Wer darf in die Villa Kunterbunt? - Lisa Pychlau-Ezli - E-Book

Wer darf in die Villa Kunterbunt? E-Book

Lisa Pychlau-Ezli

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Beschreibung

Wer kennt sie nicht, die »Zehn kleinen N***-lein«? Diese Geschichte von zehn kleinen, als Schwarz markierten Figuren, die der Reihe nach zu Tode kommen, sollte der Unterhaltung von (weißen) Kindern dienen. Selbst wenn Text und Melodie des Zählreims heute nicht mehr so oft rezipiert werden, sind sie fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Auch in zahlreichen Comicreihen wie ›Tim und Struppi‹, ›Asterix‹, ›Mecki‹ oder ›Lurchi‹ werden Schwarze Figuren vor allem aus einem weißen Blickwinkel dargestellt, erfahren diffamierende und vorurteilsbelastete Beschreibungen, Blackfacing, kulturelle Aneignung, Tokenismus. Wie ein roter Faden zieht sich Rassismus durch das Genre der Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts und ist selbst in beliebten Kinderbüchern von heute noch zu finden. Das Autorenpaar zeichnet die Genese von Rassismus in der Kinderliteratur nach, reflektiert die sogenannte ›Kinderbuchdebatte‹ und erklärt, warum viele Kinderbücher literarisch nur aufgrund von Rassismus funktionieren. Ihre konkreten Vorschläge zum Umgang mit rassistischen Kinderbüchern helfen Eltern und Vorlesenden, Rassismus in Kinderbüchern nicht nur zu verstehen, sondern auch selbst zu erkennen.

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dr. Lisa Pychlau-Ezli studierte Germanistik und Sportwissenschaften in Frankfurt und promovierte in der germanistischen Mediävistik. Sie forscht und publiziert zu den Themen Intersektionalität und Semiologie und arbeitet freiberuflich als Literaturkritikerin und im Verlagswesen.

Özhan Ezli studierte Politikwissenschaften, Medienwissenschaften und Sportwissenschaften in Marburg und Frankfurt. Sein Themenschwerpunkt liegt in der Pädagogik; er arbeitet hauptberuflich als Studienrat.

Lisa Pychlau-Ezli & Özhan Ezli

Wer darf in die Villa Kunterbunt?

Über den Umgang mit Rassismus in Kinderbüchern

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Lisa Pychlau-Ezli & Özhan Ezli:

Wer darf in die Villa Kunterbunt?

1. Auflage, Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, Februar 2023

ISBN 978-3-95405-134-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Einleitung

Was ist Alltagsrassismus?

Alltagsrassismus und Kinderbücher: die ›Kinderbuchdebatte‹

Theoretischer Teil

Formen des Rassismus: Zuschreibungen und Konstruktionen

Rassismus & Biologismus

Othering & Markierung

Intersektionalität: Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit & Übersichtbarkeit

Sprache & Gewalt

Rassismus als (Re)Produktion

Critical whiteness: white privilege & white supremacy

white fragility

white gaze

whitewashing

Rassismus als Alltag

Rassismus in Deutschland

Der Afrozensus 2020

Rassismus und Kinder

Rassismus in Kinderbüchern: Nicht bös’ gemeint

Analytischer Teil

Rassismus und (Kinder)Literatur: Prägung rassistischer Narrative

Literaturwissenschaftliche Grundlagen

Philosophische Grundlagen

Die Anfänge der Kinderliteratur: Erzählen von dem ›Anderen‹

Alltagsrassistische Übersichtbarkeit in Kinderbüchern

Explizite alltagsrassistische Übersichtbarkeit

Implizite alltagrassistische Übersichtbarkeit

Alltagsrassistische Unsichtbarkeit in Kinderbüchern

Explizite alltagsrassistische Unsichtbarkeit

Implizite alltagsrassistische Unsichtbarkeit

Zwischenfazit: Kinderliteratur zwischen rassistischer Diffamierung, rassistischer Romantisierung und Diversität

Perspektiven der ›Kinderbuchdebatte‹

Cancel culture: Die Sorge um Meinungs- und Kunstfreiheit im Hinblick auf political correctness

»Was aber, wenn eine Zensur doch stattfindet?« – die Argumente der Kritiker*innen von Änderungen in Kinderbüchern

»Nicht alle Menschen, die in Deutschland, leben sind weiß« – die Argumente der Befürworter*innen von Änderungen

Konklusionen: Unsicherheit und Angst vor Rassismusvorwürfen

Ratschläge für Eltern und Vorlesende

Can the Subaltern speak? Fazit und Ausblick

Literal race gap

Ein Wort zur literarischen Authentizität

Plädoyer für mehr Diversität in der Kinderbuchbranche

Quellenverzeichnis

Primärquellen

Sekundärquellen

Anmerkungen

Einleitung

Schon zu lange fokussiert man sich, wenn man über Rassismus spricht, auf die Personen, die diskriminiert werden,[1] statt auf jene, die diskriminieren. Es ist daher an der Zeit, sich mit denjenigen Menschen zu beschäftigen, von denen die Diskriminierungen ausgehen. Wir müssen den Fokus jetzt auf weiße Menschen richten und auf all jene Dinge, durch die weiße Menschen Rassismus reproduzieren. Viele weiße Menschen weisen Rassismus allerdings weit von sich; sie sind der Auffassung, keine Rassist*innen zu sein, da sie niemanden absichtlich rassistisch beleidigen. Dennoch ist Rassismus für nicht-weiße Menschen Alltag in Deutschland. Wie kommt dieses Paradoxon zustande? Die Antwort ist: Weiße Menschen verhalten sich rassistisch, ohne es zu merken, da sie rassistisch sozialisiert wurden und werden. In der weißen deutschen Erziehung spielt die Reproduktion von Rassismus von Anfang an eine Rolle. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, jene weißen Kulturgüter in den Blick zu nehmen, mit denen Kinder aufwachsen, die Werte, Hierarchien und Menschenbilder vermitteln und von der weißen deutschen Gesellschaft große Hochachtung und Wertschätzung erfahren: die Kinderbücher. Kinderbücher bedienen die Ansprüche einer bildungsbürgerlichen Erziehung ebenso wie die der kindlichen Fantasie: Mit seinen Kindern zu lesen, ist daher pädagogisch enorm aufgeladen. In vielen deutschen Kinderbüchern herrscht jedoch ein Welt- und Menschenbild, das insbesondere im Kontext aktueller und wirkungsmächtiger Antirassismus-Kampagnen und -Bewegungen (z. B. Black Lives Matter, #metwo, #saytheirnames, Check Your Privilege, Respect, Aufstehen gegen Rassismus etc.) nicht nur als veraltet und überholt, sondern als diskriminierend angesehen werden muss: Es gibt ein ganzes Genre an Kinderbüchern, das das Leben der I* verfremdet und romantisiert, Schilderungen von Black-, Yellow- und Redfacing (das Anmalen des Gesichts zwecks Imitation einer anderen ›Rasse‹ z. B. zu Fasching) sind keine Seltenheit, fremdbezeichnende und abwertende Begriffe wie N* und M* tauchen immer wieder auf, kolonial anmutende Herrschaftsverhältnisse werden nicht nur als selbstverständlich, sondern gar als idealisiert geschildert, exotisierende Stereotype über ›Afrika‹ als homogenes, von wilden Tieren besiedeltes Land werden in den buntesten Farben beschrieben und in Bilderbüchern, die Alltagsituationen darstellen, sind ausschließlich weiße Menschen abgebildet. Als Kinderbuchverlage wie der Thienemann Verlag und der Oetinger Verlag vor rund zehn Jahren beschlossen, offensichtlich diskriminierende Bezeichnungen in ihren Publikationen zu tilgen, entbrannte eine mediale Debatte über Kinderbücher im Spannungsfeld zwischen Rassismus, Wokeness und Kunstfreiheit. Die allgemeine Verunsicherung, welche Wörter und Schilderungen in Kinderbüchern als rassistisch zu werten sind und wie mit diesen umzugehen ist, hält bis heute an.

Dieses Buch will die Frage nach Rassismus in deutschen Kinderbüchern ausführlich und eingehend beleuchten. Hierfür gehen wir in drei Schritten vor. Im ersten Schritt werden wir uns mit Rassismus im Allgemeinen beschäftigen. Im zweiten Schritt wenden wir uns anhand konkreter Beispiele den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Rassismus in Kinderbüchern zu. Im dritten Schritt diskutieren wir dann, wie mit Rassismus in der Literatur für Kinder umzugehen ist.

Rassismus ist unser kulturelles Erbe. Er hat eine lange historische Tradition in Deutschland und Europa und ist mittels der Literatur buchstäblich in unsere Geschichte eingeschrieben. Wir sind alle in gewisser Weise rassistisch sozialisiert, und auch wenn wir uns nicht rassistisch verhalten wollen, tun wir es dennoch immerzu. Doch warum ist das so und wer profitiert davon? Worum genau geht es bei Rassismus eigentlich? Historisch gesehen sind diese Fragen ganz einfach zu beantworten: Früher ging es um Geld und Macht; um den Profit der weißen Europäer*innen. Damit diese reich werden konnten, mussten andere ausgebeutet werden. Literarisch gesehen sind die Fragen nach dem Sinn, dem Nutzen und dem Grund von Rassismus komplexer. Bei Rassismus in Büchern und speziell in Kinderbüchern geht es auch um die Abwertung anderer zum eigenen Nutzen, aber nicht um einen unmittelbaren materiellen Profit, sondern vielmehr um das Etablieren und Tradieren von Narrativen. Diese sind darauf ausgerichtet, die weiße Dominanz zu erklären und zu sichern. Wer besitzt die Definitionsmacht? Wer darf über wen erzählen? Was wird erzählt? Wie wird erzählt? Und warum wird auf diese Art und Weise erzählt? Auch wenn über ferne Länder, fremde Menschen und ›exotische‹ Sitten und Gebräuche berichtet wird, so bleibt immer die Tatsache bestehen, dass weiße deutsche Autor*innen an ein weißes deutsches Zielpublikum mittels eines weißen deutschen kulturellen Wissens erzählen. Die ›Exotik‹ ist somit immer hausgemacht und bei genauem Hinsehen geht es eigentlich gar nicht um die ›anderen‹, sondern um die weiße deutsche Gesellschaft, die sich mit sich selbst auseinandersetzt. Missbraucht werden die vermeintlich ›anderen‹ somit als Projektionsfläche für eigene Fantasien und Ängste und als Element der Abgrenzung zur Konstruktion des eigenen Selbst. Damit das eigene weiße Selbst aufgewertet werden kann, muss das rassifizierte ›Andere‹ abgewertet werden. Diese mittels der Kinderliteratur erzeugten Vorstellungen, Vorurteile und Stereotype ›schwappen‹ allerdings von der Fiktion über in die Realität und beeinflussen dort unsere Wahrnehmung derer, die wir für ›anders‹ halten. Die vorgefasste Meinung, die aus dieser Wahrnehmung resultiert, erzeugt ein Phänomen, das in den letzten Jahren verstärkt beachtet, diskutiert und kritisiert worden ist: den Alltagsrassismus.

