Unhaltbarkeit - Ingolfur Blühdorn - E-Book

Unhaltbarkeit E-Book

Ingolfur Blühdorn

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Beschreibung

Klima, Corona, Ukraine: Die immer schnellere Abfolge von Krisen hat etwas Endzeitliches. Längst ist klar, dass unser nicht-nachhaltiges Modell nicht mehr haltbar ist. Allerdings beteuern viele Klimaaktivisten und Nachhaltigkeitsforscherinnen, dass eine sozial-ökologische Transformation das Schlimmste noch verhindern kann.

Dieses Versprechen, argumentiert Ingolfur Blühdorn, verkennt die Realität der Spätmoderne. Das öko-emanzipatorische Transformationsprojekt zerbricht selbst an seiner eigenen Logik und inneren Widersprüchlichkeit. Diese doppelte Unhaltbarkeit, so Blühdorns Diagnose, führt in eine neue Moderne jenseits liberaler Zentralwerte wie Mündigkeit und Partizipation. Diese Entwicklung ist längst im Gange, wird aber bislang nicht als große Katastrophe erfahren.

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Cover

Titel

3Ingolfur Blühdorn

Unhaltbarkeit

Auf dem Weg in eine andere Moderne

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2808.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77692-6

www.suhrkamp.de

Widmung

7Für die aktiven und ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN), denen ich mich in großer Dankbarkeit verbunden fühle.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1 Nach dem Untergang der Menschheit

1.1 Das ökoemanzipatorische Projekt

1.2 Arbeitsfragen und Kontinuitätslinien

1.3 Das Undenkbare

1.4 Fahrplan

2 Grenzerfahrungen

2.1 Am Abgrund

2.2 Krise als Chance?

2.3 Transformationspolitik in der Falle

2.4 Zerplatzte Illusionen

2.5 Jenseits der kritischen Orthodoxien

3 Große Transformationen

3.1 Krise des Kapitalismus

3.2 Planetare Grenzen und das Anthropozän

3.3 Die autokratisch-autoritäre Wende

3.4 Digitalisierung und künstliche Intelligenz

3.5 China und der neue Systemkonflikt

3.6 Zwischenbilanz: Transformation der Moderne

4 Reflexive Modernisierung

4.1 Die neue Konjunktur der Modernisierungstheorie

4.2 Warum der Rückgriff auf Ulrich Beck?

4.3 Becks Begriff der zweiten Moderne

4.4 Ökologisierung, Demokratisierung, Weltgesellschaft

4.5 Himmelsgeschenk

5 Entzauberung einer Legende

5.1 Kein automatischer Übergang

5.2 Reflexivität und Destabilisierung

5.3 Das ökologische Paradox

5.4 Metamorphose zur dritten Moderne

5.5 Zwischenbilanz

II

: Drei Phasen der Moderne

6 Die emanzipatorische Katastrophe

6.1 Reflexivität und Dialektik

6.2 Dialektik der Nachhaltigkeit

6.3 Dialektik der Emanzipation

6.4 Dialektik der Demokratie

6.5 Emanzipatorisch überholt

7 Interregnum

7.1 Pessimistisch, deterministisch, reaktionär?

7.2 Was ist damit gewonnen?

7.3 Zur Bewältigung des Traumas

7.4 Kritische Soziologie, transformative Nachhaltigkeitsliteratur, politische Bildung

Literaturverzeichnis

Fußnoten

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8Ein Mensch sieht schon seit Jahren klar:

Die Lage ist ganz unhaltbar.

Allein – am längsten, leider, hält,

Das Unhaltbare auf der Welt.

Eugen Roth

91 Nach dem Untergang der Menschheit

»Ende oder Wende!«, »Weiter so ist keine Option!«, »Fünf vor zwölf!«, »Sozialökologische Transformation oder Unbewohnbarkeit des Planeten!«. Seit den Anfängen der Umweltbewegung bestimmen diese und ähnliche Formeln den umweltpolitischen Diskurs. Bis in die Gegenwart werden sie wiederholt: »Wir stehen am Abgrund!«, sagte UN-Generalsekretär António Guterres im November 2022. »Die Menschheit hat die Wahl: Zusammenarbeiten oder Untergehen. Entweder ein Pakt der Klimasolidarität oder ein Pakt des kollektiven Selbstmords.«[1]  Aber diese Rhetorik ist alt und stumpf geworden. Sie verfehlt die Realität spätmoderner Gesellschaften. Die Bedrohungen sind heute tatsächlich größer und akuter denn je. Doch dieses Denken verdunkelt mehr, als es erhellt. Es ist an der Zeit, aus dem Dualismus von Einsicht oder Untergang auszubrechen.

Um die Wende zu den achtziger Jahren bekamen ökoapokalyptische Untergangsvisionen erstmals große, breitenwirksame Mobilisierungskraft. Neben tiefgreifenden Umweltveränderungen waren damals Großtechnologien wie die Atomkraft, die Gentechnik, die aufkommenden Heimcomputer sowie das Wettrüsten im Kalten Krieg entscheidende Auslöser. Vor diesem Hintergrund 10formierte sich das Projekt des zivilgesellschaftlich organisierten sozialökologischen Umbaus der kapitalistischen Industrie- und Konsumgesellschaft. Es sollte ein demokratisch-emanzipatorischer Umbau sein, der ein selbstbestimmtes und gutes Leben für alle in einer intakten natürlichen Umwelt ermöglichen sollte. Das Projekt zielte letztlich auf eine sozial und ökologisch befriedete Weltgesellschaft. Zwischenzeitlich entstand mal der Eindruck, dem Projekt gehe die Luft aus. Der gesellschaftliche Wertewandel, der für dieses Projekt ganz entscheidend war, schien zum Erliegen zu kommen. Eine neue »Zeitenwende« sei erkennbar, behaupteten führende Meinungsforscher: »Die Verbissenheit ist verschwunden, […] der Weltuntergang findet nicht statt.«[2]  Sogar von einem »Aufstand gegen die siebziger und achtziger Jahre« war die Rede, von einer »aufgestauten Gegenrevolte«.[3]  Doch der Protest gegen die fortschreitende Zerstörung, gegen die sozialökologischen Auswirkungen der Industrie-, Wachstums- und Konsumgesellschaft hielt an. Das Bewusstsein einer sich zuspitzenden Krise und die Einsicht, dass ein »Weiter so« nicht möglich ist, wurden immer breiter.

