Diskriminierung nicht betroffen sind, ist hingegen vermutlich nichts Besonderes an diesen Büchern aufgefallen. Bei diesen Kindern besteht eher das Risiko, dass sie weiße, cis männliche Perspektiven übernehmen und sich die I* als Gegner vorstellen, das N-Wort als Bezeichnung für Schwarze Menschen ok finden, über mehrgewichtige Figuren lachen, Frauen hauptsächlich in erziehenden und kümmernden Kontexten verorten oder ihnen die Vorstellung, dass Menschen im Rollstuhl traurig und ohne Freund:innen sind, einleuchtet. All das können aber keine Erziehungs- und Bildungsziele sein; das sind doch nicht die Werte, die wir unseren Kindern vermitteln wollen. Kindern einerseits zu predigen, dass sie fair sein sollen, niemand beleidigen dürfen, andere ausreden lassen müssen, kurzum, sich moralisch zu verhalten, aber ihnen gleichzeitig Geschichten vorzusetzen, die explizit oder implizit eine ganz andere Botschaft vermitteln, ist ziemlich inkonsequent und verwirrend. Wenn man Kinder wirklich beim Aufwachsen zu moralisch integren, freundlichen und rücksichtsvollen Menschen begleiten will, die anderen Menschen ganz grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen, dann sollte man sich sehr genau überlegen, welche Geschichten man ihnen vorsetzt.
Um diskriminierende Texte jedoch überhaupt als solche erkennen zu können und zu verstehen, was an diesen Texten aus welchen Gründen problematisch ist, ist zunächst eine Auseinandersetzung mit der Funktion von Diskriminierung zur Aufrechterhaltung von Herrschaft vonnöten.
Was bedeutet Diskriminierung? Neben bewusster Diskriminierung und körperlichen Angriffen, die nur die Spitze des Eisbergs bilden, besteht Diskriminierung darin, in allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt zu werden, ausgegrenzt zu werden, nicht mitgedacht zu werden, nicht anerkannt zu werden, nicht ernst genommen zu werden, nicht auf Augenhöhe behandelt zu werden, unsichtbar gemacht zu werden und nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft betrachtet zu werden. Diskriminierung erfolgt immer auch auf einer strukturellen bzw. institutionellen sowie auf einer interpersonellen Ebene. Außerdem findet Diskriminierung in jedem gesellschaftlichen Bereich statt: auf der Straße und in der Öffentlichkeit ebenso wie in privaten Beziehungen, aber auch in der Medizin, in der Gesetzgebung, auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungsbereich und bei der Produktentwicklung. Diskriminierung ist für die Menschen, die davon betroffen sind, ein Teil ihres Alltags, dem sie nicht entkommen können. Mehrgewichtige Menschen beispielsweise müssen immer damit rechnen, dass sie angestarrt und verbal attackiert werden, dass ihre schulischen oder beruflichen Leistungen nicht anerkannt bzw. als weniger wichtig als ihr Gewicht eingestuft werden, dass sie medizinisch schlechter versorgt werden, dass sie in Medien abwertend repräsentiert werden. Ein Beispiel für sexistische und rassistische Diskriminierung ist die Wissenschaft, die über die unterschiedlichen Fachdisziplinen hinweg fast ausschließlich auf das Wirken weißer cis Männer referiert. Die berühmtesten Mediziner, Philosophen, Chemiker, Physiker etc. sind weiß und cis männlich. Literaten und Künstler ebenfalls. Sie sind es, die als Urheber gelten, auch wenn noch andere Menschen involviert waren (wie zum Beispiel Mileva Marić, die Frau von Albert Einstein, die an der Relativitätstheorie beteiligt war, was aber kaum bekannt ist, oder Marianne von Willemer, die Gedichte schrieb, welche Goethe in seinem Spätwerk West-östlicher Divan als seine eigenen ausgab),[10] die in Schulbüchern Erwähnung finden, die als Namensgeber für Straßen, Säle, Stiftungen über den Tod hinaus geehrt werden und an die wir uns erinnern. Dies bedeutet nicht, dass nicht-weiße Menschen oder FLINTA nicht geforscht, publiziert, gemalt, komponiert hätten. Es bedeutet, dass ihre Leistungen und Errungenschaften entweder unsichtbar gemacht oder weißen cis Männern zugeschrieben wurden. Weiße cis Männer wurden und werden somit systematisch privilegiert, während alle anderen diskriminiert werden.
