Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
'Die ewig Verstoßene', mein Trauma, mein Lebensgefühl! Ohne das Bewusstsein, einen gültigen Berechtigungsschein für diese Erde zu haben, führte mich meine Sicht der Selbstbetrachtung immer tiefer in zerstörerische Verstrickungen und Süchte. Das Buch erzählt die Geschichte von Selbstablehnung und Verirrung. Ein Weg über Verlassenheit, Missbrauch und Misshandlung, gefangen in der Macht der Süchte UND ENDLICH GEFUNDEN! Das ist meine Geschichte vom Fallen und Aufgehobenwerden, von Schuld und Vergebung, von Verzweiflung und Trost. Ich möchte allen Mut machen, die genau diese Emotionen mit sich herumtragen: Es gibt Hoffnung, es gibt einen Weg. Es gibt wieder Lachen und Freuen. Lasst euch mit hineinnehmen in diese wunderbare Welt der Erkenntnis von etwas ganz Besonderem!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
DOROTHY TINFIELD
Die Geschichte eines Lebens
… für meinen Sohn Dave.
Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides,
das Wollen und das Vollbringen,
nach seinem Wohlgefallen
Philipper 2,13
Was soll werden? Wie kann ich weiterleben? Wovon soll ich finanziell überleben? Und wer gibt mir Mut und Kraft, überhaupt weiterzumachen, weiterzukämpfen, und wofür? Wenn alles sinnlos erscheint, keine Perspektive, keine Motivation?
Ich funktionierte rein mechanisch, wie aus einem Instinkt heraus. Eigentlich kam ich mir vor wie gestorben, lebendig tot! Und doch seltsam getragen. Etwas in mir war stärker, funktionierte an meiner statt, setzte mich in Gang und ließ mich von Ermutigung zu Ermutigung stolpern und hoffen, dass auch eines Tages wieder Lachen möglich sein würde, Freude, vernarbte Wunden, vielleicht sogar geheilte?
Unruhig und unausgeschlafen wachte ich an diesem Morgen früh auf. Heute wollte ein Herr vom „gefürchteten“ Gesundheitsamt aufkreuzen, um sich meine Örtlichkeiten anzuschauen. Denn ich hatte beschlossen, eine kleine Pension zu eröffnen in dem leeren Haus, in dem ich völlig allein und in eben dieser Verfassung zurückgeblieben war.
Mein Haus, an das ich auf wunderbare Weise gekommen war. Das Haus, in dem ich Kindheit und Jugend verbrachte, also der Platz, der mir in meinem Leben am meisten Heimat bedeutet hatte – dieses Haus gehörte nun mir. Allerdings bevölkerte ich es ganz alleine. Meine restliche Familie war auf die eine oder andere, aber immer schmerzliche Weise von mir gegangen. Kein besonderes Haus. Nicht wirklich alt und nicht neu. Aber trotzdem nicht ohne Reiz. Hier kam mir meine jahrelange Sammelleidenschaft sehr zugute. Zusammengetragene Schätze, für mich jedenfalls, erhielten nun ihren eigentlichen Bestimmungsort im und ums Haus. Am Waldrand gelegen und so recht zum Abtauchen geeignet, hab ich es mit ein paar verwunschenen Sitzecken versehen, mit Wasserspielen an einem kleinen Teich, unprofessionell, aber romantisch. Und unter dem Vordach prangte mein Stolz: Ein alter Kohleherd auf geschwungenen Füßen, der später so manch einer geselligen Runde zur gemütlichen Wärmequelle und Kochstelle wurde. Mittel zum kostenaufwendigen Renovieren fehlten einfach. Also musste ich mit eigenen Ideen meine kleine Welt gestalten. Ob die Ideen gerade dann fließen, wenn die Mittel fehlen?
Jedenfalls empfanden viele Besucher mein Domizil als eine Welt für sich und anders! Die Stadt machte mir so hohe Auflagen, dass ich fast keine Chance hatte. Wie sollte ich all diese Bedingungen erfüllen? Ich wollte doch kein Hotel eröffnen, sondern so eine kleine Pension in privater Atmosphäre, ein Hauptzimmer und zwei kleine Ausweichräume für Familienanhang. Aber wie durchbricht man deutsche Bürokratie? Eine Gastronomieküche, wo ich doch nur kalte Speisen wie Frühstück und Abendbrot anbieten wollte! Tagelang hatte ich gewienert und geräumt. Vor allem die Küche auf Hochglanz poliert.
