Unerwartete Nachrichten - Julio Cortázar - E-Book

Unerwartete Nachrichten E-Book

Julio Cortázar

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Beschreibung

Ein vergessener Autor? Julio Cortázar? Das ­wollen wir doch mal sehen. Vielleicht sollte man erstmal dieses Buch lesen. Es versammelt unerwartete Nach­richten aus dem Nachlass eines Autors, den seine Fantasie und Experimentierfreudigkeit auf den Parnass der modernen lateinamerikanischen ­Klassiker katapultierte. Michi Strausfeld, die ihn noch gut gekannt hat, erinnert mit dieser Auswahl von ­Briefen, Skizzen, Artikeln, Capriccios und nachgelassenen Erzählungen daran, dass dieser ebenso ­verschmitzte, überwältigend charmante und tiefsinnige ­Erfinder von ebenso geschliffenen wie fantastischen Geschich­ten aus gutem Grund für so viele junge Autorinnen und Autoren ein Vorbild geworden ist, nicht nur in Lateinamerika. Christian Hansen, einer seiner kenntnisreichsten Fans, hat die Texte für diese umfassende Anthologie eines Argentiniers, den die ganze Welt mochte, übersetzt. »Wer Cortázars Werke nicht liest, ist verloren. Sie nicht zu lesen ist eine schwere, schleichende Krankheit, die mit der Zeit ganz schreckliche Folgen haben kann. Ähnlich wie jemand, der nie einen Pfirsich gegessen hat. Er würde langsam melancholisch werden und immer blasser, und vielleicht würden ihm nach und nach die Haare ausfallen.« Pablo Neruda

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Julio Cortázar

UnerwarteteNachrichten

Aus dem Spanischenvon Christian Hansen

Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Michi Strausfeld

Erzählung mit Wasser im Hintergrund

Manuskriptfund neben einer Hand

Theorie des Krebses

Der Glaube in der Dritten Welt

HOSPITAL BLUES

Der Besuch der Tataren

Lange, ungleiche Stunden

Beunruhigende Beobachtungen

Die unmöglichen Dialoge

Epilog zu Lasten meines Freundes Lukas und einer Luxusklinik

Lukas, seine moribunden Worte

Lukas, seine in der UNESCO geschriebenen Gedichte

Lukas, seine gesellschaftlichen Reibereien

Das Gefühl des Fantastischen

GESCHICHTEN VON CRONOPIEN

Verkehrsformen

Mittagessen

Never stop the press

So shine, shine, shoe-shine boy

Ein Cronopium in Mexiko

Das Husten einer deutschen Dame

Lob der Zweisprachigkeit

Von einer ängstlichen Kindheit

Der andere Narziss

Monolog des Fußgängers

Immer Gardel

Fenster zum Ungewöhnlichen

In einem Glas mit kaltem oder vorzugsweise lauwarmem Wasser

Wunschlos glücklich oder die Monster in Aktion

Die Geschichte von Rayuela in den Briefen von Julio Cortázar

Background

Um mit Kopfhörern zu hören

Alles wird mehr oder weniger gut gehen bis zu dem Tag, an dem

Der vergebliche Schutz

Die Reden des Schnauzenkneifers

Fahnenkorrektur in der Haute Provence

Spaziergang zwischen Käfigen

Nachwort

Nachweise

Erzählung mit Wasser im Hintergrund

Für Tony, der sich auch Lucien nannte

Nein, es reicht jetzt mit Lucien; es reicht, dass du mir bis zum Gehtnichtmehr seinen Namen wiederholst. Dir scheint nicht klar zu sein, dass es Sätze gibt, Erinnerungen, die für mich unerträglich sind; dass sich alles in mir wehrt, wenn jene Dinge zur Sprache kommen. Hör auf, Luciens Namen zu nennen. Leg eine Platte auf oder wechsle das Wasser für die Fische. In Kürze wird Lola kommen, und du kannst mit ihr tanzen; ich weiß doch, wie sehr du das Weltliche liebst und dass du mich ein bisschen verachtest für meine Zurückgezogenheit und meine Geringschätzung für Frauen. Aber warum hast du Lucien erwähnt? War es nötig, dass du sagtest: Lucien?

Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich mit dir spreche: Es kommt mir vor, als sei ich allein in der Bibliothek über dem Fluss, und niemand in der Nähe. Bist du noch da, Mauricio? Warst du das, der Lucien erwähnt hat? Antworte mir jetzt nicht; was wär damit gewonnen! Ob du ihn erwähnt hast oder nicht, spielt keine Rolle. Ich bin ein Professor auf Urlaub, der seine Ferien in seinem Haus am Fluss verbringt, aufs Wasser schaut und gelegentlich Freunde empfängt oder sich in einer Zeit ohne Grenzen, ohne Kalender, ohne Frauen, ohne Hunde verliert. Eine eigene Zeit, die ich mit niemandem mehr teile, seit jene Unterrichtsstunden aufgehört haben … weißt du noch, wann?

Gib mir eine Zigarette. Bist du da, Mauricio? Gib mir eine Zigarette.

