Unerhörte Frauen - Henrike Lähnemann - E-Book

Unerhörte Frauen E-Book

Henrike Lähnemann

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe, Politik und Alltag in mittelalterlichen Frauenklöstern Die Hälfte derer, die im Mittelalter in ein Kloster eintraten, waren Frauen. Was waren ihre Beweggründe? Wie sah ihr Leben in Klausur aus? Wie dachten und wie lebten sie? Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber bieten einen lebendigen Einblick in das weithin unbekannte Leben und Wirken der geistlichen Frauen. Ganze Generationen gebildeter, streitbarer und geschäftstüchtiger Nonnen sind von der Geschichtsschreibung ausgelassen worden. Jetzt zeigt die Darstellung von Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber: Die Nonnen waren ein wichtiger Teil der mittelalterlichen Gesellschaft. Sie nahmen eine Vorbildfunkton ein und standen im regen Austausch mit anderen Klöstern und der Stadt. Selbstbewusst organisierten sie ihren Alltag, wirtschafteten erfolgreich und boten den Klosterschülerinnen ein umfassendes Bildungsprogramm. In Geschichten aus bislang nicht zugänglichen Tagebüchern und Briefen kommen die Frauen zum ersten Mal auch selbst zu Wort.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ganze Generationen gebildeter, streitbarer und geschäftstüchtiger Nonnen sind von der Geschichtsschreibung übersehen worden. Jetzt zeigt die Darstellung von Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber: Die Nonnen waren ein aktiver und einflussreicher Teil der mittelalterlichen Gesellschaft. Sie nahmen eine Vorbildfunkton ein und standen im regen Austausch mit anderen Klöstern, Bürgern und Adeligen. Selbstbewusst organisierten sie ihren anspruchsvollen Alltag, wirtschafteten erfolgreich und boten den Klosterschülerinnen ein umfassendes Bildungsprogramm. In Geschichten aus bislang nicht zugänglichen Tagebüchern und Briefen kommen die Frauen erstmals zu vielen Bereichen ihres Lebens auch selbst zu Wort.

Die Autorinnen

HENRIKE LÄHNEMANN erhielt als erste Frau einen Lehrstuhl an der Faculty of Medieval and Modern Languages der University of Oxford, wo sie deutsche Literatur des Mittelalters lehrt und zu Text- und Bildzeugnissen aus den norddeutschen Frauenklöstern arbeitet.

EVA SCHLOTHEUBER ist Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie zu Bildung und Lebenswelt religiöser Frauen forscht und lehrt. Als erste Frau war sie von 2016 bis 2021 Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands

Henrike Lähnemann

Eva Schlotheuber

Un

erhörte

Frauen

Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-2961-1

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2025

© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2023/ Propyläen Verlag

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage von Cornelia Niere, München

Titelabbildung: © Kloster Lüne, Foto: Sabine Wehking

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorinnen

Titel

Impressum

Prolog: Die Stimmen der Vergangenheit

I. Klausur

1. Die Flucht der Nonnen

2. Der klösterliche Lebensraum

3. Die Ebstorfer Weltkarte

II. Ausbildung

1. Das Kloster als Schule

2. Das Kloster als Bildungsraum

3. Der Heininger Philosophenteppich

III. Die Nonnen, die Familie und die Gesellschaft

1. Der Platz im Leben

2. Die Familie und die Klostergemeinschaft

3. Repräsentation und Status

IV. Liebe und Freundschaft im Frauenkloster

1. Freunde erkennt man in der Not

2. Die Idee von Freundschaft

3. Die Christus-Johannes-Gruppe als geistliche Liebe

V. Die Strenge des Lebens: Musik und Reform

1. Weltliche Lieder beim Leinenschwingen

2. Die Klosterreform

3. Musikunterricht in Kloster Ebstorf

VI. Reformation

1. Der päpstliche Legat kommt in die Stadt

2. Die Frauenklöster in der Reformation

3. Eine Vision zur Reformation

VII. Eine Gemeinschaft in Leben und Tod: Krankheit und Sterben im Kloster

1. Vom Sterben des Einzelnen und in der Gemeinschaft

2. Heilkundliches Wissen und Sterberituale

3. Diesseits und Jenseits im Wienhäuser Nonnenchor

VIII. BILDTEIL

IX. Anhang

1. Klosterbiografien

2. Schematische Darstellungen zum Klosterleben

3. Glossar der verwendeten Begriffe

4. Bildnachweis

5. Quellen und Literatur

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Prolog: Die Stimmen der Vergangenheit

Im Mittelalter war die Hälfte derer, die in ein Kloster eintraten, Frauen. Warum hören wir so wenig von ihnen? Nur einige Namen sind bekannt: Hildegard von Bingen sicher. Vielleicht noch Roswitha von Gandersheim und Mechthild von Magdeburg. Ihnen wurden in den letzten Jahren Bücher oder Ausstellungen gewidmet. Aber die große Gruppe gelehrter, streitbarer, gläubiger und geschäftstüchtiger Nonnen aus zahllosen Generationen ist dem Vergessen anheimgefallen. Dabei waren Frauen, die im Mittelalter im Kloster lebten, keineswegs »unerhört« im Sinne von wirkungslos, im Gegenteil. Ihre Gemeinschaften waren oftmals mächtige Institutionen, und sie sahen sich selbst in einer höchst einflussreichen Position, da sie durch ihre Lebensform »Bräute Christi«, also zukünftige Gemahlinnen des »höchsten Königs« waren und damit wie niemand sonst sein Ohr hatten. Dass Gott sie erhörte, war auch die Überzeugung der mittelalterlichen Gesellschaft und verlieh ihnen einen besonderen Status, der sich politisch und wirtschaftlich, auf jeden Fall gesellschaftlich und kulturell manifestierte – und es den Frauen erlaubte, unerhört wirksam zu werden.