Was ist Alltagsrassismus?

»Wo kommst du her?«,[2] »Du kannst aber gut deutsch«, »Kann ich mal deine Haare anfassen?«. Mit derartigen Fragen, Aussagen und Anliegen sehen sich einer Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) zufolge sieben von zehn Kindern mit Migrationshintergrund regelmäßig konfrontiert.[3] Solche scheinbar harmlosen Sätze können als Akt der Ausgrenzung betrachtet werden, da sie ja bereits die Nicht-Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft implizieren.[4] So beinhaltet die Frage »Woher kommst du?« immer ein unausgesprochenes »Von hier bis du jedenfalls nicht, denn du bist anders und deshalb gehörst du nicht dazu«. Die Neugierde, die diesen Fragen innewohnt, versetzt den/die Befragte*n unter Rechtfertigungsdruck und impliziert somit eine Bringschuld und ein Machtgefälle: Wer nicht weiß ist, muss sein Aussehen und seine Anwesenheit erklären. Fragen nach der Herkunft, Bemerkungen über die Deutschkenntnisse oder Haare und Hautfarbe werden daher als Mikroaggressionen bezeichnet.[5] Die Autorin Charlene Rautenberg weist darauf hin, dass deutsch und Schwarz oft als Gegensätze empfunden würden, für die sie sich rechtfertigen müsse.[6] Über sie werde zudem oft vermutet, dass sie gerne singe und Hip-Hop höre.[7] Durch die Vorstellungen fremder Menschen, wie sie aufgrund ihrer Hautfarbe zu sein habe, fühlt sie sich in Schubladen gesteckt und »exotisiert«.[8] Ähnliches berichtet auch die Autorin Ciani-Sophia Hoeder, deren Professor ihre Zukunft eher bei MTV als bei der Tagesschau sah.[9]

Die Autorin Alice Hasters vergleicht solche Mikroaggressionen mit Mückenstichen: im Einzelnen erträglich, aber in der Häufung kaum auszuhalten.[10] Auch die Gründerinnen und Autorinnen Olaolu Fajembola und Tebogo Nimendé-Dundadengar weisen darauf hin, dass einzelne, nicht böse gemeinte Kommentare nicht das Problem seien, sondern gerade die Summe der Erfahrungen die Botschaft vermittelt: »Ihr gehört nicht richtig dazu.«[11] Es handelt sich beim Alltagsrassismus demnach nicht nur um eine qualitative Form von Rassismus, sondern vor allem auch um eine quantitative.[12] Die Häufung solcher ausgrenzenden Phrasen ist nicht nur verletzend für die betroffenen Personen, sondern wirft auch die Frage nach dem Warum auf. Warum verhalten sich so viele Menschen (unabsichtlich) alltagsrassistisch und konfrontieren Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland immer wieder mit neugierigen Fragen und Klischees?

Die Pädagogin und Kulturwissenschaftlerin Barbara Rösch erklärt Alltagsrassismus als unbewusstes Handlungs- und Denkschema einer größeren sozialen Gruppe; als »›kleine‹ […] Form von Rassismus, die durch Verinnerlichungsprozesse und Normalisierung wirksam (geworden) ist«.[13] Dass beim Alltagsrassismus ein Mangel an Absicht besteht, deutet darauf hin, dass ein subtiler Alltagsrassismus strukturell in unserer deutschen Gesellschaft verankert ist. Olaolu Fajembola und Tebogo Nimendé-Dundadengar sind sogar der Meinung, dass der Rassismus so sehr in unserer Gesellschaft verwoben ist, dass »oft weder diejenigen, welche von ihm profitieren, noch jene, die darunter leiden, ihn zu identifizieren vermögen«.[14] Rassismus erstreckt sich somit über große Teile der Bevölkerung und über viele Lebensbereiche. Doch wenn die deutsche Gesellschaft derart von Rassismus durchdrungen ist, stellt sich die Frage, wo die (alltags)rassistischen Vorstellungen ihren Ursprung haben. Vieles deutet darauf hin, dass die rassistische Sozialisation bereits in der frühen Kindheit einsetzt. Es ist anzunehmen, dass sowohl weiße als auch Schwarze Kinder bereits sehr früh mit alltagsrassistischem Gedankengut und diskriminierenden Verhaltensweisen konfrontiert werden und diese somit erlernen und reproduzieren. »Kinder werden nicht rassistisch geboren, sie erlenen rassistische Strukturen und ihre Regeln. Und zwar viel früher, als viele von uns glauben.«[15]

Zwei verschiedene Formen von alltagsrassistischer Diskriminierung sind besonders häufig zu beobachten: Entweder das vermeintlich Fremde wird betont und hervorgehoben, Personen werden »exotisiert«, wie Charlene Rautenberg formuliert, und dadurch übersichtbar. Im Fachjargon wird dieses Verhalten als Othering (Andersmachen) bezeichnet. Hierbei werden bestimmter Merkmale von Personen, wie die Hautfarbe oder das Kopftuch, als konstitutiv für die gesamte Person wahrgenommen und dieser Person werden dann aufgrund dieses einen Merkmals Attribute zugeschrieben, die die Person unter Umständen gar nicht besitzt. Die Hautfarbe oder das Kopftuch werden somit als Eigenschaften angesehen und betroffene Menschen werden zur Projektionsfläche rassistischer Vorurteile. Die andere Form des Alltagsrassismus ist – genau umgekehrt – die Unsichtbarkeit aller Personen, die von einer gesellschaftlichen Norm abweichen, welche als weiß imaginiert wird. Konkret bedeutet das, dass BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) oder Menschen, die nicht-europäische Kleidungsstücke wie Kopftuch oder Sari tragen, aus der öffentlichen Wahrnehmung einfach eliminiert werden oder mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert und nicht ernst genommen werden.

Diese beiden Formen rassistischer Diskriminierung prägen das materielle und immaterielle Umfeld, in dem viele Kinder in Deutschland heranwachsen. Die durchschnittliche deutsche Sozialisation weißer Kinder schließt beispielsweise Menschen mit den oben genannten Merkmalen bis heute ganz automatisch und selbstverständlich aus der Wahrnehmung der Kinder aus. Die Kinder besitzen dann beispielsweise weiße Puppen und weiße Playmobilfiguren, sie schauen sich Filme mit weißen Protagonist*innen an etc. Ein solches pädagogisches Verhalten ist jedoch in den meisten Fällen sicher nicht auf Bösartigkeit zurückzuführen, sondern vielmehr schlicht auf Unkenntnis. Um zu ergründen, wie es kommt, dass Eltern ihren Kindern alltagsrassistisches Verhalten beibringen und dieses vermutlich gelegentlich selbst an den Tag legen, lohnt sich die Untersuchung derjenigen Dinge, mit denen sich die Kinder mit oder ohne ihre Eltern/Erzieher*innen/Lehrer*innen den Tag über beschäftigen. Denn die ganz alltäglichen Dinge im Leben der Kinder, wie etwa Spielzeuge, Bücher, Filme, Lieder und Spiele transportieren Werte und Normen. Sie spiegeln das Menschenbild unserer Gesellschaft wider und konstituieren auf diese Weise das Weltbild der Kinder. Alle diese Dinge, mit denen wir unsere Kinder umgeben (Bücher, Puppen, Playmobil und Lego etc.), sind nun aber oft sogenannte ›Klassiker‹; sie haben eine lange Tradition und diese beinhaltet nicht selten Rassismus.

Genau wie sich die verletzenden Kommentare gegenüber Schwarzen Menschen und People of Color wie Mückenstiche zu einem kaum auszuhaltenden Maß summieren, so summieren sich die Wirkungsmechanismen der alltagsrassistischen Unsichtbarkeit und der alltagsrassistischen Übersichtbarkeit zu einem Gesamtbild, das weiße Kinder dazu verleitet, sich selbst rassistisch zu verhalten und das Schwarze Kinder sowie Kinder of Color ausgrenzt und stigmatisiert bzw. marginalisiert.

Alltagsrassismus und Kinderbücher: die ›Kinderbuchdebatte‹

»Kinderbücher sind kleine Utopien unserer erzieherischen Zuversicht«, formulierte der Journalist Hilmar Klute im Winter 2022 etwas schnulzig im ›Gesellschaft‹«-Teil der SüddeutschenZeitung.

»[Sie] sollen uns zu besseren Menschen machen, und zwar von dem Zeitpunkt an, da dies gerade noch möglich ist. Deshalb sind Kinderbuchautoren [sic!] auch unverbesserliche Weltenverbesserer [sic!]. Sie meinen es gut, und als sie ihre Bücher zur Welt brachten, das gilt vor allem für die älteren, die Klassiker, war der Beifall ungeteilt.«

Aber, so gab Klute anschließend zu, man finde heute hier und da »Fallstricke«.[16] Als Beispiel nannte er den ›N-König‹ in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und schlug vor, dieses Wort beim Vorlesen einfach »intuitiv in König« abzuwandeln.