Heute ist der Glaube an die unbedingte Notwendigkeit dieses Umbaus beinahe hegemonial geworden, auch wenn die Wege zur praktischen Umsetzung weiterhin unklar sind. Ein gesellschaftlicher Konsens scheint erreicht, dass gerade in den reichen Ländern des Globalen Nordens ein grundlegender Strukturwandel unver11zichtbar und dringend ist. »System change, not climate change!«, skandieren nicht nur Klimaaktivisten, sondern inzwischen äußern sich sogar die Spitzen der Wirtschaft, der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen in diesem Sinne. CO2-Neutralität ist dabei jetzt das große Mantra. Firmen, Gemeinden, Bundesländer, Nationalstaaten, die EU – alle haben mittlerweile klar deklarierte Jahreszahlen, bis zu denen sie CO2-neutral sein wollen. Über Jahrzehnte haben Philosophen, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen, grüne Parteien, internationale NGOs, kritische Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler und vielfältige andere Akteure als gesellschaftliche Avantgarden für die große Transformation gestritten. Doch just in dem Moment, in dem mehr Einigkeit zu herrschen schien denn je und in dem auch die ökologisch-soziale Dringlichkeit höher scheint denn je, ist das ökoemanzipatorische Projekt selbst plötzlich in eine tiefe Krise geschlittert.

Klimapolitisch, ökologisch, sozial und auch sicherheitspolitisch ist die Lage heute fraglos noch brisanter als in den achtziger Jahren. Mit der digitalen Revolution und der rasanten Entwicklung künstlicher Intelligenz gibt auch der technologische Fortschritt heute nicht weniger Grund zur Sorge als in den achtziger Jahren. Aber in spätmodernen Gesellschaften breitet sich ein Gefühl der politischen Macht- und Einflusslosigkeit aus. Der zivilgesellschaftliche Optimismus und das Vertrauen der Bewegungen in die eigene Organisationsfähigkeit und politische Gestaltungsfähigkeit sind sichtbar angeschlagen. Die Aktionen von Gruppen wie Extinction Rebellion oder Letzte Generation wirken hilflos – und 12lösen trotz allseitiger Bekenntnisse zum Ziel der Nachhaltigkeit erhebliche Gegenreaktionen aus. Tatsächlich wird der inzwischen klima- und nachhaltigkeitswissenschaftlich umfassend begründete Konsens, dass ein grundlegender Strukturwandel moderner Gesellschaften unbedingt erforderlich und deren größte Herausforderung ist, mit Verve wieder aufgeschnürt. Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende, Artenschutz, Klimaziele, all das wäre sicher politisch wünschenswert, aber angesichts akuter Krisen – Pandemie, Inflation, Krieg, Terrorismus, Migration, Weltmachtanspruch Chinas – scheint anderes dringender.

Die Prioritäten verschieben sich; ökologische Agenden werden zurückgestellt. Atomkraft – ein Symbolthema für die Umweltbewegung wie kaum ein anderes – wurde von der EU mit dem 1. Januar 2023 als »nachhaltig« eingestuft und entsprechende Investitionen damit für »klimafreundlich« erklärt. Kohle erlebt im Zeichen der westlichen Sanktionen gegen Russland und seinen Krieg in der Ukraine weltweit eine Renaissance. Nicht nur in der Verkehrspolitik werden Klimaziele nachgeordnet. Europäische Vereinbarungen zum Naturschutz werden in vielen Ländern nur verzögert und unvollständig umgesetzt. Tierwohl, Flächenschutz und ökologischer Landbau scheinen zweitrangig. Primär sind demgegenüber die Sorge um den erreichten Wohlstand und die Angst vor dem Groll potenzieller Rechtswähler. In Alaska hat US-Präsident Joe Biden mit Willow im Frühjahr 2023 wieder ein gigantisches neues Ölbohrprojekt bewilligt. In Europa wehrten sich liberale und konservative Parteien erfolgreich gegen das zügige Verbot von 13Verbrennungsmotoren. Die aufwändige Energiesanierung der Innenstädte treibe die Mieten in die Höhe und die Gentrifizierung voran, heißt es. Erhöhte Anforderungen an das Tierwohl treibe die Bauern in den Ruin und mache das Schnitzel zum Privileg der Besserverdiener. Die hohen Kosten erneuerbarer Energien bedrohten die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts. Sozial und ökologisch produzierte Textilien oder Elektronikartikel seien für die meisten Menschen unbezahlbar. Allenthalben wird dabei das Argument der sozialen Gerechtigkeit und Teilhabe ins Feld geführt. Und die Masse derer, die das Ökologisch-Soziale schlicht nicht bezahlen können, wird gegen die privilegierteren Teile der Gesellschaft und ihr ökoemanzipatorisches Projekt in Stellung gebracht. Und überhaupt, so der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, gebe es für die »Untergangsapokalypse« gar keine Beweise; mit dem Anstieg des Meeresspiegels könne man schon umgehen lernen.[4] 

Hatten kritische Beobachter im Zusammenhang mit der Ideologie des Marktliberalismus noch gerade eine umfassende Entpolitisierung und eine Ära der Postpolitik diagnostiziert,[5]  so ist gerade in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik plötzlich eine deutliche Repolitisierung mit zunehmend polarisierten Positionen unübersehbar. Dabei verschieben sich die Koordinaten und Konfliktlinien: Anders als in der klassischen Industriegesellschaft stehen nun nicht mehr die Arbeiter ge14gen das Kapital. Und anders als in den siebziger und frühen achtziger Jahren stehen auch nicht mehr die Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) der postindustriellen Gesellschaft gegen die traditionelle Politik und ihre Institutionen. Vielmehr verlagert sich der zentrale Konflikt heute ins Zentrum der gesellschaftlichen Mittelklasse: Während sich im oberen Teil der Wohlstandspyramide und an deren Sockel Reichtum und Armut weiter stabilisieren und unveränderbar scheinen, verläuft die aktive politische Konfliktlinie zwischen denen, die um ihren mittelständischen Wohlstand und Lebensstil fürchten, und denen, die mit ihren Forderungen nach einer sozialökologischen Transformation als Bedrohung für beides wahrgenommen werden. Die »aufgestaute Gegenrevolte« scheint nun tatsächlich real: Die Vorkämpfer dieses Transformationsprojekts sehen sich plötzlich mit den Vorwürfen konfrontiert, sie seien vor allem selbstgerecht, hätten sich letztlich immer schon mehr um die eigenen Identitäts- und Diversitätsinteressen gekümmert als um die soziale Umverteilung und Gleichheit und seien selbst die gesellschaftliche Schicht, die von der partizipatorischen Revolution seit den siebziger Jahren am allermeisten profitiert hätte. Solche Vorwürfe sind traumatisch für sie. Sie widersprechen radikal ihrem Selbstverständnis, die Avantgarde zu sein, die im gesamtgesellschaftlichen Wandel überlegt und überlegen, einsichtig und vernünftig, moralisch und verantwortlich vorangeht. Und der globalpolitische Kontext verstärkt diese Verunsicherung noch: Das Selbstverständnis der vermeintlich fortschrittlichsten Gesellschaften der Welt bröckelt. Ihr Bewusstsein der moralischen Überlegen15heit und wirtschaftlich-politischen Vorherrschaft wird zunehmend unhaltbar. Der sogenannte »freie Westen« und seine »offenen Gesellschaften« verlieren gegenüber autoritären Regimen zunehmend an Bedeutung bzw. werden selbst zunehmend postdemokratisch. Genau das, und nicht einfach nur die drastische Erhöhung des Militärbudgets, ist die »Zeitenwende«,[6]  die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zum großen Thema geworden ist. In den Sozialwissenschaften wird sie schon länger diskutiert. Jetzt ist sie auch in der breiten alltagspolitischen Debatte angekommen.