Bald kommt Lola; ich hatte ihr gesagt, sie werde dich hier finden. Schau die Schallplatten durch, wenn du dich langweilst; ah, du liest. Was liest du? Nein, nein, sag es nicht; ist mir egal. Wenn du müde bist, wie gesagt, der Schaukelstuhl steht draußen auf der Veranda; klingle, der Kleine wird ihn dir bringen. Kümmere dich nicht um mich, ich schlafe, bin nicht da; du kennst mich ja. Wozu dir das erklären? Die Ärzte, die Schule, die Erholung … nichts von Bedeutung. Aber immerhin bist du Mauricio; hast einen Namen, man kann dich sehen, hören. Warum schaust du mich so an? Nein, Alter, Gabriel ist nicht verrückt, Gabriel verrennt sich in Abschweifungen; habe ich in den Träumen gelernt und in der Kindheit. Klar, es fehlt einer, der die Fäden dieses zusammenhanglosen Rennens interpretiert und verwebt … Dieser Interpret bist du nicht, allenfalls ein Musiker, einer, dessen letzte Ballade ich erbärmlich fand. Ich weiß, ich weiß, erklär mir nichts: In der Musik hat nichts eine Erklärung. Das Stück gefällt mir nicht, vielleicht finde ich das nächste wieder wunderbar … Schau mich nicht so an! Du bist schuld, dass ich so rede! Ich will vergessen, mich irren …! Warum hast du das getan, warum hast du Luciens Namen vom Grund der Zeit heraufgeholt? Siehst du nicht, dass ich ihn für ein oder zwei Stunden am Tag vergesse? Es ist das Gegengift, das mir erlaubt, durchzuhalten. Wundere dich nicht, Mauricio; klar, was verstehst du schon davon, du warst weit weg … Wo? Ah, in Jujuy, in den Quebradas … irgendwo da. Weit, weit weg. Du warst jenseits, außen vor, und dies hier ist ein Kreis; du kannst nicht herein. Nein, Mauricio, du kannst nicht herein, wenn ich nicht das Zauberwort sage …

Warum nur hast du das gemacht, Dummkopf …! Komm, setz dich her, wirf das Buch aus dem Fenster … Nein, nicht aus dem Fenster; es würde in den Fluss fallen. Nichts darf jetzt in den Fluss fallen, am wenigsten ein Buch. Lass es da liegen … ja, ich werde dir alles erzählen, danach tu, was du für richtig hältst. Ich bin es leid, so leid; tot bin ich, verstehst du? Nein, du verstehst nichts, aber hör jetzt zu, hör dir alles an und unterbrich mich nicht, außer, um mir eine Kugel zu verpassen oder um mich zu ertränken …

Das Glas Wasser da … Damit fing der Traum an. Hast du keine Träume? Es wird so viel Unsinn über Träume verbreitet … Ich glaube lediglich an die sexuellen Folgerungen, und trotzdem … Mauricio, Mauricio, als wir klein waren, erzählte man uns von prophetischen Träumen … Und später, an jenem Abend nach dem Lehrerseminar, als du und ich das Buch von J. W. Dunne lasen und wir uns an den bekloppten Maeterlinck und seine Erzählung vom verbrannten Teppich erinnerten, an die Prophezeiung und an weiß der Teufel was noch … Bah, Schall und Rauch … Sieh mich nicht so an; Lucien sah mich genauso an, wenn ich ein grobes Wort sagte; ihr glaubtet immer, es würde mir schlecht zu Gesicht stehen, vielleicht stimmt das. Der Traum war idiotisch, aber sehr deutlich, Mauricio, sehr deutlich, bis zu einer gewissen Stelle. Dort endete die Sequenz und es folgte … nichts, Nebel. Ich rief Lucien an und sagte: »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.« Immer erzählten wir uns unsere Träume, wusstest du das? Weil du keine Träume hast, wie du mir einmal sagtest; also wirst du nicht verstehen, was geschehen ist, es wird dir sinnlos vorkommen oder du wirst denken, ich sei verrückt oder würde mich über dich lustig machen … Ich war müde und draußen auf der Veranda eingeschlafen, während ich auf den Fluss schaute; der Mond schien, das sage ich nicht, um dich zu beeindrucken; ich weiß schon, dass der Mond etwas makaber ist, wenn man eine Weile über ihn nachdenkt; aber der Mond über dem Delta ist manchmal erdfarben, und in jener Nacht mischten sich noch Sand und rote Kristalle hinein. Ich schlief ein, müde, wie ich war, und dann begann der Traum, ohne dass sich etwas verändert hätte … denn ich sah immer noch das Panorama, das du vor dir hast, wenn du dich auf der Veranda in den Schaukelstuhl setzt. Der Fluss, dann die Trauerweiden zur Linken, wie eine Dekoration von Derain, und eine Musik von Hunden und fallenden Pfirsichen und idiotischen Grillen und einem seltsamen Plätschern, wie von Händen, die sich im Schlamm des Ufers festkrallen wollen und abrutschen, abrutschen und wild um sich schlagen, und wie eine entsetzliche Saugglocke schlürft der Fluss sie zurück, und man ahnt sie, die Gesichter der Ertrunkenen … Aber warum, warum hast du den Namen von Lucien genannt …?

Geh nicht … ich habe nicht vor, dir etwas anzutun; glaubst du, ich kenne dich nicht? Komm schon, Freund Musikus, bleib hier und sei still; nein, ich will kein Wasser, kein Bromid und kein Morphin … Hörst du das da draußen? … Die Nacht bricht herein, und es beginnt das Plätschern … erst langsam, ganz langsam … Tastende Hände, die ans Ufer kommen und sich im Schlamm festkrallen … Aber nachher wird es stärker und stärker und stärker; das sage ich jede Nacht dem Arzt, aber man muss schon Arzt sein, um die einfachsten Dinge nicht zu verstehen. Ach, Mauricio, es war wirklich dieselbe Landschaft; wie konnte ich wissen, dass ich träume? Dann erhob ich mich und ging den Fluss entlang, trieb auf ihm hin, aber nicht im Wasser, verstehst du; sondern wie in Träumen, schwebend, mit leicht angezogenen Beinen in einer wunderbaren Spannung … über die Wasser hin, bis ich die ersten Inseln überquerte, weiter und weiter … vorbei an der verfallenen Mole, den Orangenhainen, immer weiter … Und dann war ich am Ufer, ging ganz normal daran entlang; und nichts war zu hören; eine Stille wie ein Schrank von innen, eine erstickte, schmutzige Stille. Und ich ging weiter, Mauricio, ging weiter bis zu einem Punkt am Ufer, wo ich reglos stehen blieb und schaute …

