Und was machen Sie beruflich? - Rolf Dobelli - E-Book

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Rolf Dobelli

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Beschreibung

»Und was machen Sie beruflich??« Die schlimmste aller Fragen, sofern man wie Gehrer gerade gefeuert wurde. Nach dem Schock der Entlassung muss er sich neu sortieren. Vor allem wie es seiner Frau Jeannette beichten, die unaufhaltsam Karriere macht?

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Rolf Dobelli

Und was machen Sie beruflich?

Roman

{5}1

Vielleicht hat es doch gezittert.

 

Schon im Aufzug, ein ungewöhnliches Schütteln. Wie wenn man mit einer Gondel in die Bergstation einfährt. Auf den letzten Metern jeweils das Hin- undherrempeln zwischen Holzplanken.

 

Als er aus dem Aufzug getreten ist, auf der achtzehnten Etage, hat er es in seinen Beinen nochmals gespürt – das Rütteln.

 

Jetzt sitzt Gehrer an seinem Schreibtisch – in Papierberge versenkt.

 

Wenn es im Aufzug rüttelt, muss das nichts bedeuten. Das kann am Aufzug liegen.

 

Sonntagnachmittag – eine perfekte Zeit, um den Schutt der vergangenen Arbeitswoche abzutragen und sich gedanklich auf die kommende {6}einzuschießen. Es gelingt selten, sämtliche Pendenzen abzuschütteln. Im Gegenteil. Sie entwickeln sich zu Ungeheuern. Man wird noch daran sterben, denkt er.

 

Gehrer lässt das Dossier auf den Tisch sinken. Stille. Nur das Summen von Neonlicht.

 

Keine Erdbeben in dieser Stadt!

 

Ab und zu ein entferntes Zischen der automatischen Spülanlage im Herren-WC. Dann ist es wieder still.

 

Kein Mensch weit und breit. Gehrer ist der Einzige auf der ganzen Etage. Möglich, dass er der Einzige im ganzen Gebäude ist.

 

SolutionsUniverse – wer solche Firmennamen erfindet, verdient es, hingerichtet zu werden!

 

»Wir erwarten Sie im Konferenzraum, Montagmorgen sieben Uhr«, hatte der CEO gesagt, dann aufgehängt. Gehrer hatte nicht einmal Gelegenheit, nach den Traktanden zu fragen.

 

Dreifachverglasung. Ziehende Wolken hinter feinem Raster. Wenn selbst die Straßen im Schnee {7}untergehen, gibt es nur noch den See – ausgestanzt zwischen puderigen Hügeln. Heute bleibt der Schnee im Himmel hängen. Nur einzelne Flocken wirbeln, steigen, würzen eine sonst leichte Luft mit haarigen Eiskristallen.

 

Ohne wandernde Wolken sähe das aus wie die Großaufnahme einer Fototapete. Früher hatten seine Eltern jedes Jahr das mannshohe Panoramaposter einer anderen Stadt über seine Tapeten geklebt. Für ein Jahr lang stand man dann in Paris, Rom, New York oder lag auf dem Bett unter der Sydney Harbor Bridge. Nach einigen Tagen gewöhnte er sich an die neue Stadt, an das staubige Kolosseum, die zerbrochenen Steinbögen, die bunten Touristen in dieser Steinwüste, deren Figuren im Vierfarbendruck verschoben als rote, blaue, gelbe und grüne Punkte auseinandersprangen, von den Gesichtern ganz abgesehen; er vermisste den violetten Abendhimmel über New York, die auslaufende Queen Elisabeth II., die gelben Fähren hinter der Statue of Liberty, die aus Newark hervorsteigenden, sich im Violett auf‌lösenden Flugzeuge. Nach einem Jahr stand er in einer neuen Stadt, in San Francisco oder London, richtete sich ein, atmete Tapetenleim, der sich tagelang in der neuen Stadt hielt, presste Blasen nieder, solange {8}der Leim noch feucht war. Ärgerlich waren stets die Übergänge. Selbst wenn man die einzelnen Bögen oben sorgfältig aufeinander abstimmte, das Brückengeländer der Golden Gate haarscharf auf dem anderen Bogen weiterfuhr, so spaltete sich die Welt spätestens am Ende der Tapete, auf Bett-, also Augenhöhe, manchmal zentimeterweit. Der von winzigen Tug-Boats geschleppte Öltanker in der San Francisco Bay hatte einen Sprung, hörte für einen Moment auf zu existieren, zeigte Ansätze von römischen Steinbögen und lief dann zeilenversetzt weiter. Öl lief keines aus.