»Ende oder Wende!«, »Weiter so ist keine Option«, »Wir stehen am Abgrund«. Diese Formeln müssen jetzt neu interpretiert werden. Eine Wende ist zweifellos erkennbar, eine Zeitenwende, die sich einstweilen noch schwer auf den Begriff bringen lässt. Überdeutlich ist aber: Es ist nicht die Wende, die Erhard Eppler sich einst vorgestellt hatte,[7]  und auch nicht das, was in sozialwissenschaftlichen und Bewegungskreisen heute als »sozialökologische Transformation« firmiert. Auch ein Ende ist deutlich erkennbar. Aber es ist nicht der Untergang der Menschheit oder die Unbewohnbarkeit des Planeten, vor denen Aktivistinnen und Aktivisten seit Jahrzehnten warnen. Beides sind mögliche Szenarien, aber beides scheint nicht unmittelbar akut. Beendet scheint vielmehr die Konjunktur des ökoemanzipatorischen Projekts und des Glaubens an die von Eppler einst 16beschworene Machbarkeit des Notwendigen.[8]  Nachdem Soziologinnen und Soziologen zunächst vom »Ende der Nachhaltigkeit« gesprochen hatten,[9]  diagnostizieren sie nun eine Verschiebung in der Umweltdebatte weg von »apokalyptischen« Diskursmustern, die darauf zielten, große sozialökologische Katastrophen zu verhindern, hin zu »postapokalyptischen« Diskursmustern, die davon ausgehen, dass es fürs Verhindern bereits zu spät ist und spätmoderne Gesellschaften dabei sind, sich mit der ökologischen Katastrophe zu arrangieren und sich in den ökologisch-sozialen Ruinen des Kapitalismus und der liberalen Welt einzurichten.[10]  Ähnlich wie man sich Ende der achtziger Jahre von der Idee des sozialistischen Umbaus der kapitalistischen Industriegesellschaft verabschiedete, verabschiedet man sich heute (un)heimlich von der Utopie der sozialökologischen Transformation der Gesellschaft.

Das bedeutet nicht, dass umwelt-, klima- und nachhaltigkeitspolitische Fragen nun plötzlich irrelevant würden. Diese Fragen bleiben aktuell. Sie gewinnen sogar weiter an Bedeutung. Sie werden aber anders gerahmt und verhandelt als bisher. Die Vorzeichen haben sich verändert. Was an ökopolitischem Transformationskonsens bisher erreicht worden war, wird repolitisiert. »Ende oder Wende!« bezieht sich damit nicht mehr nur auf die Struktur moderner Gesellschaften, ihr Verhält17nis zur Natur und ihren Umgang mit ihren biophysischen Grundlagen, sondern auch auf die Art und Weise, wie umweltpolitische Fragen thematisiert werden. Was zuletzt, zumindest auf deklaratorischer Ebene, noch als kategorischer Imperativ bezeichnet wurde – Klimaschutz, Menschenrechte, Demokratie, Artenreichtum, planetare Grenzen, ein gutes Leben für alle –, wird nun offen in Frage gestellt, weil es vorherrschende Freiheitsverständnisse bedroht, den erreichten Wohlstand gefährdet und im internationalen Wettbewerb handfeste Nachteile bringt, während die versprochenen Vorteile bestenfalls langfristig sind, eher fernen Ländern und fremden Menschen zugutekommen und ohnehin keineswegs sicher sind.

Das genau ist, was der Titel dieses Buches – Unhaltbarkeit – einfangen will: die Gleichzeitigkeit der tiefen Krise westlicher Gesellschaften und der Krise des ökoemanzipatorischen Projekts, das diese Gesellschaften transformieren wollte. Gerade in den wohlhabenden Konsumgesellschaften des Globalen Nordens fällt die Unhaltbarkeit des einen, der gesellschaftlichen Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit, mit einer Krise des anderen, des Projekts der sozialökologischen Transformation, zusammen. Und Letztere hat ihre Ursache nicht einfach in den Widerständen des kapitalistischen Systems. Vielmehr zerbricht, wie ich später ausführen werde, das ökoemanzipatorische Projekt ganz wesentlich auch an seiner eigenen Logik und seinen inneren Widersprüchen.[11]  Es wird gewissermaßen emanzipatorisch 18überschritten. Insbesondere für die zahlenstarke Generation derer, die in und mit den NSB seit den ausgehenden sechziger Jahren sozialisiert worden sind und dieses Projekt einst aus der Taufe gehoben haben, bedeutet diese doppelte Unhaltbarkeit den traumatischen Untergang ihrer Selbstverständnisse, ihrer Sinnerzählungen und ihrer Welt. Doch der Untergang ihrer Welt bedeutet eben weder die Unbewohnbarkeit des Planeten noch den Untergang der Menschheit. Vielmehr eröffnet er die Perspektive auf eine neue Moderne, eine nächste Gesellschaft,[12]  die sich nach dem (Narrativ vom) Untergang der Menschheit entfalten.