Unerhört, ungehört wurden diese Nonnen erst in der Moderne, sodass jede Sichtbarmachung eine kleine Revolution ist. Eva Schlotheuber machte in ihrer Habilitationsschrift eine kleine, aber im täglichen Gebrauch sehr dick angewachsene Pergamenthandschrift, das Konventstagebuch einer Nonne aus dem Heilig-Kreuz-Kloster bei Braunschweig, zugänglich – ein beredtes und bedeutendes Zeugnis, in dem eine Zisterzienserin mehr als zwanzig Jahre lang über ihr Klosterleben vor den Toren der Stadt Braunschweig erzählt. Henrike Lähnemann trug ihrerseits die Andachtsbücher der Zisterzienserinnen aus Kloster Medingen aus Bibliotheken in aller Welt zusammen, um die Bild- und Andachtswelten der Nonnen zu erschließen. Beide nutzten wir als Hintergrundinformation eine einmalige Quelle, die bislang ebenfalls nur im Klosterarchiv Lüne in den mittelalterlichen Handschriften, aber nicht ediert vorlag: die Briefsammlung der Benediktinerinnen aus Kloster Lüne. Diese knapp 1800 Briefe aus der Zeit von 1460 bis 1560 sind bewegende Dokumente des Spätmittelalters und der Reformationszeit, als sich die Nonnen entschieden gegen die Einführung lutherischer Gebräuche im Kloster wehrten. In ihren Briefen verhandeln die Frauen ein weites Spektrum an Themen aus Alltag und Festtag, von Lobbyarbeit über theologische Debatten bis hin zu Trost- und Beratungsschreiben – all das ein hochspannendes Material, um die Geschichte der Nonnen an der Wende zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit farbiger und lebendiger werden zu lassen, weil hier die Nonnen selbst das Wort ergreifen.

Das Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz vor den Toren der Stadt Braunschweig wurde im Zuge der Reformation zunächst aufgelöst, aber dann wollte man doch nicht darauf verzichten, und es wurde wenig später als evangelisches Damenstift wiederbegründet. Die Auflösung in der Reformationszeit ist ein Schicksal, das es mit den meisten Frauenklöstern der protestantisch gewordenen Gebiete teilt – nicht jedoch mit dem Kloster Lüne, das bis heute in den alten Gebäuden als evangelische Gemeinschaft weiterbesteht. 2022 feierte das Kloster Lüne 850 Jahre ununterbrochenes Bestehen. Weiterhin lebt eine Gemeinschaft von Frauen unter einer Äbtissin in den Gebäuden, von deren Entstehung in den Briefen berichtet wird und deren Archiv die mittelalterlichen Quellen bis heute aufbewahrt. Die Frauen aus Kloster Lüne sind auch auf unserem Titelbild zu sehen, ein Ausschnitt aus einem Gemälde, das die Vision einer Lüner Konventualin im 16. Jahrhundert festhält. Es hängt weiterhin an seinem alten Platz, im Nonnenchor des Klosters Lüne.