Diskriminierung ist somit die Kehrseite von Privilegierung. Bei Diskriminierung geht es im Kern um Herrschaft, also um die Frage, wer an der Spitze der Gesellschaft stehen darf und Privilegien bekommt – und wer nicht. Es geht um Herrschaft und alle damit einhergehenden Implikationen: Wer gehört dazu, wer nicht? Wer hat recht und wer hat Schuld? Wer bestimmt darüber wie Geschichten erzählt werden? Wessen Perspektive gilt als ›Wahrheit‹? Wer verdient mehr Geld? Wer bekommt welche Jobs? Wer darf ohne Hürden Kinder adoptieren? Wer gilt als gesund und wird vom Gesundheitssystem bevorzugt? Wer wird steuerlich bevorzugt? Diese grundlegenden Fragen entscheiden über Privilegierung und Diskriminierung und wirken tief in die Lebensrealität von Menschen hinein. Wer die gesellschaftlichen Normen erfüllt, wird bevorzugt. Wer sie nicht erfüllt oder erfüllen kann, wird mit strukturellen Hürden und Diskriminierung konfrontiert.
Privilegien sind dabei im Prinzip die Abwesenheit von Diskriminierung. Es sind bestimmte Freiheiten und Zugangsmöglichkeiten, eigentlich Selbstverständlichkeiten, die andere (zu ›anderen‹ Gemachte) nicht genießen; wie eben die öffentliche Anerkennung und Sichtbarkeit der eigenen Leistung. »Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Vorstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären«.[11] Es verhält sich also so, dass sich Privilegien für die Menschen, die sie besitzen, ganz selbstverständlich anfühlen und eben nicht als Privilegien wahrgenommen werden. Weiße Menschen in Deutschland genießen das Privileg, in allen Bereichen die Norm zu sein, nicht permanent angestarrt und über ihre Herkunft befragt zu werden oder ständig von der Polizei kontrolliert zu werden. Normgewichtige Menschen genießen das Privileg, nicht regelmäßig als Person auf ihr Gewicht reduziert zu werden, Geschäfte frustriert wieder zu verlassen, weil nichts Schönes in ihrer Größe zu finden ist und einfach jedes Restaurant besuchen und jedes Verkehrsmittel benutzen zu können, ohne sich vorher Gedanken über die Breite der Sitze machen zu müssen. Cis Männer genießen das Privileg, immer und in allen Bereichen als unsichtbare und unhinterfragte Norm zu gelten, durchschnittlich besser bezahlt zu werden und auch im Alter besser versorgt zu sein, medizinisch ebenfalls besser versorgt zu sein, im Vergleich zu FLINTA einem sehr viel geringerem Risiko der (sexuellen) Gewalt ausgesetzt zu sein oder in beruflichen Situationen ständig nach dem Aussehen statt nach der Kompetenz beurteilt zu werden, Väter genießen das Privileg, in Ruhe arbeiten oder abends ausgehen zu können, ohne sich die Frage gefallen lassen zu müssen, wer nun eigentlich jetzt gerade auf die Kinder aufpasst, heterosexuelle cis Menschen genießen das Privileg, ihre Geschlechtsidentität oder ihr Begehren nicht erklären, verstecken oder eines Tages mittels Comingout öffentlich machen zu müssen, reiche Menschen genießen das Privileg, sich nicht jede Kaufentscheidung genau überlegen zu müssen, Urlaub machen zu können und sich bei Kinderbetreuung und Haushalt Unterstützung leisten zu können, Menschen ohne Gehbehinderung genießen das Privileg, sich nicht ganz genau den Weg von A nach B überlegen zu müssen, christliche Menschen genießen das Privileg, an ihren religiösen Feiertagen (Weihnachten, Ostern) ganz selbstverständlich frei zu haben, ihre religiöse und kulturelle Identität unbeschwert ausleben zu können und nicht aus Angst vor Diskriminierung und Gewalt verbergen zu müssen.
Mit dem Wort Privileg, so die Politologin und Autorin Emilia Roig,[12] zerbröselt die Idee der Meritokratie[13] (also der Vorstellung, dass Erfolge im eigenen Leben auf der persönlichen Leistung basieren). Dieses Zerbröseln ist die Voraussetzung dafür, strukturelle Diskriminierung erkennen zu können. Nur indem sichtbar wird, dass Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen bevorzugt werden, wenn sie weiß, gojisch, männlich, cis und normschön sind, und benachteiligt werden, wenn sie das alles nicht sind, können Privilegierung und Diskriminierung als System erkennbar werden. Natürlich gibt es Menschen, die sich ihre Erfolge auf die eigene Fahne schreiben können. Aber es gibt auch Menschen, die genauso fleißig, talentiert und fähig sind und es nicht so weit bringen, weil sie systematisch benachteiligt werden. Und dann es gibt noch Menschen, die allein aufgrund ihrer angeborenen Privilegien bevorzugt werden und es deshalb gesellschaftlich nach ganz oben schaffen. Die ungleiche Verteilung von Reichtum und Ressourcen auf der Welt ist nicht auf Kompetenzen, sondern auf Privilegierung und Diskriminierung zurückzuführen. Privilegien sind wie »unsichtbare Aufzüge«,[14] die sichtbar gemacht werden müssen, um Ungerechtigkeit entgegenzuwirken.