Darin liegt kein Versprechen und keinerlei Trost. Inwieweit das als Bedrohung wahrgenommen wird, wird sich weisen. In jedem Fall ist es keine Option, die man wählen oder ablehnen könnte, sondern etwas Unvermeidliches, ein eigendynamischer Zwang. Tatsächlich zwingt die doppelte Unhaltbarkeit – gerade weil der Untergang der Menschheit nicht akut ist – westliche Gesellschaften (und ihre Sozialwissenschaften) auf den Weg in eine andere Moderne. Der Vers von Eugen Roth, der diesem Buch vorangestellt ist, muss heute also gegen den Strich gelesen werden; der ursprüngliche Titel »Leider« müsste ergänzt werden zu »Leider nicht mehr«: Plötzlich wäre es tröstlich, wenn das Unhaltbare noch länger hielte, denn das Unhaltbare, um das es heute geht, umfasst auch das ökoemanzipatorische Projekt und dessen modernistische Leitnormen. Und wäh19rend bisher die hartnäckige Haltbarkeit des Unhaltbaren als das große Problem erschien, wird nun dessen Ablösung zum Trauma – zumindest für die, die bislang an dieses Projekt geglaubt und auf es gehofft hatten.

1.1 Das ökoemanzipatorische Projekt

Was genau ist dieses ökoemanzipatorische Projekt, von dem nun schon wiederholt die Rede war und das angeblich in einer fundamentalen Krise steckt? Zunächst einmal ist das ein ziemlich sperriger Begriff, den ich zur Vereinfachung fortan als ÖEP abkürze. Dann gleich zur Vermeidung von Missverständnissen: Natürlich hat es nie ein einheitliches, klar definiertes, in sich konsistentes und über die Zeit stabiles ökologisches Projekt gegeben, auch kein ökoemanzipatorisches. Umweltpolitische Diskurse und Agenden waren immer schon vieldimensional, in sich widersprüchlich und konfliktreich. Sie waren auch immer schon instabil und in einem fortlaufenden Veränderungsprozess begriffen. Ihre normativen Grundlagen, Problemrahmungen, Lösungsperspektiven etc. waren seit jeher vielfältig und wurden fortlaufend angepasst. Immer schon gab es romantisierend antimodernistische, (rechts)konservative, nationalistische, kapitalismus- und herrschaftskritische, liberale, radikal linke und solche Strömungen, die sich als dezidiert unpolitisch beschreiben. Das Umweltthema, hat Ulrich Beck einmal treffend gesagt, ist ein »politisches Chamäleon«; es gibt kaum eine ideologische Orientierung, die aus dem Thema keinen Honig saugen 20könnte.[13]  Die Instabilität, die Krise, ist insofern weder neu noch ungewöhnlich, sondern sie gehört gewissermaßen zur DNA der Umweltbewegungen und Ökologiedebatte.

Wenn ich hier dennoch von der Krise des ökoemanzipatorischen Projekts spreche, geht es also nicht um den romantisierenden Rückblick auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit, als sich noch alle Umweltbewegungen einig waren und an einem Strang zogen. So eine Zeit hat es nie gegeben. Vielmehr geht es um den Bedeutungsverlust einer ganz bestimmten Art und Weise, umweltpolitische Fragen, Probleme, Forderungen zu denken, zu formulieren und zu politisieren. Tatsächlich ist es sinnvoll, sich das, was ich hier als das ÖEP bezeichne, eher als eine sozialwissenschaftliche Konstruktion vorzustellen, nicht direkt als eine Agenda, die einem bestimmten und einheitlichen politischen Akteur zugeordnet werden könnte. Ebenso wie die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen seit den siebziger Jahren nicht von diesen selbst so benannt worden sind, sondern von soziologischen Beobachtern, die aus der Distanz einer Außenperspektive Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Bewegungen erkannten, lässt sich auch das ÖEP am besten aus der Außensicht als Einheit durchaus unterschiedlicher Denkweisen und Ansätze bestimmen. Das ÖEP ist gewissermaßen eine Idealisierung, eine Abstraktion, ein Idealtypus, dem sich kein spezieller Akteur, kein eindeutiges politisches Subjekt zuordnen lässt.

21Wichtig ist zur Klärung des Begriffs zunächst die grundsätzliche Unterscheidung des ÖEP von ökokonservativen, ökonationalistischen, ökoautoritären und anderen Strömungen, die es seit den Anfängen der Umweltbewegung im 19. Jahrhundert ebenfalls immer schon gegeben hat. In westlichen, sogenannten postindustriellen Gesellschaften wurden aber seit den siebziger Jahren Denkweisen dominant, die umweltpolitische Themen und die gesellschaftlichen Naturbeziehungen aus der Perspektive und unter dem Vorzeichen emanzipatorischer Werte wie Freiheit, Gleichheit, Würde, Selbstbestimmung, Vernunft und universeller Menschenrechte betrachteten. Der Tradition der frühen kritischen Theorie folgend sahen sie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung der Natur und der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung der Menschen – auch und vor allem von Frauen und Minderheiten. Ebenso wie allen Menschen wurde hier auch der Natur verbreitet eine bestimmte Subjektivität zuerkannt, ein Recht auf Eigenwertigkeit, eine unverletzliche Würde und auf Unversehrtheit. Entsprechend maß man im Kampf für die Natur und Umwelt der Befreiung von Herrschaft, Ausbeutung und Instrumentalisierung große Bedeutung zu. Und selbst wenn der Schutz der Natur nicht um ihrer selbst willen gefordert wurde, sondern letztlich doch nur instrumentell und anthropozentrischen Interessen untergeordnet blieb, wurden umweltpolitische Fragen stets klar aus der Perspektive der Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung gedacht und unter dem emanzipatorischen Vorzeichen der politischen 22Selbstbestimmung, der Ermächtigung mündiger Bürgerinnen und Bürger, der selbstorganisierten Zivilgesellschaft, der Entfaltung demokratischer Institutionen und der Entwicklung einer kosmopolitischen, integrierten Weltgesellschaft.[14]  Was sich im Rahmen des gesellschaftlichen Aufbruchs seit Anfang der siebziger Jahre herausbildete, war die ökologische Erneuerung, Erweiterung und Korrektur des viel älteren emanzipatorischen Projekts, das in der europäischen Aufklärung seinen bürgerlich-liberalen Ursprung hatte und das bis heute das normative Fundament der westlichen Moderne ist: Freiheit, Gleichheit, Vernunft, demokratische Selbstbestimmung und kollektive Verantwortlichkeit mündiger Bürger.