Bei dem Schlagwort ›Rassismus in Kinderbüchern‹ denken viele Menschen zunächst an das N-Wort und das M-Wort. Diese rassistischen Bezeichnungen sind in den Jahren seit 2000 nicht nur an Süßigkeiten, sondern auch in Kinderbüchern kritisiert worden. Dies hatte in der letzten Dekade zu Streichungen und Änderungen in den sogenannten ›Klassikern der deutschen Kinderliteratur‹ und 2013 schließlich zur längst fälligen sogenannten ›Kinderbuchdebatte‹ geführt. Die ›Kinderbuchdebatte‹ beschreibt die öffentliche Auseinandersetzung über einen sensibilisierten Umgang mit den Welt- und Menschenbildern, die in Kinderbüchern propagiert werden, der 2013 zu antirassistischen Überarbeitungen einiger der populärsten deutschen Kinderbücher durch die publizierende Verlage führte, aber auch zu heftiger medialer Kritik an diesem Vorgehen. Eine erste große Welle gegen Rassismus in Kinderbüchern gab es bereits in den 1960er-Jahren. Etliche Kinderbücher mit nationalsozialistischem und kolonialistischem Gedankengut verschwanden stillschweigend aus den Verlagsprogrammen, so z. B. der damalige Klassiker Heia Safari (1920) von Paul von Lettow-Vorbeck, und vieles wurde umgeschrieben.[17] Seit 2009 ersetzt der Oetinger Verlag den ›N-König‹ in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf durch den ›Südsee-König‹. Diese Änderung wurde im Großen und Ganzen gesellschaftlich und medial kaum beachtet. 2013 entschloss sich auch der Thienemann Verlag, das N-Wort in Otfried Preußlers Die kleine Hexe zu streichen. Kritik gab es zudem am Werk von Michael Ende, im Fokus steht hier insbesondere Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Auf Initiative der Journalistin und Moderatorin Boussa Thiam und der Buchhändlerin Mieke Woelky beschloss der Oetinger Verlag zudem, das Kapitel »Lotta ist ein kleiner Sklave« in seinen aktuellen Auflagen des Bandes Die Kinder aus der Krachmacherstraße von Astrid Lindgren nicht mehr abzudrucken.

Obwohl der Oetinger Verlag 2009 mit seinen Änderungen vier Jahre früher als der Thienemann Verlag begonnen hatte, entzündete sich die mediale Debatte insbesondere nach den Änderungen an der Kleinen Hexe 2013. Für dieses Werk war zum 90. Geburtstag des Autors eine kolorierte Neuauflage geplant gewesen. Kurz zuvor hatte sich jedoch Mekonnen Mesghena, Leiter des Referats ›Migration & Diversity‹ der Heinrich-Böll-Stiftung, an den Verlag gewandt, nachdem er mit seiner siebenjährigen Tochter in dem Buch gelesen hatte und das N-Wort in diesem Kinderbuch inakzeptabel fand. Gemeinsam mit der Familie Preußler beschloss der Thienemann Verlag anschließend die Änderung. Gab es zuvor Kritik an rassistischen Begriffen in den von ihm publizierten Werken, so sah sich der Verlag nun mit Kritik an den Änderungen konfrontiert, auf die er kurze Zeit später mit einer Stellungnahme reagierte.[18] Im Folgenden entbrannte hauptsächlich im Feuilleton der deutschsprachigen Leitmedien (FAZ, ZEIT, SZ, NZZ, Tagesspiegel, taz)[19] eine kontroverse Diskussion über das N-Wort in Kinderbüchern im Kontext von Kunst- und Meinungsfreiheit, Zensur, political correctness und Antirassismus. Verstärkt und beeinflusst wurde und wird diese Diskussion durch die zeitgleich entstandene Black-Lives-Matter-Bewegung, die die Frage nach (alltäglicher) rassistischer Diskriminierung öffentlichkeitswirksam präsent hält.

In den folgenden Jahren meldeten sich in Deutschland vermehrt Schwarze Menschen und People of Color mit Publikationen, in Blogbeiträgen und in Interviews zu den Themen Alltagsrassismus, Antirassismus und afrodeutsches Erleben, zum Umgang mit Rassismus im Hinblick auf Kinder und Rassismus in der Schule zu Wort.[20] Das Ziel dieser Autor*innen und Aktivist*innen besteht in der antirassistischen Aufklärung, der Sensibilisierung, dem Bewusstmachen weißer Privilegien und somit der Rassismusprävention. In diesem Kontext wurde auch häufig Bezug auf die ›Kinderbuchdebatte‹ genommen. So machte beispielweise die Hamburger Kita-Leiterin Christiane Kassama im Interview mit der Zeit darauf aufmerksam, dass viele (Bilder)Bücher, die im Kindergarten vorgelesen werden, unbewusst Klischees und Rassismus transportieren.[21] Auf die Interviewfrage, welche Kinderbücher sie denn problematisch finde, antwortete die Bloggerin Sohra Behmanesh, es sei für sie einfacher, ein paar Bücher zu nennen, die sie nicht schwierig finde.[22] Die Autorinnen Olaolu Fajembola und Tebogo Nimendé-Dundadengar wiederum weisen darauf hin, dass diversitätssensible Kinderbücher in konventionellen Buchhandlungen kaum zu erwerben seien.[23] Der Rassismus in Kinderbüchern scheint sich also nicht auf einzelne Wörter zu beschränken, weshalb es leider nicht immer so einfach ist, einzelne Wörter »intuitiv« abzuwandeln. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e. V. (ISD) forderte daher in einem offenen Brief »ein ernsthaftes und behutsames Ringen um rassismuskritische Kinderbücher«.[24]

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir Folgendes leisten:

Die Genese von Rassismus im Genre der Kinderliteratur aus ihrer Entstehungsgeschichte chronologisch ableiten.

Eine exemplarische Auswahl der beliebtesten, der meist gelesenen und der aktuellsten Kinderbücher im Hinblick auf die neuesten Erkenntnisse und Diskurse der Antirassismusforschung literaturwissenschaftlich analysieren.

Aufzeigen, dass sehr viele dieser Kinderbücher (in unterschiedlich hohem Maße) rassistische Diskriminierung beinhalten. Diese richtet sich gegen ein breites Spektrum an marginalisierten Gruppen, die nicht der

weißen

europäischen christlichen Normativität entsprechen: gegen Schwarze Menschen, asiatisch-stämmige Menschen, türkischstämmige Menschen, indigene Menschen, muslimische Menschen sowie Sinti*zze und Rom*nja.

Den Einfluss (rassistischer) Kinderbücher auf das Menschenbild sowie die Eigen- und Fremdwahrnehmung von Kindern erklären.

Exemplarisch erklären, warum und auf welche Weise auch solche Texte, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen, rassistisch sein können. Anhand unserer literaturwissenschaftlichen Analyse werden wir verständlich darlegen, welche ganz unterschiedlichen Formen von Rassismus in der Kinderliteratur zu finden sind, wie Rassismus auf literarischer Ebene funktioniert und warum er in Büchern manchmal so schwer zu erkennen ist.

Die Argumente der Befürworter*innen und der Kritiker*innen von Änderungen an Kinderbuchklassikern in den Blick nehmen und analysieren.

Optionen diskutieren, wie mit problematischen Texten und Textstellen in Zukunft umgegangen werden kann.

Knappe zehn Jahre nach der ›Kinderbuchdebatte‹ eine Bilanz ziehen, wie es um die deutsche Kinderbuchbranche im Spannungsfeld zwischen Rassismus(vorwürfen) und Diversitätssensibilität bestellt ist.

Der Textkorpus, den wir einer Analyse unterziehen, umfasst eine exemplarische Auswahl der beliebtesten und meistverkauften Kinderbücher und Kinderbuchreihen verschiedener Genres wie (Detektiv-, Abenteuer-, Fantasy-)Roman, Sachbuch, Erzählung, Geschichte, Bilderbuch und Comic seit ca. 1780, wobei wir zeigen werden, dass der Rassismus in der Kinderliteratur zwar nicht mehr immer so einfach zu erkennen ist wie früher, aber dennoch auch in neueren Publikationen vorhanden ist.

Die Kriterien für unsere Textauswahl orientieren sich unter anderem an den Verkaufszahlen der Bücher und an ihrer Zugehörigkeit zum Kanon der sogenannten ›Klassiker‹. Die hohe Aktualität vieler der Werke in unserer Textauswahl und vor allem auch der älteren dieser Texte lässt sich zudem daran ablesen, dass sie (wiederholt) verfilmt wurden und bei beliebten Streamingdiensten wie Netflix, Amazon Prime oder Disney+ verfügbar sind sowie als Hörbuch oder Hörspiel z. B. für die beliebte Tonie Box rezipiert werden können. Ob Kinder nun lesen, fernsehen oder Hörspiel hören, sie werden dabei immer wieder mit denselben Geschichten und Rassismen konfrontiert.

Der Film Pippi Langstrumpf mit Inger Nilsson in der Titelrolle beispielsweise gilt zwar als unantastbarer Klassiker, ist aber kürzlich digital überarbeitet worden.[25] Von Pippi Langstrumpf gibt es zudem noch mehrere ältere Verfilmungen sowie eine Zeichentrickserie und zurzeit ist anscheinend eine Neuverfilmung durch die Produktionsfirma Studiocanal geplant. Der ›Pippi Langstrumpf‹-Stoff ist somit immer noch sehr aktuell. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer hingegen, den viele in der Version der Augsburger Puppenkiste kennen, ist erst 2018 und 2020 für das deutsche Kino neuverfilmt worden. Auch die ›Asterix‹-Comics sind immer noch populär, wurden mehrfach verfilmt und werden weiter fortgeführt, obwohl die beiden ursprünglichen Autoren inzwischen verstorben sind. Dasselbe gilt für die ›Lucky Luke‹-Comics. Von der Popularität dieser Werke bei Kindern mal ganz abgesehen, werden die Klassiker der Kinderliteratur von Erich Kästner, Otfried Preußler, Michael Ende, Astrid Lindgren oder Janosch auch im Kindergarten vorgelesen und in der Schule sehr gerne als Lektüre eingesetzt. Die Conni-Reihe von Liane Schneider und Eva Wenzel-Bürger wiederum ist seit 30 Jahren sehr beliebt. Sie umfasst inzwischen über 100 Geschichten, ist als (günstiges) Pixi-Buch verfügbar und kann auch als Zeichentrick-Verfilmung rezipiert werden. Einer großen und langlebigen Beliebtheit erfreuen sich zudem Texte der Gattung Detektivroman, wie TKKG, ebenfalls verfilmt, die Drei ??? und analog die Drei !!!, oder Fantasyreihen wie Die Schule der magischen Tiere. Auch diese ist 2021 für das Kino verfilmt worden. Für die Altersklasse der Kleinkinder und Kindergartenkinder untersuchen wir Wimmelbücher, von denen einige, wie die Wimmelreihe von Rotraud Susanne Berner und die Werke des kürzlich verstorbenen Illustrators Ali Mitgutsch, praktisch Kultstatus in Deutschland besitzen. In den Blick nehmen wir auch die beliebten Sachbuch-Reihen Was ist was und Wieso/Weshalb/Warum, die eine hohe Bandbreite an Themen abdecken. Zur ›Was ist was‹-Reihe gibt es eine Fernsehserie aus den 1990er-Jahren.