In der Nacht einwickelte sich in meinem unruhigen Gehirn der Plan, noch in aller Frühe die Kellertreppe zu streichen, damit ich einen ordentlichen Lagerplatz für Lebensmittel vorweisen könnte. Völlig übereilt und undurchdacht begann ich Treppe und Wände zu weißen. Geschafft! Noch die untere, letzte Stufe und dann hoffte ich, dass der Mann von Gewerbeaufsichtsamt sich noch etwas Zeit mit seinem Aufkreuzen lassen würde, damit alles in Ruhe trocknen könnte. Pustekuchen! Das Telefon schellte und ich rannte durch die Kellertüre hinaus, um zur Hintertüre in die Wohnung an den Apparat zu gelangen, bevor er aufhörte zu bimmeln. „Klöckner, Gesundheitsamt, ich bin in zehn Minuten bei Ihnen!“ Ach du meine Güte! Sowie ich auflege, mich betrachte, von Kopf bis Fuß voller Farbe, marschiert just meine pechschwarze Katze die frisch gestrichene Treppe hinab. Auf der zweiten Stufe rutscht sie aus, um die restlichen zehn hinunterzupurzeln. Schneeweiß die Katze, Rollspuren auf der Treppe und das nicht genug, denn kopflos und zeternd renne ich hinter dem Vieh her, damit auch meine Spuren noch verewigt würden. So zog sich dann zusätzlich zu der Katzenspur eine nachfolgende Barfußfährte durch den gesamten Keller. Ein kurzer Kampf mit der Katze, denn ich musste das sich wehrende Bündel komplett ins Wasser tunken und ordentlich rubbeln. Die Minuten tickten, aber rechtzeitig stand ich dann doch geduscht und sauber vor dem gefürchteten Mann. Und ich hatte Angst, dass meine Zukunftsträume, wenn man von solchen überhaupt reden konnte, hier abrupt ihr Ende fanden.
Ich bin nicht abergläubisch, aber das Datum und die Geschehnisse dieses markanten Tages passen gut überein. Dieser Tag war der zweite Abschnitt meines Lebens, obwohl ich erst sieben Monate zuvor das Licht der Welt erblickt hatte. Und doch begann hier mein Leben, das ich lebte, in das ich gesetzt wurde und über dessen gütige Fügung ich leider erst vollständig überzeugt wurde, in der späteren Rückschau auf die gesamte Tragweite der Ereignisse. Es war ein kalter, trüber Dezembertag. Die Straßen glatt, als ein kinderloses Ehepaar sich auf die zukunftsträchtige Reise begab, die ihr Leben komplett ändern sollte. Denn sie holten sich ein süßes, kleines Mädchen aus einem Kinderheim, was sie wie ihr eigenes lieben wollten, und das sie wahrscheinlich nie geholt hätten, hätten sie in die Zukunft blicken können. Wie gut, dass uns überhaupt dieser Blick verwehrt ist, denn sonst hätten wir alle vieles nicht gemacht, vielleicht sogar nicht Leben wollen. Gut verpackt in einer Tragetasche schrie das nette Geschöpfchen wohl die ganze Rückreise. Denn auch es wurde in ein neues Dasein katapultiert. Und später, weil sich eine Katastrophe anbahnte in Form von einem riesigen Felsblock, der von einem LKW herabstürzte, und unseren PKW völlig erfasste und den vorderen Teil des Autos zermalmte. Wie durch ein Wunder kamen die Insassen des Wagens unbeschadet mit Schock davon.
So begann der steinige Weg! Dieses Bild, wie ich in die Familie Einzug hielt, ist eigentlich auch ein treffendes Bild von meinem gesamten chaotischen Wesen und Werdegang, und ich muss sagen, dass ich manchmal etwas darum gegeben hätte, ein wenig gewöhnlicher zu sein und zu funktionieren. Für lange, lange Zeit. Später öffnen sich für mich auch die Türen zu den ersten sieben Lebensmonaten, deren Geschichte und Vorgeschichte, doch das bleibt vorerst noch versiegelt.
