Unerhört - Fabienne Amlinger - E-Book

Unerhört E-Book

Fabienne Amlinger

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Beschreibung

Voller Elan zogen 1971 die ersten Politikerinnen ins Bundeshaus ein und mischten die Schweizer Männerdemokratie auf. Das war nicht immer einfach; mal galten die Anliegen der Frauen als unerhört, mal blieben sie ungehört. Fabienne Amlinger beleuchtet in fünf Essays Aspekte rund um den Eintritt der Frauen ins Feld der eidgenössischen Politik: vom Gelächter, das die Politikerinnen ernteten, wenn sie ans Redepult traten, über patriarchale Konventionen des Politisierens bis zur medialen Berichter­stattung und den zahlreichen Dramen rund um die Wahl von Bundesrätinnen. Daneben kommen die Politpionierinnen Lili Nabholz, Gabrielle Nanchen, Monika Stocker, Rosmarie Zapfl und Elisabeth Zölch mit ihren Erfahrungen zu Wort.

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Seitenzahl: 366

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Unerhört

Die ersten Politikerinnenim Bundeshaus

Fabienne Amlinger

Meinen Eltern – Mum & Pa

Vorwort

Achtzig Sekunden

Gespräch mit Gabrielle Nanchen:«Du wirst verlieren, aber das macht nichts.»

Grosse Heiterkeit

Gespräch mit Lili Nabholz:«Es gibt einfach so Schlüsselmomente.»

Ins Haus!

Gespräch mit Monika Stocker:«Das Bundeshaus, das Schweizer Parlament – das waren einfach Männer.»

Drama

Gespräch mit Elisabeth Zölch:«Ich habe das Spiel mitgespielt, um es zu gewinnen.»

Unerhört

Gespräch mit Rosmarie Zapfl:«Ich will mehr Gerechtigkeit!»

Anhang

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Bildnachweis

Vorwort

Es ist November 1971. Ein kalter Morgen. Elf Frauen in dunklen, eleganten Kleidern durchschreiten die Gassen von Bern. Ihr Ziel: das Bundeshaus. Sie passieren die Eingangspforte des altehrwürdigen Gebäudes, steigen die stattliche Treppe zu den Ratssälen hinauf und nehmen in den Sitzreihen des Parlaments Platz. Blumen schmücken ihre Pulte, die Ratskollegen grüssen freundlich, die Fernsehkameras stehen bereit. Wenige Minuten später werden die Frauen als erste Parlamentarierinnen in der Geschichte der Schweiz vereidigt.

Was so mühelos klingt, war es mitnichten. Damit diese Frauen als Politikerinnen die Schwelle des Bundeshauses überschreiten konnten, hatten andere vor ihnen einen beschwerlichen Weg zu gehen. Viel war nötig, bis man Schweizer Frauen endlich politische Rechte und damit Zutritt zum politischen Wahrzeichen der Nation gewährte: ein mehr als hundert Jahre währender Kampf um demokratische Teilhabe, zwei Frauenbewegungen, zwei eidgenössische und über neunzig kantonale und lokale Abstimmungen zum Frauenstimmrecht sowie die Überwindung hartnäckiger gesellschaftlicher Widerstände. Jahrzehntelang mussten Stimmrechtsaktivistinnen immer wiederkehrende Enttäuschungen wegstecken, Spott und Demütigung ertragen. Dennoch verloren sie ihr Ziel nie aus den Augen. Der Einsatz Tausender von Frauen und gleichgesinnter Unterstützer führte schliesslich zum Erfolg: Am 7. Februar 1971 legte die Mehrheit der Stimmbürger ein Ja zum Frauenstimmrecht in die Urne. So wichtig diese Errungenschaft auch war: Sie stellte nur einen Etappensieg dar. Denn der nächste Kraftakt, das nächste zähe Ringen stand sogleich bevor. Nun galt es, das politische Feld zu betreten, in Gremien gewählt zu werden und die begehrten Sitze unter der Bundeshauskuppel zu gewinnen. Doch dort waren alle Plätze schon besetzt.

Bei den ersten Wahlen nach der Einführung des Frauenstimmrechts schaffte eine Kandidatin den Sprung in den Ständerat. Zehn Frauen errangen einen Sitz im Nationalrat, und eine weitere, die für einen in den Ständerat gewählten Parteikollegen nachrückte, stiess wenige Tage später dazu. Mit ihrem Amtsantritt läuteten diese Pionierinnen ein neues Zeitalter im Bundeshaus ein – das Ende der reinen Männerdemokratie. Vorbei waren die Zeiten, in denen Frauen im Palais fédéral, im Zentrum der Bundespolitik, nichts zu sagen hatten. Darüber, welche Wege die Schweiz einschlagen, welche Form die Gesellschaft annehmen und was für wen wie gelten sollte, entschieden nicht mehr länger Männer unter sich und über die Köpfe von Frauen hinweg. Doch was trafen die Parlamentarierinnen in diesem bis anhin ausschliesslich von Männern besetzten Gebäude an? Liessen die Kollegen sie bereitwillig an die Schalthebel der Macht? Wehte den ersten Politikerinnen an jenem Morgen der frostige Wind einzig auf dem Weg zu ihrer künftigen Wirkungsstätte entgegen, oder blies er auch später im Innern der einstigen Männerdomäne? Wie brachten sie sich ins politische Geschehen ein, und wer waren diese Frauen überhaupt?

Elisabeth Blunschy-Steiner, Tilo Frey, Lise Girardin, Hedi Lang, Josi Meier, Gabrielle Nanchen, Martha Ribi-Raschle, Hanna Sahlfeld-Singer, Liselotte Spreng, Hanny Thalmann, Lilian Uchtenhagen, Nelly Wicky: Mit diesem Buch rücke ich die ersten sowie die ihnen folgenden Bundespolitikerinnen und ihre Erfahrungen im politischen Machtzentrum der Schweiz in den Mittelpunkt. Ihre Geschichte ist grösstenteils unbekannt, ihre politische und historische Bedeutung weitgehend in Vergessenheit geraten oder gar nie ins kollektive Gedächtnis gelangt.

Es sind ungehörte und zuweilen unerhörte Geschichten, die hier zwischen den Buchdeckeln versammelt sind. «Unerhört» – der vieldeutige Titel des Buches ist Programm: Politikerinnen gehörten als Frauen einer Gesellschaftsgruppe an, welcher der Zutritt ins Bundeshaus lange verweigert wurde. Als an diesem Ort nicht Vorgesehene symbolisierten sie Unerhörtes. Immer mal wieder bekamen Politikerinnen das auf empörende Art und Weise zu spüren. Unangebrachte Sprüche, Verhinderungsmanöver oder männliche Machenschaften – den frisch gewählten Volksvertreterinnen widerfuhr zuweilen Unerhörtes. Die Wahl ins Bundeshaus bot jedoch auch viele Chancen. Politikerinnen nutzten diese, etwa indem sie Anliegen auf die politische Agenda setzten, die in den Ratssälen zuvor überhört worden oder noch nie aufgetaucht waren, die als unerhört galten und entsprechende Reaktionen auslösten. Trotz unterschiedlichen politischen Standpunkten schlossen sich die Pionierinnen gelegentlich zu überparteilichen Allianzen zusammen, um sich gemeinsam für eine Sache, allem voran die Besserstellung von Frauen, einzusetzen. Mitunter feierten sie Erfolge und bewirkten Ausserordentliches. Ihr unermüdlicher Einsatz stiess breite gesellschaftliche Veränderungen an und ebnete den Weg hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Vieles haben sie erreicht, manches nicht für immer. Nachfolger:innen, die auf ihren Schultern stehen, müssen bis heute daran weiterarbeiten.