 

Einmal, mit sechzehn, hatte er genug davon, in fremden Städten zu wohnen, riss Tapete um Tapete nieder, schichtenweise Monumente, Paläste, Lichter, Türme, Säulen, Straßen, Himmel, stampf‌te den Papierklüngel mit seinem eigenen Gewicht klein, drehte ihn mehrmals am Boden, um wieder und wieder raufzusteigen, ihn runterzuwalzen, mit den nackten Füßen zu bändigen, ohne dass die Kugel kleiner wurde. Es blieb ein schwerer, sperriger Haufen Papier. Dann öffnete er das Fenster und ließ das Dutzend Städte auf die Straße fallen. Der Wind war stürmisch in jener Nacht. Gehrers erste Erfahrung als Mann von Welt.

 

{9}Heute geht kaum Wind. Das Gewinkel der alten Dächer. Der helle, schiefe Himmel. Winter aus allen Richtungen.

 

Selbst der Boden steht still.

 

Ein Eckbüro mit zwei Fensterfronten gibt’s nicht für jedermann, schon gar nicht an der Südwestecke des Glasturms.

 

Für den Marketingchef gibt es zwei Fensterfronten.

 

Die Etagen haben wenig mit der Hierarchie zu tun. Die Kantine zum Beispiel befindet sich zuoberst, im zweiundzwanzigsten Stock. Manchmal setzt er sich an einen Tisch voller Lehrlinge aus dem Call Center. Dann wechseln die Gespräche, ohne dass weniger geredet wird.

 

Nur noch selten spricht ihn jemand mit Herr Direktor an. Dann sind es kurz vor der Pensionierung stehende oder ausländische Sachbearbeiter auf bedauernswert geringen Hierarchiestufen. Nicht einmal Jobsuchende nennen ihn so. Für die Jungen ist er bloß der Gehrer, und so behandeln sie ihn auch.

 

{10}Trotzdem, und im Hinblick auf die morgige Sitzung: Eine Beförderung in diesem Alter kann nie vollkommen ausgeschlossen werden.

 

Winter jenseits der Dreifachverglasung.

 

Das hat er gemeint zu spüren: ein Rütteln, ganz kurz, dazu ein kaum hörbares Rauschen aus dem Untergrund.

 

Das Hirn ist unberechenbar.

 

Das letzte Beben in Zürich muss Jahrhunderte zurückliegen, wenn überhaupt. Nie haben seine Eltern oder Großeltern von einem Erdbeben erzählt. Auch nicht seine Lehrer. Erdbeben gibt’s nur im Ausland.

 

Kein Land ist stabiler als die Schweiz.

 

Es war kein Rauschen. Eher ein Dröhnen aus der Tiefe.

 

Es ist idiotisch, sich im achtzehnten Stockwerk aufzuhalten. Es ist idiotisch, sich überhaupt in einem Gebäude aufzuhalten. Dazu noch an einem Sonntagnachmittag, wenn man mutterseelenallein ist.

 

{11}Vermutlich ist alles nur Einbildung.

 

Selbst im Radio: keine Meldungen, ein Erdbeben betreffend. Nur schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft an diesem Februartag. Miserabler Empfang. Gekrächze. Er dreht es aus.

 

Diese schleichende Unordnung auf dem Schreibtisch, in den Schubladen, überall.

 

Das Summen aus winzigen Transformatoren.

 

Gehrer kann jetzt nicht weiterarbeiten. Er sitzt am Schreibtisch und horcht. Nichts. Dann steht er auf. Auch der Gang ist leer. Wieder steht er still, schaut eine Weile zu Boden – seine Schuhe, als wären sie auf den Spannteppich geleimt –, dann geht er weiter. Er marschiert mit kräf‌tigen Schritten auf und ab, als könnte er damit Geister vertreiben.