So habe ich Lucien meinen Traum erzählt, weißt du; so, mit allen Details, bis zu der Stelle, denn von da an beginnt er sich zu verdunkeln; Nebel kommt auf, die Angst, nicht zu verstehen … Und du, der du nicht träumst! Wie soll man dir das erklären? Mit einem Klavier vielleicht … ein Freund von mir fand, man könne einem Blinden so die Dinge erklären. Er schrieb eine Erzählung, und in dieser Erzählung gab es einen Blinden, und der Blinde hatte einen Freund, und der Blinde war ich, und es geschahen Dinge … Hier gibt es kein Klavier: Du musst mir zuhören und verstehen, auch wenn du noch nie geträumt hast. Du musst verstehen. Lucien verstand sehr gut, als ich ihm den Traum erzählte; und das, wo wir damals ein sehr distanziertes Verhältnis hatten, getrennte Wege einschlugen, wobei er glaubte, ich würde auf eine bestimmte Weise denken, und ich glaubte, er auf eine andere, und er behauptete, ich würde mich in allem, was ich tat, irren, würde alles daransetzen, unhaltbare Zustände aufrechtzuerhalten, und dass es keinen Zweck habe, sich gegen die Zeit zu stemmen, worin er, logisch betrachtet, sehr recht hatte. Aber du weißt schon, Mauricio, du weißt, dass die Logik …

Ich stand also am Fluss und schaute aufs Wasser. Nach all dem Fliegen und Laufen stand ich jetzt reglos da, als würde ich auf etwas warten. Und die Stille dauerte an, und das Plätschern war nicht zu hören. Ich sah alle Dinge gestochen scharf, und daher konnte ich später Lucien jeden Baum beschreiben, jede Flussbiegung, jedes Gewirr von Stämmen. Ich befand mich auf einer kleinen, morastigen Landzunge, die in den Fluss hineinragte; hinter mir Bäume, Bäume und die Nacht. Du weißt, dass mein Traum nachts spielte; aber dort schien kein Mond, und trotzdem zeichnete sich die Landschaft mit wie versteinerter Deutlichkeit ab, der Landschaft in einer Glaskugel vergleichbar, verstehst du; wie in einer Museumsvitrine, klar, präzise, beschildert. Bäume, die sich hinter einer Biegung des Wasserlaufs verloren; schwarzer Himmel, aber anders schwarz als die Bäume; und das Wasser, das Wasser mit seiner schweigsamen Rede, und ich stand auf der Landzunge, schaute in Richtung Flussmitte und wartete auf etwas …

»Du erinnerst dich aber sehr deutlich an die Szene«, sagte Lucien, als ich ihm den Ort beschrieb. Ab dem Punkt jedoch setzte im Traum Nebel ein, und die Dinge nahmen eine abweisende und zwielichtige Wendung, wie in Albträumen; das Wasser war das gleiche, aber auf einmal machte es Geräusche, und es war das Plätschern, das unaufhörliche Plätschern der Hände, die sich vergeblich am Schilf festzuhalten suchten, ins Flussbett zurückbeordert durch den gierig saugenden, schmutzigen Schlund … Immer gleich, flapp, flapp, flapp, während ich dort wartete, flapp, flapp, und sogar das Entsetzen, dass nichts geschah, aber man trotzdem warten musste … Denn ich hatte Angst, verstehst du, Mauricio, obwohl ich doch schlief, hatte ich Angst vor dem, was passieren würde … Und als ich den von der Strömung herangetragenen Körper des Ertrunkenen kommen sah, war es wie eine Erleichterung, dass endlich etwas geschah; wie eine Rechtfertigung dieser Ewigkeit unbeweglichen Geheimnisses. Ich weiß nicht, ob ich dir die Sachen gut erzähle; Lucien war ein bisschen bleich, als ich ihm das mit dem Ertrunkenen sagte; er hatte seine Nerven nie so unter Kontrolle wie du. Du solltest kein Musiker sein, Mauricio; an dir ist ein großer Ingenieur verlorengegangen, oder ein Mörder … Bah, was antwortest du mir, dass ich fantasiere … Bist du auch bleich geworden? Nein, es ist die hereinbrechende Nacht, es ist der Mond, der wächst und aus den Weiden steigt und dir ins Gesicht scheint; nein, du bist nicht bleich, nicht wahr? Lucien schon, als ich ihm das von dem Ertrunkenen erzählte; aber viel mehr konnte ich ihm nicht erzählen, denn da endete der Traum; ich weiß nicht, ob ich dich enttäusche, aber an diesem Punkt endet alles … Ich sah ihn vorbeiziehen, sanft auf dem Rücken dahintreiben … und konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich war mir sicher, dass ich ihn kannte, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Daher auch die Angst: zu wissen, dass dieser Ertrunkene in gewissem Sinne mir gehörte, dass sich auf geheimnisvolle Weise spürbare Bande zwischen ihm und mir spannten, und ihm doch nicht ins Gesicht sehen zu können … Aber das ist gar nichts, Mauricio; es gibt etwas noch viel Entsetzlicheres … Nein, steh nicht auf; bleib da, du musst alles hören. Warum hast du den Namen von Lucien genannt? Jetzt musst du dir alles anhören. Bis zu dem, was das Schlimmste war; denn in einem bestimmten Moment, als der Ertrunkene an mir vorbeitrieb, so dicht, dass, wenn er den Arm hätte ausstrecken können, er meinen Fuß gepackt hätte … da, in diesem Moment, sah ich sein Gesicht; das Licht meines Traums fiel direkt auf ihn, und ich sah sein Gesicht und erkannte, wer es war. Hast du verstanden? Ich wusste, wem dieses Gesicht gehörte, und hätte mir niemals vorstellen können, dass ich es beim Erwachen vergessen würde … Denn als ich erwachte, wurde im selben Augenblick der Traum unterbrochen, und ich vermochte mich nicht mehr zu erinnern, wer der Tote war. Mauricio, ich wusste, wer es war, erinnerte mich aber nicht; meine ganze Hellsicht wurde im Wachen zu dumpfer Ignoranz. Das sagte ich zu Lucien, bebend vor Wut und Angst: »Ich erinnere mich nicht, wer es war, und das Schrecklichste ist, dass ich sein Gesicht, seine Züge ganz deutlich gesehen hatte, und ich erinnere mich, so viel erinnere ich doch, dass er etwas wie einen großen Schrei in seinen Händen und seinen Haaren hatte, etwas wie eine entsetzliche Offenbarung, die mich elektrisierte …«