Diskriminierung dient also dem Zweck, Menschen von Privilegien, Herrschaft und Zugängen fernzuhalten, damit diese dann einer kleinen bevorzugten Gruppe zukommen können, die ihre Privilegien aber für so selbstverständlich hält, dass sie sie oftmals gar nicht wahrnimmt. Erwähnt werden muss in diesem Kontext, dass viele Menschen in Deutschland in bestimmten Bereichen privilegiert und gleichzeitig in anderen diskriminiert werden. So sind beispielsweise gutverdienende, ablebodied Schwarze hetero cis Männer rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, aber nicht sexistischer, ableistischer und klassistischer. Einkommensschwache weiße FLINTA wiederum sind sexistischer und klassistischer Diskriminierung ausgesetzt, aber nicht rassistischer. Am privilegiertesten sind demnach weiße normschöne gutverdienende hetero cis Männer. Sie haben somit auch die meiste Macht und ihre Perspektiven sind omnipräsent und gelten als Norm; das öffentliche Leben ist exklusiv auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten.
Auf noch einmal andere Weise werden Menschen diskriminiert, die von mehreren Diskriminierungsformen (wie Rassismus, Sexismus, Ableismus, Ageismus oder Lookismus) gleichzeitig betroffen sind. Wenn sich mehrere (Ungleichheits-)Merkmale wie race, class und gender in einer Person überschneiden (to intersect), dann wirken diese Diskriminierungsformen zusammen und bilden eine neue Form von Diskriminierung. In diesem Fall ist von Intersektionalität bzw. intersektionalen Identitäten die Rede. Der Begriff Intersektionalität wurde Ende der 1980er Jahre von der Schwarzen amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt, die beobachtet hatte, dass von einer Massenentlassung des Konzerns General Motors hauptsächlich Schwarze Frauen betroffen waren. Da der Konzern weder Schwarze Männer noch weiße Frauen entließ, warf ihm das Gericht weder rassistische noch sexistische Diskriminierung vor. Schwarze Frauen wurden somit in besonderem Maße benachteiligt, da sich in ihnen zwei Diskriminierungsformen (Rassismus und Sexismus) überschnitten und sie zugleich unsichtbar für die Ahndung der einzelnen Diskriminierungsformen wurden. Durch Studien nachweisbar ist Intersektionalität in Deutschland beispielsweise dann, wenn Frauen mit türkischem Namen und/oder Hijab bei der Jobsuche benachteiligt werden oder wenn Schwarze oder muslimische Männer von der Polizei per se für kriminell gehalten werden.
Wir können uns zwar nicht aussuchen, in welchen Bereichen wir diskriminiert oder privilegiert werden, aber wenn wir Privilegien haben, dann können wir zumindest verantwortungsbewusst damit umgehen: Also, »wenn man ein erfolgreicher Typ ist, der es aus irgendwelchen Gründen dahin geschafft hat, wo man gehört wird, dann ist man dafür zuständig, von da oben nicht runterzupinkeln«.[15] Um nun als Mensch im Besitz von Privilegien dieser Verantwortung nachzukommen, »nicht runterzupinkeln«, ist es allerdings notwendig, sich seiner Privilegien und seiner Perspektive auch bewusst zu sein, dementsprechend zu handeln, sich Diskriminierung aktiv entgegenzustellen und die eigenen Privilegien nicht zu missbrauchen. Denn die eigene Normalität und die eigenen Privilegien nicht zu hinterfragen, kann Konsequenzen für minderprivilegierte Menschen haben.