 

Jeder Schritt ein Akt der Selbstbestätigung.

 

Keine Firma stabiler als die SolutionsUniverse!

 

Jetzt zieht er einen dünnwandigen Plastikbecher aus der Röhre, die an der Seite des Kaf‌feeautomaten angebracht ist, und verschwindet im Herren-WC.

 

{12}Dort füllt er den Becher randvoll mit Wasser, stellt ihn auf den Boden und kauert sich daneben. Keine Vibration. Auch nicht nach einer Viertelstunde.

 

Mit der Zeit setzt er sich auf den WC-Boden, umspannt die angezogenen Beine mit den Armen. Das ist weniger anstrengend.

 

Noch immer nichts.

 

Jetzt liegt er auf den Bodenkacheln, seitlich, den Kopf auf den Arm gestützt wie ein Fotomodell im Bikini.

 

Die Wasseroberfläche im Becher ist so starr wie eine Scheibe Glas. Die unendliche Produktion von Stille.

 

Plötzlich zischt und rauscht es, es zischt laut, Gehrer zuckt zusammen. Dann ist es wieder still. Darauf war er nicht gefasst: die automatische Spülanlage der Pissoirs.

 

Dann wieder nichts. Noch immer keine Vibration im Wasserbecher.

 

{13}Weshalb soll man sich fürchten, wenn gar nichts los ist? Es ist lächerlich! Gehrer steht auf und wäscht sich die Hände. Es ist idiotisch, denkt er: Der Marketingchef einer Softwarefirma im Firmen-WC, wie er über stehendem Wasser lauert. Zum Glück ist er allein in diesem Gebäude. Was er im Spiegel sieht: Der Haarausfall ist of‌fensichtlich, aber nicht problematisch. Er sieht nicht älter aus, er fühlt sich nur älter, und er fragt sich, ob er es lieber umgekehrt hätte.

 

Wieder die automatische Spülanlage. Ein Zischen, ohne dass sich der Boden krümmt.

 

Es kann gar nicht ohne Falten funktionieren, denkt Gehrer jetzt, rein physikalisch nicht. Die menschliche Haut ist kein Gummi. Das Gesicht bewegt sich, wirft sich in nachdenkliche oder lachende Posen. Außerdem wird gesprochen und gegessen. Es bewegt sich also etwas unter der Hülle. Notwendigerweise gibt es Orte, wo zu viel Haut liegt, wo sie sich ansammelt, als Vorrat für zukünf‌tige Bewegungen. Sie überwirft sich, schlägt Wellen, wirft Furchen, wird durch die Bewegung der darunterliegenden Muskeln zerknüllt, zerknittert. Hautbeben. Das alles beobachtet er im Toilettenspiegel, während er sich älter wünscht oder jünger, {14}aber älter aussehend, reifer, aber jünger, er weiß es wirklich nicht. Unter dem Mikroskop muss Haut aussehen wie verwüstete Landschaft, Härchen wie abgeknickte Bäume, Sturmschäden, Erdhügel, Furchen, Alpenverwerfungen, Poren wie Gletschertöpfe, Moränen, Rinde, erkaltete Schlacke, Reptilienhaut. Ein Glück, dass unsere Augen nicht in diesen Dimensionen sehen!

 

Gehrer, wie er vor sich selbst steht und mit dem Gesicht spielt. Es stimmt, was andere behaupten, dass er sympathischer aussieht, wenn er lächelt.

 

Auf einmal ist Gehrer wieder vergnügt. Er glaubt sich sogar summen zu hören. So schlendert er an seinen Arbeitsplatz zurück, wohl wissend, dass es zu keinem Erdbeben kommt, zu keinem Weltuntergang.

 

Gehrer sitzt da, eingefasst von zwei Fensterfronten, an einem Tisch und beugt sich über Papierstöße. Manchmal wirft er einen Blick aus der achtzehnten Etage auf die Lichter der Stadt hinunter. Nach einer Weile fällt ihm auf, dass die Papierstöße noch immer da sind.