Die Bücher in unserer Textauswahl und ihre Verfilmungen besitzen aktuell eine besonders hohe gesellschaftliche Relevanz, da Kinder aufgrund der Corona-Pandemie in den letzten Jahren gezwungen waren, soziale Kontakte einzuschränken und ihre echten sozialen Erfahrungen somit zu reduzieren. Bücher und Hörbücher sowie ihre filmischen Adaptationen hingegen gewannen als Unterhaltungs- und Freizeitbeschäftigung für Kinder an Bedeutung. So vermelden beispielsweise das Börsenblatt[26] und die Stiftung Lesen[27], dass die tägliche Lesedauer von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen während der Pandemie gestiegen sei. Umso drängender stellt sich daher nun die Frage, mit welchen Welt- und Menschenbildern Kinder in dieser Zeit unter Verzicht auf reale Kontakte konfrontiert wurden.

Wir richten den Blick somit bewusst auf solche Texte, die zum einen häufig rezipiert werden und die wir zum anderen als problematisch beurteilen. Ausgenommen von unserer literaturwissenschaftlichen Untersuchung sind somit Publikationen, die wir als diversitätssensibel einstufen und die auf Inklusion und Vielfalt ausgerichtet sind. Wir verweisen jedoch an den jeweils passenden Stellen auf (online verfügbare) Listen dieser empfehlenswerten Kinderbücher und hier bereits auf den Onlineshop der Antirassismus-Aktivistinnen Olaolu Fajembola und Tebogo Nimendé-Dundadengar, tebalou,[28] der eine breite und vielfältige Auswahl an Büchern für viele Altersgruppen anbietet.

Theoretischer Teil

Bevor wir uns den Einzelanalysen der Bücher in unserer Textauswahl zuwenden, wollen wir zunächst einige Begriffe und Mechanismen abklären, da gesellschaftlich oft Uneinigkeit darüber herrscht, was Rassismus ist, was er beinhaltet, wie und warum er funktioniert und wie er sich konkret im Alltag äußert. Zudem wollen wir in die Terminologie einführen, mit der wir operieren. Anschließend geben wir einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung des Genres Kinderbuch und erklären, wie Sprache, Literatur und Rassismus ineinander verstrickt sind und zusammenwirken.

Formen des Rassismus: Zuschreibungen und Konstruktionen

Rassismus & Biologismus

Die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt definiert Rassismus als »Komplex von Gefühlen, Vorurteilen, Vorstellungen, Ängsten, Phantasien und Handlungen, mit denen Weiße aus einer weißen hegemonialen Position heraus Schwarze und People of Color strukturell und diskursiv positionieren und einem breiten Spektrum ihrer Gewalt aussetzen«.[29] Die Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin Natasha A. Kelly macht darauf aufmerksam, dass »die rassistischen Ideen des Kolonialismus [bis heute] Körperbilder, Wissen und Wissensproduktion sowie die Machtstrukturen unserer Gesellschaft« beeinflussen, Rassismus aber dennoch »beinahe ausschließlich in den individuellen Erfahrungen der Betroffenen […] und nicht in den Strukturen der Gesellschaft« gesucht werde.[30] »Rassismus als Struktur ermöglicht, dass Ungleichheit legitimiert und somit normalisiert wird«,[31] erklärt Saraya Gomis, die ehemalige Antidiskriminierungsbeauftrage der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 2020 in einem Interview mit der SüddeutschenZeitung. Um strukturellen Rassismus zu erläutern, sei ein Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte nötig, die Machtverhältnisse historisch etabliert habe. Wichtig ist hierbei die Wortverbindung ›deutsch‹ und ›Kolonialgeschichte‹, da diese Verbindung in Deutschland gerne ausgeblendet wird. Die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte im Vergleich zur Kolonialgeschichte anderer europäischer Länder herunterzuspielen, mit dem Argument, diese hätten mehr und länger Kolonien gehabt, sowie die Auslöschung der deutschen kolonialistischen Gräueltaten aus dem kollektiven Gedächtnis haben Tradition in Deutschland und zielen darauf ab, zu beweisen, dass Deutschland eigentlich gar kein Rassismusproblem habe und dieses Thema deshalb auch gar nicht groß besprochen werden müsse. Dass diese Ansichten falsch sind und Deutschland wirtschaftlich, logistisch und praktisch viel stärker in den Kolonialismus verstrickt war, als allgemein vermutet wird, haben Antirassismusforscher*innen und Aktivist*innen wie Noah Sow, Natasha A. Kelly, Emilia Roig und Tupoka Ogette, um nur einige zu nennen, in ihren Publikationen in den letzten Jahren bereits ausführlich dargelegt.[32] Der Rassismus in Deutschland hat seinen Ursprung jedoch schon vor dem Kolonialismus. Er sei auf die geschichtlichen Perioden Sklaverei/Dreieckshandel, Aufklärung, Kolonialismus und Nationalsozialismus zurückzuführen, so der Politikwissenschaftler Joshua Kwesi Aikins, und existiere somit bereits seit 500 Jahren.[33] Wir werden allerdings nicht auf die einzelnen Stationen des Rassismus in der deutschen Geschichte, im Sinne von historischen Ereignissen, eingehen, sondern wenden uns direkt seinen geistesgeschichtlichen Aspekten zu.

Was also ursprünglich der Rechtfertigung von Sklaverei und Kolonialismus gedient hat, ist bis heute aufgrund der oben geschilderten Prozesse und Mechanismen häufig immer noch im Weltbild weißer Menschen verankert. Denn wenn einschneidende, prägende geschichtliche Ereignisse nicht kritisch diskutiert und aufgearbeitet werden, können sie zur Tradierung und Normalisierung von Stereotypen und Denkweisen führen.[37] Bei vielen vermeintlichen Tatsachen handelt es sich in Wirklichkeit um biologistische Zuschreibungen, wie z. B. bei der (oft positiv gemeinten) Aussage, alle Schwarzen Menschen seien sportlich oder musikalisch. Diese Ansicht verortet Schwarze Menschen im Kontext von hauptsächlich körperlichen (natürlichen, im Gegensatz zu kulturellen und geistigen) Fähigkeiten: singen, tanzen, Sport. Ähnlich funktioniert der Biologismus auch zur Rechtfertigung von Sexismus, wenn etwa behauptet wird, Frauen hätten einen angeborenen Mutterinstinkt. Die erste Aussage dient wahlweise dazu, Schwarze Menschen in die Sparten Sport und Musik abzudrängen oder ihnen den Zugang zu weißen Sportarten zu verwehren[38] bzw. ihre sportliche/musikalische Leistung herabzuwürdigen, die zweite, um Frauen aus der Erwerbsarbeit in die Reproduktionsarbeit zu drängen. Biologismus rechtfertigt somit den Rassismus ebenso wie das Patriarchat und dient demnach vor allem dem Wohl des weißen Mannes.[39]

Doch auch wenn Biologismus heute noch gelegentlich zwecks rassistischer oder sexistischer Begründung für Machtverhältnisse herangezogen wird, zeigt sich Rassismus trotzdem nicht konstant in derselben Erscheinungsform, sondern hat im Laufe der Geschichte verschiedene Ausdrucksformen angenommen. Vorsicht ist daher auch generell bei der Verwendung von Rassismustheorien in der Forschung geboten, da diese häufig dem US-amerikanischen Kontext entspringen und somit nicht unmittelbar auf den europäischen bzw. deutschen Kontext angewandt werden können. Der US-amerikanische Rassismus hat eine andere Geschichte als der deutsche und äußert sich daher bisweilen auch anders, selbst wenn es einige Übereinstimmungen gibt. Die Erscheinungsformen von Rassismus sind jedoch nicht nur von seinem Kontext, sondern natürlich auch von der Zeit abhängig: »Rassismus ist äußerst anpassungsfähig [und] nimmt immer neue Gestalten an.«[40] Während noch vor ca. 100 Jahren die Existenz von ›Menschenrassen‹ als wissenschaftliche ›Tatsache‹ anerkannt wurde, ist diese Erklärung heute überholt. Am Rassismus hat sich dennoch nicht viel geändert: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch«, schrieb Theodor W. Adorno.[41] In Anlehnung an Adorno sind daher die Wendungen ›kultureller Rassismus‹ oder ›Rassismus ohne Rassen‹ geprägt worden. Vom Prinzip her passiert immer noch das Gleiche: Die Beibehaltung des Begriffs ›Rassismus‹ lässt sich daher auch ohne vorgeblich biologische ›Rassen‹ rechtfertigen.[42] Der kulturelle Rassismus stigmatisiert und benachteiligt die gleichen Personengruppen, indem er behauptet, dass jedes Individuum historisch gesehen einem Kollektiv, einer Kultur angehört, wobei diese ›Kulturen‹ ebenso homogen gedacht und hierarchisiert werden. Die Erziehungswissenschaftlerin Maisha Maureen Auma spricht daher in Bezug auf modernen Rassismus von einer »Kulturalisierungsfalle«.[43]