Hörst du es plätschern? So war es an dem Abend, als ich Lucien meinen Traum erzählte und er beim Abschied kreidebleich war, denn er ließ sich von meinen Erzählungen immer leicht beeindrucken. Du schauderst nicht wie er; ich erinnere mich an eine Nacht, wir saßen auf einer Holzbank drüben im Westen der Stadt und ich erzählte Lucien eine gruselige Geschichte, die ich gerade gelesen hatte; vielleicht kennst du sie, die von der Affenhand … Es tat mir weh zu sehen, wie tief er in die Geschichte eintauchte, in ihre beklemmende, albtraumhafte Atmosphäre … Aber ich musste ihm den Traum erzählen, Mauricio; er beschäftigte mich zu sehr, als dass es ihm hätte verborgen bleiben können. Als er ging, fühlte ich mich etwas erleichtert; aber die Offenbarung blieb aus, und den ganzen Sommer über, den Sommer, als du im Norden warst, wartete ich vergeblich auf den Augenblick der Erkenntnis, auf die Erinnerung, die es mir erlaubt hätte, aus abgründiger Tiefe das Ende jenes Albtraums zu bergen.

Mach das Licht nicht an, es fällt mir leichter zu reden, ohne dass man meinen Mund sieht. Du weißt, dass ich einen Blick nicht lange aushalte, nicht einmal deinen; besser so. Gib mir eine Zigarette, Mauricio: Rauch du auch eine, aber bleib; du musst es dir bis zum Ende anhören. Danach wirst du tun, was dir beliebt; in meinem Schreibtisch liegt ein Revolver und im Wohnzimmer steht das Telefon. Aber jetzt bleib hier! Den ganzen Sommer über warst du weit weg von uns; ich habe oft an dich gedacht, immer wenn ich mir unsere Studentenzeit ins Gedächtnis rief; ihr Ende, dieses heutige Leben, die so lange ersehnte Unabhängigkeit mit ihrem bitteren Beigeschmack von Einsamkeit … Ja, ich habe an dich gedacht, aber mehr noch an den Traum; und nie, verstehst du, nie in all jenen schlaflosen Nächten vermochte ich bis an sein Ende zu gelangen … Ich kam in aller Klarheit bis an den Punkt, wo der Tote vorbeitrieb und wieder jenes Plätschern laut wurde, wie Hände von Ertrunkenen, die dem Fluss zu entkommen suchten … Da hörte alles auf; alles. Wenn ich mich wenigstens an das erinnert hätte, was ich wusste! Es muss barmherzige Träume geben, alter Freund; Träume, die man beim Erwachen glücklicherweise vergisst; aber dieser wurde zur quälenden Obsession, wie der lebende Krebs im Magen des Fisches, der sich von innen heraus rächt … Und ich war nicht verrückt, Mauricio, genauso wenig wie jetzt; schlag dir den Gedanken aus dem Kopf, du irrst dich. Die Sache ist, dass mir dieser Traum real vorkam, anders als alle Träume sonst; es hatte etwas von Prophezeiung, Ankündigung … etwas in der Art, Mauricio; etwas von Drohung und Warnung … Und von Entsetzen, einem weißen, schlüpfrigen Entsetzen, einem heiligen Entsetzen … Lucien muss das genau verstanden haben, denn er kam nicht noch einmal auf meinen Traum zu sprechen, und ich schwieg lieber, denn in jenen Tagen, als du fortgingst, standen wir beide kurz vor einer endgültigen Trennung, müde der nutzlosen Zugeständnisse, des Festhaltens an einer Zuneigung, die bei ihm gestorben war und die ich meinerseits abtöten musste … Hast du nicht so etwas geahnt? Ah, weil Lucien dir das nie gesagt hätte; ich auch nicht. Unsere Welt war eine Sache für sich. Für uns, weißt du; unmöglich, andere daran teilhaben zu lassen, und sei es nur, um zu erklären. Und wir kamen an das Ende dieser Welt, und es war nötig, ihre Türen einzurennen, verschiedene Wege einzuschlagen … Ich glaubte nicht, dass es Hass zwischen uns gab; oh nein, Mauricio, du weißt, dass ich das niemals hätte glauben können, und wenn Lucien zu mir kam, gingen wir zusammen spazieren wie früher, liebenswürdig und höflich darum bemüht, einander nicht zu verletzen, aber ohne dem nachzuspüren, was gestorben war … Wir liefen über trockenes Laub; dicke Polster trockenen Laubs am Ufer des Flusses … Und es war ein fast zärtliches Schweigen; und mit einem Mal schien es vorstellbar, wieder Zuneigung zueinander zu fassen, zurückzukehren zu der Freundschaft von einst … Aber alles entfernte uns jetzt voneinander; einander zu sehen, zu reden, Routinen, die uns vage nervten.