Der tiefgreifende Werte- und Kulturwandel, der Ende der sechziger Jahre einsetzte und als »stille Revolution« bezeichnet worden ist,[15]  hatte diese Werte in westlichen Gesellschaften weit über die NSB hinaus hegemonial gemacht. Und für das ÖEP wurden sie konstitutiv. Im Zuge dieses Wertewandels verbreitete sich auch der Glaube an die Gestaltbarkeit und Gestaltungsnotwendigkeit der Gesellschaft und ihrer Beziehung zur Natur ebenso wie der an die eigene Gestaltungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Genau das ist die emanzipatorische Dimension des ÖEP, das eben nicht nur ein ökologisches Projekt ist, sondern ganz wesentlich auch eines der Selbstbestimmung. Entsprechend 23waren für das ÖEP die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft zentrale Voraussetzungen. Die bis in die Gegenwart immer wieder aufgeworfenen Leitfragen lauten: »Wie wollen wir leben?«, »In was für einer Welt wollen wir leben?«. Die Grundannahme und der Ausgangspunkt waren also stets, dass die Menschen selbst wählen, entscheiden und steuern können, dass sie nicht einfach ihrem Schicksal ausgeliefert sind, sondern ihr Leben, ihre Gemeinschaft und ihr Verhältnis zur Natur selbst gestalten können. Dabei, so die Annahme, haben sie nicht nur ein Recht darauf, selbst zu steuern, sondern gerade angesichts ökologischer Bedrohungen sogar die Pflicht. Tatsächlich erhebt die ökologische Krise die mündige Übernahme der Verantwortung zum neuen kategorischen Imperativ. Der Glaube an eine empirisch geerdete »ökologische Vernunft« übernimmt im ÖEP als normative Grundlage die Funktion, die im kantischen Aufklärungsprojekt noch der transzendentalen Vernunft zugeschrieben wurde. Die breite gesellschaftliche Verankerung dieser neuen Denkweise war die große Errungenschaft der emanzipatorischen sozialen Bewegungen, des großen gesellschaftlichen Aufbruchs seit den späten sechziger Jahren. Statt ihre Geschicke in die Hände von politischen Eliten zu legen, machten die Bürger diese nun für die massiven gesellschaftlichen, ökologischen, politischen und ökonomischen Fehlentwicklungen verantwortlich, die seit den siebziger Jahren zunehmend sichtbar wurden.

Genau diese Perspektive oder Rahmung, diese durch die in Schaubild 1 zusammengefassten Punkte definierte normative Grundposition, ist also das, was ich hier 24als das ökoemanzipatorische Projekt bezeichne. Mit verschiedener Gewichtung und durchaus unterschiedlicher Konkretisierung der einzelnen Aspekte wurde – und wird – dieses Projekt getragen von emanzipatorischen Bewegungen, unzähligen NGOs, grünen Parteien, kritischen Natur- und Sozialwissenschaftlern, progressiven Verwaltungen, engagierten Kirchengruppen, Einrichtungen der politischen Bildung, sozialökologisch orientierten Wirtschaftsunternehmen und vielen anderen gesellschaftlichen Akteuren. In der Absicht, die Agenda älterer sozialer Bewegungen zu erweitern und aktualisieren, zielten ökoemanzipatorische Bewegungen und Mobilisierungen immer auf die sozialökologische Transformation moderner Gesellschaften – noch ein sperriger Begriff, den ich künftig als SÖT abkürze. Einige Strömungen verfolgten radikale, fundamentalistische und revolutionäre Strategien, andere setzten eher auf reformerische Ansätze und eine Politik der kleinen Schritte. Aber das Leitbild, das Bekenntnis, war allemal der ökologische und soziale Umbau der Gesamtgesellschaft, der letztlich ein gutes Leben für alle in einer ökologisch intakten Umwelt sichern sollte. Das Ziel war eine demokratisch verhandelte, kontrollierte, verantwortliche Transformation, keine durch Katastrophen und Notstände erzwungene; eine Transformation durch Design, nicht durch Desaster.

Schaubild 1: Konstitutive Elemente des ökoemanzipatorischen Projekts

Kritik an Beherrschung, Unterdrückung, Ausbeutung, Instrumentalisierung und Versklavung des Menschen und der Natur;

Forderung nach Selbstbestimmung, Befreiung von Herrschaft, Entfaltung der Eigenständigkeit und Autonomie des Menschen und der Natur;

Garantie der unantastbaren Würde, universeller Rechte, der Autonomie, des dem Menschen und der Natur zuerkannten Status als autonomes Subjekt;

Überlegenheit von Vielfalt und Verschiedenheit gegenüber Normierung und Standardisierung;

Glaube an moralische Freiheit und Verantwortlichkeit;

Vertrauen auf Rationalität und Vernunft;

Glaube an unverhandelbare ökologische Imperative, ökologische Vernunft und Verantwortung;

Glaube an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft und Welt; kollektive Steuerungsfähigkeit;

Vertrauen in zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und demokratische Selbstregierung;

Anspruch auf bürgerschaftliche Mündigkeit und die Fähigkeit zu kollektiver Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen;

Langfristigkeit und Vorsorge als Gestaltungsprinzipien;

Aufklärung, Information, Bildung als wesentliche Mittel zur Beförderung der ökologischen Mündigkeit und Verantwortlichkeit;

Ausweitung demokratischer Partizipation als Mittel einer in diesem Sinne progressiven Politik;

Selbstverständnis als Avantgarde einer ökologisch, militärisch und sozial befriedeten neuen Gesellschaft;

weltgesellschaftlicher Horizont und kosmopolitische Perspektive.