Ich verlebte eine sehr schöne Kindheit im Hause meiner Eltern. Und doch verdunkelten einschneidende Erlebnisse diese sonnige Zeit, Erlebnisse, an denen ich unschuldig war, doch auch später gerade zu den Dinge beitrugen, die mir und anderen das Leben zur Qual machen sollten. Alles erschien mir anfangs so rein und friedlich, obwohl ich schon immer ein störrisches Kind war, hab es aber nicht wahr genommen. Mein Sehnen jedenfalls ging immer wieder gerade in diese unbeschwerte Zeit zurück. Meine treue Jugendfreundin begegnete mir im Bach neben dem Haus und dort knüpfte sich ein Band, das viele Jahre eine kostbare Freundschaft besiegelte. Wir hatten die gleichen Flausen im Kopf. Unser Idol war Emma Peel von “Mit Schirm, Charme und Melone“, eine Agentin, die uns ungeheuer beeindruckte. Wir übten uns im Kämpfen, Klettern, und gingen detektivischen Spuren nach. Leute beschleichen, so wie wir es nannten, war unsere Spezialität. Unsre Residenz war ein großes Baumhaus, gut versteckt vor etwaigen Zerstörern, hoch oben im Baumwipfel. Als Auf- und Abstieg dienten uns „Lianen“. Leider war Lernen nicht unsre Leidenschaft und wir sahen auch keinen Sinn darin. Unser Leben spielte in anderen Gefilden.
Auch hatte sich ein Bruder zu mir gesellt, ebenfalls adoptiert. Dieser neuen Situation stand ich zuerst sehr skeptisch gegenüber. Als Mama und Papa ihn als 15 Monate altes Kleinkind anschleppten, war mein Protest sehr entschieden ablehnend. „Den könnt ihr gleich wieder wegbringen, den wollen wir nicht und den brauchen wir auch nicht!“ Ich war gerade drei Jahre alt. Aber ich muss mich wohl doch an ihn gewöhnt haben, denn irgendwann mochte ich ihn sogar richtig gern. Unsere Sympathie äußerte sich allerdings gelegentlich recht lautstark und kämpferisch, das heißt, ich war der Angreifer, der Provokateur! Er war meiner Natur völlig entgegen. Liebenswürdig, ruhig, sanft, das Gegenteil meines aufrührerischen Wesens, das schwer zu lenken war. Er war der Charmeur, der die Herzen der Eltern erfreute. Dadurch hatte er Narrenfreiheit. Ihm vertraute man, ihm glaubte man, ihn liebte man. Und für welchen späteren Preis! Er hatte die große Gabe, seine Ohren zu verschließen vor Worten, die er nicht hören wollte. Er hörte still zu, aber ohne jegliches Aufmerken, auf Durchzug geschaltet! Wohingegen in meinem Gehirn alle Worte explodierten, die mir zuwider waren und es sich in lautstarkem Protest und hysterischen Ausbrüchen offenbarte. Morgen für Morgen musste ich ihn schweigend beim Frühstück „ertragen“, vor sich hinglotzend und wiederkäuend wie eine Kuh. So empfand ich es damals. Auch wenn ich ihn ansprach, folgte keinerlei Reaktion. Seine Ideen äußerten sich teils auf recht makabere Art und Weise. Eine Begebenheit werde ich wohl nie vergessen, denn sie hätte mich fast einen Herzstillstand gekostet. Da waren wir aber schon pubertierende Teenies. An besagtem Abend stehe ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel, als sich laut quietschend meine Schranktüre öffnet und sich eine Gestalt von hinten auf mich zubewegt. Sie hatte einen Hut auf dem Kopf und das Gesicht mit einem Seidenstrumpf maskiert. Ein langer dunkler Mantel und Handschuhe, die sich immer näher an meinen Hals schoben. Und wohlgemerkt, all das beobachtete ich im Spiegel! Der Schrei blieb mir im Halse stecken und ich verharrte in völliger Erstarrung. Irgendwie hatte James (von Papa liebevoll Jamie genannt) erkannt, dass das kein Spaß mehr war und riss sich den Strumpf vom Kopf – mein doller Bruder! Wenn er im Dunklen nach Hause kam, hörten wir ihn schon von weitem, denn vor lauter Schiss ging er laut singend durch die Straße. Auch Abend für Abend sang er sich melodramatisch in den Schlaf. An diese Konzerte gewöhnte ich mich. Wenn sie ausblieben, vermisste ich sie sogar.
Die schönsten Mädchen der umliegenden Dörfer und Schulen standen vor unserer Tür. Alle liebten Jamie. Er sah auch zu drollig aus mit seinen süßen Locken und braunen Augen. Aus diesem Aussehen schlug er später Kapital… viel später! Er strickte seinen Verehrerinnen lange Schals und Pullover. Und die ergreifendsten Liebesbriefe landeten in unsrem Kasten.