In Bezug auf Kinderbücher und andere Kindermedien bedeutet dies ganz konkret, eigene Privilegien zu reflektieren und jene Menschen, die nicht im Besitz dieser Privilegien sind, trotzdem mitzudenken. Gerade dann, wenn Bücher den Alltag spiegeln oder Sachwissen vermitteln sollen, zum Beispiel bei den Themen »unser Kindergarten«, »unsere Stadt« etc. oder in Schulbüchern, sollten Autor:innen bei ihren Darstellungen sensibel sein für jene kindlichen Rezipient:innen, die nicht weiß, wohlhabend, normgewichtig, cis und gesund sind und zwei heterosexuelle und cis Elternteile zuhause haben und genau darüber nachdenken, nicht nur ob, sondern auch wie sie diese Kinder repräsentieren wollen.
Denn für und über diejenigen Kinder, die als eine ›andere‹ Gruppe definiert werden (Mädchen, Schwarze Kinder, mehrgewichtige Kinder, behinderte Kinder, trans Kinder) gibt es zwar mitunter extra Bücher, die die Abweichung von der Norm jedoch eher exponieren (z.B. jene Bücher, die die Differenz besonders hervorheben, indem ein Elefant pink ist und alle anderen grau oder ein Fisch bunt und alle anderen nicht) oder Diskriminierung reproduzieren und Merkmale überbetonen (wie z.B. die Reihe »Die Drei !!!«). Es ist demnach nötig zu betonen, dass »alle« Körper toll sind, dass »alle« lesen lernen, in die Schule gehen, in den Kindergarten, da dies eben nicht die Norm ist. Selbstverständlich sind alle Körper toll und alle gehen in die Schule, aber eben nur in der Realität und nicht in den meisten unserer Kinderbücher. Ebenso muss betont werden, dass die »Drei!!!« weiblich sind und ›Mädchendinge‹ machen. Diese Bücher sind per se ambivalent zu betrachten: Sie wollen zwar eine Gruppe abseits der Norm empowern, tragen jedoch gleichzeitig dazu bei, diese Gruppe von der Norm abzugrenzen und als ›anders‹ zu definieren. Wenn Kinderbücher immer alle Kinder als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft abbilden würden, wären solche Bücher gar nicht nötig.
Kinder, die weiblich, BIPoC, trans, mehrgewichtig oder behindert sind, einerseits aus der normativen Kinderliteratur auszuschließen und andererseits zu betonen, dass sie toll sind, sendet eine verwirrende Doppelbotschaft. Zudem wird die Konzeption der Identität dieser Figuren oft auf ihr Abweichungsmerkmal reduziert und die Figuren fungieren als Token (also lediglich als Beleg für eine angeblich vorhandene Diversität): Die Schwarze Figur ist sportlich oder musikalisch oder gar exotisch, aber leicht aufbrausend, die mehrgewichtige Figur fröhlich und gemütlich, aber undiszipliniert, die cis weibliche Figur hübsch und modebewusst, aber anstrengend, die Figur im Rollstuhl nett, aber traurig und eingeschränkt. Figuren werden in solchen Fällen nicht als komplexe Charaktere dargestellt, sondern auf ihre Differenz reduziert.
Die Vermittlung von einseitigen Bildern und Vorstellungen kann aber nicht das Bildungsziel sein; denn sie richtet langfristig mehr Schaden an als sie kurzfristig zu Unterhaltungszwecken nutzt. Denn diese Darstellungen legen bereits kleinen Kindern nahe, nicht-weiße Menschen, behinderte Menschen, nicht-männliche Menschen, nicht-normschöne Menschen, Menschen, die nicht cis sind, als ›anders‹ wahrzunehmen, abwertende oder ausgrenzende Attribute auf sie zu projizieren, sie in gesellschaftlich marginalisierten Positionen (nicht als Held:innen und Hauptfiguren, sondern als Nebenfiguren oder im Dienstleistungssektor) zu verorten und sie letztendlich nicht als individuelle Personen auf Augenhöhe zu betrachten.
Daher brauchen wir Geschichten, Krimis, Sachbücher, Bilderbücher, in denen Mädchen und queere Kinder, Schwarze Kinder und Kinder of Color, Kinder mit Hidjab, Kippa, Sari und Behinderung ganz selbstverständlich abgebildet sind, ohne diese Merkmale hervorzuheben, um eben zu zeigen, dass genau diese Kinder die Norm sind.