Auch hinsichtlich dieser sozialökologischen Transformation geht es nicht darum, ein goldenes Zeitalter zu beschwören, das es in Wahrheit nie gegeben hat. Ebenso wie das ÖEP ist auch die SÖT eine sozialwissenschaftliche Abstraktion, ein regulatives Ideal. Doch 26auch dieses Projekt steht heute, wo es den allseitigen Bekenntnissen nach eigentlich breiteren gesellschaftlichen Rückhalt zu haben scheint denn je, plötzlich wieder umfassend zur Debatte. Der Glaube und die Hoffnung, dass sich die neue, transformierte, sozial, militärisch und ökologisch befriedete (Welt-)Gesellschaft tatsächlich verwirklichen lassen wird, sind ins Wanken geraten. Mehr noch: Zentrale Werte wie Demokratie, Gleichheit oder universelle Rechte stehen selbst zur Diskussion. Zwar ist evident, dass ein »Weiter so« keine Option mehr ist, dass die etablierte Ordnung nicht nur ökologisch und sozial nicht nachhaltig ist, sondern tatsächlich unhaltbar geworden ist. Eine »Zeitenwende« im oben angedeuteten Sinne lässt sich bereits beobachten. Aber entgegen aller ökoemanzipatorischen Hoffnungen und Erwartungen ist das, was da gerade zerfällt, nicht die zerstörerische Ordnung des Wachstums, der Verschwendung, der Ausbeutung und der Ungleichheit, sondern eben die ökoemanzipatorische Rahmung klima- und nachhaltigkeitspolitischer Themen. Und die neue Gesellschaft, die neue Welt, die sich da herausbildet, ist weit entfernt von dem, was die Bewegungen sich vorgestellt hatten. Angesichts biophysischer und sozialer Kipppunkte, jenseits derer sich die Dynamik der Veränderung kaum noch bremsen oder beeinflussen lässt, ist von der im ÖEP vorausgesetzten Offenheit der Zukunft wenig geblieben. Vor dem Hintergrund der Übermacht globaler Konzerne, der erdrückenden Abhängigkeit westlicher Gesellschaften von autoritären Systemen und der Entwicklung im Bereich digitaler Technologien und der künstlichen Intelligenz 27wirkt der Glaube an die demokratische Gestaltungsfähigkeit und Steuerbarkeit geradezu naiv. In Anbetracht der Spannung zwischen der fortlaufenden Entgrenzung verbreiteter Ansprüche auf Freiheit und Selbstverwirklichung und klar erkennbarer planetarer Grenzen dürfte ein »gutes Leben für alle« wohl ein Ding der Unmöglichkeit sein. Und angesichts des neuen, globalen Systemwettbewerbs zwischen China und dem Westen sowie der Probleme transnationaler und internationaler Institutionen wie der EU oder der UN erscheint die Vision einer kosmopolitischen Weltgesellschaft illusorisch und sonderbar anachronistisch.

Was da in die Krise geraten ist, ist also genau die Verbindung von ökologischen und emanzipatorischen Werten, die den ökologischen Gesellschaftswandel als einen emanzipatorischen dachte und davon ausging, dass die Befreiung der Natur und die des Menschen zwei Dimensionen derselben Sache seien. Was da ins Wanken gerät, ist der Glaube an die Utopie, an die Vision, die die ökoemanzipatorischen Aufbruchsbewegungen seit den siebziger Jahren geleitet hatte, und die Überzeugung der Bewegungen, selbst die Avantgarde, die Pioniere der sozial und ökologisch befriedeten Weltgesellschaft zu sein. Wolfgang Streeck hat in seinem Buch Gekaufte Zeit die Krise des »demokratischen Kapitalismus« als den Zerfall der eigentlich höchst unwahrscheinlichen Verbindung zwischen demokratischen und kapitalistischen Werten beschrieben.[16]  In einem ähnlichen Sinne geht es hier also um die Krise und den Zer28fall der nicht weniger unwahrscheinlichen Liaison emanzipatorischer und ökologischer Werte – eben des ökoemanzipatorischen Projekts. Doch was auf diesen Zerfall folgt, ist eben nicht die Apokalypse, das Ende der Menschheit und die Unbewohnbarkeit des Planeten, sondern die Repolitisierung und Neurahmung umwelt-, klima- und nachhaltigkeitspolitischer Fragestellungen sowie die gesellschaftliche Transformation in eine andere Moderne jenseits der ökoemanzipatorischen Vorstellungskraft. Darum geht es in diesem Buch.

1.2 Arbeitsfragen und Kontinuitätslinien

Schwierige Bücher muss man mitunter mehrfach schreiben. Oder besser: Große Themen, die über das Tagespolitische weit hinausgehen, kann man vielleicht nur in wiederholten Anläufen, zeitlich versetzt und aus verschiedenen Perspektiven, schrittweise durchdringen – während sie sich immer weiter entfalten. Wohl sehe ich, mit Eugen Roth gesprochen, »seit Jahren klar, die Lage ist ganz unhaltbar«. Aber diese Unhaltbarkeit auf den Punkt zu bringen, fällt mir immer noch schwer. Nach Post-ecologist Politics, Simulative Demokratie und Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit ist dies mein vierter Versuch.[17]  Wieder geht es um den Zerfall der spezifisch europäisch-aufklärerischen Perspektive auf dieökologischeFrage, auf die Welt. Wieder befasse ich mich mit der Entstehung einer neuen Moderne, die sich von Annah29men und Normen verabschiedet, die uns bisher als unhintergehbar erschienen. Wieder steht speziell die modernistische Zentralnorm des autonomen Subjekts im Mittelpunkt, die auch für das ÖEP der Dreh- und Angelpunkt ist. Und wieder unternehme ich den problematischen Versuch, die sozialwissenschaftliche Analyse und die politische Kampagne möglichst strikt voneinander zu trennen. Der Blick auf einige Kontinuitätslinien erleichtert vielleicht das Verständnis meines Ansatzes und der Zielsetzungen in diesem Buch.

Die Vorkämpfer des ÖEP fragen aus einer Perspektive normativer Gewissheit und im festen Glauben an ihre Gestaltungs- und Steuerungsfähigkeit: »Wie wollen wir leben?«, »In was für einer Welt wollen wir leben?«. Ihre Fragen sind rhetorisch, denn die Antworten ergeben sich unmittelbar aus dem normativen Fundament, auf dem sie sich bewegen und das sie für unhintergehbar halten. Die Sozialwissenschaften haben eine andere Perspektive. Sie sind – wenn sie ihre Aufgabe ernst nehmen – in transformativer Hinsicht weniger ambitioniert und in normativer Hinsicht weniger sicher. Es ist nicht das primäre Geschäft der Sozialwissenschaften, die Welt zu retten. In erster Linie ist es ihre Aufgabe, die Welt zu beschreiben, Diagnosen zu stellen, für diese Diagnosen mögliche Erklärungen anzubieten und dabei stets die Kontingenz der Normen zu reflektieren, auf denen diese Diagnosen und Erklärungsansätze beruhen. Erst auf dieser Grundlage machen sie sich dann möglicherweise daran, die Welt auch zu verändern – was aber angesichts der erwähnten Kontingenz gar nicht so einfach ist. In diesem Sinne geht es in diesem Buch 30weder um Untergangsvorhersagen noch um Rettungsversuche, sondern vor allem darum, das Besondere der gegenwärtigen Konstellation – die sozialökologische Transformation findet nicht statt, aber der Untergang der Menschheit auch nicht – zu erfassen und die Parameter auszuleuchten, die maßgeblich bestimmen, was aus dieser Konstellation neu entsteht. Dabei gilt es, Untergangsstimmungen und Kulturpessimismus ebenso zu vermeiden wie die Appelle und Hoffnungsnarrative, die in eher aktivistischen Publikationen gang und gäbe sind. Gleichzeitig dürfen die grundlegende Krise spätmoderner Gesellschaften und die tiefe Transformation, in der diese sich befinden, natürlich nicht kleingeredet oder beschönigt werden. Es geht, wie gesagt, nicht darum, Trost zu spenden oder zu behaupten, alles sei halb so schlimm. Die Nachhaltigkeitssoziologie der Spätmoderne bewegt sich also auf einem schmalen Grat zwischen dem Bemühen um eine Beschreibung und Analyse, die ihre eigene Unsicherheit mitberücksichtigt und daher immer Gefahr läuft, affirmativ zu erscheinen, und den hergebrachten Ansätzen der kritischen Soziologie, deren normative Perspektive für das Besondere der Spätmoderne notwendig blind bleibt.