Die erste bewusste Betrübnis erlebte ich mit sechs Jahren. Wir hatten eine große Verwandtschaft, viele Vettern und Cousinen und innige Kontakte hin und her. Wir liebten die Ausflüge zu den Verwandten, denn da sie alle viele Kinder hatten, war immer etwas los. Und so kam es auch oft vor, dass wir Feriencousins und -cousinen da hatten, die dann längere Zeit bei uns blieben. An sich herrlich, weil wir uns alle liebten. Und doch bleibt der übliche Zank und Streit trotz allen Mögens nicht aus.
Ich spielte mit meiner etwas älteren Cousine und einigen Nachbarskindern auf der Straße Gummitwist oder vielleicht Hock‘sche, als es zu einem Streit zwischen uns beiden kam. Ein harmloser Streit, der mit dem entscheidenden Satz endete, der mein Leben von da ab veränderte und viele Jahre prägte. Ein kleiner, gehässig dahingeworfener Satz, welch große Wirkung! „Was willst du denn überhaupt, du bist doch sowieso nur aus dem Heim!“ Nur aus dem Heim? Papa und Mama gar nicht meine Eltern? Ein minderwertiges Geschöpf, nur zweite Wahl? Nur… nur… nur…! Das klang so schrecklich. Weinend lief ich heim. Nur um mir die Bestätigung dessen zu holen, was ich da zuvor vernommen hatte. Es nützten keine Tränen der Eltern, die mich davon zu überzeugen suchten, dass ich von ihnen geliebt wurde. Es half kein liebevolles auf mich Einwirken. Der Stachel saß! Und wirkte wie vernichtendes Gift. Ein weggeschmissenes Kind. Ein Mensch, den man nicht wollte. Ich sah viele Jahre nicht, dass ich sehr wohl gewollt war, geliebt! Sehr geliebt sogar! Wenn meine Cousine dies wusste, dann wussten es sicher noch eine ganze Menge anderer Leute. Und ich schämte mich! Schämte mich meiner Herkunft, meines Daseins, fühlte mich unwert, minderwertig, und das über viele Jahre hinweg. Von da an war das unbeschwerte meines Lebens dahin! In mein ohnehin labiles Selbstbewusstsein stach dieser „Makel“ in die schwächste Stelle. „Zweite Wahl“, so wie die billigen Eier, das schlechtere Obst… mindere Ware! Ich war hübsch, nicht dumm, wurde geliebt, hatte liebe Freundinnen, besonders meine Olivia, aber es nützte alles nichts! Ich kam mit mir und dem Leben nicht klar! Tja, und dann wird der Weg der Suche nach Anerkennung und Bestätigung zu einer großen Gefahr, die denen Tür und Tor öffnet, die das auszunutzen wissen. So hatte ich einige um viele Jahre ältere Cousins, die sich besonders um mich kümmerten. Sie gaben mir „Zuneigung und Liebe“, sie missbrauchten mich. Oh nein, sie taten mir nie weh! So weit gingen sie nicht. Und ich, ich ließ es zu! Irgendwie wollte ich es sogar! Ich war erst sieben! Ich verwechselte es mit Liebe und Zuneigung. So zerstörten sie den Rest meines übriggebliebenen, unbekümmerten und bis dahin noch unschuldigen Lebens. Dieser Spuk zog sich über Jahre hin. Aber zum Glück waren die Gelegenheiten nicht so häufig gegeben. Auch damit wurde ich jahrzehntelang nicht fertig. Fand mich schuldig, verdorben für alle Zeiten! Eben diese minderwertige Ware, die für solche Wege herhalten muss. Da ja eines das andere hinter sich herzieht, ging mein Weg rapide und steil bergab. Hinzu kommt wohl auch eine erbliche Veranlagung, die ich aber erst viel später rekonstruierte. Jetzt jedenfalls geriet ich in einen Sog, ein Strudel, dem ich nicht standhalten konnte, sondern der mich mit sich fortriss, unaufhörlich, stetig und immer tiefer nach unten.