Rassismus sei zudem multidimensional, klärt die Kommunikationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly auf. Sie bezeichnet ihn daher als eine »komplexe Machtmatrix«, die sich über verschiedene Diskurse tief in die gesellschaftliche Struktur eingeschrieben habe und somit auch auf vielen verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (sozial, historisch, politisch, kulturell) zu beobachten sei.[44] Die Politologin Emilia Roig erklärt, dass (rassistische/sexistische) Diskriminierung das Zusammenspiel von vier verschiedenen, ineinandergreifenden Dimensionen verlange: der individuellen, der strukturellen, der institutionellen und der historischen Dimension. Rassismus muss somit insgesamt als über Jahrhunderte wirksame Ideologie verstanden werden, »auf deren Fundament vieles gebaut wurde, was uns heute lieb und teuer ist«[45]. Struktureller Rassismus bezieht sich dabei auf rassistische Diskriminierungen, die sich organisations- und branchenübergreifend feststellen lassen: in Straßennamen, Denkmälern, öffentlichen Plätzen, Haltestellen, in Geschichten und Märchen, in Kinderbüchern, Liedern und Spielen, in Schulbüchern, Museen, Supermärkten und in der deutschen Sprache. Institutioneller Rassismus hingegen bezeichnet solche Diskriminierungen, die in bestimmten Sektoren und ihren Organisationen auftreten. Hierzu zählen z. B. alle Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, wirtschaftliche Unternehmen, die öffentliche Verwaltung, Banken und Kreditunternehmen, der Wohnungsmarkt, die Gesundheitsfürsorge, die Polizei und die Justiz, sogar das (Online)Dating und die Pornoindustrie. Rassismus ertreckt sich somit über weite Teile des gesellschaftlichen, des öffentlichen und des privaten Lebens. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Aladin El-Mafaalani vertritt die Ansicht, dass Rassismus sich überall finden lässt, wo er gesucht wird,[46] was auch damit zusammenhänge, dass fast alles, was die moderne Weltgesellschaft ausmache, in der Hochphase des Rassismus entstanden sei: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus sowie die Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften.[47] Innerhalb der oben aufgeführten Dimensionen konstituiert sich Diskriminierung jedoch nicht nur durch festgeschriebene Regeln, Verfahren und Routinen, sondern vor allem auch durch die »Summe der individuellen Handlungen und Entscheidungen, die von Menschen in Machtpositionen durchgeführt und getroffen werden«[48]. Es sind immer Einzelpersonen, die an Schwarze Personen nicht vermieten, sie nicht einstellen, sie häufiger kontrollieren, sie in der Schule schlechter einschätzen, ihre Schmerzen im Krankenhaus nicht ernst nehmen etc. Was also letztendlich zu (struktureller, institutioneller, individueller) rassistischer Diskriminierung führt, ist eine Vielzahl von individuellen Handlungen (!), die jedoch auf denselben kollektiven Vorurteilen beruhen. Diese kollektiven Vorurteile sind deshalb so stark, »weil sie sich aus den gleichen Quellen speisen und durch die gleichen Repräsentationen und Botschaften erzeugt werden«[49]. Anders formuliert: Die rassistischen Vorurteile einzelner Individuen ähneln sich sehr stark, da sie denselben Ursprung haben. Rassismus und rassistische Vorurteile können somit im ›kollektiven Gedächtnis‹ verortet werden. Das kollektive Gedächtnis bezeichnet eine Art von ›Wissen‹, das alle Individuen einer Gesellschaft miteinander teilen, das ihren Verhaltenscodex beeinflusst und historisch geprägt ist. Dies zeigt sich bis heute »beispielsweise auch anhand der Geschichten, die in Filmen oder in Medien erzählt werden. Dort werden rassistische Bilder reproduziert, die wir historisch bereits kennen. Nicht-weiße Menschen sind etwa häufiger Objekte statt Subjekte, ihnen wird dann in der Geschichte eher geholfen, sie sind aber nicht selbst die Helden«[50]. Die Aktivistin Tupoka Ogette weist in diesem Kontext darauf hin, »wie stark traditionell rassistische Afrikabilder der deutschsprachigen Kinderliteratur unser kollektives Gedächtnis geprägt haben«[51]. Und Aladin EL-Mafaalani betont, dass sich weiße Menschen häufig ihres tiefsitzenden Rassismus’ überhaupt nicht bewusst sind. Die unbewusste Reproduktion von Rassismus bei gleichzeitiger Ablehnung desselben bezeichnet El-Mafaalani daher als »habituellen Rassismus«[52]. Die Verankerung von rassistischem Denken im kollektiven Gedächtnis bewirkt somit bis heute, dass weiße Menschen in Deutschland sich heimlich und unbewusst Schwarzen Menschen überlegen fühlen, sie in der Schule daher nicht so gut beurteilen, weniger gerne einstellen, oft nicht an sie vermieten wollen und ihnen in Notsituationen nicht helfen, da sie sie für resilienter halten. Diese systematische Benachteiligung führt konsequenterweise zu hierarchischen Machtstrukturen und somit zu strukturellem und institutionellem Rassismus. Der Ursprung dieses rassistischen Denkens wiederrum kann zumindest teilweise auf die immer gleichen diskreditierenden Geschichten, die die weiße deutsche Gesellschaft über Schwarze Menschen erzählt, zurückgeführt werden. Solche Geschichten finden sich auch in jenen Medien – Büchern, Liedern, Spielen und Filmen –, mit denen Kinder auswachsen und die sie prägen und sozialisieren.

Diese Prägung des kollektiven Gedächtnisses betrifft jedoch nicht nur die Täter*innen, sondern auch die Opfer von Rassismus, wie Emilia Roig anhand ihrer eigenen Genealogie schildert: »Meine Großeltern haben ihren Minderwertigkeitskomplex an ihre Kinder übertragen, die sie ihrerseits an ihre eigenen Kinder weitergaben. Rassismus wird von Generation zu Generation gereicht.«[53] Die Künstlerin Grada Kilomba bezeichnet Rassismus daher als »kollektives Trauma«[54].

Othering & Markierung

Doch damit der Rassismus nun funktioniert und die privilegierte Gruppe ihre (wirtschaftlichen, politischen, sozialen) Vorteile nutzen kann, ist sie zwingend auf die ›andere‹, die rassifizierte Gruppe angewiesen. Um festzulegen zu können, wer zur Normgruppe dazugehört und wer nicht, muss die Normgruppe erst ihre eigene Identität definieren (weiß, europäisch, heteronormativ, christlich), um anschließend andere ausgrenzen zu können. Normative Identitäten haben somit Rassismus und Biologismus zur Kehrseite, denn sie beruhen auf (binären) Oppositionen und können nicht ohne die ›anderen‹ gebildet werden. Der Prozess, Menschen zu stigmatisieren, um sie in die ›andere‹ Gruppe drängen zu können, wird ›Andersmachen‹ bzw. Othering genannt. Othering funktioniert beispielsweise über das Reproduzieren von Klischees. Indem Schwarze Menschen, wie im 20. Jahrhundert häufig geschehen, in Comics mit sehr dunkler Haut, dicken Lippen, Bastrock, Knochen im Haar, kannibalistisch verfressen, dumm, gierig und primitiv dargestellt werden, wird die ›Andersartigkeit‹ Schwarzer Menschen durch diffamierende Attribute überbetont und ihr Menschsein auf diese Klischees reduziert. Unterschiede zwischen Menschen werden somit performativ erzeugt (Doing-Ansatz): Menschen werden nicht deshalb diskriminiert, weil sie ›anders‹ sind, sondern genau umgekehrt; Menschen werden durch den Prozess der Diskriminierung zu ›Anderen‹ gemacht. Die Künstlerin Grada Kilomba beschreibt dies folgendermaßen: »Kathleen ist not a ›N.‹ because of her Black body, but she becomes one through racist discources that are fixed on the color of her skin.« (Kathleen ist keine N* wegen ihres Schwarzen Körpers, aber sie wird zu einer gemacht mittels der rassistischen Diskurse, die an der Farbe ihrer Haut festgemacht werden.)[55] Wichtig in diesem Kontext sind auch genau solche Fremdbezeichnungen für Gruppen, die darauf abzielen, Angehörige der Gruppe zu othern, und die teilweise bis heute Verwendung finden (N*, I*, E*). Während sie ›andere‹ Gruppen othert, bleibt die Normgruppe selbst jedoch unsichtbar. Auf diese Weise entsteht eine Dichotomie zwischen dem ›Wir‹ und dem ›Anderen‹. Das ›Wir‹ ist dabei die unmarkierte Position, so gibt es beispielweise keine Klischees über weiße Menschen. Das ›Andere‹ hingegen ist die markierte Position. »Man nennt weiße Amerikaner*innen ja auch nicht Euro-Amerikaner*innen«[56] – aber Schwarze sehr wohl Afro-Amerikaner*innen. Die Auswirkungen dieser Dichotomie zeigen sich sowohl in der Literatur als auch im Alltag. Um diesen Prozess der Konstruktion des ›Anderen‹ mittels Othering offenzulegen, sprechen wir im Folgenden von rassifiziert markierten Gruppen/Personen/Figuren, wenn wir beispielsweise Schwarze Menschen oder People of Color meinen.