Und dann sagte er: »Die Nacht ist schön; lass uns ein Stück gehen.« Und so, wie auch wir das jetzt tun könnten, Mauricio, verließen wir den Bungalow und gingen die Bucht entlang, bis wir unsere bevorzugte Uferstelle fanden. Wir sagten nichts, verstehst du, denn wir hatten uns schon nichts mehr zu sagen, aber jedes Mal, wenn ich Lucien ansah, kam er mir bleich vor, so als bereitete er sich darauf vor, eine ungewisse Situation zu klären, die ihn quälte. Wir gingen und gingen, ich weiß nicht, wie lange, und gelangten so in Zonen, die ich nicht kannte, weit weg vom Haus, jenseits des gewohnten Radius, dorthin, wo der Fluss zu klagen beginnt, sein Leib sich windet wie eine Viper im Feuer; wir gingen und gingen. Nur unsere Schritte waren zu hören, weich auf trockenem Laub, und das Plätschern am Ufer. Ich werde diese Stunden nie vergessen können, Mauricio, denn es war, als ginge man zu einer Stelle, von der man nicht wusste, wo sie war, nur, dass man hingelangen musste … Warum? Ich hatte keine Ahnung, und jedes Mal, wenn ich Lucien das Gesicht zuwandte, entfachte ich in seinen Augen einen Glanz, kalt und abwesend wie der Mond. Wir sprachen nicht; aber alles sprach von außen her, alles schien uns weiter und weiter voranzutreiben; und ich bekam den Traum nicht aus dem Kopf, jetzt, wo der Weg durch die Nacht so sehr jenem Traum aus vergangenen Zeiten zu gleichen begann … Es stimmt, ich flog nicht mit angezogenen Beinen über dem Fluss; es stimmt, Lucien war jetzt bei mir; aber auf unerklärliche Weise war diese Nacht die Nacht des Traums, und als ich mich hinter einer Flussbiegung unversehens am Schauplatz der schrecklichen Szene wiederfand, die ich geträumt hatte, reagierte ich kaum überrascht. Es war mehr ein Wiedererkennen, verstehst du; wie wenn man an einen Ort kommt, wo man noch nie vorher war, der einem aber von Fotografien oder aus Gesprächen bekannt ist. Ich näherte mich der Wasserlinie und sah die morastige Landzunge, die es erlaubte, ein Stück auf den Fluss hinauszugehen. Ich sah das nächtliche Licht, das scheu die Baumkulisse hervorhob, hörte lauter jetzt das Plätschern am Ufer. Und Lucien stand neben mir, Mauricio, und als wäre ihm meine Beschreibung plötzlich wieder eingefallen, schien auch er sich zu erinnern …

Warte, warte … Ich will nicht, dass du gehst, ich muss dir alles sagen. Hörst du nicht die Geräusche da draußen? Immer wenn es Nacht wird, versucht etwas in den Bungalow zu kommen; und heute Nacht könnte ich das nicht aushalten, Mauricio, ich könnte nicht. Bleib hier; Lola wird gleich kommen, und dann kannst du tun, was du willst. Lass mich dir den Rest erzählen, den Moment, wo ich mich über den Fluss beugte und dann Lucien anschaute, wie um zu sagen: »Jetzt wird er kommen.« Und als ich Lucien anschaute und dabei an den Traum dachte, hatte ich den Eindruck … wie soll ich es dir erklären? … hatte ich das Gefühl, dass auch er in meinem Traum war, in meinen Gedanken, und Teil einer fürchterlichen Wirklichkeit außerhalb der gewohnten Raster des Lebens; es schien mir, als würde der Traum dort erneut beginnen … Nein, das war es nicht; mir schien, als sei der Traum eine Prophezeiung gewesen, das Vorgefühl von etwas, das dort geschehen sollte, genau an dieser Stelle, wo ich im wachen Leben nie gewesen bin; an dieser Stelle, die wir nach einer sinnlosen, aber dunkel notwendigen Wanderung gefunden hatten.

Ich sagte zu Lucien: »Erinnerst du dich an meinen Traum?« Und er erwiderte: »Ja, und das ist die Stelle, nicht wahr?« Seine Stimme klang rau, merkte ich; ich sagte: »Woher weißt du, dass es diese Stelle ist?« Er schwankte, schwieg einen Moment und gestand dann zögernd: »Weil ich an einen solchen Ort gedacht habe; ich habe einen solchen Ort gebraucht. Du hast einen fremden Traum geträumt …« Und als er das zu mir sagte, Mauricio, ging mir plötzlich ein großes Licht auf, wie eine Lichtexplosion im Gehirn, und mir schien, als sollte ich mich an das Ende des Traums erinnern. Ich schloss die Augen und sagte im Stillen: »Gleich erinnere ich mich … gleich …« Es war die Sache eines Augenblicks, und ich erinnerte mich. Ich sah den Ertrunkenen, der fast meine Füße berührte, während er an mir vorübertrieb, und ich sah sein Gesicht. Und das Gesicht des Ertrunkenen war meines, Mauricio, das Gesicht des Ertrunkenen war mein Gesicht.

Bleib, um Himmels willen … ich bin fast fertig. Ich erinnere mich, dass ich die Augen aufschlug und Lucien ansah. Er stand zwei Schritte von mir entfernt, und seine Augen bohrten sich in meine. Er wiederholte langsam: »Ich habe einen solchen Ort gebraucht. Du hast einen fremden Traum geträumt, Gabriel … Du hast meine Gedanken geträumt.« Und weiter sagte er nichts, Mauricio, er brauchte es auch nicht, verstehst du; er brauchte kein weiteres Wort zu verlieren.