Früh begann ich Zigaretten zu rauchen. Die stibitzte ich immer aus der Zigarettenpackung von Papa. So ganz vorsichtig ein oder zwei am Tag. Meine Kumpanin war wie immer die Olivia. Das Rauchen gestaltete sich für uns wie ein feierliches Ritual. Entweder auf einem Jägersitz, in unserem geliebten Baumhaus, oder in irgendeiner Höhle, die wir ausfindig gemacht hatten. In dieser Höhle fanden wir übrigens auch Tierskelette und einen Personalausweis von einem Mann. Wir bauten uns à la Emma Peel einen Krimi daraus zurecht und wollten dem „entflohenen Sträfling“ auf die Schliche kommen, indem wir diesem Phantom auflauerten. Wenn jetzt jemand denkt, ich hätte früh begonnen mit der Raucherei, so muss ich hier einfügen, dass mein Sohn mich bei weitem übertraf. Er traf sich mit fünf Jahren heimlich mit Teenies, die ihren Spaß daran hatten, den kleinen Kerl, gerade trocken hinter den Ohren, zum Rauchen zu animieren. Und sie hätten es nicht mit meinem und Bens Sohn zu tun gehabt, wenn sie dies nicht geschafft hätten!
So etwa mit 13 Jahren lernte ich Freundinnen auf dem Gymnasium kennen, die mir mehr zu bieten hatten als nur Zigaretten, und ich begann zu kiffen. Dazu gesellte sich aber gleichzeitig ein unheimlicher Zwang nach Alkohol. Ich denke, es war einfach das Bedürfnis, sich den Kopf zuzudröhnen! War mir das Leben zu schwer? Ich weiß es nicht! Nicht selten besoff ich mich bis zur Bewusstlosigkeit. Es geschah manchmal, dass ich nach Hause getragen werden musste. Meine Freunde schellten an der Haustüre und rannten dann schnell weg. Wenn von innen die Türe geöffnet wurde, fiel ich im Flur um, oder kotzte alles voll. Wie oft saß ich zugekifft oder angetrunken beim Abendessen. Ich musste zu der Zeit immer zum Essen daheim sein. Aber ansonsten erinnere ich mich nicht großartig an Strafen. Außer, dass meine Eltern mich ziemlich kurz angebunden hielten und meine Ausgehzeiten beschnitten. Eine Erziehungsmaßnahme scheiterte derart peinlich, dass meine Eltern sich später doppelt und dreifach überlegten, wie mit mir zu verfahren sei. Jedenfalls lautete diese Straf-Exekution am Samstag Abend anstatt „auf den Jöck“ zu gehen – so sagte Mama immer und ich fand den Ausdruck einfach scheußlich – mit zur Kirche! Irgendwie hatten sie das Bedürfnis, mich mit zu Gott zu schleifen, obwohl sie selber eigentlich mehr der Form halber gingen und weil ein ordentlicher Mensch es so tut. Man hatte mich an diesem Tag aus der Schule nach Hause tragen müssen, so sehr hatte ich mich mal wieder betrunken. Diese Erziehungsmaßnahme Kirche vergaß ich nie. Jedenfalls fand ich mich auf der Empore wieder, weil ich da ein bisschen anonymer verweilen konnte, so dachte ich, bis meine elende Übelkeit und die dünne Luft in den oberen Rängen bewirkten, dass ich im hohen Bogen meinen Magen vollständig über die Brüstung hinaus nach unten über der letzte Bankreihe entleerte und dann zusammenbrach. Ob und wie viele Menschen eine Kostprobe meiner Innereien bekamen weiß ich nicht, da ich später nie mehr wagte, diesen Abend auch nur zu erwähnen. Ich fiel jedenfalls erst einmal um und wurde hinausbefördert, was für mich bestimmt mildernde Umstände bedeutete.
Einmal wollte Papa mich aus der Disko holen, aber das Warnsystem dort funktionierte optimal, da sich diese Szene von besorgten Eltern öfter abspielte. Damals gab es kaum Diskos und unsre Eltern konnten das nicht einordnen. Für sie waren es einfach ganz schlimme, gefährliche Orte. Ich wurde jedenfalls rechtzeitig zum Hinterfenster hinausgeschleust. Papa hatte das wohl geahnt und nahm mich draußen in Empfang, bzw. entwischte ich ihm vor der Nase und rannte seltsamerweise heim, von ihm gefolgt auf den Fersen. Ich schloss mich in mein Zimmer ein, aber er war so wütend, dass er plötzlich im Zimmer stand. Da die Tür nicht kaputt ist, nehme ich an, dass ich selbst aufgemacht habe. Ich weiß, dass ich mich unter meine Bettdecke verkroch und er auf mich und ich auf ihn einschlug, beide heulend. Dieser Mann, der mich als kleines Kind so sehr liebte, dass es schon sprichwörtlich in der Nachbarschaft war! Dieser Mann, der in der Schule um mich bettelte! Und jetzt kämpfte er immer noch für mich!! Was hab ich ihm nur angetan? Und das ist ja erst der Anfang!