Fünf Essays beleuchten verschiedene Aspekte rund um den Eintritt der ersten und der in den Folgejahren dazugestossenen Politikerinnen ins Bundeshaus. Im Fokus des einleitenden Essays steht der Augenblick, in dem erstmals Frauen im Parlament Platz nahmen. Gerade mal achtzig Sekunden widmete die prominenteste Nachrichtensendung der Schweiz diesem historisch und demokratisch so wichtigen Ereignis. Den damaligen Protagonistinnen gibt das Buch an dieser Stelle mehr Raum, verleiht ihnen eine eigene Stimme und zeigt sie in ihrer Unterschiedlichkeit. Der zweite Essay thematisiert die «Grosse Heiterkeit» im Parlament. Erklang in den Ratskammern Gelächter, wurde dies in den Sitzungsprotokollen mit «Heiterkeit» oder, bei starker Belustigung, mit «Grosse Heiterkeit» vermerkt. Als die ersten Politikerinnen ans Redepult traten, amüsierte das etliche der Ratsherren. Doch was verbarg sich hinter diesen offenbar lustigen Momenten? Im Mittelpunkt des dritten Essays steht das von Männern für Männer erbaute Bundeshaus. Frauen stellte der Ort vor räumliche Herausforderungen, schliesslich war ihre Präsenz darin nicht eingeplant worden. Was trafen sie unter der Bundeshauskuppel an, wie beeinflusste das ihren politischen Alltag, und wie eigneten sie sich diesen Raum an? Unter dem Titel «Drama» geht der vierte Essay besonders bewegten Episoden im Bundeshaus nach. Solche stellten sich vornehmlich dann ein, wenn Politikerinnen die machtvollste Position anstrebten: einen Sitz in der Landesregierung. Die Geschichte der aufsehenerregenden, manchmal von Intrigen und Skandalen geprägten Bundesrätinnenwahlen liest sich selbst wie ein Drama. Thema des letzten Essays ist das facettenreiche Unerhörte, das titelgebend für das Buch steht. Dieser Text veranschaulicht, in welch unterschiedlichem Gewand Unerhörtes im Zusammenhang mit Politikerinnen ins Bundeshaus einzog.

Indem das Buch der medialen Berichterstattung zu den Politpionierinnen, dem Gelächter in Ratssitzungen, der Architektur des Bundeshauses und den zahlreichen Dramen rund um die Wahl von Bundesrätinnen nachgeht, eröffnet es neue Perspektiven auf die Konventionen, Strukturen und Ereignisse der Bundespolitik. Mit Fokus auf die weiblichen Akteurinnen, die – wenn überhaupt – in der Geschichtsschreibung nur als Randfiguren in Erscheinung traten, wendet es sich einer von der Historiografie bis heute stark vernachlässigten und versäumten Geschichte zu. Mit dem Buch schreibe ich gegen das kaum Erforschte sowie gegen die unerzählte(n) Geschichte(n) an und verfolge das Ziel, den ersten und frühen Politikerinnen sowie ihren Erinnerungen an die Zeit in Bundesbern Gehör zu verschaffen. Seit vielen Jahren führe ich unter Rückgriff auf die aus der Geschichtswissenschaft bekannte Methode der Oral History Gespräche mit eidgenössischen Politikerinnen, unter anderem mit den ersten und frühen Parlamentarierinnen und Bundesrätinnen. Einige dieser Stimmen sind inzwischen verklungen. Deren Geschichte, Erfahrungen aus der Zeit im Bundeshaus sowie wertvolle Einblicke ins Feld der Politik flossen in die Essays ein und machen sie als Personen greifbar. Manchen dieser Persönlichkeiten begegnen die Leser:innen über die folgenden Seiten hinweg immer wieder. Einen besonderen Platz erhalten die fünf ehemaligen Nationalrätinnen Gabrielle Nanchen, Lili Nabholz, Monika Stocker, Elisabeth Zölch und Rosmarie Zapfl. In Rücksprache mit der jeweiligen Gesprächspartnerin habe ich unsere Begegnung in einen Text gegossen, der aus ihrer Perspektive und in ans Mündliche angelehnter Sprache erzählt. Die fünf Gespräche liefern überraschende Erkenntnisse zum politischen Alltag und zu vielfach verborgenen Mechanismen im Bundeshaus. Darüber hinaus gewähren uns die Texte Einblick in das politische Tun und Wirken dieser Frauen. Jeder Text ist das berührende Zeugnis einer politischen Biografie.

Die in diesem Buch zu lesenden, bislang weitgehend ungehörten Geschichten aus dem Bundeshaus sind ein wichtiger Teil der Schweizer Geschichte. Genauso bedeutsam sind sie für die Debatte um Gleichheit und politische Teilhabe, die es in einer Demokratie zu führen gilt. Es sind die Geschichten von Frauen mit unterschiedlichen politischen Anschauungen und dem Leben, das sie führten: einem Leben, geprägt von beharrlichem Engagement, von verteidigten Überzeugungen und von der Lust am Politisieren, manchmal auch von Enttäuschungen und Wut. Vor allem aber von Mut.

Achtzig Sekunden

Aufregend ist es, ja, gewiss. Und neu, eine Sensation. Im Bundeshaus richten sich kurz nach zehn Uhr alle Augen auf sie. Auf die ersten, je in die eidgenössischen Räte gewählten Frauen, die dort auf ihre Plätze zusteuern. Die Sitzordnung, in sorgsam ausgeklügelter Regie erstellt, streut sie in ihre Fraktionen ein. Keinesfalls sollen sich die Damen geschlossen gruppieren, so die Idee dahinter. Die beabsichtigte Auflockerung wirkt dennoch reichlich bemüht. Im Ständeratssaal, wo neu eine Frau unter 43 Männern Einsitz nimmt, zeigt sich zugleich ein ganz anderes und doch kaum verändertes Bild als zu vormals frauenlosen Zeiten. Auch in der grossen Kammer versinken die zehn Nationalrätinnen schier in einem Meer von dunklen, ernst und streng wirkenden Herrenanzügen. Wo sie in den kommenden vier Jahren zu sitzen haben, eröffnet sich den ersten Parlamentarierinnen in der Geschichte der Eidgenossenschaft allerdings problemlos, leuchten auf den Tischreihen doch da und dort weisse und rote Blumen auf. Je drei Nelken und eine Rose begrüssen die frisch gewählten Politikerinnen und drücken in fast schüchterner Zurückhaltung, die das Schweizer Parlament in persönlichen Dingen an den Tag zu legen pflegt, Freude über den Einzug der Neulinge aus. Auch Genugtuung, ja eine gewisse Erleichterung schwingt an diesem Morgen des 29. Novembers 1971 im Innern des Gebäudes mit, das durch das garstige Wetter besonders grau wirkt. Die in den letzten Jahren gewachsene Sorge um das Bild, das man sich in der Welt vom kleinen Land mit den hohen Bergen macht, gehört endlich der Vergangenheit an. Manch ein Politiker hofft, dass das helvetische Ansehen im Ausland mit dem heutigen Tag steigt und die Sticheleien über die skurril anmutende Männerherrschaft im «Alpenparlament» verklingen. Zugleich, das befürchten ebenfalls einige, droht gewissen eingesessenen Bräuchen höheren oder minderen Wertes Gefahr, aber das muss wohl oder übel in Kauf genommen werden. Derlei Bedenken sind im allgemeinen Trubel, der jedem Beginn einer neuen Legislaturperiode eigen ist, jedoch rasch beiseitegeschoben. Szenen herzhafter Begrüssung unter Habitués und Neugewählten sorgen im Nationalratssaal für eine lebhafte Geräuschkulisse und lassen die Anwesenden das kalte, regnerische Draussen, durch das sie sich kurz zuvor noch kämpfen mussten, flugs vergessen. Um punkt halb elf Uhr kehrt mit der offiziellen Legislatureröffnung schlagartig Ruhe ein. In der feierlichen Stille verliest der Bundeskanzler wenig später die Eidesformel, woraufhin die Parlamentarier und erstmals auch Parlamentarierinnen die rechte Hand emporheben und im Saal ein kraftvolles «Ich schwöre es» erschallt.