Hörst du das Plätschern draußen …? Das sind die Hände, die sich an das Schilf klammern wollen, die ganze Nacht, die ganze Nacht … es beginnt bei Einbruch der Dämmerung und hält die ganze Nacht an … Hör doch, da … hörst du ein stärkeres, gebieterischeres Plätschern? Ich weiß, dass unter all den Händen von Ertrunkenen, die sich aus dem Fluss befreien wollen, ein paar sind, Mauricio … ein paar Hände, denen es manchmal gelingt, sich im Schlamm festzukrallen … die Bretter der Anlegestelle zu erreichen … und dann steigt der Ertrunkene aus dem Wasser … Hörst du ihn nicht? Steigt aus dem Wasser, sage ich dir, und kommt … Er kommt hierher, tritt auf die Fläschchen mit Bromid, Veronal und Morphium, und ich muss auf ihn zulaufen und den Traum noch einmal zerstören, verstehst du … Den Traum zerstören, ihn noch einmal in den Fluss werfen, um ihn davontreiben zu sehen, an mir vorbeiziehen zu sehen, mit einem Gesicht, das nicht mehr meines ist, das nicht mehr das des Traums ist … Ich habe den Traum besiegt, Mauricio, die Prophezeiung durchkreuzt; aber er kommt jede Nacht wieder, und einmal wird er mich mitnehmen … Geh nicht, Mauricio … Er wird mich mitnehmen, sage ich dir, und wir werden zu zweit sein, und der Traum wird seine Bilder erfüllt haben … Da draußen, Mauricio, hör nur, das Plätschern … Geh jetzt, wenn du willst; lass ihn aus dem Wasser steigen, lass ihn herein. Tu, was du willst, es ist egal. Ich habe den Traum besiegt, das Schicksal abgewendet, begreifst du; aber das alles zählt nicht, denn der Fluss wartet auf mich, und in dem Fluss sind jene Hände und jenes Gesicht, die zu Unrecht seinem durstigen Schlund überantwortet wurden. Und ich werde gehen müssen, Mauricio, und die Landzunge wird mich eines Nachts vorbeitreiben sehen, auf dem Rücken, bei herrlichem Mond, und der Traum wird erfüllt sein, Mauricio, der Traum wird endlich erfüllt sein.

1941

Manuskriptfund neben einer Hand

Meinem Namensvetter De Caro

Um halb neun Uhr abends werde ich in Istanbul ankommen. Das Konzert von Nathan Milstein beginnt um neun, aber es wird nicht nötig sein, der ersten Hälfte beizuwohnen; ich werde am Ende der Pause hineingehen, nachdem ich im Hilton ein Bad genommen und ein Häppchen gegessen habe. Um mir die Zeit zu vertreiben, vergnüge ich mich damit, mir all das in Erinnerung zu rufen, was hinter der Reise steht, hinter all den Reisen der letzten Jahre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Erinnerungen schriftlich festhalte, aber ich bin immer vorsichtig genug, die Papiere bei Eintreffen am Zielort zu vernichten. Ich habe meine Freude daran, meine wunderbare Geschichte wieder und wieder zu lesen, obwohl ich später dann doch lieber alle Spuren verwische. Heute kommt mir der Flug endlos vor, die Zeitschriften sind langweilig, die Stewardess sieht aus, als könne sie nicht bis drei zählen, man kann nicht einmal einen Mitreisenden zu einem Kartenspiel bewegen. Schreiben wir also, um den Lärm der Turbinen zu vergessen. Ich muss gerade daran denken, dass ich mich auch damals sehr gelangweilt hatte, in der Nacht, als ich auf die Idee kam, in das Konzert von Ruggiero Ricci zu gehen. Ich, der ich Paganini nicht ausstehen kann. Aber ich langweilte mich so, dass ich hinging und mich auf einen billigen Platz setzte, den es wie durch ein Wunder noch gab, wo doch die Leute Paganini vergöttern, außerdem muss man Ricci gehört haben, wenn er die Capriccios spielt. Es war ein ausgezeichnetes Konzert, und Riccis Technik war verblüffend, unbegreiflich die Art, wie er seine Geige in eine Art Feuervogel, eine Weltraumrakete, eine verrückte Kirmes verwandelte. Ich erinnere mich noch genau an die Situation: Die Leute waren wie paralysiert vom strahlenden Abschluss eines der Capriccios, und Ricci nahm fast ohne Unterbrechung das nächste in Angriff. Da dachte ich an meine Tante, in einer jener absurden Abschweifungen, die uns in Momenten tiefster Konzentration anfallen, und im selben Augenblick riss an der Geige die zweite Seite. Sehr ärgerlich, denn Ricci musste sich verbeugen, die Bühne verlassen, und kehrte dann mit finsterer Miene zurück, derweil sich im Publikum jene Spannung verflüchtigte, die jeder Interpret heraufbeschwört und für sich nutzt. Der Pianist griff in die Tasten, und Ricci spielte das Capriccio noch einmal. Aber bei mir war ein zugleich konfuses und bohrendes Gefühl zurückgeblieben, wie von einem ungelösten Problem, von zersprengten Elementen, die zueinanderzufinden suchten. Zerstreut, unfähig, mich erneut auf die Musik einzulassen, analysierte ich das Geschehene bis zu dem Moment, da ich unruhig geworden war, und schloss, dass die Schuld offenbar bei meiner Tante lag, dabei, dass ich mitten im Capriccio von Paganini an sie gedacht hatte. Im selben Moment schlug der Deckel des Flügels zu, mit solchem Getöse, dass der Saal vor Schreck erstarrte und das Konzert völlig aus den Fugen geriet. Verwirrt trat ich auf die Straße und ging einen Kaffee trinken, wobei ich mich fragte, warum ich so ein Pech hatte, wenn ich mich einmal etwas amüsieren wollte.