Es geht nicht darum, Gruppen, wie Kindergartengruppen oder Schulklassen ›bunter‹ bzw. diverser zu machen als sie eigentlich sind. Es geht schlichtweg darum, die Realität abzubilden und auch diejenigen einzubeziehen, die in unserer Gesellschaft seit jeher marginalisiert werden. Kurzum, es geht darum, die Realität auch zur Normalität zu machen.[16] Heterogene Zugehörigkeiten, plurale Lebensentwürfe sowie religiöse Vielfalt prägen die deutsche Gesellschaft und sind gelebte Realität. Die Leipziger Autoritarismus Studie von 2022 weist jedoch darauf hin, dass diese Situation im Bewusstsein der in Deutschland lebenden Menschen unzureichend repräsentiert, anerkannt und befürwortet wird: »So stehen demokratische und egalitäre Forderungen von Teilhabe in Widerspruch zu ausgrenzenden, exklusiven und homogenisierenden Gemeinschaftsvorstellungen«.[17] Genau diese ausgrenzenden und homogenisierenden Vorstellungen spiegeln sich in den meisten deutschen Kinderbüchern. Rezipiert und gesellschaftlich verteidigt werden solche Kinderbücher allerdings nicht nur von Vertreter:innen des rechten Randes, sondern von der Mitte der Gesellschaft.
Seit einigen Jahren wird bei vielen der neueren Kinderbücher und Schulmedien verstärkt auf Diversität geachtet; in diesen Medien werden also zum Beispiel Kinder of Colour oder auch mal ein Kind im Rollstuhl dargestellt. Diese Kindermedien spiegeln jedoch eine Gesellschaft, in der viele Formen der Diskriminierung strukturell und institutionell verankert und internalisiert sind. Diskriminierende Ansichten sind fester Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses. Die Darstellung von BIPoC auf der Bildebene in Kindermedien wie in einigen neueren Schulbüchern, ist ein guter Anfang, aber sie reicht bei Weitem nicht aus, um struktureller Benachteiligung zu begegnen und alle Erscheinungsformen von Diskriminierung zu tilgen. Um wirklich vielfältige und diversitätssensible Kindermedien, wie Wimmelbücher oder Schulbücher produzieren zu können, ja um Problematiken überhaupt erkennen (und ihre Reproduktion vermeiden) zu können, ist ein umfassendes Hintergrundwissen vonnöten. Diskriminierende Menschen- und Weltbilder, die teilweise seit Jahrhunderten Teil unseres kulturellen Wissens sind, müssen mühsam wieder verlernt werden. Verlernen, so die Autorin Kübra Gümüşay, bedeutet, »den Missstand ganz genau zu studieren und es dann genau deshalb anders zu machen«.[18] Sinnvollen Lösungen muss somit zunächst eine umfängliche und multiperspektivische Problemanalyse vorausgehen; wir können nicht den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. Nur wenn ich genau weiß, was alles dahintersteckt, kann ich das volle Ausmaß der Diskriminierung verstehen und dann wird es mir besser gelingen, diese Diskriminierung zu erkennen und nicht selbst zu reproduzieren. Privilegierte Menschen stehen somit in der Verantwortung, sich über die verschiedenen Diskriminierungsformen zu informieren; und ganz besonders dann, wenn sie kulturelle Produkte erschaffen, die sich an Kinder richten, oder wenn sie diese Produkte mit Kindern rezipieren.
Warum Geschichten wichtig sind und welchen Einfluss sie auf Kinder haben, erklärt die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie[19] in ihrem TED Talk »The danger of a single story«.[20] Chimamanda Ngozi Adichie betont, dass sie als Kind genau jene Geschichten reproduziert hat, die sie selbst zu lesen bekam; die Geschichten aus britischen und amerikanischen Kinderbüchern. Daher hat sich Chimamanda Ngozi Adichie als Kind literarische Figuren ganz automatisch weiß und blauäugig vorgestellt. Beeinflusst durch ihre Kinderbücher sei sie nicht auf die Idee gekommen, dass literarische Figuren Schwarz wie sie selbst sein könnten; dass literarische Welten ihre eigene Welt widerspiegeln könnten. Sie sei stattdessen der festen Überzeugung gewesen, dass es in der Natur von Büchern läge, über weiße Menschen zu berichten und über Dinge, mit denen sie sich nicht identifizieren könne, wie Schnee, Äpfel und Ingwerbier. Daher mahnt Chimamanda Ngozi Adichie, dass gerade Kinder angesichts von Geschichten extrem beeinflussbar und verletzlich seien. Erst die Bücher afrikanischer Autor:innen (auch in der Diaspora), in denen sie sich wiedererkennen konnte, hätten ihr die Einsicht vermittelt, dass auch Schwarze Menschen in Büchern vorkommen und selbst Bücher schreiben können.