Ich besuchte wie schon erwähnt damals das Gymnasium. Klug genug war ich wohl, aber stinkfaul. Hinzu kam Aufsässigkeit und Rebellion. Teilweise tranken wir vor der Schule schon Schnaps, geklauten, aus dem Supermarkt! Immer wieder kam es vor, dass wir Lehrer anhauchen mussten. Das bewirkte, dass wir uns fürchterlich über diese „Frechheit“ aufregten und hetzten. Ich hatte meine Gleichgesinnten, aber was viel schlimmer war, war die Tatsache, dass ich auch brave Mädchen mit in meine Machenschaften hineinzog. Bis dahin wohlerzogene Töchter kamen plötzlich betrunken heim.
Als ich sitzen blieb, weigerte sich ein Lehrer, mich in seine Klasse aufzunehmen, aber Diktat von Oben, er musste!
Dafür hasste er mich und ich ihn! Ich durchwanderte mehrere Klassen doppelt, bis ich von der Schule musste. Mehrere ungenügend auf dem Zeugnis und eine Bemerkung in Betragen, die wohl selten auf einem Zeugnis gestanden hat. Ich hab‘s mir als Warndokument verwahrt, obwohl ich heute schon wieder soviel Abstand habe, dass ich leider drüber grinsen muss.
Die Realschule wollte mich auch nicht. So ist Papa bettelnd und gute Kinder versprechend, zu diesem Direktor gegangen. Und er hat sich erweichen lassen, es mit uns, das war Jamie ebenfalls, für ein halbes Jahr zur Probe, zu versuchen. Der gute Mann! Heute danke ich ihm noch für seine Menschlichkeit. Diesen Mann wollte ich nicht enttäuschen und ich gab mir viel Mühe. Klar, ich blieb ich, aber ich erkannte eben das Wohlwollen und das spornte mich an. Ich empfand es als ermutigende Zeit und die Lehrer kamen mir wie Menschen vor. Mit 19 hatte ich dann meinen Realschulabschluss! Und nicht mit Glanz und Gloria! James hatte mit mir die Schule gewechselt, aber bei ihm lag das anders. Er war ein lieber, aber kein guter Schüler. Er hatte es einfach schwer, die nötige Leistung zu bringen. Eines Tages verließ er das Haus wie immer, um zur Schule zu gehen und tauchte dort nicht auf. Ebenfalls sein Freund. Als sie auch später nicht zuhause eintrafen, wurde die Sache schon merkwürdiger. Von vielen Nöten zerrissen, trampte James mit seinem Freund über die Grenze ins Nachbarland. Er hinterließ uns ein faszinierendes Tagebuch, indem er herzzerreißend seine Nöte schilderte. James hatte eine Art sich auszudrücken, dass ein Deutschlehrer ihm vor Begeisterung die Note sehr gut mit Sternchen verlieh! Er blieb Wochen weg. Er war erst 14. Die Sorgen hier zuhause waren unerträglich! Kein Hinweis, kein Lebenszeichen!
Interpol wurde eingeschaltet. Eines Tages rief er von der Grenze an und bat flehentlich geholt zu werden. Stinkend und hungrig brachten die Eltern ihn heim. Papa erzählte später, er hätte gemeint, zwei Kühe hinten im Auto zu befördern, so müssen die beiden gestunken haben. Ja, sie hatten die Wochen wie Clochards verbracht, pennend im Freien oder in Obdachlosenasylen, wo sie auch manch Elend und Zwielichtigkeit mitbekommen haben. Sie versuchten zu jobben, dabei muss Jamie wohl in einem Imbiss mit dem Serviertablett die Glastheke zerdeppert haben und ihnen blieb nur die Flucht. Ständig hatten sie Angst geschnappt zu werden. Als die große Reue kam, versuchten sie, sich zu stellen, wurden aber von der Polizei nicht ernst genommen. Erst Angst vor der Polizei, später Hilfe suchend abgewiesen. Viele Jahre später, James war schon verheiratet, ging er mal kurz aus dem Haus, nur um die Ecke Zigaretten holen, und kam nie wieder. Seine Frau löste die Wohnung auf und zog weg – und siehe da, ein halbes Jahr später reiste er ihr nach und beteuerte ihr seine große Liebe. Einige Jahre blieben sie noch zusammen, bekamen zwei Kinder, James eröffnete eine gutgehende Massagepraxis und es ging ihnen gut. Zu gut? Wenn James nicht so eine Lust zu so einem verpflichtenden Leben gehabt hätte! So begann er zu spielen – bis seine Frau Konsequenzen zog! Und auch mit ihm ging der Weg bergab!