Ich muss wirklich naiv sein, aber heute weiß ich, dass sich sogar Naivität auszahlen kann. Ich studierte die Spielpläne und fand heraus, dass Ricci seine Tournee in Lyon fortsetzte. Ich stürzte mich in Unkosten und bestieg die zweite Klasse eines Zuges, der nach Schimmel roch, nicht ohne mich vorher beim gerichtsmedizinischen Institut, in dem ich arbeite, krankzumelden. In Lyon kaufte ich mir eine Karte für den billigsten Platz, nachdem ich im Bahnhof eine geschmacklose Kleinigkeit gegessen hatte, und wegen meiner Zweifel, wegen Ricci vor allem, ging ich erst im letzten Moment hinein, also erst zu Paganini. Meine Absichten waren rein wissenschaftlich (aber stimmt das, reifte der Plan nicht schon irgendwo im Hinterstübchen?), und da ich dem Künstler nicht schaden wollte, wartete ich eine kurze Pause zwischen zwei Capriccios ab, um an meine Tante zu denken. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, wie Ricci seinen Geigenbogen eingehend musterte, sich mit einer entschuldigenden Geste verbeugte und von der Bühne ging. Augenblicklich verließ ich den Saal, befürchtete ich doch, dass ich es nicht würde vermeiden können, erneut an meine Tante zu denken. In dieser Nacht schrieb ich noch vom Hotel aus die erste der anonymen Botschaften, die einige berühmte Konzertkünstler als schwarze Briefe zu bezeichnen beliebten. Natürlich bekam ich von Ricci keine Antwort, aber mein Brief sah das spöttische Gelächter des Adressaten ebenso voraus wie sein Ende im Papierkorb. Im nächsten Konzert – in Grenoble war das – berechnete ich genau den Moment, in dem ich den Saal betrat, und mitten im zweiten Satz einer Schumann-Sonate dachte ich an meine Tante. Die Lichter des Saals erloschen, es entstand ein ziemliches Durcheinander, und ein etwas bleicher Ricci dürfte sich an eine gewisse Passage in meinem Brief erinnert haben, bevor er sein Spiel fortsetzte; ich weiß nicht, ob die Sonate die Mühe lohnte, denn ich war schon auf dem Weg ins Hotel.

Zwei Tage später empfing mich sein Sekretär, und da ich mir dafür nicht zu schade war, erklärte ich mich mit einer kleinen privaten Demonstration einverstanden, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die besonderen Umstände der Probe das Ergebnis beeinflussen könnten. Weil Ricci sich weigerte, mich zu sehen, wofür ich ihm nicht genug dankbar sein konnte, wurde vereinbart, dass er in seiner Hotelsuite bleiben sollte, während ich mich zusammen mit seinem Sekretär im Vorzimmer aufhalten würde. Das Lampenfieber jedes Novizen überspielend, setzte ich mich in ein Sofa und hörte eine Weile zu. Dann klopfte ich dem Sekretär auf die Schulter und dachte an meine Tante. Aus dem angrenzenden Raum hörte man ein Fluchen in lupenreinem Nordamerikanisch, und ich hatte eben noch Zeit, zur einen Tür hinauszulaufen, bevor durch die andere ein menschlicher Tornado hereinfegte, mit einer Stradivari bewaffnet, von der eine Saite herabhing.

Wir einigten uns auf monatlich eintausend Dollar, die ich auf einem diskreten Bankkonto deponieren würde, das ich mit dem Betrag der ersten Zahlung zu eröffnen gedachte. Der Sekretär, der mir das Geld ins Hotel brachte, machte keinen Hehl daraus, dass er alles dafür geben würde, diesem seiner Einschätzung nach widerlichen Ränkespiel ein Ende zu setzen. Ich zog es vor, zu schweigen und das Geld einzustecken, und harrte dann der zweiten Zahlung. Als zwei Monate verstrichen waren, ohne dass die Bank mir den Geldeingang bestätigte, nahm ich eine Maschine nach Casablanca, obwohl die Reise einen Großteil der ersten Zahlung verschlang. Ich glaube, dass in jener Nacht mein Triumph endgültig besiegelt war, denn mein Brief an den Sekretär enthielt alle erforderlichen Angaben, und niemand auf der Welt ist so begriffsstutzig. Ich konnte nach Paris zurückkehren und mich gewissenhaft Isaac Stern widmen, der gerade seine Frankreich-Tournee begann. Im folgenden Monat flog ich nach London und hatte eine Unterredung mit dem Agenten von Nathan Milstein sowie eine weitere mit dem Sekretär von Arthur Grumiaux. Das Geld erlaubte es mir, meine Technik zu vervollkommnen, und die Flugzeuge, diese Geigen des Himmels, ersparten mir viel Zeit; in weniger als sechs Monaten erweiterte sich meine Liste um Zino Francescatti, Yehudi Menuhin, Ricardo Odnoposoff, Christian Ferras, Ivry Gitlis und Jascha Heifetz. Bei Leonid Kogan und den beiden Oistrachs hatte ich nur teilweise Erfolg, da sie mir glaubhaft versicherten, lediglich in Rubel bezahlen zu können, jedenfalls vereinbarten wir, dass sie die Raten auf ein Konto in Moskau einzahlen und mir die entsprechenden Belege schicken würden. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, mich eine Zeitlang in der Sowjetunion niederzulassen, wenn meine Geschäfte es mir erlauben, und die Schönheiten der russischen Musik zu würdigen.