Dennoch liebte Chimamanda Ngozi Adichie ihre englischen und amerikanischen Kinderbücher, da sie ihre Fantasie anregten und ihr neue Welten eröffneten. Genau diese beiden Kriterien sollten Kinderbücher der Erziehungswissenschaftlerin Rudine Sims Bishop[21] zufolge erfüllen: Sie sollten Fenster und Spiegel sein. Kinderbücher sollten Kindern ihre eigene Lebensrealität spiegeln und die Möglichkeit zur Identifikation bieten und auf diese Weise das Selbstbewusstsein der Kinder stärken. Und sie sollten als Fenster Einblicke in neue und andere Lebensrealitäten bieten. Hier bietet der deutsche Kinderbuchmarkt noch sehr viel Luft nach oben. Die meisten Kinderbücher bieten Kindern, die selbst weiß und deutsch, christlich, cis, normschön und nicht-behindert sind, die Möglichkeit, ihre eigene Lebensrealität zu spiegeln und sich gut in den Held:innen wiedererkennen zu können. Bücher, die andere Lebensrealitäten darstellen und Einblicke ermöglichen, sind hingegen rar gesät. Dabei wären gerade diese Bücher wichtig, nicht nur, um allen Kindern die Möglichkeit zur Identifikation zu bieten. Sie wären auch für weiße deutsche Kinder wichtig, damit diese sich selbst auch einmal in der Rolle derjenigen erfahren, die sich nicht aus der eigenen Lebenserfahrung heraus in den Protagonist:innen spiegeln können, damit sie andere und neue Lebensrealitäten und Geschichten kennenlernen können.
Es ist hingegen gefährlich, »single stories« zu erzählen, denn Kindern einseitige Geschichten, Bilder und Vorstellungen zu vermitteln, hat langfristige Auswirkungen auf die Realität. Wenn nicht-weiße Kinder sich in ihren Büchern nicht wiederfinden, dann halten sie Literatur womöglich für eine weiße Angelegenheit. Wenn trans Kinder keine positiven Vorbilder in ihren Kinderbüchern erleben, fehlt ihnen die Möglichkeit, ihre eigene Geschlechtsidentität verstehen und bezeichnen zu können. Wenn Mädchen in ihren Büchern immer wieder mit Feen und Prinzessinnen statt mit Wissenschaftlerinnen, Bauarbeiterinnen und Rennfahrerinnen konfrontiert werden, fällt es ihnen schwerer, diese Zukunftsoptionen für sich selbst in Betracht zu ziehen. Negative Repräsentationen haben hingegen das Potenzial zu verletzen. Wenn Schwarze Kinder in Kinderbüchern das N-Wort lesen, führt das wie bei Tupoka Ogette zu »Bauchschmerzen«. Wenn weiße Kinder Afrika aufgrund ihrer Kinderbücher mit dem N-Wort, ›Exotik‹, wilder Natur, Tieren und Lehmhütten oder aufgrund ihrer Schulbücher mit Armut, Hunger und Krankheiten assoziieren, dann haben sie wahrscheinlich als Erwachsene Rassismus internalisiert und reproduzieren ihn auch, zumindest in Form von Alltagsrassismus. Wenn Mädchen bereits aus Kinderbüchern lernen, dass Heldinnen blond, schlank und normschön sind, dann streben sie womöglich ihr Leben lang danach, diesem Ideal zu entsprechen und verzweifeln, wenn ihren das nicht gelingt. Wenn Jungs in ihrer Kindheit dauerhaft mit super-sportlichen, dominanten und aggressiven Figuren wie Tim/Tarzan aus der Reihe TKKG konfrontiert werden, führt das zu gewaltvollen Vorstellungen von Männlichkeit und vielleicht auch zu einem solchen Verhalten. Wenn mehrgewichtige Kinder immer nur negative Repräsentationen in ihren Büchern erleben, dann hat das einen schädlichen Einfluss auf ihr Körperbild.
Geschichten sind wichtig und sie haben Einfluss; gute Gründe, genau hinzusehen.
»Sprache schließt aus, Sprache diskriminiert, Sprache schafft Wirklichkeit und sie ist niemals neutral. Sprache ist immer auch der Ausdruck von Normen, Macht, damit zusammenhängenden Strukturen und Gewalt.«[22]
Sprache ist historisch gewachsen und spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse, Einstellungen und Entwicklungen – und somit natürlich auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich auch diskriminierende Ansichten und Weltanschauungen in unserer Sprache manifestiert haben. Diese sind so fest verankert in unserem alltäglichen Sprachgebrauch, dass wir sie oft nutzen, ohne ihre diskriminierenden Inhalte bewusst wahrzunehmen. Doch Sprache schafft Wirklichkeit: Daher ist es gerade im Umgang mit Kindern notwendig, Begriffe zu hinterfragen und sich ihren explizit oder implizit diskriminierenden Charakter bewusst zu machen. Schaut man genau hin, so wird klar wie viele und welche Gruppen auch in der Sprache nicht mitgemeint, exkludiert oder sogar ganz offen diskriminiert werden. Ganz grundsätzlich ist es im Umgang mit Kindern (und auch allen anderen Menschen) empfehlenswert, sich sprachsensibel zu verhalten. Sprache ist ein mächtiges und einflussreiches Instrument, sie kann empowern, aber auch verletzen.