Die Braunschweiger Zisterzienserin erwähnt ihren Namen in ihrem Tagebuch nicht. In ihren kurzweiligen Aufzeichnungen über mehr als zwei Jahrzehnte gibt sie an keiner Stelle einen Hinweis auf ihre Identität. Sie lebte gegen Ende des 15. Jahrhunderts als Nonne im Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz und starb vermutlich 1507 ebenso wie zwei Drittel der Gemeinschaft an der Pest. Mit der Schilderung, wie die zunächst in der Stadt ausbrechende Pest langsam auf den Konvent übergriff und dort erste Todesopfer forderte, brechen ihre Aufzeichnungen unvermittelt ab. Die handschriftlichen Aufzeichnungen im kompakten Gebetbuchformat sind über die Jahre so angewachsen, dass sie doppelt so dick wie hoch sind. Das Buch wurde 1848 aus dem Nachlass des Braunschweiger Privatgelehrten Carl Friedrich von Vechelde an die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel verkauft und wird unter der Signatur Cod. 1159 Novi aufbewahrt. Da die Familie von Vechelde im 15. Jahrhundert mehrere Familienmitglieder im Konvent hatte, sind die Tagebuchaufzeichnungen der anonymen Zisterzienserin vielleicht in der Familie über die Jahrhunderte tradiert worden. Der Anfang der Handschrift ist leider verloren, sodass nicht auszuschließen ist, dass die Tagebuchschreiberin am Anfang etwas über sich selbst gesagt hat. Ihre Aufzeichnungen beginnen mit dem Jahr 1484 und müssen ihr sehr wichtig gewesen sein. Den Beschreibstoff beschaffte sie sich auf möglichst sparsame, aber mühsame Art und Weise: Sie schabte den Text eines alten Gebetbuchs vom Pergament ab, um es neu beschreiben zu können, schnitt weitere Pergamentreste zurecht oder nähte kleinere Stücke zusammen, um ausreichend Material für ihre Aufzeichnungen zu haben. An manchen Stellen ergänzte sie ihren Pergament- oder Papiervorrat mit der Rückseite alter Briefe. Ihre Stellung im Konvent lässt sich nur insofern ermitteln, als sie keines der leitenden Klosterämter innegehabt zu haben scheint, weder als Priorin, noch Kellermeisterin oder Lehrmeisterin der Mädchen (magistra puellarum) amtierte. Damit ist die Tagebuchschreiberin eine der seltenen Stimmen, die nicht nur aus der Innenperspektive eines Konvents über das Leben hinter den Klostermauern berichten, sondern ganz unbefangen auch über Dinge sprechen, die den Nonnen problematisch erschienen oder die einfach schiefgelaufen waren. Für sie gibt es keine Entscheidungen zu verteidigen oder schönzureden, und in ihre Beurteilung der Ämterinhaberinnen, die die Geschicke des Konvents leiteten, fließt an einigen Stellen überraschende Kritik ein.

Wahrscheinlich gehörte es um 1500 zu den Aufgaben der Tagebuchschreiberin, sich an der Organisation und der Betreuung der Festessen zu beteiligen, die bei der Aufnahme neuer Konventsmitglieder mit den Verwandten der Nonnen im Kloster stattfanden. 1499 erzählt sie von einem solchen Festessen, zu dem Familien aus dem Niederadel geladen waren, und schließt ihre Beschreibung mit den Worten: »Dies habe ich aufgeschrieben, damit, wenn mir in Zukunft für ein ähnliches Festessen zu sorgen aufgetragen wird, ich mich etwas vorsichtiger verhalten kann.« Sie notierte die Ereignisse ihres Klosterlebens also nicht zuletzt für sich selbst. Ihre eher untergeordnete Stellung im Konvent prägt ihren Erzählstandpunkt: Die Kommentare haben einen gewissermaßen ungefilterten Charakter. Sie schreibt lateinisch, vielleicht auch um sich in der Sprache zu üben, bei deren Orthografie und Satzbau sie sich nicht immer ganz sicher war. An einigen Stellen fällt sie unvermittelt ins Niederdeutsche, wenn es emotional wird, wenn sie die Worte der Verwandten und Laien wiedergeben möchte oder wenn ihr der passende lateinische Ausdruck nicht einfällt. Und sie kann hinreißend erzählen: lebendig, erfrischend und mit Humor.

Neben der Selbstversicherung in schwierigen Situationen sieht die Tagebuchschreiberin als intendierte Leserinnen ihrer Aufzeichnungen zukünftige Generationen in Heilig Kreuz. Sie will weitergeben, was der Konvent aus Unkenntnis oder Unbesonnenheit falsch gemacht hat, damit es in Zukunft vermieden werden kann: »Das habe ich geschrieben, damit Spätere nicht jedes Wort glauben, das sie hören«, mahnt sie, als Propst und Konvent beschämt erkennen mussten, dass man Schwindlern aufgesessen war, die ihnen eine große Stiftung weit entfernt wohnender Adeliger versprochen hatten. Aber auch das unbesonnene Herauslaufen einzelner Nonnen aus der Klausur, als nachts ein Feuer auf dem Rennelberg ausbricht, wäre besser unterblieben, denn mit mehr Gottvertrauen hätte das Verlassen der Klausur – vor allem in Nachtkleidung – vermieden werden können.

Aufbauend auf den Erzählungen der Tagebuchschreiberin behandeln wir größere Themenkomplexe: Wie lebt es sich im Kloster (Kapitel I), was wissen wir über die Ausbildung (Kapitel II), wie ist das Verhältnis zu den Familien und wie funktioniert die Wirtschaft (Kapitel III), welche Bedeutung haben Liebe und Freundschaft im Kloster (Kapitel IV), welche Rolle spielt die Musik und was bedeutet es, ein reformtreues Leben zu führen (Kapitel V), wie bewältigen die Frauengemeinschaften die Umbrüche der Reformationszeit (Kapitel VI), wie heilt man Krankheiten – und wie geht man mit Tod im Kloster um (Kapitel VII)? Der Anhang stellt in einem Glossar systematisch Begriffe zusammen, die dort erklärt werden und im Text mit Sternchen markiert sind, ebenso Übersichten und Leseempfehlungen.