Dieser historische Moment wird der Schweizer Bevölkerung nicht vorenthalten. Noch steht aber nicht in jeder Stube ein Fernsehapparat. Deswegen gibt es die «Filmwochenschau». Vom Bundesrat in Auftrag gegeben, sendet das Format im Vorprogramm der Kinos wöchentlich Filmbeiträge über politische, kulturelle, wissenschaftliche und sportliche Aktualitäten. Impressionen in Schwarz-Weiss flimmern über die Kinoleinwände der Nation und erreichen eine grosse Zuschauer:innenschaft. Dort, in bequemen Sesseln und behaglicher Dunkelheit, präsentiert man den Bürger:innen die ersten Bundespolitikerinnen. Mit kurzen Sätzen erschafft der Kommentator ein spezifisches Bild der Volksvertreterinnen, das sich dem Publikum einprägt und für die Nachwelt konserviert wird. Raum für vielfältige Eindrücke, mehr Kolorit oder eigene Stimmen der Hauptfiguren bietet es nicht.1

Es folgt hier ein Ergänzungsversuch, eine Wiederholung der Vergangenheit, eine umgestaltete Geschichte. Ausgehend von der Dramaturgie der damaligen «Filmwochenschau» mit ihrer geradezu flapsigen und äusserst knapp gehaltenen Beschreibung der gewählten Parlamentarierinnen führen wir uns die Szene nochmals vor Augen, verweilen aber etwas länger bei den Protagonistinnen: Was ging den Politikerinnen, die an jenem Morgen ihren Platz im Bundeshaus einnahmen, durch den Kopf? Was trafen sie am Tag ihrer Vereidigung an? Mit welchen Hoffnungen, Zielen und möglicherweise Vorbehalten betraten sie das bekannteste Gebäude des Landes? Im Folgenden entwerfe ich eine mögliche Darstellung dessen, was sich am Vormittag des 29. Novembers 1971 im politischen Herzen der Bundeshauptstadt abspielte. Einiges trug sich exakt so zu, anderes annähernd. Manches wird ein wenig ausgeschmückt, das eine oder andere angefügt. Erfunden oder fiktiv ist jedoch nichts. So gut wie möglich sollen die ersten Bundespolitikerinnen auf den folgenden Seiten ihre Stimme erheben können und dabei das ergänzen, überschreiben oder zurechtrücken, was die «Filmwochenschau» ihren Zuschauer:innen nur unzulänglich vermittelte. Die Zitate und Eindrücke stammen von den Parlamentarierinnen selbst: aus Zeitungen, Interviews, Fernsehbeiträgen, ihren eigenen Schriften oder Publikationen, die über sie verfasst wurden.2 Nicht immer äusserten sich die Politikerinnen genau an diesem Tag in dieser Form, sondern etwas vorher oder später. Ihre Aussagen werden im Text zusammengefügt und auf einen Moment verdichtet. Schalten wir nun die «Filmwochenschau» ein und geben den Pionierinnen im Bundeshaus, ihren Gedanken und Impressionen Raum.

Erster Auftritt der Bundespolitikerinnen

Trommelwirbel, Posaunen, ein Piccoloflötchen und unterlegte Marschmusik, mit sonorer Stimme spricht der Kommentator: «Die 39. Legislaturperiode unseres Parlaments wird in die Geschichte eingehen.» «Schön wär’s!», denkt sich die Schreibende. Doch wo finden sich die Geschichten, wo die Bedeutung dieses Tages? Nichts davon ist in den Schul- und Geschichtsbüchern nachzulesen. Und warum sind jene Erzählungen, die es immerhin vereinzelt gibt, kaum geläufig? Wer kennt die ersten Frauen im Bundeshaus? Kaum einer ist ein Strassenname, geschweige denn ein Denkmal gewidmet. Sind ihre Leistungen gewürdigt worden? Ist ihre Arbeit vergessen? Woher dieses Desinteresse?

«Die erste Ständerätin heisst Lise Girardin und vertritt den Stand Genf.» Zitat «Filmwochenschau» vom 10.12.1971

Zielstrebig steuert sie das Pult mit der Nummer 18 an.3 Ganz links aussen, in der zweiten Reihe, hat sie sich gemäss Weisung aus dem Ratsbüro zu platzieren. Politisch hat das nichts zu bedeuten. Unter Verdacht, links zu sein, gerät die bekannteste Magistratin der Schweiz, zumindest der Romandie, nicht. Als eine der ersten Frauen im Genfer Kantonsparlament, als erste Frau in der Stadtregierung der Diplomatenstadt und als erste Schweizer Stadtpräsidentin kursiert ihr Name seit einigen Jahren in den Medien. Wohlgesinnte wie Andersdenkende bezeichnen sie als «Animal politique». Weitherum wird die Freisinnige geschätzt als souveräne, umsichtige und energievolle Politikerin, der anschauliches und kraftvolles Formulieren liegt. Auch vor gelegentlich kritischen Tönen schreckt sie nicht zurück: «Nun sitze ich doch schon seit zehn Jahren in politischen Ämtern, und heute betrete ich erneut als erste Frau einen Saal voller Männer. Quel déjà-vu! Mais bon, für mich ist das eigentlich kein Thema, und gewohnt bin ich es mir bereits.» Probleme gab es mit den Kollegen bislang nie, immer ist sie kollegial aufgenommen worden. «Unbemerkt fehlen», witzelt sie zum Sitznachbarn rüber, «werde ich hier nie können.» «Was mich hingegen erstaunt, ist, wie sich die Leute auf der Besuchertribüne verhalten», fährt sie mit leicht empörter Stimme fort. «Schauen Sie nur, wie sie mit dem Finger auf mich zeigen. Ich komme mir fast vor wie im Zoo!»

1971 sei ein guter Zeitpunkt, um auch Frauen im Bundeshaus wirken zu lassen, hat Girardin zuvor einem der Journalisten in der von hektischem Leben erfüllten Wandelhalle berichtet. «Vor einigen Jahren wäre es zu früh gewesen, eine Frau in den Ständerat zu schicken. Zu unerfahren waren wir damals.» Jetzt aber wird ihr die Ehre zuteil, als erste Frau in der «Chambre de réflexion», wie die kleine Kammer auch genannt wird, zu politisieren. Für sie ist das der ideale Zeitpunkt. Der Sohn studiert bereits. Das ist der früheren Universitätsdozentin für Französisch wichtig. Denn, so ihre Meinung, «eine Mutter von kleinen Kindern schafft ein solches Amt nicht, honnêtement!» Und sie betont: «Ob Kinder oder keine, jeder Frau muss jetzt klargemacht werden, wie wichtig Politik ist». Darin sieht sie eine ihrer Aufgaben.