 

{15}Er begreift: Seine Arbeit besteht, wie bei vielen Menschen, hauptsächlich aus Projekten, die früher oder später zwangsläufig im Sand verlaufen. Und doch verläuft seine Arbeit nie im Sand, weil es immer genug Projekte gibt, die gestartet werden wollen. Nur der Projektgehalt im Sand nimmt laufend zu …

 

Wenn Gehrer meint, es hätte wieder gerüttelt, bleibt er gefasst, weil er weiß, dass es nicht gerüttelt haben kann. Man glaubt vieles, wenn man denkt …

 

Erdbeben kommen, wenn sie kommen, immer über Nacht …

 

Auch das Rauschen, das er tief im Untergrund hört, das an- und abschwellende Rauschen, selbst wenn er sich nicht darauf konzentriert, ist kein Rauschen, weil die Schweiz nicht am Rand einer tektonischen Verwerfung liegt, sondern im Zentrum einer Kontinentalplatte, die so starr ist wie ein Fünf‌frankenstück.

 

Jetzt Schwaden von Nebel hinter dem Fenster. Die gelben Punkte der Straßenlampen als verwaschene Flecken.

 

{16}Jedes Jahr, wenn der Winter sich zurückzieht, die warmen Winde aus dem Süden allmählich über die Alpen kippen und den Schnee auf den Feldern wegschmelzen, wenn die Äcker schwarz glänzen, die ersten Segelboote auslaufen, die Sonne durch das Fenster die Schreibtischplatte erhitzt, die Papiere, Verträge, ja selbst den Kugelschreiber in Fieber legt, dann steht er auf, geht zur Tür, schließt sie von innen leise ab, schickt seiner Sekretärin eine E-Mail, dass er nicht zu stören sei, unter keinen Umständen, entnimmt dem Schrank ein aufklappbares Stativ, greift in seine Mappe, löst Plastikklappen von Linsen, kurbelt den Feldstecher auf dem Stativ fest und richtet sich aus: Schnee auf Hügelkuppen, auf Bäumen, in Wäldern, Schneefelder, durchlöchert von schwarzer, dampfender Erde, Schneeflecken mit festen Rändern in schattigen Lagen, Schnee in den von Tannen gesäumten Einschnitten, wo Bäche dem See entgegenhuschen, kein Wind, die Segelboote stehen im Glitzer, und er muss wegdrehen, so stark ist das Licht, dreht weg auf die Dächer und Straßen, Menschen erstmals ohne Jacken und Mäntel, viel of‌fenes Haar, beim Ruderklub hängen Geranienkästen aus den Fenstern, Möwen wie zu allen Jahreszeiten, Fischer zeilenweise auf den Brücken, Frühlingsfischen, dann wieder die Schneeflecken in der Ferne, die sich von {17}Tag zu Tag, Stunde zu Stunde verformen, reduzieren, wegdampfen. Manchmal glaubt er, das Gurgeln aus dem Untergrund zu hören, das versickernde Schmelzwasser, das dumpfe Plumpsen von nassem Schnee aus Ästen, das Nachwippen, das Nachrieseln aus dem Geäst, das Lärmen der Schwalben. Er wartet hinter der Verglasung seines Büros, bis sich die Sonne in einem körnigen Abendrot auf‌löst, ein dunkler Himmel über die Stadt streicht und Sterne platzen lässt. Ab und zu läutet das Telefon, summt das Faxgerät, blinkt eine Leitung. Sonst ist es still. Der Computerbildschirm beschlägt die Wände, seinen Schreibtisch, den Drehstuhl, die Papiere, den Drucker, den an der Tür hängenden Mantel mit einem kalten, unsicheren Licht. Draußen nur noch leuchtende Punkte, die sich nicht vergrößern lassen. Er schraubt hin und her – im besten Fall verzogene Striche. Unter gelben Bogenlampen: Ahnungen von Menschen.

 

Auch dieses Jahr: Gehrer kann nicht warten, bis der Frühling ausbricht.