Mittlerweile hatte ich einen festen Freund. Ich war 15. Mit diesem war ich drei Jahre lang zusammen, die längste und beste Beziehung die ich jemals haben sollte. Er war gut zu mir! Er baute mich auf, gab mir Selbstbewusstsein. Er fand mich schön und ich begann es sogar ein wenig zu glauben. Er half mir sehr, mich anzunehmen wie ich war, wertvoll für ihn! Wertvoll überhaupt? In dieser Zeit lebte ich relativ solide. Ich hatte Perspektiven, Zukunftsgedanken und -vorstellungen! Es lief mit der neuen Zeit in der neuen Schule konform. Bau einen Menschen stabil genug auf, sodass er selbst das Laufen lernt, dann tritt er dich in den Hintern. Zumindest war ich Miststück genug, um so zu handeln! Als ich mich dann selbst als doch nicht ganz so minderwertig ansah, kamen natürlich auch „höher gesteckte Ziele“. Gab es denn nicht einen besseren, besonders hübscheren Mann, einen, mit dem man auch äußerlich angeben könnte? Das waren meine damaligen Wertvorstellungen. Ich begann mich umzusehen und F. zu betrügen. Mittlerweile war er bei der Armee. Und ich hatte nach mehreren Kostproben jemanden kennengelernt, bei dem ich „bleiben“ wollte. Wie zieht man sich am besten und schmerzlosesten aus der Affäre? Man ruft einfach in der Kaserne an und macht mal eben telefonisch Schluss! Diesen Schlag verkraftet nicht jeder so einfach. F. nicht! Bei einem Manöver explodierte eine Handgranate in einem Brunnen und F. blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Was letztendlich geschah, weiß ich nicht. Es wurde viel gemunkelt. Tatsache ist, dass F. versuchte, sich das Leben zu nehmen und viele Monate lang psychiatrisch betreut werden musste.
Da ich ja so ein verständnisvoller Mensch bin, so dachte ich tatsächlich von mir, schrieb ich F. einen theatralischen Brief, er könne sich immer an mich wenden, ich wolle ihm immer eine vertraute Freundin sein. So leichte Worte, die ich weder halten konnte, noch wollte. Diesen Brief fand ich beim Räumen vor einiger Zeit auf dem Speicher. Beim Lesen sträubte sich mir mein eigenes Fell. Wieso ich ihn dort fand, weiß ich nicht. Jahrelang konnte ich F. nicht in die Augen schauen, hab mich abgewendet bei Begegnungen. Er ahnt nicht, wie leid mir heute mein eigenes Verhalten tut. Und doch, ich hätte auch nicht bei ihm bleiben können, denn es war keine Liebe, die uns verband, zumindest nicht von meiner Seite aus. War er damals für mich gut genug, eine Lücke zu füllen?
Diese drei Jahre waren wie eine Bremse in meinem Leben, dass dann anschließend wieder den Abwärtskurs nahm. Mehrere kurze Beziehungen folgten. Alle mit Zank, Streit, Betrug, Alkohol und Drogen. Mittlerweile verkehrte ich in Kreisen, wo es völlig normal war, von einem zum anderen zu springen, normal, zu betrügen und betrogen zu werden. Selbst die besten Freunde schreckten nicht zurück, einander zu hintergehen. Durch dieses lose Leben entsteht ein ganz typischer Effekt. Man geht den soliden Menschen aus dem Weg, weil man sich des eigenen Versagens sehr wohl bewusst ist. Die Folge ist, dass man sich noch enger an das Milieu anschließt. Dort findet man die Gleichgesinnten, ist man Eine von ihnen. Ich war leidenschaftlicher Kiffer – es bekam mir besser als Alkohol. Anfangs war es sogar schön. Doch wie sehr es die Psyche zerstört, habe ich erst viel später gemerkt, zu spät! Und es bleibt nicht beim Kiffen.
Der Eine bringt Speed mit, der Andere Trips und der Dritte schleppt Koks an. Als Frau hatte man es sowieso immer leichter „eingeladen“ zu werden. So vergingen die Jahre parallel zu meiner Berufsausbildung als Erzieherin.
Ich zog Hals über Kopf von zu Hause aus.