Kurz bevor sie in dunklem Kleid, von zwei Bundesweibeln flankiert und mit entschlossener Miene, das ehrwürdige Vereidigungsritual antreten wird, ruft sich Girardin nochmals kurz in Erinnerung, was sie im «Stöckli» erreichen will: «Die gesellschaftliche Stellung der Frauen muss sich verbessern, und mit der Gleichstellung hat es vorwärtszugehen. Dazu gehört, dass der Schwangerschaftsabbruch entkriminialisiert wird.» Aber es braucht noch viel mehr. Das Familienrecht mit seinen unhaltbaren Adoptionsbestimmungen schiesst ihr durch den Kopf. Ganz zu schweigen von der Mutterschaftsversicherung. «Oui, c’est beaucoup!» Und überhaupt gebe es Tausende von Sachen zu tun. «Doch man darf nicht zu viel auf einmal wollen. Es braucht Zeit und Geduld», ist Lise Girardin überzeugt. Sie hat sich vorgenommen, einige wenige Themen auszusuchen. Die will sie dafür «en fond» bearbeiten. Wer Girardin schon als Politikerin in Genf mitverfolgt hat, weiss, dass sie für ihre Anliegen, ihre Arbeit, ihre Ansichten brennt – und dass sie es liebt, darüber zu sprechen. Doch zu oft scheinen insbesondere Journalisten sich weniger für ihre Ideen und für all die spannenden Themen zu interessieren denn für ihre Hausfrauentätigkeiten. «Nicht noch einmal», schwört sie sich, «werde ich einem dieser pfeifenrauchenden Reporter derart unbedeutende Fragen beantworten wie jene, wie ich es schaffe, während der Session meinem Mann und meinem Sohn das Essen zu kochen. Non, non – ça suffit maintenant!»

«Zum ersten Mal seit 1848 durften dieses Jahr ehrenvoll gewählte Frauen nun auch das andere Männerheiligtum, den Nationalratssaal, betreten. In der Annahme, die Damen seien schmuck genug, beschränkte man sich zur Begrüssung auf drei Nelken und eine Rose. Da kann die Natürlichkeit der jungen Walliserin Gabrielle Nanchen nur guttun.»

«Alors, que faire?», hat sich Gabrielle Nanchen bereits auf der langen Reise von der kleinen Berggemeinde Icogne in die Bundeshauptstadt gefragt.4 Nun gut, diese Frage stellt sie sich ständig, denn überall gibt es etwas zu tun, wenn sich die Dinge ändern sollen. Endlich im imposanten Parlamentssaal des Bundeshauses angekommen, räumt sie zuerst einmal lächelnd die Blumen von ihrem Pult. Sie schätzt solche netten Gesten. Überhaupt diesen Empfang. «Sehr zuvorkommend und liebenswürdig heissen die Kollegen uns Frauen willkommen», stellt die Sozialdemokratin erleichtert fest und ist erstaunt über das Klima persönlicher Courtoisie, das heute im Nationalratssaal herrscht. Sie merkt, wie sich die Politiker über die ersten Nationalrätinnen freuen. Und sie merkt auch, dass sie im Bundeshaus auffällt. Denn sie ist jung, sie ist schön und mit ihrem modischen, ganz in Schwarz gehaltenen Kleid, dem eleganten weissen Schal und den dazu passenden, bis unter die Knie reichenden Lackstiefeln versammelt sie alle Blicke auf sich. Eine Zeitung bezeichnet Nanchens Kleiderwahl für diesen Tag später als «Girl-Look».

Gabrielle Nanchen ist aber nicht hier, um zu gefallen. Sie will Staub aufwirbeln. Und sie ist gekommen, um zu bleiben – wobei sie ihrem Vorsatz treu bleiben will: «Rester une révolutionnaire». «Keinesfalls», das hat sich die von der sozialdemokratischen Politik auf Bundesebene zunehmend befremdete Nanchen fest vorgenommen, «will ich in die vorsichtige Ängstlichkeit und erschreckend regierungsfreundliche Haltung meiner Partei einstimmen.» Ganz im Gegenteil ist die Walliserin bestrebt, die Opposition in der SP-Fraktion zu stärken. Denn die gegenwärtige Gesellschaft, in der sich alles dem Gesetz des Profits zu beugen scheint, hat sich ihrer Meinung nach radikal zu verändern. Das Wissen über die vielen Ungerechtigkeiten des Systems muss stärker geteilt werden, muss die Menschen erreichen. «Gerade jetzt nach dem erschreckenden Wahlsieg der Republikanischen Bewegung», denkt sie und wendet ihren Kopf mit besorgter Miene nach links, wo sich James Schwarzenbach und seine Kumpane aus der rechtsextremen Republikanischen Partei in die Reihen zwängen. Konfrontiert mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gerät die Tochter eines italienischen Einwanderers in Rage: «Es geht einfach nicht an, dass Schweizer ihre Luxusimmobilien von italienischen Saisonniers bauen lassen und diese Arbeiter dann in klägliche Baracken stecken. Überhaupt, der Status der Saisonniers ist unhaltbar und gehört dringendst verändert.» Daneben will sie auch gegen weitere Formen der Benachteiligung ankämpfen – gegenüber Frauen, Rentner:innen, Arbeiter:innen oder den sogenannten Entwicklungsländern. Deswegen hat sie die unerwartete und auch unverhoffte Wahl ins Bundeshaus trotz anfänglichen Bedenken – ihre Familie und die zwei kleinen Kinder leben nach wie vor im weit entfernten Icogne – schliesslich doch angenommen.

Unabhängig von ihren politischen Ideen ist Nanchen der «Darling» der Medien. Dort wird sie als charmant und hübsch, manchmal aber auch als forsch, scharfzüngig und militant betitelt. Nanchen kümmern solche Aussagen und die nie enden wollenden Bemerkungen zu ihrem Äussern wenig. Sollen die Zeitungen doch weiterhin über ihr «Handtäschchen» lamentieren, in dem sie «ausgiebig kramt». Dass sich darin Zündstoff versteckt, werden die schon noch merken. Wie das Parlament und die Öffentlichkeit auf ihre Politik reagieren werden, ist für die Sozialarbeiterin aus dem Bergkanton sekundär – «car je n’ai rien à perdre et tout à gagner!»

«Die Rechtsanwältin Josi Meier – eine der 34 Juristen im neuen Parlament – kommt aus dem Kanton Luzern.»

«Was zum Donner …», entgleitet es ihr, während sie entschlossenen Schrittes auf ihren Platz zusteuert und nebenbei den Parlamentsausweis aufschlägt. Für «Herrn Nationalrat» ist er ausgestellt.5 Von Hand hat jemand immerhin das «Herrn» durchgestrichen und mit Maschinenschrift die weibliche Anrede ergänzt. Eine adäquate, nämlich weibliche Bezeichnung scheint die Bundeskanzlei offenbar nicht zu kennen. «Die Frau ist der Form nach also Mann. Wie ist Sprache doch verräterisch! Doch an uns Frauen müssen die sich hier rasch gewöhnen», schimpft Josephine Johanna Meier, wie sie mit vollem Namen heisst, bevor sie sich ohne Zögern, als sässe sie schon seit jeher an diesem Pult, auf ihren Sessel setzt. Die Blumen, die vor ihr liegen, nimmt die Vertreterin der CVP, für die das «C» im Parteinamen für Solidarität und Menschlichkeit steht, gar nicht wahr. Stattdessen wendet sie sich dem Gespräch mit dem Ratskollegen in der vorderen Reihe zu. Die Luzernerin gilt als umgänglich, ihr wird Gemütlichkeit zugeschrieben. Dass sie blitzgescheit ist und dabei immer auch wieder witzig argumentiert, wird im Bundeshaus rasch auffallen.