 

Jetzt steht Gehrer am Fenster, Hände in den Hosentaschen, und schaut in die Nacht hinaus. Er spielt mit den Lichtern. Kneift die Augen abwechselnd zu, mal das eine, mal das andere, und sieht {18}ein, dass er sich damit nicht aus der Welt schaf‌fen kann.

 

Das Meeting morgen früh – also in wenigen Stunden. Es lohnt sich schon bald nicht mehr, nach Hause zu fahren. Überhaupt lohnt es sich immer weniger. Er könnte auch gleich hier übernachten, zum Beispiel unter dem Tisch. Es gibt Leute, die benötigen nur fünf Stunden Schlaf. Gehrer braucht mindestens sieben, sonst ist er am nächsten Tag unmöglich. Je älter er wird, desto wichtiger ist sein Schlaf. Schlaf ist sein größtes Hindernis auf dem Weg nach oben, denkt er manchmal.

 

Die Papierstöße sind noch immer da.

 

Oft braucht es ein Beben, damit etwas geschieht …

 

Auf dem Schreibtisch ein Foto von Jeannette. Eine alte Aufnahme. Sie ist Rechtsanwältin. Dass sie heute mehr verdient als er, ist für sie beide noch kein Problem.

 

Das Vibrieren der Tischplatte. Ein dumpfes Wüten im Untergrund. Ein Grollen. Es ist nicht mehr zu bestreiten. Ein Beben, ein Zerren, ein Trümmern. Gehrer wirft sich auf den geschichteten {19}Papierstapel, umklammert ihn mit beiden Armen. Dafür kippt Jeannettes Foto auf den Boden. Gehrer wie gemeißelt. Erschütterung selbst unter seinen Füßen. Es ist bald Mitternacht.

{20}2

Ein Beben, von den großen Börsenplätzen her anrollend, mit Sturmflut, reißt nationale Volkswirtschaften auf, bricht über Firmenimperien herein, zerfetzt Arbeitsplätze. Dieses Beben, Ausläufer einer spekulativen Verwerfung, modelliert sich umso hef‌tiger, seine Bahn ist umso zerstörerischer, je besser die Zeiten zuvor gewesen sind. Das ist immer so. Dass das Beben auch Unschuldige triff‌t, ist nicht zu vermeiden. Eigentlich sind es alles Unschuldige, deren finanzieller Haushalt bald unsanft auf den Kopf gestellt wird. Massenphänomene kennen keine Schuldigen – auch dies eine Weisheit aus der Geschichte.

 

Das Beben namens Rezession ist im Anzug, und man weiß: Die Zeiten werden härter. Der Befehl von oben lautet: Gürtel enger schnallen! Er wird ausgesprochen, noch bevor die Befehlenden denken müssen, denn er ist immer wahr, wenn das Beben andonnert, und es kommt nicht zum ersten Mal.

 

{21}Ein Kesseln, Kübeln, Knacksen, Rauschen, Dröhnen, Zerren, Stoßen, Stauchen – bis in alle Etagen. Jeder Wirtschaftszweig wird umgepflügt.

 

Ganze Märkte stürzen in die sich öffnenden Schlünde.

 

Die Richterskala wartet geduldig und nach oben of‌fen. Sie schluckt viel und in immer größeren Werten.

 

Das Beben, das von niemandem verursacht worden ist oder von allen, dämpft die vorlaute und aufmüpfige Haltung vieler Arbeitnehmer, die sich in der Hochkonjunktur ein Königsmäntelchen umgelegt hatten. Es macht sie arbeitsam und still. Es stellt das ursprüngliche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wieder her. Das alljährliche Lohngespräch darf die Abkürzung wählen. Dieser Tatbestand verleitet zur Auf‌fassung, die Rezession spiele den Vorgesetzten in die Hand. Sie ist falsch, »sind wir doch alle Angestellte«, wie der Chairman der SolutionsUniverse einmal tref‌fend bemerkt hat. Selbst die Aktionäre, also die wahren Arbeitgeber, bevorzugen die Kombination »goldene Umsätze plus aufmüpfige Angestellte« statt »Verluste plus X«, wobei X für irgendeine Befindlichkeit stehen kann.