Eine Vielzahl der Quellen, auf die wir uns für dieses Buch stützen, kommt aus dem 15. Jahrhundert. Es sind spannende Jahrzehnte, in denen schriftliche Zeugnisse sprunghaft zunehmen. So wie die Nonne aus Heilig Kreuz ein Gebetbuch aus Pergament für ihre Aufzeichnungen recycelt, um Platz zum Schreiben zu finden, zeugen auch viele andere Schriftzeugnisse aus den Frauenklöstern von einem kreativen Umgang mit dem kostbaren Schreibmaterial. Ende des 14. Jahrhunderts war in Nürnberg die erste Papiermühle in Deutschland in Betrieb gegangen, die Zahl an Lese- und Schreibkundigen wächst vor allem in den Städten und mit den Reformbestrebungen in den Klöstern, was zu einem starken Anstieg der Textproduktion führt. Die traditionelle Bezeichnung als »spätmittelalterlich« ist problematisch, wenn »spät« ein Werturteil ist. Die Geschichten und Zeugnisse der Nonnen sprechen nicht von Niedergang und Ende, nach dem dann im 16. Jahrhundert eine neue Zeit anbricht, sei es mit der Reformation oder mit einer weltlich verstandenen Wiedergeburt (»Renaissance«) der Antike. In der zeitgenössischen Perspektive wird das 15. Jahrhundert vielmehr als eine Epoche des Aufbruchs und der Entdeckung neuer Horizonte sichtbar. Wir blicken stets mit unseren Augen auf die Vergangenheit, aber wir können unsere Perspektive um die der Frauen aus früheren Generationen erweitern, wenn wir sie zu Wort kommen lassen – ob es sich um Hildegard von Bingen und ihre Gemeinschaft im 12. Jahrhundert oder um die anonym gebliebene Zisterzienserin aus Heilig Kreuz und ihre Mitnonnen im 15. Jahrhundert handelt. Sie sind die Hauptakteurinnen ihrer Geschichte. Wir möchten möglichst viele der vergessenen Stimmen wieder hörbar machen. Darum haben wir uns dazu entschlossen, jedes Kapitel mit einem Bericht aus dem Konventstagebuch der Braunschweiger Zisterzienserin oder den Worten anderer Nonnen zu beginnen – Berichte aus erster Hand zu Läusen, Lebkuchen und Liebesbezeugungen für Christus.

Zu dem reichen Erbe der Frauenklöster gehört auch ihre musikalische und materielle Kultur, die wir mit in das Buch einbeziehen wollen, von den großen Bildteppichen über die Skulpturen bis hin zur mittelalterlichen Architektur, von der sich in Deutschland mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern erhalten hat. Jedem Kapitel sind daher als Anschauungsbeispiele mittelalterliche Kunstwerke aus Frauenklöstern beigegeben, die das Thema aus der Sicht der Nonnen beleuchten.

Das Buch ist aus langjähriger Zusammenarbeit erwachsen und gemeinsam konzipiert. Eva Schlotheuber hat die Anfangsgeschichten beigesteuert und war federführend bei den systematischen Kapiteln, Henrike Lähnemann hat das fortgeführt und die Bildgeschichten verantwortet. Das Buch ist darüber hinaus im Gespräch mit wissenschaftlichen und persönlichen Weggefährten entstanden, denen herzlich gedankt sei. Kristin Rotter vom Propyläen Verlag hat das Projekt nicht nur angeregt, sondern mit Begeisterung und Ermutigung begleitet; in Heike Wolter fand das Projekt eine hervorragende Lektorin. Ein besonderer Dank gebührt Wolfgang Brandis, dem Archivar der Lüneburger Klöster, der einen Großteil der Abbildungen erstellte und die Bildrechte mit den einzelnen Klöstern abklärte, deren Äbtissinnen und Konvente uns von Anfang an mit ihrem Interesse an der eigenen Geschichte ermutigt haben.

Für die englische Übersetzung entstand die Idee, ein weiteres Kapitel zu ›Liebe und Freundschaft‹ hinzuzufügen. Sie wurde im Juni 2024 unter dem Titel ›The Life of Nuns. Love, Politics, and Religion in Medieval German Convents‹ in der Übersetzung von Anne Simon bei Open Book Publishers (Cambridge) publiziert. Ein herzlicher Dank gebührt beiden Verlagen, die es uns ermöglicht haben, für die Taschenbuchausgabe dieses Kapitel nun auch in die deutsche Fassung aufzunehmen.

I. Klausur

Das mittelalterliche Frauenkloster ist um das Konzept der *Klausur aufgebaut, das abgeschiedene Leben von der Welt. Charakteristische Eigenschaften der besonderen Lebensform der Nonnen werden gerade sichtbar, wenn diese Ordnung gestört wird, wenn ein Krieg ausbricht und die Nonnen fliehen müssen, wie die Tagebuchschreiberin aus dem Kloster Heilig Kreuz für das Jahr 1492 berichtet.

* Begriffe, die im Glossar erläutert werden, sind im Folgenden mit einem Sternchen gekennzeichnet.

1. Die Flucht der Nonnen

Plötzlich mitten im Krieg – die große Braunschweiger Stadtfehde

Am 12. August 1492 schickte der junge Herzog Heinrich der Jüngere Fehdebriefe in die Stadt Braunschweig. Die Braunschweiger Ratsleute hatten sich geweigert, dem neuen Herzog zu huldigen, der ihre alten Rechte und Freiheiten nicht bestätigen wollte.