Josi Meier weiss genau, was sie im Bundeshaus will: sich für die Rechte der sozial Schwächeren einsetzen. Nur zu gut weiss sie selbst, wie es ist, mit wenig Geld und in Armut zu leben. Von ihrer harten Jugend ist ihr ein unerschütterlicher Gerechtigkeitssinn geblieben, auch die Anteilnahme am Schicksal der anderen und der Grundsatz, dass allen ein gutes Leben zusteht. Sei das nun hier in der Schweiz oder anderswo. Darum auch will sie noch am ersten Tag im neuen Amt Mitglied der Aussenpolitischen Kommission werden. Zum Glück interessieren sich die Männer nicht für das wenig prestigeträchtige Gremium. Um den Einsitz wird sich Meier also nicht streiten müssen. Das erleichtert sie, denn heute fehlt ihr ausnahmsweise die Energie, um den Männern Beine zu machen. Etwas angeschlagen ist sie noch. Erst wenige Wochen ist die Operation her, der Kehlkopf. Sich mit Lautstärke durchzusetzen, ist von nun an vorbei. Geblieben ist ihr eine hohe, mit der knappen Luft ringende Stimme. Still will sie hier im Bundeshaus dennoch nicht sein. Den Preis, den sie dafür zahlen muss, kennt sie. «Andere leisten sich eine Jacht oder ein Pferd. Ich leiste mir eine eigene Meinung, das ist in etwa gleich teuer», ermutigt sie sich selbst, während die Parlamentsmitglieder sich nun setzen und der Geräuschpegel im Saal langsam sinkt. Ihr sind Themen wie der Ausbau der Sozialversicherungen, der Umweltschutz, die Verteilungsgerechtigkeit und die Gleichstellung der Frauen wichtig. Aber auch die Mutterschaftsversicherung und ein frauenfreundlicheres Eherecht gehören zu ihren Prioritäten. Das, obschon sie unverheiratet ist und kinderfrei lebt. Die Liste ihrer Anliegen ist lang. Zeit, um jetzt weiter daran herumzustudieren, hat Meier allerdings keine. Der Alterspräsident steigt langsam, auf seinen Gehstock gestützt, die Stufen zum Redepult hoch, um in wenigen Augenblicken die Legislatur offiziell zu eröffnen. «Aber was plaudert denn der Herr von Waldkirch da vorne vom Charme der Frauen?», ärgert sich Meier, nachdem der Alterspräsident sein Begrüssungssätzchen für die ersten eidgenössischen Parlamentarierinnen zum Besten gegeben hat. «Es ist mir doch bewusst, dass ich mit meinem Deux-pièce, dem Chetteli und den Broschen als bieder belächelt werde.» Die Rolle der Politikerinnen hat für Meier ganz sicher nichts Dekoratives. «Charme hat die einzig historische Frauengestalt in diesem Raum, die als Statue an der Wand thronende Stauffacherin, nicht an den Ehrenplatz gebracht», murmelt sie halblaut vor sich hin. «Ohne uns Frauen geht doch einfach nichts!», schiebt sie noch lautlos hinterher, bevor sie den Papierstapel vor sich zurechtrückt, um einen Anfang zu machen.

«Die Schwyzerin Elsbeth Blunschy war als erste Frau der Schweizer Geschichte zur Nationalrätin gewählt worden.»

Damit, dass es der Fernsehmoderator nicht zustande bringt, ihren durchaus geläufigen Vornamen richtig wiederzugeben, mag sich Elisabeth Blunschy gar nicht erst aufhalten.6 Sie kann jetzt nicht irgendwelchen Nebenschauplätzen nachgehen, erscheint ihr der Moment an sich doch viel zu absurd: Zu Hause in Schwyz darf die Juristin mit Anwaltskanzlei noch nicht mal über die Hundesteuer abstimmen, hier in Bern hingegen wird sie nächste Woche Bundesräte wählen. Aber nicht allein das gibt der Christdemokratin, die dem christlichsozialen Flügel der Partei nahesteht, zu denken. «Dass eine Frau, dazu noch aus der Innerschweiz, in diesem Saal Platz nimmt, galt doch bis vor Kurzem als mindestens so unwahrscheinlich wie die Landung von Menschen auf dem Mond. Inzwischen ist beides eingetreten!», freut und wundert sich die jahrelange Verfechterin des Frauenstimmrechts.

Jetzt aber, wahrhaftig, sitzt sie im Schweizer Regierungsgebäude. Freundlich und die ihr so eigene, innere Wärme ausstrahlend, schüttelt sie die Hände ihrer Fraktionskollegen. «Ob ich mich jemals daran gewöhnen werde, sie zu duzen?», fragt sich die schüchterne und zurückhaltende Volksvertreterin insgeheim und leicht befremdet über diese parlamentarische Gepflogenheit. Um dem unangenehmen Smalltalk zu entkommen, blättert sie rasch die vor ihr liegenden Dokumente durch. Sie mag solche Papiere mit klar formulierten Gesetzen und nüchternen Texten. Aber sie schätzt auch das Schöne und mustert nun aufmerksam die Umgebung. Blunschys Blick bleibt auf den sanften, unaufdringlichen Farben des riesigen Wandbildes hinter dem Ratspräsidium ruhen. Mit Sicht auf die beiden Berggipfel der Mythen wähnt sie sich beinahe zu Hause. Es gefällt ihr hier. «Wenn ich doch einfach nur von da wirken könnte. Weiter unten, in einem der Arbeitszimmer, würde ich auf der hübschen Hermes-Schreibmaschine ungestört meine Voten verfassen. Ab und zu gäbe es im Café Vallotton eine Pause, immer mittwochs würde ich mich dort auf den viel gerühmten Käsekuchen freuen, mit Spinat und Speckwürfeln, und abends geht’s dann zurück ins ‹Garni›», sinniert sie und wird sogleich wieder jäh aus ihrer Imagination gerissen. Der nächste Pulk von Fotografen betritt den Saal. «Wir sind doch keine Models, heieiei!», enerviert sich Blunschy kurz und wird umgehend von Unlust gepackt beim Gedanken an das Blitzlichtgewitter, an all die bevorstehenden Essenseinladungen, Empfänge, Umzüge im Takt der heimischen Blasmusikkapellen und an die Reden, die sie wird halten müssen. «Also wirklich, die Schweiz kommt mir manchmal vor wie eine einzige Festhütte!»

Ihrem ernsthaften und konsequenten Naturell entsprechend, will Blunschy für ihre Anliegen mit juristischen Argumenten kämpfen – darunter vor allem die Besserstellung der Frauen in der AHV, ein progressives Adoptions- und Kindesrecht und sozialer Wohnungsbau. Der Sache zuliebe, das hat sie sich vorgenommen, wird sie auch mal aus dem Fraktionszwang ausscheren. Courage nennt sich das. Und sie rechnet damit, dass sie die brauchen wird. «Es gehört sich einfach, dass jeder nach eigenem Gewissen entscheidet», denkt sie, und sogleich fällt ihr die schon jetzt quasi in der Luft unter der Bundeshauskuppel liegende Frage des Schwangerschaftsabbruchs ein. Den kann sie einfach nicht gutheissen, auch wenn sie damit die Mehrheit ihrer Ratskolleginnen vor den Kopf stossen wird. Als hätte er diese Überlegungen erraten, sagt Sitznachbar Louis Rippstein mit halblauter Stimme zu ihr: «Mach es so, wie du es für richtig hältst!» Für richtig hält sie, ja angetrieben ist sie von der Idee einer gerechten Welt. «Nie wieder Krieg!», das ist ihr Leitsatz, den sie aus der prägenden Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, aus der Angst, aus den täglichen Einschränkungen in ihrer Jugend mitgenommen hat.