 

{22}Trotzdem tut so ein richtiges Beben gut, hört man nicht selten sagen. Und weil sich alle ein bisschen mehr anstrengen, wird schon bald wieder die Sonne scheinen – so die nationalökonomische Theorie der Konjunkturzyklen.

 

Es kommt zu Tragödien an Arbeitsplätzen und außerhalb. Vermeintlich stabile Ehen gehen plötzlich entzwei. Die Loyalität zum Arbeitsplatz nimmt ungesunde Höchstmaße an. Und es bewahrheitet sich der alte Spruch vom Glück, dessen Schmied jeder Einzelne selbst sei. Dabei war er gar nie ungültig, der gute Spruch, auch nicht in besseren Zeiten, worauf die erfolgreichen Schmiede jetzt stolz hinweisen.

 

Gemäß einer Studie der Cambridge University beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung einer Firma weniger als zwölf Jahre – was ungefähr der Lebenserwartung eines Hundes entspricht.

 

In einer Rezession werden Firmen schneller krank als sonst. Unternehmensberater werfen sich flink in weiße Kittel und spielen Medizinmann. Sie empfehlen Aderlass und sehen zu, wie der Patient ermattet, dann wegstirbt.

 

{23}Unsichtbare Mägen schlucken Gelder, ohne zu rülpsen. Aktien gehen pfundweise ein. Investoren jammern. Die Börse hat sich verausgabt. Die Zentralbanken basteln, zukünf‌tige Inflation auslösend, an Konjunkturstützungsplänen.

 

Obwohl der weltweite Wirtschaftskrieg immer tobt, tobt er härter, wenn das Beben im Anzug ist. Gehrer, ein Krieger im sumpfigen Feld.

 

Man kann nicht immer nur fordern, man muss auch einmal geben, fordern Arbeitgeber – bestimmter als je zuvor.

 

Gehrer ist Absolvent einer Schule, auf der er die wohltätigen Eigenschaften von Geld studiert hat. Das Zettelchen, das die Schule nach vier Jahren emsigen Sich-Langweilens ausgespuckt hat, trägt die lateinischen Wortkrüppel lic. oec. Für Gehrer bedeuten diese Buchstaben die Welt und für die Welt einen Menschenschlag, den man lieber nicht auf die Felder schickt.

 

Noch lacht Gehrer, wenn vom Beben die Rede ist, er lacht und dreht mit seiner Hand die lange Nase, auch wenn seine Knie vor Erschütterung zittern. Schon den ganzen Winter. Von seiner Sekretärin {24}auf das Beben angesprochen, sagt Gehrer: Man ahnt vieles, was nie eintriff‌t.

 

Gehrer weiß: Firmen nehmen in Geduld vieles in sich auf, was bestenfalls auf die Entsorgungslisten der Arbeitslosenkasse gehörte. Damit meint er nicht sich, sondern die Kollegen aus der Finanzecke.

 

Und doch: Wenn einer auf die 40 zustrebt, so muss er auf der Hut sein. Zu schnell kommen sie, die Stoßtrupps der jüngeren Generation, ausgerüstet mit den neuesten Waf‌fen unternehmerischer Kampf‌führung. In den MBA-Trainingscamps in aller Welt wurden diese Eliteeinheiten darauf abgerichtet, den Älteren ihre Karriereleiter in Stücke zu sägen und sie zu zertrampeln. Wenn das Beben wütet, machen die Jungen erwartungsgemäß die größten Terraingewinne.

 

Sie sprechen eine andere Sprache, sagen »frame of mind« und »top line enhancement«, und kein Alter versteht, was sie damit meinen oder ob sie überhaupt etwas damit meinen. Vielleicht jagen sie den Altgedienten einfach so den Schrecken ins Gesicht – aus Spaß in unsicherer Zeit.