Markierungsprozesse sind in deutschen (Kinder)Büchern vor allem insofern von Bedeutung, als dass das Weißsein immer unausgesprochen bleibt. Wenn die Hautfarbe eines/r Protagonisten*in in einem Buch beispielsweise nicht explizit erwähnt wird, so können die Rezipient*innen automatisch davon ausgehen, dass sie weiß ist. Weißen Kindern wird somit indirekt vermittelt, dass sie ›normal‹ sind, dass sie die Normgesellschaft darstellen; alle anderen Kinder erhalten hingegen die Botschaft, dass sie es nicht sind und daher nicht richtig dazugehören. Ist die Hautfarbe eines/r Protagonisten*in hingegen nicht weiß, so wird dies das erste sein, das der/die Erzähler*in über seine/ihre Figur berichtet und er/sie wird zudem begründen, warum das so ist (Afrika). Zudem wird diese Hautfarbe dann eine literarische Funktionalität haben; es gibt immer einen Grund dafür, dass eine literarische Figur Schwarz ist. In US-amerikanischen Filmen ist der Grund beispielsweise oft die Inszenierung weißen Heldentums oder weißer Güte und Wohltätigkeit: Eine weiße Figur hilft/rettet eine Schwarze Figur. Hier wirkt dann in etwa dasselbe Prinzip, wie wenn Jesus mit den Zöllnern und Sündern speist oder der Papst Häftlingen die Füße wäscht: Wer sich denjenigen, die in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen, zuwendet, erscheint besonders gütig. Solche Schwarz-weißen Figurenkonstellationen betonen jedoch nicht nur den moralisch einwandfreien antirassistischen Charakter der weißen (Haupt)Figur, sondern gleichzeitig auch die passive Hilflosigkeit der Schwarzen (Neben)Figur. Sie werden daher als whitesaviorism (weißes Heldentum) kritisiert.

Im Alltag spielt die Markierung von Personen häufig dahingehend eine Rolle, als dass das Verhalten von Angehörigen rassifiziert markierter marginalisierter Gruppen auf die gesamte Gruppe zurückfällt; dies gilt umgekehrt jedoch nicht für die unmarkierte dominante Normgruppe. Ihre Vertreter werden als Individuen betrachtet und die dominante Gruppe gerät nicht in den Fokus, sie bleibt unsichtbar. Dies zeigt sich beispielsweise im Kontext besonderer Talente oder der Kriminalität.[57] So behauptet kein Mensch, Joshua Kimmich könne gut Fußball spielen, weil er weiß ist. Umgekehrt jedoch trifft genau dieser Vorwurf, bei dem ein Zusammenhang zwischen Hautfarbe und Talent hergestellt wird, Schwarze Sportler*innen. Bis zur Verpflichtung von Jackie Robinson für die Brooklyn Dodgers 1947 wurde Schwarzen Baseballspielern der Zugang zur amerikanischen Profibaseballliga (MLB) verwehrt, mit der Begründung der Chancengleichheit, da Schwarze »mehr Muskeln« hätten. Heutzutage stehen insbesondere Schwarze Läufer*innen unter Verdacht, einen durch ihre ›Rasse‹ bedingten Vorteil zu besitzen: »Schwarze sind schneller. Das sagt man vielleicht nicht, aber das zeigt ein einziger Blick aufs Sprintfinale. Wissenschaftler kennen dafür einige physiologische Ursachen.«[58] Alice Hasters zufolge legen solche Behauptungen offen, dass das kolonialistische (biologistische) Narrativ, Schwarze Menschen seien aufgrund ihrer Körperlichkeit naturgemäß für die Arbeit (im Dienst weißer Menschen) geschaffen, immer noch Gültigkeit besitzt.[59] Das ständige Ge›othert‹werden in Form von Vorurteilen und Mikroaggressionen und der permanente Druck, sich repräsentativ zu verhalten, erzeugen »racial stress«[60] bei den Betroffenen.

Intersektionalität: Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit & Übersichtbarkeit

Die soziale Ungleichheit zwischen der unmarkierten dominanten und den markierten marginalisierten Gruppen äußert sich (im Alltag wie auch in Literatur und Film) durch ihre Sichtbarkeit. Marginalisierte Personen oder Gruppen werden entweder ›exotisiert‹; sie werden zur Projektionsfläche weißer Vorurteile und Fantasien und auf diese Weise sichtbar oder sogar übersichtbar. Oder aber sie werden als derart unwichtig eingestuft, dass ihre Existenz einfach aus der dominanten Perspektive verbannt wird: Sie werden unsichtbar. Diese Phänomene der Unsichtbarkeit bzw. der Übersichtbarkeit rassifiziert markierter Gruppen und Personen sind bekannt aus der Intersektionalitätsforschung, wo sie häufig das Resultat von sich überschneidenden Mehrfachdiskriminierungen darstellen. Das Konzept der Intersektionalität geht davon aus, dass sich Kategorien sozialer Ungleichheit (Geschlecht/sex/gender, Klasse, Hautfarbe, Alter, körperliche (Un)Versehrtheit, Religion etc.) im Falle einer Überschneidung (intersection) wechselseitig verstärken, abschwächen oder verändern, statt sich lediglich zu addieren.[61] Zurückgeführt werden kann die Intersektionalitätsforschung auf die ganz spezifische Diskriminierungserfahrung Schwarzer Frauen, die sich im Feminismus westlicher weißer Mittelschichtfrauen nicht repräsentiert fanden (»All woman are white, all blacks are men«). Geprägt hat den Begriff schließlich Ende der 1980er-Jahre die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw, die bei ihrer Analyse von Gerichtsfällen herausfand, dass Schwarze Frauen bei Diskriminierungsfällen am Arbeitsplatz in Bezug auf ihre Hautfarbe wie auch auf ihr Geschlecht wechselseitig ausgeblendet wurden, indem nur die privilegierten Mitglieder der jeweiligen Gruppe gehört wurden. In Fällen von sexueller Diskriminierung am Arbeitsplatz kamen weiße Frauen zu Wort, in Fällen von rassistischer Diskriminierung Schwarze Männer. Schwarze Frauen wurden auf diese Weise intersektional unsichtbar. In Polizeikontrollen (racial profiling) und Einlasskontrollen hingegen sind Schwarze Männer oft übersichtbar.[62] Die Überschneidung der Ungleichheitskategorien männlich und Schwarz hat zur Folge, dass Schwarze Männer eine spezifische Form der Diskriminierung erfahren: die intersektionale Übersichtbarkeit. Hier wird ihr äußeres Erscheinungsbild mit stereotypen Vorurteilen über Schwarze Aggressivität und Kriminalität verbunden und dementsprechend gehandelt. Ein fiktionales Beispiel für (rassistisch und sexistisch motivierte) intersektionale Unsichtbarkeit bot z. B. der Tatort Das verschwundene Kind vom 03.02.2019 mit Maria Furtwängler und Florence Kasumba. Bei ihrem ersten Zusammentreffen hält die Kommissarin Charlotte Lindholm (Furtwängler) ihre Schwarze Kollegin Anaïs Schmitz (Kasumba) für eine Reinigungskraft und richtet ihre Fragen zunächst an Schmitz’ Untergebenen, einen weißen Mann. Ein weiteres sehr schönes Beispiel für die Doppelrolle Schwarzer Menschen als je nach Perspektive unsichtbare oder übersichtbare Personen findet sich in der französischen Serie Lupin, deren Hauptprotagonist, der geniale Dieb Assane Diop (Omar Sy), die Fähigkeit, seine Sichtbarkeit zu ändern, bewusst einsetzt. So ist er als Schwarze Reinigungskraft oder als Schwarzer Fahrradkurier unsichtbar und wird nicht weiter beachtet. In seiner Rolle als der Schwarze Multimillionär Paul Sernine zieht er jedoch alle Blicke auf sich. Die Sichtbarkeit wird von den Protagonisten zudem verbal thematisiert. Zu seinen vermeintlichen Komplizen, Männern of Color, die als Reinigungskräfte verkleidet das Louvre betreten, um ein Diamantenkollier zu stehen, sagt Diop: »Deswegen wird euch niemand sehen.« (Staffel 1, Folge 1, 7:58). Nachdem Diop als Paul Sernine das besagte Diamantenkollier für 60 Millionen Euro ersteigert hat, äußerte der Auktionator: »Ich muss gestehen, Monsieur Sernine, dass ich mit so einem Käufer wie Ihnen nicht gerechnet habe.« – »So wie ich? Was heißt das?«, fragt Diop nach. Da Diop die rassistische Anspielung nicht schweigend hinnimmt, sondern provozierend nachfragt, rudert der Auktionator zurück: »Ich mein ja nur. Wissen Sie.« (Staffel 1, Folge 1, 25:20–25:30). Die rassistische Beleidigung steht unausgesprochen im Raum und sorgt somit für eine Spannung, die von dem eigentlichen Diebstahl ablenkt, wodurch es Diop nicht nur gelingt, die Polizei zu überlisten, sondern auch seine vermeintlichen Komplizen.

Ob eine Schwarze Person als unsichtbar oder als übersichtbar erscheint, scheint somit stark von ihrem Kontext abzuhängen. Schwarze Menschen, die im Kontext von Dienstleistungen, Exotik oder Armut auftreten, werden von weißen Personen als unsichtbar wahrgenommen, da sich hier verinnerlichte Vorurteile über Armut oder koloniale Fantasien zu bestätigen scheinen. Schwarze Personen hingegen, die als Individuen, als Protagonist*innen einer Erzählung, in Erscheinung treten, fallen aus dem Rahmen und somit auf. Überscheidet sich das Ungleichheitsmerkmal Hautfarbe mit weiteren Ungleichheitsmerkmalen (z. B. Gender oder Alter) entsteht eine neue spezifische Art der Sichtbarkeit und der Diskriminierung. Dies trifft beispielsweise auf junge Schwarze Frauen (Alter/Hautfarbe/Gender) zu, die auf eine andere Art intersektional übersichtbar sind als junge weiße Frauen, und denen aufgrund der Überscheidung der Merkmale jung, Schwarz, weiblich eine spezifische Form der sexuellen Diskriminierung droht. Alice Hasters weist auf die besondere Fetischisierung und Erotisierung von Körperteilen (Po) bei jungen Schwarzen Frauen hin, von der junge weiße Frauen nicht betroffen sind.