»Wie sollen wir umgehen mit einer Sprache, die unsere Realität nicht abbildet? Die keine Worte findet, um uns in unserem Sein zu erfassen? Die Ungerechtigkeit verstärkt, Gewalt und Unterdrückung in sich trägt? Wie können wir in einer Sprache sein, in der wir als Sprechende nicht vorgesehen waren, sondern lediglich als jene, über die gesprochen wird?«[23]
Die deutsche Sprache an sich, so Kübra Gümüşay, schließt Menschen aus, die sich nicht als deutsch identifizieren. Es gibt aber noch viele weitere Formen von Rassismus in der deutschen Sprache. Da wären zunächst einmal die Fremdbezeichnungen wie das N-Wort und das M-Wort. Das Wissen um den diskriminierenden Charakter dieser Begriffe ist inzwischen ziemlich weit in die Gesellschaft vorgedrungen. Noch nicht ganz so verbreitet ist das Wissen um den diskriminierenden Charakter des Z-Worts (für Zinti:zze u. Rom:nja), des I-Worts für Native Americans und First Nations oder des E-Worts für die Inuit. Darüber hinaus gibt es eine Reihe an kolonialen Begriffen wie »Wilde«, Buschm*nner, Ho*ento*en (gemeint sind u.a. die Nama), Pyg*en (hier u.a. die Mbuti, die Baka und die Cwa). Gemeinsam ist allen diesen Fremdbezeichnungen, dass sie einen rassistischen Entstehungskontext haben, in einer rassistischen Sprachtradition stehen und während des Kolonialismus und des Nationalsozialismus gebräuchlich waren und dass sie von jenen Menschen, die damit gemeint sind, mehrheitlich abgelehnt werden. Fatalerweise finden sich genau diese Begriffe oft in älteren Kinderbüchern oder Kinderliedern. Überarbeitungen dieser Texte (z.B. Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren, Die kleine Hexe von Otfried Preußler und neuerdings Jim Knopf von Michael Ende), in denen diese Begriffe ersetzt werden, sind also alleine schon deshalb sinnvoll, um Kindern kein rassistisches Vokabular beizubringen. Der Einwand, man könnte Kindern diese Wörter doch einfach erklären, greift viel zu kurz. Zum einen signalisiert das, die Begriffe wären doch irgendwie ok, denn sie stehen ja in einem Buch und werden von den vorlesenden Erwachsenen reproduziert. Außerdem haben Erwachsene auch nicht immer spontan eine gute, auch für ganz kleine Kinder super verständliche Ansprache parat und vielleicht fehlt ihnen selbst das antirassistische Wissen, um genau erläutern zu können, welche Darstellungen aus welchen Gründen diskriminierend sind. Zum anderen lesen Kinder auch eigenständig, dann ist da niemand zum Erklären. Und ganz elementar ist der Punkt, dass lesende Kinder nicht immer weiß sind. Auch BIPoC-Kinder lesen und sie sollen genau wie weiße Kinder die Möglichkeit haben, durch ihre Bücher nicht beleidigt und verletzt zu werden. Das Argument, man könnte das N-Wort doch einfach kurz erklären, statt ein heiliges Kinderbuch umzuschreiben, ist an sich bereits rassistisch, denn es schließt nicht-weiße Kinder als Rezipierende von deutschen Kinderbüchern aus. Nicht-weiße Kinder werden bei dieser Argumentation nicht berücksichtigt und genau so funktioniert Diskriminierung.