Im Saal erklingt die Glocke und kündet die Eröffnung der Legislatur an. Sofort stoppt Blunschy die kurz aufgetauchte Sorge, ob daheim bei den drei Kindern und dem kranken Ehemann auch alles in Ordnung sei. Der helle Ton bringt sie zurück in ihr anderes Leben, das Leben in Bern.

«Ob so prachtvoller Gaben staunte auch Hedi Lang aus Wetzikon…»

Vor ihr liegt ein Stapel Blätter. «Papier, Papier, überall Papier!», stöhnt sie innerlich auf.7 Schon jetzt quillt zu Hause ihr Büro von all den Briefen, Vorlagen, Protokollen und sonstigem Material über. Hedi Lang nimmt einen tiefen Atemzug. Sie denkt an ihren Ehemann, einen früheren Nationalrat, und beruhigt sich: «Ich weiss ja, wie das da oben in Bern zugeht.» Sowieso lenkt ein anderer Gedanke von der kommenden Arbeitslast ab. «Es ist doch schon eine grosse Ehre für eine Frau wie mich, die aus dem einfachen Volk kommt und eine schmale Ausbildung erhalten hat, dass mir die Gelegenheit geboten wird, in diesem Parlament mitzuwirken.» Nicht nur ihre Herkunft aus armen Verhältnissen macht den politischen Werdegang der Sozialdemokratin mit fester Verankerung in den Gewerkschaften aussergewöhnlich. Schliesslich ist sie als Frau nur zu gut damit vertraut, nicht die gleichen Möglichkeiten zu haben. Sie lässt den Blick über das zu Sessionsbeginn etwas aufgekratzte Treiben im Ratssaal schweifen, wobei sie ein kurzer Moment der Ernüchterung beschleicht, als sie realisiert, in welch hoffnungsloser Minderheit sich die Frauen befinden.

Rasch ist das Strahlen der vitalen, kämpferischen Zürcherin aber zurück. Sie gilt als «Rüedu» – als «guter Kumpel» mit «gesundem Humor». Auch hier im Bundeshaus erkennen viele etwas Gutmütiges an ihr. Ihr freundlicher Auftritt, aber sicherlich auch ihre mit fürsorgender Mütterlichkeit verknüpfte und lebenslustige Art tragen dazu bei. Falsch ist diese Einschätzung nicht. Hedi Lang ist gesellig, im Volk beliebt. Mitspielen mag dabei, dass die Medien sie als Hausfrau bezeichnen, während sich ihre Ratskolleginnen als Juristinnen oder Ökonominnen von der Durchschnittsbürgerin eher unterscheiden. Aufgrund ihrer Popularität wird ihr später der Übername «Hedi national» verliehen. Das alles ist an diesem trüben Novembermorgen aber noch nicht Thema. Genauso wenig, dass sie durchaus angefeindet werden wird, dass gut zehn Jahre später ein Bombenattentat auf ihr Haus verübt werden wird, wobei sie nicht so sehr um ihr eigenes Leben bangen, es aber nur schwer verkraften wird, für ihre Lieben plötzlich ein Risikofaktor zu sein.

Heute sitzt Hedi Lang aber selbstbewusst und voller Tatendrang in der zweithintersten Sitzreihe des Saals. Sie mag es, anstehende Probleme anzupacken, Lösungen zu suchen, sich einzusetzen für ihre Überzeugungen. Überzeugungen, die gewachsen sind in ihrer Kindheit, die geprägt war von existenziellen Nöten, von der Angst und der Abhängigkeit von Arbeitgebern. Seit frühen Jahren hat sie ein Gespür für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Erst kürzlich, das fällt ihr – warum auch immer – ausgerechnet jetzt ein, hat sie Fabriknäherinnen besucht: «Akkordarbeit, kaum freie Tage. Den ganzen Tag machen die nichts anderes als einen Reissverschluss in die Hosen nähen. Das ist schon ein bisschen tötend!» Es sind solche Begegnungen und Realitäten, die der Motor ihrer Politik sind. Mit einem zufriedenen Lächeln rückt Hedi Lang ihren Stuhl zurecht.

«… indes sich die Genferin Nelly Wicky bereits eifrig mit dem Papierkrieg herumzuschlagen begann.»

«Si seulement c’était du papier que je devais m’occuper!» Die argwöhnischen Blicke, die sie erntet, entgehen Nelly Wicky nicht.8 Sie sticht nicht nur als Frau in diesem Raum heraus, sondern ist obendrauf auch noch Kommunistin. Während ihre Kolleginnen allesamt etablierten Bundesratsparteien angehören, schleppt sie ihre Parteizugehörigkeit wie ein Stigma vor sich her. Etliche ihrer künftigen Ratskollegen befürchten, sich mit der feministischen Aktivistin und Vertreterin der PdA – der ganz links stehenden Partei der Arbeit – eine «Landesverräterin» im Bundeshaus eingefangen zu haben. Doch nicht allein hier und jetzt hat sie mit Gegenwind, mit unausgesprochenen Vorbehalten und Verdächtigungen zu rechnen. Während sie den Papierstapel vor sich ordnet, fallen ihr die vielen Briefe ein, die sie anlässlich ihrer Wahl erhielt. Die Aufforderung eines offensichtlich um das Heil des Vaterlandes besorgten Bürgers, sie solle ein Billett «Moskau einfach» kaufen, gehört noch zu den anständigeren.

Rasch unterbindet Wicky ihre Abschweifungen und konzentriert sich auf die Umgebung. Wer auch immer den Ratsmitgliedern die Sitzplätze zugeordnet hat, scheint ihre Aussenposition betont haben zu wollen. Einer Festung gleich thront rechts oben hinter ihr auf einem hohen, mit massiven Holzwänden eingezäunten Podest die Presse und schielt auf sie runter. Auch die Stimmenzähler haben sie direkt im Visier. Sie hingegen bekommt vom Treiben im Halbrund der Sitzreihen, die hinter ihrem Rücken liegen, wenig mit. Leicht stellt sich da das Gefühl ein, überwacht zu werden. Und dann, vis-à-vis, ausgerechnet der Bundesrat! Wenn die Regierungsmitglieder anwesend sind, hat die Genfer Volksvertreterin ihnen geradewegs in die Augen zu schauen. Den Vertretern jenes Gremiums, das Wickys Leben derart erschwert. Wegen einer Weisung der obersten Landesbehörde, die Verwaltung von «kommunistischen Elementen zu säubern», hat ihr Mann, ein Gründungsmitglied der PdA, nämlich seinen Beamtenstatus verloren und die Familie folglich die finanzielle Sicherheit. Während er sich mit unsicheren Arbeitsverträgen herumschlagen muss, ist wenigstens ihre Stelle als Primarlehrerin in den Genfer Arbeiter:innenvierteln kaum gefährdet. Das, immerhin, bietet eine minimale Sicherheit. Dass sich aber ihre anspruchsvolle Stelle an der Schule, ihr Amt im Genfer Kantonsparlament, die Familienarbeit und nun auch noch ihre Tätigkeiten im Nationalrat zusammenbringen lassen, bezweifelt Nelly Wicky. Sie überfliegt rasch die vor ihr liegenden Sitzungsunterlagen, verschafft sich einen Überblick über die anstehenden Geschäfte. Ihre Bedenken räumt das nicht aus der Welt. «Mais non, arrête tout de suite!», unterbricht sie sich. Ein allfälliger Rückzug ihrerseits wäre entmutigend für alle anderen Frauen: «Wir müssen beweisen, dass wir ebenso wie unsere männlichen Kollegen beides miteinander verbinden können: Politik und Beruf.»