Dies lässt Rückschlüsse auf das dominierende weiße Welt- und Menschenbild zu, in dem Schwarze Menschen vorwiegend als Gruppe und im Kontext von Armut, Exotik, Kriminalität und Erotik verortet werden; aber nicht in der weißen ›Normalität‹. Die Frage der (intersektionalen) Sichtbarkeit ist für viele Schwarze Menschen auch im Alltag von besonderer Bedeutung, da diese oft berichten, sich permanent sichtbar und somit auch bemerkt oder beobachtet zu fühlen, in Menschenmengen nicht zu verschwinden, sondern aufzufallen. In dem Dokumentarfilm Afro.Deutschland: Wie Schwarze Menschen ihre deutsche Heimat erleben der Deutschen Welle von 2020 fallen die Begriffe ›Sichtbarkeit‹ und ›unsichtbar‹ in fast jedem Interview.[63] So berichtet der Zeitzeuge, Schauspieler und Journalist Theodor Wonja Michael, dass er sich während der NS-Zeit oft gewünscht hat, unsichtbar zu sein, ebenso wie ein Schwarzer Mann, der als Opfer rechter Gewalt interviewt wird. In dem Dokumentarfilm der WeltAlltagsrassismus in Deutschland von 2020 berichtet ein Afrodeutscher, dass er am Wochenende nicht mehr mit seiner Familie ans Meer fahre, da er dort permanent angestarrt werde, was ihm Unbehagen bereite.[64] Häufig berichten Schwarze Menschen zudem, dass sie nicht nur infolge ihrer Sichtbarkeit angestarrt werden, sondern dass darüber hinaus Reaktionen weißer Menschen wie das feste Umklammern der Tasche erfolgen (Kriminalisierung Schwarzer Menschen) oder ein plötzlicher Griff in die Haare (Exotisierung Schwarzer Menschen). Von der Erfahrung, diese Sichtbarkeit plötzlich loszuwerden, berichtet die US-amerikanische Journalistin Sara Yasin: »Ich erinnere mich daran, wie ich mich in den Tagen, nachdem ich aufgehört hatte, das Kopftuch zu tragen, durch Menschenmengen schlängelte und mich von meiner Unsichtbarkeit berauschen ließ. Mein vermeintliches Weißsein brachte eine Leichtigkeit: Die Welt erschien mir freundlicher.«[65] »Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. […] Was es heißt, durch die Straßen zu streifen und nicht damit rechnen zu müssen, dass jemand im Vorbeigehen meine Haare zu berühren versucht«, beschreibt Sasha Marianna Salzmann die Unmöglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu gleich mehreren Minderheiten (intersektionale Übersichtbarkeit) ›kaschieren‹ zu können.[66] Die Dichterin May Ayim verarbeitete diese Fragen der Sichtbarkeit rassifiziert markierter Menschen in lyrischer Form: »gelassen/wie ein spiegel/zeigen was ist/ohne angst zerschlagen zu werden/von dem was sichtbar wird/bevor was sichtbar wird«[67]. Der Schriftsteller und Kolumnist Deniz Utlu erkennt drei Ebenen von Sichtbarkeit in diesen Zeilen des Gedichts »vertrauen«. Zunächst die eigene Sichtbarkeit des lyrischen Ichs, das darauf vertrauen möchte, sich zeigen zu können, wie es ist. Dabei richte sich der Blick des lyrischen Ichs auch in die Vergangenheit: »Der ›spiegel‹ zeigt auch die Ahnen, ihre Taten und Visionen, was ›sichtbar‹ ist, zerschlägt nicht, sondern stärkt.«[68] Auf der zweiten Ebene gehe es Utlu zufolge um Vertrauen als Abwesenheit von der Angst, sich zu zeigen, weil ›zerschlagen‹ werden könne, was ›sichtbar‹ ist. Daraus resultiere die Freiheit, sich nicht verstecken zu müssen. Auf der dritten Ebene gehe es schließlich um die Vulnerabilität von Menschen, die als Rassifizierte sichtbar sind. Die Frage nach dem Vertrauen richte sich hier an die weiße Mehrheitsgesellschaft.

Die Frage nach der Sichtbarkeit beinhaltet somit immer auch die Möglichkeit einer Gefahr. Unsichtbarkeit impliziert das Übersehen- und Übergangenwerden und somit auch die Missachtung der Interessen einer Person oder Gruppe. Unsichtbarkeit kann jedoch auch Schutz und Anonymität bedeuten. Übersichtbarkeit hingegen macht angreifbar, denn sie kann als Projektionsfläche missbraucht werden. Permanente Sichtbarkeit verursacht zudem racial stress.

Sichtbarkeit ist jedoch nicht nur ein elementares Thema in Bezug auf rassifiziert markierte Menschen, sondern auch in Bezug auf die unmarkierte Norm. So ist in den Mainstreammedien (z. B. Nachrichtensprecher*innen, Journalist*innen, Autor*innen und Protagonist*innen von (Kinder)Büchern) die Sichtbarkeit der unmarkierten Norm dominant. In diesen Medien werden diejenigen Menschen, die auf der Straße übersichtbar sind, plötzlich unsichtbar. Sichtbarkeit funktioniert somit wie ein Vexierbild: Immer wenn die Normgruppe sichtbar ist, ist die marginalisierte Gruppe unsichtbar und umgekehrt. Die Sichtbarkeit der einen impliziert immer die Unsichtbarkeit der anderen. Sichtbarkeit kann dabei in manchen Kontexten als gewaltvoller Prozess bezeichnet werden; etwa wenn bestimmte Berufsfelder vorwiegend von weißen Männern dominiert werden oder umgekehrt rassifiziert markierte Frauen in Berufe wie die Pflege oder die Gebäudereinigung gedrängt werden. Ein weiteres Beispiel für das aktive Unsichtbarmachen einer marginalisierten Gruppe gibt Emilia Roig, die darauf hinweist, dass die Kinder in den ehemaligen französischen Kolonien lange Zeit in der Schule nur Französisch und kein Kreolisch sprechen durften;[69] diese Sprache als Teil der Identität sollte unsichtbar gemacht werden. Die Künstlerin Grada Kilomba beklagt in diesem Zusammenhang auch die Unsichtbarkeit Schwarzen Wissens in Deutschland. Die Autorin und Journalistin Kübra Gümüşay wiederum verweist auf die Unterdrückung von kultureller Pluralität im deutschen Schulsystem: »Wie hätten sich meine bilingualen Mitschüler*innen – ohne Prestigesprache – entwickelt, hätten wir in der Schule neben Goethe und Schiller auch Emine Sevgi Özdamar, Nazik al-Mala’ika, Maya Angelou, Orhan Pamuk, Hafes, Audre Lourde, Ellen Kuzwayo oder Noémi de Sousa gelesen?«[70] Unerwünschte Sprachen oder Kulturgüter werden von der dominanten Norm systematisch marginalisiert und somit unsichtbar gemacht – ein Prozess, zu dem das Bildungssystem seinen Teil beiträgt.

Dass diese Wahrnehmungen mit den Phänomenen der permanenten Sichtbarkeit, der alltagsrassistischen Unsichtbarkeit, der alltagsrassistische Übersichtbarkeit (inklusive ihrer Mechanismen wie Kriminalisierung, Exotisierung, Homogenisierung, Sexualisierung, Animalisierung etc.) und der Übersichtbarkeit der unmarkierten Norm in den Medien bereits in der Kinderliteratur etabliert werden, wollen wir in unserem Analyseteil ausführlich darlegen. Denn die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die Bücher, die in der Kindheit gelesen werden, die weiße Wahrnehmung Schwarzer Menschen sowie die Selbstwahrnehmung Schwarzer und weißer Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflussen.

Sprache & Gewalt

Sprache und Geschichte sind durch eine jahrhundertelange gemeinsame Entstehungszeit ineinander verwoben. Sprache ist somit nicht neutral, sondern spiegelt geschichtliche Ereignisse und kulturelle Mentalitäten wider. Dies gilt auch und sogar ganz besonders im Hinblick auf Rassismus, der sich in der deutschen Sprache manifestiert hat. Imperialismus, Kolonialgeschichte und Rassendenken haben Einfluss auf die Sprache genommen und manche der Begriffe und Ausdrücke sind in unserem heutigen Sprachgebrauch immer noch erhalten. Ein Beispiel hierfür ist die Assoziierung Schwarzer Menschen mit afrikanischen Rohstoffen, wie Lebensmitteln. So werden Schwarze Menschen bisweilen (auch im erotischen Kontext)[71] als ›Schokolade‹ bezeichnet oder mit Kaffee verglichen bzw. light-skinned Personen mit Milchkaffee etc. Hierzu zählt auch die Metapher ›jemanden durch den Kakao ziehen‹, die eine Verbindung zwischen Schwarzer Haut, Schokolade und Demütigung impliziert. Die Kulturwissenschaftlerin Jule Bönkost weist darauf hin, dass mit solchen Bemerkungen unbewusste kolonialrassistische Bilder abgerufen und wiederholt werden:

»Exotisierende rassistische Vorstellungen bringen Schwarze Menschen seit jeher auch in Verbindung mit Lebensmitteln und Konsumartikeln wie Kaffee und Schokolade, die historisch mit Kolonialismus, Ausbeutung und Versklavung von Schwarzen Menschen verknüpft sind.«[72]

Die Imagination als Nahrungsmittel impliziert zudem eine Bemächtigungsfantasie, da Nahrung ja verzehrt wird.

Eine weitere rassistische Ausdrucksform der deutschen Sprache ist die Schwarz-weiß-Dichotomie. Hierbei erhält die Farbe ›weiß‹ eine positive Konnotation, die häufig auch mit Sauberkeit und Reinheit assoziiert wird. Die Farbe ›schwarz‹ ist konträr dazu negativ konnotiert und steht häufig in Verbindung mit Schmutz und Schuld. Hierfür finden sich viele (metaphorische) Beispiele: Das ›reine Gewissen‹ steht dem ›schwarzen Gewissen‹ gegenüber und die ›weiße Weste‹ dem ›schwarzen Fleck auf der Weste‹. Ansonsten gibt es noch das ›schwarze Schaf‹, den ›schwarzen Peter‹, den ›Schwarzmarkt‹, das ›Darknet‹, die ›schwarze Liste‹, die ›schwarze Pädagogik‹, ›schwarzfahren‹, ›schwarzärgern‹, ›schwarzarbeiten‹, jemanden ›anschwärzen‹ etc. Ein Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) macht darauf aufmerksam, dass Schwarze Sportler*innen in der Sportberichterstattung bisweilen auch mit Tieren verglichen würden; Bezeichnungen wie ›schwarze Gazelle‹ oder ›Panther‹[73] sind in durchaus üblich. Die Wendung ›wie bei den Hottentotten‹ wiederum bezeichnet Chaos oder Unordnung, die auf Unzivilisiertheit hindeutet. Dass es sich bei dem Wort ›Hottentotten‹ um eine Fremdbezeichnung handelt, versteht sich von selbst.