Zwischen der herzoglichen Residenz in Wolfenbüttel und der Stadt Braunschweig lag vor den Stadtmauern das *Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz. Die Nonnen waren in Aufruhr, was sollten sie tun? Bleiben und hoffen, dass der Herzog sie verschonen würde, oder Kloster und Klausur verlassen und nach Braunschweig fliehen? Es drohte Krieg, die Ratsherren drängten die Nonnen zur Flucht: Leven kynder, wor wil gy bliven? »Liebe Kinder, wo wollt ihr bleiben? Der Herzog ist uns näher, als ihr selbst glaubt.« »Lauft, lauft, liebe Kinder, er steht bereits vor dem Krüppelholz.« Immer wieder kamen sie hinaus zum Kloster und drängten die Frauen: »Liebe Kinder, seid ihr noch hier? Der Herzog ist bereits innerhalb der Landwehr und wollte der Altstadt die Kühe nehmen. Ach, ach, hätten wir euch in der Stadt, so wüssten wir euch wohl bewahrt, dass ihr des edlen Schatzes eurer Jungfräulichkeit nicht beraubt würdet.« Die Ratsboten, aber auch Bürgerinnen kamen zum Kloster und schilderten die Grausamkeiten des Herzogs in allen Farben, aber die Frauen zögerten – der Bruch der Klausur wog schwer.

Die Angst und Ungewissheit der Nonnen sprechen lebendig aus den Tagebuchaufzeichnungen jener Nonne von Heilig Kreuz, die uns ihren Namen nicht verrät, aber über viele der bewegenden Ereignisse berichtet. Sie weiß, die Nonnen von Heilig Kreuz zögerten nicht ohne Grund. Sie wussten sehr wohl, dass die Braunschweiger Ratsherren in dem Streit Partei waren. Die Zisterzienserin notierte in ihrem Tagebuch hellsichtig, dass ihr schien, der Horror der Nachrichten bewegte die Nonnen mehr als die tatsächliche Gefahr. Und sie wussten auch, dass von ihrem gut befestigten Kloster aus die Stadt leicht unter Beschuss zu nehmen war. Deshalb hatte der Rat großes Interesse daran, dass die Nonnen in die Stadt zogen, damit sie im Kloster städtische Söldner einquartieren konnten, bevor der Herzog kam und es einnahm. Unvermittelt befanden sich die Nonnen von Heilig Kreuz im Zentrum des Konflikts. Und sie standen nicht nur räumlich zwischen den Parteien, sondern auch in sozialer Hinsicht. Innerhalb der Klostermauern lebten die Töchter des Braunschweiger *Patriziats, des städtischen Bürgertums also, und die Töchter der umliegenden Adelsfamilien einträchtig zusammen. Das kam nicht von ungefähr. Das Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz war eine Sühnestiftung und verdankte seine Gründung einer 1227 ausgebrochenen Fehde zwischen dem herzogsnahen Ritteradel und der aufstrebenden Stadt Braunschweig. Damals hatten die Ministerialen vor den Mauern der Stadt ein Turnier dazu genutzt, die Stadt mit bewaffneten Rittern überraschend zu überfallen. Aber die Braunschweiger wussten sich gegen sie zu behaupten und zwangen die Adeligen anschließend, zur Sühne für ihre Gewalttat auf ihrem einstigen Turnierfeld, dem Rennelberg, ein Kloster zu gründen. Die Stiftung eines Nonnenklosters vor den Toren der Stadt bot viele Vorteile. Es befreite die Braunschweiger von der Präsenz der Ritter und ihrer Turnierspiele direkt vor ihren Toren, zumal ein Turnier auch immer zur Vorbereitung von Kriegszügen genutzt werden konnte. Stattdessen entstand ein befriedeter Grund, auf dem die Töchter der Braunschweiger Bürger und des umliegenden Adels gemeinsam ein geistliches Leben führten und so auf ihre Weise der Sicherung des Friedens zwischen den rivalisierenden Ständen dienten.

Tatsächlich hat das wohl auch lange funktioniert, aber spätestens mit Beginn der Großen Braunschweiger Stadtfehde im August 1492 brachen die alten Gegensätze wieder auf. Die Nonnen wussten sich in dieser verzwickten Situation keinen Rat, aber als der Konflikt sich zuspitzte, packten sie ihr Hab und Gut, ihr Bettzeug, ihre guten Mäntel und Schleier und schickten alles mit Boten zu den Verwandten in Sicherheit. Um das Kloster lungerten bereits Tag und Nacht städtische Söldner, aber weniger zu ihrem Schutz, wie die Tagebuchschreiberin bitter bemerkt, als vielmehr um den Platz für die Stadt zu halten. Zwar durften sie die Klausur, also den inneren Bereich der Frauen, nicht betreten, aber sie vandalierten im Hof, in den Küchen und Vorratsräumen. Dabei erschreckten sie den *Propst der Nonnen so sehr, dass dieser den Frauen mitteilte, er werde das Kloster verlassen und sich in der Stadt in Sicherheit bringen. Wenn sie bleiben wollten, läge das in ihrer eigenen Verantwortung. Das machte die Sache nicht besser.