Neben Wörtern, die bereits an sich rassistisch sind, gibt es im Deutschen Wörter, die von einer ursprünglich christlich motivierten rassistischen Farbsymbolik zeugen. Seit dem Mittelalter etablierte sich zunächst in sakralen Texten und sakraler Kunst eine ausgeprägte schwarz-weiß-Dichotomie, die sich auch in der Sprache manifestiert hat. So werden gute Dinge oft als »weiß« bezeichnet (die weiße Weste, sich weiß waschen, die weiße Taube) und schlechte Dinge als »schwarz« (Schwarzarbeit, etwas schwarz reden, anschwärzen, ein schwarzer Tag, schwarz sehen, Schwarzmarkt, schwarzes Schaf). Weiß steht dabei für Unschuld, Ehrlichkeit und Reinheit; schwarz für das Böse und Gefährliche, das Schlechte, Ablehnenswerte und Schuldige. Diese Farbsymbolik ist auch in Kinderbüchern oft zu finden, zum Beispiel bei Otfried Preußler.
Ein rassistisches Spezifikum von Kinderbüchern und Comics besteht darin, rassifizierten Figuren Sprachfehler zu verleihen, wohl letzten Endes mit der Absicht, dass Kindern sich über diese Figuren lustig machen können und sich auch überlegen fühlen dürfen. BIPoC-Figuren werden dabei buchstäblich zu Witzfiguren. Beispiele hierfür sind der Schwarze Pirat bei Asterix (mit den Worten von Noah Sow: das N-Wort als Bild),[24] der kein »r« sprechen kann oder die Chines:innen bei Lucky Luke, die statt eines »r« ein »l« sprechen und dadurch lächerlich wirken oder die Schwarzen Figuren im Comic Tim im Kongo (der dermaßen rassistisch ist, dass sich der Carlsen Verlag veranlasst sah, der Produktbeschreibung die Empfehlung hinzuzufügen, Kinder den Comic nicht alleine lesen zu lassen), die ganz grundsätzlich nur einen sehr beschränkten Wortschatz haben und ständig den Begriff »Dingsda« verwenden für Worte, die ihnen nicht einfallen. Ganz ausgeprägt findet sich dieses Phänomen zudem in (älteren) Disney-Filmen. Sprachfehler bei BIPoC-Figuren sind somit eine weitere Erscheinungsform für Rassismus auf sprachlicher Ebene.
Wie Rassismus, so reproduziert die deutsche Sprache auch Sexismus auf viele unterschiedene Arten. Zu nennen sind zum einen die Vielzahl an abwertenden Begriffen für FLINTA, teilweise sehr alte Begriffe und teilweise Anglizismen, die hier allesamt nicht reproduziert werden sollen. Diese Begriffe reichen von der Bezeichnung von Frauen als Tier bis zu der Schmähung, sexuell zu verfügbar zu sein; in der Praxis oft eine Reaktion von Männern auf Frauen, die eben nicht für sie verfügbar sind. Ebenso wenig wie Eltern, Erziehende und Pädagog:innen Kindern diskriminierende Begriffe für Frauen beibringen, sollten sie Kindern diffamierende Begriffe für nicht-weiße Menschen beibringen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das generische Maskulinum, das Personengruppen per se als männlich bezeichnet. Sind in (angenommenen) Gruppen sowohl Männer als auch Frauen und nicht-binäre Menschen vertreten, so wird automatisch zur Bezeichnung der Gruppe die männliche Form verwendet: Die Lehrer, die Bäcker, die Landwirte, die Politiker. Das generische Maskulinum macht FLINTA somit unsichtbar. Die Autor:innen Amut Schnerring und Sascha Verlan zitieren in ihrem Buch Die Rosa-Hellblau-Falle als Beispiel für diese Unsichtbarmachung von FLINTA aus dem Leitfaden des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur: Hier steht der Satz »Bereits um 1840 schrieben Mathematiker die ersten Computerprogramme«. Verschleiert wird dabei die Tatsache, dass es Frauen waren, die an dieser Stelle einen wesentlichen Beitrag leisteten, wie die Mathematikerin Lady Ada Lovelace, die tatsächlich das allererste Computerprogramm schrieb.[25] Statt also das generische Maskulinum zu verwenden und Personengruppen per se männlich zu machen, auch wenn sie das gar nicht (vollständig) sind, wäre es viel fairer und realitätsgetreuer, zu entgendern und von Lehrenden oder Lehrer:innen zu sprechen.
Einen besonders großen Einfluss hat Sprache auf Kinder, die noch nicht mitreflektieren, dass sprachlich als männlich bezeichnete Gruppen auch teilweise oder ganz weiblich oder nicht-binär sein können:
»Grundschulkinder setzen das grammatikalische Geschlecht noch ganz selbstverständlich mit dem biologischen Geschlecht gleich. Spricht also jemand vom Bäcker, kommen Kinder nicht auf die Idee, dass eine Frau das Brot gebacken haben könnte.«[26]