Natasha A. Kelly macht darauf aufmerksam, dass »Sprache eine aktive Form des Handelns ist, bei der auch Gewalt ausgeübt werden kann«[75]. Die Performativität von Sprache hat erstmals der britische Philosoph John L. Austin in den 1950er-Jahren beschrieben, der seither als Begründer der Sprechakttheorie gilt. Austin legt dar, dass »etwas sagen, etwas tun heißt«. Als »illokutionären Akt« bezeichnet Austin »einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt«.[76] Beispielhaft können rechtliche Akte wie der richterliche Schuldspruch genannt werden oder auch der Trauungsakt durch eine/n Standesbeamten/in. Das Prinzip wirkt aber auch im Alltag, z. B. bei einer verbalen Entschuldigung; diese erfolgt durch das Aussprechen des Wortes ›Entschuldigung‹. Weiterentwickelt hat dieses Konzept unter anderem die amerikanische Philosophin Judith Butler, die in ihrer Untersuchung Hass spricht (2006) explizit den Zusammenhang von Sprache und Gewalt im Kontext des Straftatbestandes ›hate speech‹ und dem Recht auf Redefreiheit analysiert.[77] Sprechen heißt somit Handeln. Besonders deutlich wird dies anhand der (rassistischen) Beleidigung. Die Verletzung einer Person erfolgt rein verbal; man kann jemandem ernsthaft und dauerhaft wehtun, ohne ihn/sie auch nur zu berühren. Diffamierende Sprache kann somit als Waffe, als verbale Form von Gewalt angesehen werden (Tucholsky).

Die Sozialwissenschaftlerin Olenka Bordo wiederum bezeichnet auch die Inhalte von Büchern und Filmen (Bilder, Werte und Normen einer Gesellschaft) als »Sprachhandlungen«. Diese sozialen sprachlichen Handlungsformen bleiben bei ständiger Wiederholung in der eigenen Vorstellungswelt haften. Die kritische Auseinandersetzung mit der Sprache in (Kinder)Büchern bezeichnet Bordo daher als bildungspolitische Verpflichtung.[78] Eine ausgrenzende Sprache funktioniert somit langfristig als ›selbsterfüllende Prophezeiung‹: »Rassistische Sprache wird seit vielen Jahrhunderten dazu missbraucht, ein System aufrecht zu erhalten, welches dazu dient, institutionell und individuell zu unterdrücken«[79], so Tupoka Ogette.

Wörter, in denen sich die geschichtliche Prägung der (deutschen) Sprache, die Macht der dominanten Mehrheit, die alltagsrassistische Übersichtbarkeit sowie verbale Gewalt kumulieren, sind die Fremdbezeichnungen für rassifiziert markierte Gruppen. Und gerade diese Begriffe finden sich in der klassischen Kinderliteratur häufiger als in jedem anderen literarischen Genre: das N-Wort und das M-Wort für Schwarze Menschen und People of Color, I* für indigene Amerikaner*innen, Z* für Sinti*zze und Rom*nja oder E* für Iniut.

Im Fokus der sogenannten ›Kinderbuchdebatte‹ von 2013 standen das Wort N* und die Frage, ob dieses Wort bereits zur Entstehungszeit der klassischen Kinderbücher rassistisch gewesen sei oder rein deskriptiv. So gehen sowohl der Thienemann Verlag als auch alle Kritiker*innen von Änderungen an Kinderbüchern davon aus, dass der Begriff N* zur Entstehungszeit der Texte (um 1950) nicht rassistisch gewesen sei, seitdem jedoch einen semantischen Wandel durchlaufen habe und erst im 21. Jahrhundert seine rassistische Bedeutung erhalten habe.[80] Hierzu schreibt Grada Kilomba:

»Der Begriff ›N.‹ soll alle südlich der Sahara lebenden AfrikanerInnen kategorisieren und wurde während der europäischen Expansion erfunden. Das N-Wort ist also in der Geschichte der Versklavung und Kolonisierung situiert, d.h. es ist ein Begriff, welcher mit Brutalität, Verwundung und Schmerz einhergeht. Ursprünglich kommt das N-Wort aus dem Lateinischen als Bezeichnung für die Farbe Schwarz: niger. Am Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch das N-Wort bereits ein abwertender Begriff mit verletzendem Charakter, der durchaus strategisch genutzt wurde, um das Gefühl von Verlust, Minderwertigkeit und die Unterwerfung unter weiße koloniale Herrschaft zu implementieren. Also wenn ›N.‹ gesagt wird, wird nicht nur über die (Haut)Farbe ›Schwarz‹ gesprochen, sondern auch über: Animalität – Primitivität – Unwissenheit – Chaos – Faulheit – Schmutz.«[81]

Die Germanistin Dakha Deme schreibt dazu:

»Bereits mit der Verwendung im Portugiesischen und Spanischen im 16. Jahrhundert wurde die Bezeichnung ›negro‹ mit dem Wort Sklave konnotiert und im Weiteren mit anatomisch-ästhetischen (hässlich), sozialen (wild, ohne Kultur), sexuellen (abnorm) und psychologischen (kindlich) Vorstellungen verknüpft. […] die Konnotation war von vornherein und dauerhaft inbegriffen, wurde jedoch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von den meisten Europäern nicht problematisiert.«[82]

Der Begriff ›N*‹ war somit noch nie positiv oder wenigstens neutral konnotiert und auch nicht rein deskriptiv. Das einzige, das den Kinderbuchautor*innen, die diesen Begriff in ihren Büchern verwendet haben, vielleicht positiv angerechnet werden kann, ist, dass ihnen die volle Bedeutung des Wortes und seine verletzende Wirkung vermutlich nicht bewusst gewesen sind.

Ebenso verhält es sich mit dem M-Wort, das im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr so verbreitet ist, dafür aber gerade in Kinderbuchklassikern doch noch häufiger auftaucht. Dazu schreibt Tupoka Ogette:

»Das Wort ›M*‹ ist die älteste deutsche Bezeichnung für Schwarze Menschen. In ihm findet sich das griechische ›moros‹, was auf deutsch ›töricht‹, ›einfältig‹, ›dumm‹ und ›gottlos‹ bedeutet. Ebenfalls steckt das Wort ›maurus‹ darin, welches ›schwarz‹ und ›dunkel‹ bzw. ›afrikanisch‹ bedeutet. Allein schon durch diese Bedeutungen diskreditiert sich diese Bezeichnung für Schwarze Menschen.«[83]

Rechtlich gesehen können Begriffe wie das N-Wort den Tatbestand der Beleidigung erfüllen (›Ehrdelikt‹). Rechtliche Dienste im Netz weisen darauf hin, dass das N-Wort (privat und öffentlich) die häufigste Form der rassistischen Beleidigung darstellt. Die Einordnung des N-Worts als rassistische Beleidigung gilt jedoch nicht pauschal, sondern wird rechtlich im Einzelfall entschieden und ist abhängig vom Zusammenhang der Äußerung. 

Eine Rolle spielen können das N-Wort und andere diffamierende Fremdbezeichnungen wie das Z-Wort zudem im Kontext der Volksverhetzung (§ 130 StGB), also insbesondere beim Aufstacheln zum Hass bzw. der Aufforderung zu »Gewalt- oder Willkürmaßnahmen.«

Dass das Wissen um den diffamierenden Charakter des N-Wortes immer stärker verbreitet ist, zeigt sich auch daran, dass mittlerweile bereits elf deutsche (Groß)Städte (darunter Köln, München, Kassel und neuerdings Frankfurt) die Ächtung des N-Worts (und teilweise auch des M-Worts) beschlossen haben. Diese Ächtung hat allerdings lediglich Symbolcharakter und besitzt somit nicht das Potenzial, gegen die Weiterverwendung dieser Begriffe (z. B. in Namen von Apotheken) zu intervenieren. Dennoch setzen die Städte zumindest ein deutliches Zeichen, das dazu beitragen kann, die Verharmlosung dieser rassistischen Fremdbezeichnungen in Zukunft zu verhindern.

Diese Fremdbezeichnungen, allen voran das N-Wort, seien somit »unerlaubtes Terrain für weiße Menschen«, betont die Journalistin Hadija Haruna-Oelker. Für Schwarze Menschen hingegen kann die Übernahme des N-Wortes in den eigenen Sprachgebrauch identitätsstiftend wirken, wie dies in der frühen Hip-Hop-Szene der Fall war.[84] Bei Begriffen wie dem N-Wort ist es also eine Frage der Perspektive: Während es als Eigenbezeichnung im Sinne einer Umdeutung genutzt werden kann, ist es als Fremdbezeichnung hingegen inakzeptabel. Wenn ein Schwarzer Mensch einen abwertenden Begriff für sich selber nutzt, muss diese Selbstbezeichnungspraxis akzeptiert werden, sie legitimiert aber weiße Menschen nicht dazu, diesen Begriff ebenfalls zu benutzen.[85]

Die Bedeutung, die das Aussprechen des N-Wortes durch eine weiße Person im Hinblick auf die Performativität von Sprache mit sich bringt, fasst Grada Kilomba so zusammen:

»Dann mag das klingen, als ob das Hauptproblem des Rassismus die Unterschiede zwischen Menschen seien bzw. die Präsenz dieser Unterschiedlichkeit. Tatsächlich ist es umgekehrt: Menschen werden durch Diskriminierungsprozesse und Ungleichbehandlung zu Abweichenden gemacht – deswegen ›Don’t You Call Me ›N.‹!‹«[86]

Mit der Verwendung des N-Wortes ist somit die Übernahme der Perspektive jener Menschen verbunden, die es ›in die Welt gesetzt‹ haben, und deshalb zugleich die Unterdrückung der so Bezeichneten.