Einige Nonnen rieten, dass man Briefe an die mit dem Kloster verbundenen Adelsfamilien schicken sollte, die im Rat des Herzogs einflussreich waren, um sie zu bitten, dass sie und ihr Kloster verschont würden. Die diskrete Diplomatie war insofern erfolgreich, als die Angeschriebenen versprachen, sich beim Herzog nach Kräften für sie einzusetzen, aber sie warnten, dass es aufgrund der Gewaltbereitschaft der verschiedenen Heere unmöglich sein werde, ihren Schutz zu garantieren. Guter Rat war teuer, als nun auch auf diesem Weg keine Gewissheit zu erlangen war. Die Zisterzienserin fügt ihren Tagebuchnotizen deshalb etwas hinzu, was wir selten hören: eine recht ungeschminkte Kritik an der Amtsführung der Oberen, der erst kurz zuvor gewählten Äbtissin Mechthild von Vechelde. Wie umherirrende Schafe seien sie in jenen angstvollen Tagen gewesen, und zwar deshalb, weil ihre Hirtin, die Äbtissin, von Angst und Schrecken wie gelähmt gewesen sei und keinen Rat zu finden vermochte. Deshalb geschah es, dass sie Dinge versprach, die später unter Reuebekundungen wieder korrigiert werden mussten.

An einen geregelten Tagesablauf war nicht mehr zu denken. An Mariä Himmelfahrt, am 15. August, machten sie noch einmal gemeinsam eine Prozession durch das Kloster, Kreuzgang und Friedhof. Aber am Morgen, als sie durch ihre Fenstergitter schauten, sahen sie entsetzlich bewaffnete Ritter, sie hörten Schüsse, und die Glocken läuteten. In der Nacht kamen dann Ratsboten, die ihnen mehr oder weniger befahlen, das Kloster zu verlassen. Der Auszug war beschlossen. Am Morgen versammelten sich die Nonnen zum Glockenschlag in der Kirche, um sich und ihr Kloster Gott anzuvertrauen. Die Zisterzienserin beschreibt, dass sie so sehr weinten und klagten, dass sie kaum zu singen vermochten. Sie intonierten gemeinsam die *Antifon O crux splendidior (»O, Kreuz, glänzender als alle Sterne«), den ihnen wohlbekannten liturgischen Wechselgesang. Es folgten fünf *Paternoster, ehe sie sich Gott, dem Heiligen Kreuz als ihrem Patron und allen Heiligen überantworteten und gemeinsam unter Tränen den Chor verließen.

Für den Auszug formierten sie sich in Prozessionsordnung: An der Spitze der Propst und seine *Kleriker, es folgte die Äbtissin Mechthild von Vechelde, der zum Geleit eine Frau aus der Braunschweiger Bürgerschaft an die Seite gestellt worden war, dann die *Priorin Remborg Kalm und die ältesten Nonnen, die seniores, anschließend die *Subpriorin und zum Schluss sowohl alle Nonnen, die bereits die Nonnenkrönung erhalten hatten, als auch die Anwärterinnen, die Mädchen mit ihrer *Magistra. Daran schlossen sich die *Laienschwestern an, und den Abschluss bildeten zwei oder drei Männer sowie die übrigen Frauen. Alle zusammen zogen gemeinsam in den Grauen Hof, den Wirtschaftshof der Zisterzienser in Braunschweig.

Das Exil

Der Graue Hof in Braunschweig gehörte den Zisterziensern in Riddagshausen, die hier das Getreide, das ihre Bauernhöfe produzierten, lagerten und verkauften. Ein Riddagshauser Mönch nahm die Gruppe in Empfang und führte sie hinein. Doch zeigte er ihnen zunächst nur einen einzigen Raum. Dem Propst und seinen Klerikern wurde schnell klar, dass sie hier nicht zusammen mit den Frauen bleiben konnten, zu beengt waren die Verhältnisse. Die Nonnen verabschiedeten sich daher von ihm unter Tränen für diese erste Nacht. Sie lasen zusammen die *Komplet in dem Raum, in den sie der Mönch geführt hatte, und schliefen erschöpft in den Fensternischen hockend oder mit den Köpfen an die Wände gelehnt ein. Am nächsten Morgen sah dann alles schon anders aus. Zurückgekehrt zeigte der Mönch ihnen eine Kapelle, in der sie den Gottesdienst feiern konnten, zwei Räume, die sich als *Dormitorium, also als gemeinsamer Schlafsaal, eigneten, und einen eigenen Raum für die Äbtissin. Der Raum, in dem sie die erste Nacht zugebracht hatten, wurde zum *Refektorium umfunktioniert, und es gab sogar eine Wärmestube mit einer Steinofen-Luftheizung, eine sogenannte Hypokaustenheizung mit elf Sitzen, die mit warmer Luft beheizt werden konnten. In der Mitte der Anlage des Grauen Hofs entdeckten sie jetzt am hellen Morgen einen großen Hof mit Bäumen und einem kleinen Teich, für den der Propst ihnen einige Fische besorgte. Auch für alle anderen Verpflichtungen des religiösen Tagesablaufs fand sich schließlich eine Lösung: In einem Raum vor dem Eingang zur Kapelle, aber stets bei geschlossenen Türen, nahmen die Nonnen die Kommunion. Eine kleine Kammer über der Kapelle, die priche, richteten sie als ihr Beichtzimmer ein, freilich war es hier so beengt, dass sie vor dem Beichtvater knien mussten. Den Raum vor der Kapelle nutzten sie auch als Ort für die Predigt, die ihnen üblicherweise der Beichtvater, der Propst oder manchmal auch von außen eingeladene Kleriker hielten. Hier fanden auch die tägliche Lesung (collatio) nach der *vesper statt und die Fußwaschung am Donnerstag. In der Kapelle selbst sangen sie zusammen täglich die sieben *Horen, die *Stundengebete, und feierten den Gottesdienst, wie sie es gewohnt waren.