 

{25}Gehrer weiß: Sein Marketingvokabular reicht zwar noch aus, um die hellblaudummen Konsumenten zu schlagen, nicht aber, um die Armee der Jungen, die sich hinter seinem Rücken zusammenrottet, auszutricksen. Die Theorie der vier Ps – Product, Price, Promotion, Placement – hatte ihm damals genügt, seine Vorgänger auszuhebeln. Jetzt sind die vier Ps zum Kulturgut verkommen. Frauenvereine, Bischöfe und Selbsthilfegruppen im ganzen Land ernähren sich von dieser dünnen Suppe. Vielleicht ist ja das Marketing tatsächlich so unwirksam, wie seine Kritiker schon immer behauptet haben. Wenn das Produkt ein Unglück ist, was kann er als Marketing-Chef dann noch ausrichten? Einen Marketingmix aus Scheiße riechen auch die dümmsten Konsumenten.

 

Nun kommt der große Rasenmäher aus dem SolutionsUniverse Headquarter angebrummt. Wer sich nicht duckt, kommt unter die Klinge.

 

Dumm, dass das Beben just mit seinem 40. Lebensjahr kollidiert. Gehrers Alter guckt ihm aus allen Löchern.

{26}3

Es ist Montagmorgen. Auf der Straße rollt ein dunkler Wind, wirft mit eisigen Splittern um sich. Ein dicker Schal verhindert, dass der Winter Gehrer von außen her umbringt.

 

Montag, 16. Februar. 06:30 Uhr. Achtzehnte Etage. Gehrer ist eine halbe Stunde zu früh da, in der Hoffnung, etwas über die Traktanden der anberaumten Sitzung in Erfahrung zu bringen. Gehrer steht vor der geschlossenen Tür zum Konferenzraum. Das Schiebeschildchen steht auf Rot und sagt »besetzt«. Gehrer wartet.

 

06:40 Uhr. Geräusche hinter der geschlossenen Tür. Ein Gewirr von Stimmen ohne Zuordnung zu bestimmten Kehlen.

 

06:45 Uhr. Gehrer schiebt das Schildchen abwechselnd von Rot (besetzt) auf Grün (frei) und kommt zum Schluss, dass es nichts an der Tatsache ändert.

 

{27}Es stand auf Rot (besetzt), bevor er daran geriegelt hat, und außerdem vernimmt er Stimmen, die nicht seinem Kopf entspringen.

 

06:50 Uhr. Gehrer schlendert die grauen Korridore entlang und lässt seinen Finger über die Glasscheiben schleifen, durch die sein Blick in die Büros seiner Angestellten fällt. Manchmal kommt ein Türrahmen, dann schlägt es dumpf an seinen Zeigefinger, dann wieder Glas. Wie der Stromabnehmer einer Eisenbahn bleibt sein Finger verbunden mit diesen Arbeitsbiotopen, welche Unebenheiten auch kommen: Türrahmen, Wände, Glasscheiben, wieder Türrahmen, wieder Glasscheiben. Lautlos sein Gang auf dem geräusch- und farbenfressenden Spannteppich. Totenstille. Nur ab und zu das Quietschen seines Fingers auf Glas.

 

Der Spannteppich ist sandbraun und lässt Gehrers Schritte federn. Zum ersten Mal fällt ihm auf, wie leicht er vorankommt – aber vielleicht hat das mit seinem Stromabnehmer zu tun, der die Wände entlangfährt. Die Luft synthetisch und rein, umgewälzt und gefiltert, also gerade richtig, um Zähne in saftige Projekte zu versenken. Ansporn an allen Ecken und Enden.

 

{28}06:54 Uhr. Auf der Toilette zupft er die Krawatte zurecht. Neben ihm das Spiegelbild des Wasserbechers, unverrückt seit gestern Nacht. Gehrer entschließt sich, nicht daran zu denken. Er verlässt die Toilette. Steht schon im Gang draußen, kehrt um, tritt nochmals vor den Spiegel. Der Krawattenknoten sitzt perfekt – so straff wie seit dem Eintrittsgespräch nicht mehr. Auch die Haare laufen in geordneten Bahnen über seinen Schädel. Gehrer wandelt durch die toten Korridore und denkt: Das wäre nicht nötig gewesen. Was er auch denkt: Mit dieser Einstellung wird es nicht gut enden.

 

Das Summen von Neonlicht.