Ich wollte frei sein. Und das sollte ich auch bekommen, aber ganz anders, als ich es mir je vorgestellt hätte. Ich hatte mittlerweile eine neue Beziehung zu einem Mann mit eigener Wohnung. Er gehörte zu der Clique der bestaussehendsten und trinkfestesten Typen in der Gegend. Ich fuhr ihm sein gutes neues Auto kaputt. Vier weitere Personen brachte ich mit in Gefahr, einer davon schwer verletzt. Er wurde aber zum Glück wieder gesund, um sich dann später selbst das Leben zu nehmen. Zugekifft und betrunken am Steuer, es gab ein kleines Handgemenge zwischen uns, raste ich mit überhöhter Geschwindigkeit frontal gegen eine Hauswand. Drei Wochen lag ich mit schwerer Gehirnerschütterung im Krankenhaus! Mein Führerschein war weg und ich hatte eine Anzeige am Hals. Da ich durch die Scheibe flog, nicht angeschnallt, hatte ich Schnittwunden unter dem Auge und die Halsschlagader knapp verfehlt. Und ein schlechtes Gewissen, da ich nie das Geld haben würde, dieses nicht abbezahlte Auto zu ersetzen. Da ich nichts anderes hatte als mich selbst, gab ich eben mich! Ich zog zu ihm, dachte dadurch irgendwie etwas gutzumachen. Er ließ mich bei mancher Gelegenheit spüren, dass ich tief in seiner Schuld stand! Ich war in der Ausbildung, hatte wenig Geld. Er verdiente unseren Lebensunterhalt…und hielt mich natürlich absolut knapp! An Wochenenden schliefen immer Horden von Kumpels, besoffen und stoned bei uns im Wohnzimmer. Einer pinkelte in den Fernseher, weil er die Toilette nicht mehr fand. Ein anderer schmiss alles, was auf dem Tisch stand, samt Decke aus dem Fenster. Einmal fand ich morgens alles voller Blut bespritzt vor, ein anderes mal brannte unsere Wohnzimmerlampe ab und das schönste: Diese Wohnung und all ihr Treiben wurde von der Polizei überwacht, was ich aber erst viel später erfuhr, zu einem Zeitpunkt, als ich bei der Kripo vorgeladen wurde zwecks Verhör und dann eine Menge Fotos aus unserem Wohnzimmer vorgelegt bekam.
Das lose Leben wurde für uns zur Normalität. Das machten wir alle. Auch ich hatte ständig irgendwo irgendetwas nebenher am knistern, mal mehr oder weniger ausgeprägt. Aber wie oft habe ich mich damals schon geschämt für dieses lose Leben. Wenn wir keine Lust hatten zur Schule zu gehen, fuhren wir in die nächste Großstadt bummeln, oder wir trampten mehrere Male über die Grenze in eine Stadt, die für uns Kiffer sehr attraktiv und angesagt war. Dort verbrachten wir einige Tage in der Punkszene. Eine Klassenkameradin und ich hatten auf einer Klassenfahrt diese Clique kennengelernt und uns in zwei von ihnen verliebt. Also besuchten wir sie. Wir trafen eine für uns bis dahin völlig unbekannte Welt. Diese Szene belagerte eine alte, stillgelegte Fabrikhalle. Ein riesiges Gebäude, indem das Fahrrad als eines der Fortbewegungsmittel diente.
In den Nischen oder auch Räumen, wenn es die überhaupt gab, ich habe nur bruchstückhafte Szenen in Erinnerung, hatten sich die einzelnen Familien oder Clans zusammengerottet. Erschreckend fand ich einen Säugling, ganz in Leder gekleidet, anstatt in Windeln und Strampler, mit einer Sicherheitsnadel durchs Ohrläppchen gestoßen. Wir waren die einzigen „Hippies“, die überhaupt dort geduldet wurden. Daheim wohnte ich mit dem einen Mann zusammen und hier vergnügte ich mich mit einem anderen. Unser schreckliches Erwachen sollte doch bald kommen. Eines Nachts, es war wohl so etwas wie Halloween, waren wir mit den Punkern unterwegs. Wir besuchten das Tweilight, eine Disko, wo es mir heute mulmig ankäme, dort auch nur vor der Tür zu sitzen. Anschließend schlenderten wir völlig stoned – bei ihnen gab es Koksberge, wie ich sie nie wieder gesehen habe – durch die City. Anscheinend war am nächsten Morgen Müllabfuhr.