Da der Kreis berühmter Geigenvirtuosen begrenzt ist, unternahm ich logischerweise einige kollaterale Experimente. Das Cello sprach sofort auf die Erinnerung an meine Tante an, dagegen zeigten sich das Klavier, die Harfe und die Gitarre von ihr unbeeindruckt. Ich musste mich also auf die Streicher beschränken und eröffnete meinen neuen Kundenkreis mit Gregor Piatigorsky, Gaspar Cassadó und Pierre Michelin. Nachdem meine Vereinbarung mit Pierre Fournier unter Dach und Fach war, unternahm ich eine Erholungsreise zum Festival von Prades, wo ich eine etwas unerfreuliche Unterhaltung mit Pablo Casals führte. Ich habe das Alter immer respektiert, aber ich fand es doch etwas erbärmlich, dass der ehrwürdige katalanische Maestro auf einem zwanzigprozentigen oder schlimmstenfalls fünfzehnprozentigen Rabatt beharrte. Ich gewährte ihm zehn Prozent im Tausch für sein Ehrenwort, den Rabatt seinen Kollegen gegenüber mit keiner Silbe zu erwähnen, aber es wurde mir übel vergolten, denn der Maestro begann damit, dass er sechs Monate lang keine Konzerte gab, und zahlte wie zu erwarten keinen Pfennig. Ich musste eine weitere Maschine nehmen, ein weiteres Festival besuchen. Der Maestro zahlte. Solche Sachen missfielen mir sehr.

Eigentlich sollte ich längst ein ruhigeres Leben führen, jetzt, da mein Bankkonto monatlich um 17.900 Dollar wächst, aber die Unredlichkeit meiner Kunden kennt keine Grenzen. Kaum sind sie zweitausend Kilometer weit weg von Paris, wo sich, wie sie wissen, meiner Operationsbasis befindet, schon stellen sie die vereinbarten Zahlungen ein. Beschämend für Leute, die so viel Geld verdienen, muss man sagen, aber ich habe meine Zeit nie mit moralischen Vorhaltungen vergeudet. Die Boeings sprechen eine andere Sprache, und ich achte sehr darauf, das Gedächtnis der Widerspenstigen persönlich aufzufrischen. Zum Beispiel bin ich mir sicher, dass Heifetz einen gewissen Abend im Konzerthaus von Tel Aviv noch in lebhafter Erinnerung hat und dass Francescatti untröstlich ist über das Ende seines letzten Konzerts in Buenos Aires. Ich weiß, dass sie ihrerseits alles Menschenmögliche tun, um sich ihrer Verpflichtungen zu entledigen, und ich habe nie so gelacht wie damals, als ich von dem Kriegsrat erfuhr, den sie im vergangenen Jahr unter dem Deckmantel der spleenigen Einladung einer von megalomaner Melomanie befallenen kalifornischen Erbin in Los Angeles abhielten. Die Resultate hatten lächerliche, aber unmittelbare Folgen: Ein wenig lustlos verhörte mich die Pariser Polizei. Ich bekannte mich zu meiner Musikleidenschaft, zu meiner Vorliebe für Streichinstrumente und zu meiner Bewunderung für die großen Virtuosen, die mich veranlasst, durch die Weltgeschichte zu reisen, um ihren Konzerten beizuwohnen. Am Ende ließen sie mich in Ruhe, rieten mir lediglich, meiner Gesundheit zuliebe auf andere Vergnügungen umzusatteln; ich versprach, ihrem Rat zu folgen, und schrieb ein paar Tage später meinen Kunden einen erneuten Brief, in dem ich sie zu ihrer List beglückwünschte und ihnen eine pünktliche Bezahlung ihrer Verpflichtungen anempfahl. Ich hatte mir damals bereits ein Landhaus in Andorra gekauft, und als ein unbekannter Täter meine Pariser Wohnung mit einer Ladung Plastiksprengstoff in die Luft jagte, feierte ich das mit dem Besuch eines glänzenden, nur gegen Ende ein wenig aus dem Ruder laufenden Konzerts von Isaac Stern in Brüssel und schickte ihm am folgenden Morgen ein paar kurze Zeilen. Wie zu erwarten, reichte Stern den Brief in meiner übrigen Kundschaft herum, und ich kann dankbar sagen, dass während des vergangenen Jahres fast alle wie Gentlemen ihre Zusagen gehalten haben, sogar was die für Kriegsschäden von mir geforderten Reparationszahlung betrifft.

Trotz der Unannehmlichkeiten, die mir die Widerspenstigen verursachen, muss ich zugeben, dass ich glücklich bin; ihre gelegentliche Auflehnung erlaubt es mir sogar, die Welt kennenzulernen, und auf ewig werde ich Yehudi Menuhin für einen wunderbaren Sonnenuntergang an der Bucht von Sydney dankbar sein. Ich glaube, dass selbst meine Niederlagen zu meinem Glück beigetragen haben, denn wenn ich die Pianisten in meinen Kundenkreis hätte aufnehmen können, wäre es mit meiner Ruhe vollends vorbei gewesen. Aber, wie gesagt, an ihnen scheiterte ich, auch an den Dirigenten. Vor ein paar Wochen unternahm ich auf meinem Anwesen in Andorra eine Reihe von Experimenten mit der Erinnerung an meine Tante, und ich stellte fest, dass sich ihre Macht nur auf Dinge auswirkt, die eine gewisse Analogie – so absurd sie erscheinen mag – zu Geigen aufweisen. Wenn ich an meine Tante denke, während ich einer fliegenden Schwalbe nachschaue, kann man sicher sein, dass sie ins Trudeln gerät, für einen Moment die Orientierung verliert und sich erst mühsam wieder fängt. Auch dachte ich an meine Tante, während ein Künstler auf dem Platz des Städtchens mit lyrischen Handbewegungen Schnellporträts zeichnete. Der Kohlestift zerbröselte zwischen seinen Fingern, und ich musste mir angesichts seiner verdutzten Miene das Lachen verkneifen. Aber über jene geheimen Affinitäten hinaus … Gut, so ist das halt. Und bei Klavieren Fehlanzeige.