Die Räume im Kloster hatten eine klare Hierarchie gemäß ihrer sakralen Funktion und Bedeutung, die für die Nonnen und Mönche sehr wichtig war. Herzstück des klösterlichen Lebens war die tägliche Zusammenkunft im *Kapitelsaal, die Kapitelsitzung. Im Exil wählten die Nonnen hierfür den Raum vor der Kirche, aber weil er nicht sicher abgeschlossen werden konnte und während des Kapitels die nur für die Nonnen bestimmten Dinge wie Regelverstöße und andere sensible Themen verhandelt wurden, war das keine ideale Umgebung.

Gemeinsame Prozessionen mussten während der Zeit des Exils vollkommen ausfallen. Die Braunschweiger Ratsherren hatten die Nonnen in ihrem erzwungenen Zufluchtsort durchaus im Blick. Vorsichtshalber befahlen sie dem Riddagshauser Mönch nach einigen Tagen, in sein Kloster zurückzukehren. Der Propst mit seinen Klerikern, die für die Nonnen die Messe feierten und ihre geistlichen Betreuer waren, der Koch und der Bäcker sowie einige andere Bedienstete blieben bei ihnen, freilich räumlich getrennt. Allerdings, so fügt die Tagebuchschreiberin kritisch an, nicht so fest mit Schlössern und Riegeln getrennt, wie es sich geziemt hätte. Jede Gruppe im Kloster hatte ihren eigenen Haushalt, was hier neu organisiert werden musste. Der Koch für die Priester und die *familia, also die weltlichen Bediensteten der Nonnen, sowie die Laienschwestern kochten zusammen und wärmten sich an einem Feuer, die Priester und Scholaren und der Rest der familia an einem anderen. Die räumliche Trennung der verschiedenen sozialen Gruppen der Gemeinschaft, Männer wie Frauen, derer es für ein Klosterleben in strenger Klausur bedurfte, wie es die Zisterzienserinnen von Heilig Kreuz lebten, war damit notdürftig hergestellt. Sie war die Grundlage für ihre Lebensform und die Voraussetzung für ihre wichtigste Aufgabe, den Gottesdienst und den Vollzug der *Liturgie. Dabei hing die Qualität ihrer Gebete und ihres Gottesdienstes nach ihrem Selbstverständnis von der Qualität ihres geistlichen Lebens in Klausur ab, von der konzentrierten Erfüllung ihrer Pflichten und ihrer inneren Hinwendung zu Gott. Das im Exil sicherzustellen war eine große Herausforderung, die die Gemeinschaft nun gemeinsam stemmen musste – und die Bedingungen dafür waren alles andere als ideal.

Die Klausur war in den mittelalterlichen Klöstern sorgfältig durch die baulichen Gegebenheiten geschützt, aber jetzt musste man improvisieren. Für die Feier der Messe mussten die Priester mit den Scholaren und allen anderen, die an der Messe teilnahmen, durch die Räumlichkeiten hindurchgehen, in denen sich die Frauen aufhielten. Sie konnten also, schreibt die Zisterzienserin besorgt, alles, was ihnen sonst verborgen blieb, und alle geheimeren Dinge hören und sehen, auch wenn sie sich körperlich abwandten. Der Propst hatte den männlichen Geistlichen eingeschärft, sich von den Frauen so weit wie möglich fernzuhalten, und die Äbtissin befahl den Nonnen, dass ohne Sondererlaubnis niemand die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten verlassen dürfe, außer den Kapellmeisterinnen, um die Liturgie vorzubereiten, der *Kellermeisterin und den Laienschwestern für ihre verschiedenen Arbeiten und Aufgaben. Der größte Teil der Männer und der Frauen, so die Tagebuchschreiberin, hielt die Verbote sorgfältig ein. »Aber einige waren neugierig und standen an den Fenstern oder gingen unter einem Vorwand in die Küche und die Weberei, wo die Priester, Scholaren und Bediensteten mit den Laienschwestern häufiger ein paar Worte wechselten, weil sie sehen und gesehen werden, hören und gehört werden wollten. Aber mit Gottes Hilfe und durch die Intervention Mariens«, so schließt sie dieses delikate Thema, »und obwohl einige ziemlich unvorsichtig waren und an für uns unerlaubte Orte ohne Zeugen oder eine Begleiterin gingen«, passierte glücklicherweise nichts Schlimmes, obwohl es Gerüchte gab. »Davon schreibe ich jetzt aber nichts weiter«, wendet sich die Tagbuchschreiberin direkt an ihre Leserinnen, »aber ich ermahne diejenigen, die das hier lesen werden, damit sie sich vorsehen, dass sie nicht in ähnliche Gefahren laufen.«