Mit Anstrengungen und schwierigen Lebensrealitäten kennt sich Wicky aus. Besonders vertraut ist sie mit den Sorgen der Arbeiter:innenklasse. Deren und damit auch ihre eigenen Anliegen vertritt sie seit fast einem Jahrzehnt im Genfer Stadtrat und will sie nun auf die Agenda der Bundespolitik setzen. Auch dass Frauen nicht dieselben Rechte wie Männer und bei Mutterschaft keinen arbeitsrechtlichen Schutz besitzen, dass kein Recht auf Abtreibung existiert und dass Militärdienstverweigerer ins Gefängnis gesteckt werden, findet sie unhaltbar. Eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft – nichts weniger ist ihr Ziel. Doch sie ist abgeklärt und erwartet bereits, dass ihrer Politik hier im Parlament nur wenig Erfolg beschieden sein wird. «Mais», so hat sie in ihrer ruhigen Art einem Journalisten gesagt, «j’essaierai de le faire, voilà.» Und wenn es nicht klappt, kennt Nelly Wicky, die an diesem Morgen abgesehen vom Parteibüchlein nicht aus der Reihe der ersten Nationalrätinnen fällt, sowieso andere Mittel. «Einspringen, sich in Kampfgruppen organisieren, weiterkämpfen und das Erreichte bewahren.» Diesen Rat, den sie jungen Frauen mitgegeben hat, vergegenwärtigt sie sich nun selbst und legt den Papierstapel akkurat geordnet vor sich hin.

«Frau Thalmann aus dem Kanton St. Gallen machte das Politisieren anfänglich noch Spass.»

Spass würde sie es nicht nennen. Das ist nicht der Begriff, mit dem Hanny Thalmann ihr politisches Engagement verbindet.9 Sicherlich, sie hat sich auf den heutigen, auf diesen grossen Tag gefreut. Und so steht sie nun da, mitten in der CVP-Fraktion – in der sie im rechten Flügel politisieren wird –, schüttelt voller Elan die Hände ihrer Kollegen und lacht mit direktem Blick in die Kamera. Da ist kein Zaudern, kein verhaltenes Ankommen am Pult und kein behutsames Herantasten an die neuen Aufgaben zu erkennen. Sie kann anpacken, verteidigt ihre Anliegen energisch und will sich sogleich auf ihre neuen Aufgaben in der Bundespolitik stürzen. Auch ein bisschen Triumph schwingt in diesem Augenblick mit. Wie sich doch all die getäuscht haben, die ihre Kandidatur fürs Schweizer Parlament als chancenlos abtaten, sie teilweise gar belächelten. Gut, die Prognosen sahen wahrlich schlecht aus: Als St. Gallerin besitzt Thalmann noch nicht einmal das kantonale Stimmrecht, verweigern doch die Mannen in ihrem Wohnkanton den Frauen weiterhin die politischen Rechte. Trotzdem: Sie hat die Sensation geschafft und hinter Kurt Furgler, der in diesem Saal in wenigen Wochen zum Bundesrat gewählt werden wird, das zweitbeste Resultat des Ostschweizer Kantons erreicht.

Ihre politische Strategie hier im Bundeshaus hat sie sich bereits zurechtgelegt: «Ich werde dort schweigen, wo ich mich nicht auskenne, und dort meine Meinung sagen, wo ich die Probleme kenne.» Ihre Meinung kundzutun, ist sie sich gewohnt. In unzähligen Vorträgen hat sie sich für das Frauenstimmrecht starkgemacht, sass als erste Frau im kantonalen Erziehungsrat und engagierte sich im Katholischen Frauenbund. Vor allem aber liegt ihr seit Jahrzehnten die Bildung für Mädchen am Herzen. Als erste Frau, die an der Handelshochschule in St. Gallen promovierte, ist sie sich der Bedeutung einer guten Bildung bewusst: für die Frauen selbst genauso wie für die Wirtschaft des Landes.

Nachdem all die Hände geschüttelt sind, nimmt Thalmann auf ihrem Stuhl Platz. Rechts hinter sich hat sie die Kollegin Meier, vor ihr blickt sie auf Elisabeth Blunschys Rücken. Es ist angenehm, nicht ganz allein unter Männern zu sitzen. Denn sie spürt sie durchaus, diese Skepsis der Kollegen ihr gegenüber. Ihr, der doch die Parlamentserfahrung komplett fehlt. In der Reihe hinter sich hört sie den Fraktionskollegen Paul Eisenring schon über «die Wiiber» spötteln. «Meint wieder eine, mier chönd nid selber dengge», raunt Thalmann daraufhin über ihre Schulter Josi Meier zu. Selber denken, Ideen einbringen und die eigene Meinung vertreten – dafür ist sie hier, und dafür setzt sie ihre ganze Energie ein. «Ich bin ein rechter ‹Schaff-Tüfel› geworden», gesteht sich Thalmann in jenem Moment ein, als alle Ratsmitglieder in einer Art feierlichen Anspannung ihre Blicke auf den Alterspräsidenten von Waldkirch richten, der auf der Empore zu seiner Eröffnungsrede ansetzt. Bald, ist sich die Christdemokratin sicher, wird auch sie dort stehen.

«Hoffentlich steckt solche Fröhlichkeit wie jene von Lilian Uchtenhagen aus Zürich auch weiterhin an.»

«Ist es das jetzt schon, das Feigenblatt?», fragt sich die Sozialdemokratin und hält im Gewimmel der nur schwer zu unterscheidenden Männer nach ihren Ratskolleginnen Ausschau.10 Mit freundlichem Lachen begrüsst sie anschliessend die Nationalräte, die rund um sie herum Platz nehmen. Hinter ihrem fröhlichen Auftreten stecken auch kritische Überlegungen – und durchaus ein wenig Genugtuung. «Was tingelte ich landauf, landab durch all die ‹Löwen›, ‹Rösslis› und ‹Bären›, durch ungezählte Gemeinde- und Kirchgemeindesäle, um die Leute vom Frauenstimmrecht zu überzeugen!» Unweigerlich fällt Lilian Uchtenhagen eine Szene von damals ein, die sie einfach nicht mehr aus dem Kopf bringt: Vor Jahren, an einer Demonstration, begossen aufgebrachte Bürger sie und weitere Stimmrechtskämpferinnen mit Wasser und – das macht sie noch heute fassungslos – spuckten sie an.