Bereits in Post-ecologist Politics habe ich mich eingehend mit der Krise des ÖEP befasst. Im Rückgriff auf die kritische Theorie und Niklas Luhmanns systemtheoretische Perspektive auf moderne Gesellschaften ging ich der Frage nach, ob es eigentlich vorstellbar ist, dass das ökologische Problem zwar nicht gelöst wird, sich im Zuge der Rekonfiguration des gesellschaftlichen Apparates zu seiner Wahrnehmung und Verar31beitung aber einfach auflöst. Schon damals trieb mich ein Gedanke um, der auch wohl Ulrich Beck umtrieb, als er etwas kryptisch schrieb: »Die ökologische Krise kriselt. Eines Tages wird sich jemand mit dem Nachweis seine Karriere verdienen wollen, dass sie immer nur in den Köpfen der Menschen bestanden hat.«[18]  Ich beschrieb die modernistische Idee des »autonomen Subjekts« – also etwas, das tatsächlich immer nur in den Köpfen der Menschen bestanden hat – als das normative Fundament, als den normativen Bezugspunkt der politischen Ökologie und verfolgte die Überlegung, dass die vermeintlich objektiven Problemdiagnosen der politischen Ökologie sowie ihre kategorischen Imperative sich im Zuge der fortlaufenden Modernisierung schlicht auflösen könnten, wenn bzw. in dem Maße, wie dieses normative Fundament seine Kraft und Tragfähigkeit verliert. Das ist eine These, die weiterhin aktuell ist. Denn gut 25 Jahre später ist genau das, worum es mir damals ging, sehr deutlich zu erkennen: »Die Entproblematisierung der menschlichen Autonomie«, meinen etwa die Gesellschaftstheoretikerin Katharina Block und ihr Koautor Sascha Dickel, »ist nicht mehr eine mögliche Zukunftsvision, sondern als die beobachtbare Demontage der Autonomie eine empirische Realität, die einer theoretischen Erklärung bedarf«, und zwar einer, »die das Phänomen nicht bloß als ein zu korrigierendes Problem begreift«.[19] 

In Simulative Demokratie stellte ich dann die Frage, 32ob es eigentlich vorstellbar sei, dass das höchste politische Gut, die höchste politische Errungenschaft moderner Gesellschaften, die Demokratie, sich einmal überlebt.[20]  Auch dort stand die modernistische Norm des autonomen Subjekts im Zentrum der Analyse. Mit dem Theorem der »Emanzipation zweiter Ordnung« bot ich eine Erklärung für die Beobachtung an, dass die demokratische Selbstbestimmung den Bürgerinnen und Bürgern moderner Gesellschaften keineswegs nur von den Herrschenden weiterhin vorenthalten bzw. jetzt wieder entrissen wird, sondern, dass dieses Ideal sich im Zuge des emanzipatorischen Fortschritts tatsächlich erschöpft, überlebt, dass es umdefiniert und in mancherlei Hinsicht freiwillig ab- und aufgegeben wird. Inzwischen sind die grundlegende Krise und die Entzauberung der Demokratie unstrittig, und zwar tatsächlich nicht nur in dem Sinne, dass den Bürgern ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung vorenthalten bzw. wieder genommen wird. Das tröstende und auch keineswegs unbegründete Narrativ von der kapitalistischen Enteignung ist auch in soziologischen Kreisen freilich weiterhin sehr präsent. Doch in spätmodernen Gesellschaften entwickeln ganz verschiedene gesellschaftliche Gruppen – aus je eigenen Gründen – ein deutlich ambivalentes Verhältnis zu demokratischen Institutionen und Verfahren.[21]  Um dem Paradox Rechnung zu tragen, dass demokratische Selbstbestimmung zwar einerseits weiter mit Vehemenz eingefordert wird und 33demokratische Werte grundsätzlich weiterhin große Zustimmung finden, sich gleichzeitig aber Zweifel ausbreiten, ob in hochkomplexen, beschleunigten und international verflochtenen Gesellschaften die Demokratie wirklich noch die beste aller Regierungsformen ist, schlug ich das Konzept der »simulativen Demokratie« vor. Ich entwickelte die These, dass in fortgeschritten modernen Gesellschaften demokratische Institutionen und Verfahren insofern als »simulativ« bezeichnet werden können, als sie demokratische Werte artikulieren und erlebbar machen, denen moderne Bürgerinnen und Bürger und Gesellschaften sich einerseits zutiefst verpflichtet fühlen und die unverzichtbarer Bestandteil ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses sind, die andererseits aber doch auch als zunehmend ungeeignet wahrgenommen werden, die Probleme heutiger Gesellschaften mit der erforderlichen Effizienz und Effektivität zu lösen, und die auch heutigen Verständnissen von individueller Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr gerecht werden.[22] 