Abbildung 1: Kartenansicht des Grauen Hofs in Braunschweig, Ausschnitt aus dem »Plan der Stadt Braunschweig« von Albrecht Heinrich Carl Conradi um 1755; A = Grauer Hof

Auch mit der Körperhygiene war es in der neuen Situation nicht leicht. Es gab im Innenhof einen kleinen Apfelbaumgarten: Die Frauen stellten eine große Tonne als Badezuber dorthin und hatten, wie die Tagebuchschreiberin freudig notiert, ihr Badehaus ohne Dach und Ofen, »was uns ganz besonders gefiel, auch im Winter in der kalten Luft«. Der Hof war freilich feucht, und die Frauen vermuteten hier eine Brutstätte für Schädlinge. Als eine alte und schon leicht debile Schwester eines Tages ein oder zwei Stunden im Zellentrakt saß und auf ihren Mantel schaute, entdeckte sie, dass er »lebte«: Er war übersät mit Würmern und Läusen. Freilich sagte sie nichts und verheimlichte es, so gut sie konnte, aber dann passierte anderen Schwestern dasselbe, und sie konnten es aufgrund der Bissigkeit der Läuse nicht mehr verheimlichen. Als sie die Kleider einsammelten, um sie zu waschen, stellte sich heraus, dass der größte Teil der Gemeinschaft von der Läuseplage befallen war.

Inzwischen belagerte der Herzog die Stadt und versuchte sie auszuhungern. Es wurde immer schwieriger, an Lebensmittel zu kommen, sodass die Frauen in Braunschweig, die sich und ihre Familien nicht mehr durch ihre Arbeit ernähren konnten, sich die Gesichter schwarz malten, um nicht entdeckt zu werden. Sie liefen nachts bis Peine und Hildesheim, um Lebensmittel zu beschaffen, die sie dann zum doppelten Preis in der Stadt verkauften. Von ihnen kaufte auch die Äbtissin für die Gemeinschaft von Heilig Kreuz, weil es sonst nichts gab. Auch in einer Braunschweiger Chronik werden diese Frauen erwähnt, die erfolgreich den Versuch des Herzogs unterliefen, die Stadt auszuhungern. Unter der Überschrift »Von den Frauenfeinden« heißt es hier, dass der Herzog so erbost darüber war, dass er Fehdebriefe gegen die Frauen in die Stadt schickte, um sie zu Kombattantinnen, also Kriegsgegnern, zu erklären und bekämpfen zu können. Während die Hungersnot in der Stadt ausbrach, liefen die Laienschwestern und Kleriker viele Male zum Heilig-Kreuz-Kloster zurück und brachten von dort alles, was sie tragen und gebrauchen konnten, in die Stadt. Dabei fanden die Scholaren an verschiedenen Stellen im Kloster und in den Zellen die Zöpfe, die den Mädchen beim Eintritt in den geistlichen Stand abgeschnitten worden waren, vergleichbar mit dem Scheren der Tonsur bei den Mönchen. Die Mädchen hatten sie in allen möglichen Winkeln in ihren Zellen versteckt. Weil die Scholaren jedoch ehrenhaft waren, so die Tagebuchschreiberin, geschah nichts Böses damit. »Aber sie erzählten den Laienschwestern, wie dumm und unvorsichtig wir seien, dass wir unsere Zöpfe nicht besser aufbewahrten, vor allem wenn wir das Kloster verließen, und wie viel Gefahr für unsere Jungfräulichkeit daraus erwachsen könne.« Was die Scholaren und Laienschwestern nicht mitnehmen konnten, wie die Andachtsbildchen an den Wänden und einiges andere, was weniger wertvoll war, wurde von Frauen aus der Stadt und anderen gestohlen, die den Ort durchstreiften und alles Heilige mitnahmen, was sie finden konnten, »was uns bei der Rückkehr sehr betrübte«.

Die Tagebuchschreiberin legt anlässlich des Exils mit ihren Erzählungen zum ersten Mal den Alltag und geistlichen Umgang frei, der sonst vor den Augen der Zeitgenossen verborgen war. Weil sie in dieser für die Nonnen höchst ungewöhnlichen und bedrohlichen Situation auch das Alltägliche berichtet, gibt sie auch späteren Leserinnen und Lesern einen besonderen und lebendigen Einblick in ein sonst durch Mauern und feste Klausur beschirmtes und beschütztes Leben.