Aber jetzt sind die Frauen da, im Bundeshaus, ein volles Dutzend. Von den zwölf Sitzen lässt sich Uchtenhagen jedoch nicht blenden: «Machen wir uns ein X doch nicht für ein U vor», flüstert die Ökonomin dem Kollegen Helmut Hubacher zu, während der seine Pfeife stopft, «wahrscheinlich werden in diesem Saal nie hundert Frauen sitzen.» Dieser quittiert ihre Aussage, auf das Zündholz vor sich schielend, mit einem Brummeln. Die Qualmerei verträgt Uchtenhagen heute besonders schlecht, hat sie sich doch ausgerechnet jetzt eine leichte Erkältung zugezogen. Nicht einmal das Taschentuch in ihrer Hand mahnt die Herren an die offenbar vergessene Anstandsregel, in Anwesenheit von Damen das Rauchen zu unterlassen. Dass es in diesem Saal nicht einfach gemütlich zu- und hergehen wird, weiss die Zürcherin selbstverständlich. Unweigerlich blitzt in ihr die Frage auf, wie sie das stundenlange Sitzen mit ihrem Rückenleiden überstehen soll. Das aufkommende Unbehagen schiebt sie allerdings rasch beiseite, zu irrelevant erscheint es ihr. Denn, und das vergisst die aus gut bürgerlichem Haus stammende Uchtenhagen nie, durch die Wahl hat sich ihr die grosse Chance eröffnet, auf höchster politischer Ebene mitzuwirken. Das will sie nutzen und ihrem Leitsatz folgen, wonach «meine eigenen Privilegien immer Verpflichtung sind, mich um die Nicht-Privilegierten zu kümmern».

Uchtenhagen betreibt Politik, um die Welt zu einer gerechteren zu machen, um deren Wohlergehen und Überleben zu sichern. Damit politisch aber überhaupt etwas erreicht werden kann, braucht es Macht. Die strebt sie an. Allerdings schwebt Lilian Uchtenhagen eine andere, sich beschränkende, rücksichtsvolle Art der Macht vor. Dazu hofft die Sozialdemokratin auf die Frauen. Von ihnen erwartet sie hier im Bundeshaus einiges. «Es geht», erklärt sie in einem der unzähligen Interviews, die mit ihr jetzt geführt werden, «um einen besonderen Stil, der Frauen auszeichnen sollte, eine Solidarität gegenüber den Menschen allgemein und den Frauen im Besonderen».

Uchtenhagen wartet, bis die Eröffnungszeremonie beendet ist. Danach will sie loslegen, sich ganz bestimmt nicht zurückhalten, nicht ruhig sein, auch wenn das von den Neuen erwartet wird. Vor allem Wirtschaftsfragen treiben sie um, aber auch Bildungs- und Jugendpolitik. Sie ahnt bereits: Früh und als erste Frau wird sie dort vorne das Wort ergreifen. Schon in einigen Tagen wird es so weit sein.

«Die Freiburger Ärztin, Frau Doktor Spreng, schaute etwas skeptisch in die Runde.»

Liselotte Spreng ist noch nicht warm geworden mit diesem Saal.11 Hastig und unstet schwenkt ihr Blick durch die Reihen, findet nichts, woran er sich halten könnte. Sie spürt die Fernsehkameras und Fotoapparate, die auf sie und ihre Kolleginnen gerichtet sind. Wie unangenehm, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und der ganzen Nation präsentiert zu werden. Etwas verloren, wie sie nun dasitzt, ist Spreng dankbar, dass die Parteikollegin und Sitznachbarin Tilo Frey sich ganz zugewandt mit ihr unterhält und die Ratskollegen, die sich händeschüttelnd in das Gespräch reinzudrängen versuchen, mit einem netten, aber knappen Lächeln abspeist.

Alles kam überraschend und ging schnell. Zwar hatte Spreng früher in diesem Jahr eingewilligt, sich für die FDP auf die Wahlliste setzen zu lassen. Irgendwie fühlte sie sich dazu verpflichtet, forderte sie doch als Präsidentin des freiburgischen Frauenstimmrechtsverbandes seit Jahren die politische Gleichstellung. Ausserdem bringt sie bereits viel Wissen und Erfahrung mit durch ihre Arbeit in verschiedenen politischen Kommissionen, etwa jener zur Gesamtrevision der Bundesverfassung. Damit, dass sie wenige Monate später im Bundeshaus sitzen würde, hat dann aber doch niemand gerechnet – schon gar nicht sie. Weder hat sie Wahlkampf betrieben, noch war sie am Wahlsonntag zugegen. In Colombo, auf Sri Lanka, während eines Ärzt:innenkongresses, erreichte sie das Telegramm mit der unerwarteten Nachricht, dass sie in wenigen Wochen im Schweizer Parlament zu politisieren habe.

Spreng ist an diesem Morgen etwas unentspannt, rückt mit gekrümmtem Rücken auf dem Sessel hin und her. Vordrängen will sie sich in den Parlamentsdiskussionen auf keinen Fall. Denn – das hat die Romande gerade vorhin, als sie mit ihrer Parteikollegin Martha Ribi die breite Steintreppe zu den Ratssälen hinaufstieg, in fast perfektem Dialekt schon gesagt – «eine Frau muss wirklich gut vorbereitet sein, bevor sie in eine Debatte eingreift. Sonst wird der Sache der Frauen geschadet.» «Wir haben immer versucht», beschreibt sie die Art und Weise, wie sie und ihre Kolleginnen des Frauenstimmrechtsvereins politisiert haben, «die politischen Rechte der Frauen ohne Aggressivität zu erwirken. Mit Charme sozusagen. Wir haben den Männern dargelegt, dass wir uns nicht gegen sie auflehnen.» Aus dem daraufhin von Ribi geernteten Schmunzeln zieht Spreng den wohltuenden Eindruck, verstanden und in ihrer Haltung unterstützt zu werden.

Als Frauenärztin ist Spreng in Zurückhaltung und im Eingehen auf das Gegenüber geübt. So wie in ihrem Beruf will sie im Nationalrat nun ebenfalls ihrem Credo folgen: «zunächst zuhören und erst dann reden». Auch politisch hat sie ihr Beruf geprägt, sieht sie sich in ihrer gynäkologischen Praxis doch seit Jahren mit sozialen Problemen konfrontiert, für die es aus ärztlicher Sicht oft keinen Ausweg gibt. Es ist diese Erfahrung, die Spreng veranlasst, sich auf andere Weise, so jetzt im Bundeshaus, für die Anliegen von Frauen einzusetzen. Die letzten Minuten vor der Sessionseröffnung nutzt die Freisinnige, um mit Tilo Frey noch kurz über die nächsten Schritte zu reden. Etwa, dass man nicht den Fehler machen soll, nun die wenigen Parlamentarierinnen einzig in die sozialpolitischen Kommissionen zu wählen. Genauso sehr, da ist sich Spreng sicher, braucht es sie in den wirtschaftlichen oder militärischen Kommissionen. Wo auch immer sie selbst landen wird, sie freut sich auf die Kommissionsarbeit, wo der Dialog stattfinden kann, den sie in den Parlamentsdebatten vermisst. Denn, findet die frisch gewählte Nationalrätin aus dem Kanton Freiburg, «diskutieren ist interessanter als reden».

«Emanzipierter gab sich Tili Frey aus Neuenburg, die sich über alle Bekleidungsvorschriften hinweggesetzt hatte und in Weiss erschienen war.»

«C’est Tilo, s’il vous plaît», hätte die Nationalrätin aus Neuchâtel den Kommentator möglicherweise höflich verbessert, der offenbar ganz gebannt ist von ihrem Kleid.12 Oder will er von Offensichtlicherem ablenken? Davon, dass Frey nicht nur als eine der ersten Frauen, sondern auch als erste Schwarze Frau im Parlament hervorsticht? Dass sie als Frau und als Schwarze in diesem Saal voller weisser Männer in dunklen Anzügen quasi den Regelverstoss personifiziert? In einem Saal, in dem aufgrund des in der Gesellschaft breit unterstützten Überfremdungsdiskurses die rechtspopulistische Partei der Republikaner als Wahlsiegerin an diesem Tag Platz nimmt?