Nach dem Buch Simulative Demokratie beschäftigte ich mich verstärkt mit der sonderbaren Haltbarkeit der etablierten gesellschaftlichen Ordnung, deren Nicht-Nachhaltigkeit eigentlich seit Jahrzehnten unstrittig ist. Dabei verstand ich Nachhaltigkeit und Nicht-Nachhaltigkeit nicht nur im ökologischen, sondern stets in einem viel umfassenderen Sinn, der auch politische, ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen einschließt. Indirekt stellte ich in diesem Zusammenhang 34immer auch die Frage, ob es eigentlich vorstellbar ist, dass die sozialökologische Transformation nicht gelingt und was das gegebenenfalls bedeuten würde. Über das engere Projekt eines Demokratiebegriffes für fortgeschritten moderne Gesellschaften hinausgehend, skizzierte ich einen Gesellschaftsbegriff: die »Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit«.[23]  Genau genommen fragte ich nicht nur, ob es sein könnte, dass die SÖT nicht gelingt. Vielmehr versuchte ich im Rückgriff auf die Analysen, die dem Konzept der simulativen Demokratie zugrunde liegen, zu erklären, warum eine sozialökologische Transformation im Sinne des ÖEP wohl auch zukünftig nicht zu erwarten ist. Ich entwickelte die These, dass entgegen der Behauptung, ein »Weiter so« sei keine Option, genau dieses »Weiter so« nicht nur eine Option, sondern das Prioritätsprojekt ist, das fortgeschritten moderne Gesellschaften mit aller Entschiedenheit verfolgen – während sie das ÖEP und die Idee der SÖTsimulativ weiterhin pflegen.

Sowohl in meinen Arbeiten zur simulativen Demokratie als auch zur Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit war es mir immer wichtig klarzustellen, dass diese Konzepte nicht etwa normative Forderungen artikulieren, sondern der Versuch sind, empirisch beobachtbare Phänomene bzw. Veränderungen begrifflich zu fassen, zu interpretieren und zu erklären. Zweitens habe ich immer betont, dass sowohl die simulative Demokratie als auch die nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Übergangsphänomene sind, Zwischenspiele, die nicht auf Dauer 35gestellt werden können. Beide werfen also die Frage auf, was danach kommt: Übergangsphänomene wohin?

Im vorliegenden Buch rückt diese Frage des Danach nun ins Zentrum, wobei es nicht darum geht, über die noch nicht bekannte Zukunft zu spekulieren, sondern darum, den Weg zu beleuchten, auf dem spätmoderne Gesellschaften sich bewegen, und Ecksteine zu benennen, die schon erkennbar sind, Konturen, die sich bereits abzeichnen. Dabei setze ich an die Stelle des Begriffs der Nachhaltigkeit bzw. Nicht-Nachhaltigkeit jetzt den der »Unhaltbarkeit«. »Nachhaltigkeit« und »Nicht-Nachhaltigkeit« haben mehrere Schwächen: Erstens werden sie alltagssprachlich immer noch vornehmlich im ökologischen Sinne verstanden, andere Dimensionen der Nachhaltigkeit – die soziale, die politische, die kulturelle, die ökonomische – werden bestenfalls beiläufig mitgedacht. Zweitens hat die Nachhaltigkeit im Alltagsverständnis etwas Optionales. Nachhaltigkeit ist sicher unbedingt wünschenswert; Nicht-Nachhaltigkeit bedeutet aber nicht, dass man an der entsprechenden Praxis oder den entsprechenden Strukturen nicht dennoch – zumindest vorübergehend – festhalten könnte. Genau das haben moderne Gesellschaften, wie gesagt, immer mit großer Entschiedenheit getan – oft mit der ausdrücklichen Ansage: »whatever it takes«[24]  –, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich daran etwas ändern könnte. Drittens besteht in der Literatur seit einiger Zeit eine gewisse Einigkeit, dass der Begriff 36der Nachhaltigkeit, der in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren zunächst eine deutliche politische Dynamik entwickelte, in spätmodernen Gesellschaften weitgehend erschöpft ist und kaum noch als Leitbild für eine gesellschaftliche Mobilisierung und Transformation taugt.[25]  Wenn wir von »Nachhaltigkeit« und »Nicht-Nachhaltigkeit« auf die Termini »Haltbarkeit« und »Unhaltbarkeit« umsteigen, dann werden diese Schwächen zumindest teilweise umgangen. Der Begriff der Unhaltbarkeit erscheint definitiver. Er verschiebt die Perspektive vom Wünschenswerten auf das Faktische. Zudem wird er nicht primär mit ökologischen Themen assoziiert. Und er fängt besser ein, worum es speziell in der Spätmoderne geht: Unhaltbar werden die Narrative des ÖEP sowie die gesellschaftlichen Arrangements, Selbstbeschreibungen und Selbstverständnisse der bisherigen Moderne insgesamt. Und der Ablauf von deren Haltbarkeitsdatum bedeutet, dass sie tatsächlich nicht mehr zu halten sind, egal ob spätmoderne Gesellschaften das wollen, mögen und es sich eingestehen oder nicht.

Im Vergleich zu meinen früheren Büchern erweitert sich die Perspektive also erneut: von der Demokratiekrise über die fünffache Nachhaltigkeitskrise hin zur Krise des ÖEP und zur Unhaltbarkeit der westlichen Moderne insgesamt. Die Frage lautet nun entsprechend: Ist es eigentlich vorstellbar, dass das ÖEP und das Modell der westlichen Moderne insgesamt sich ein37mal erschöpfen, ohne dass dies mit dem Untergang der Menschheit oder der Welt einherginge? Letztlich stand diese Frage freilich auch schon hinter den Fragen, die mich in früheren Büchern geleitet haben. Der Begriff »Spätmoderne« hat sich inzwischen fest etabliert; die Erkenntnis, dass die Spätmoderne bereits in der Krise ist, auch.[26]  Auch die Verabschiedung – als gesellschaftstheoretische Zentralnorm – der Idee des autonomen Subjekts, die bereits Luhmann vehement eingefordert hatte, die seinerzeit aber noch eine unerträgliche Provokation war, ist mittlerweile in guten Teilen der Sozialwissenschaften zum Mainstream geworden. »In der breiteren geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussion«, schreiben Block und Dickel, zeichnen sich »seit einigen Jahren dezidiert posthumanistische Deutungsangebote ab, die das Ende des autonomen Subjekts affirmieren oder aber als realistische Möglichkeit akzeptiert haben.«[27] 

Schon in Post-ecologist Politics, in Simulative Demokratie und in Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit legte ich viel Wert darauf, die beschriebenen Phänomene nicht einfach als Verfallserscheinungen zu begreifen, und auch nicht als »regressiv«, sondern zu verstehen, dass und wie sie sich aus dem konsequenten Vollzug der Moderne ergeben, nicht etwa aus deren Aussetzung oder aus dem Verstoß gegen ihre Logik. So paradox das erscheinen mag, so meine These, müssen diese Phänomene zumindest auch als emanzipatorische Errungen38schaften verstanden werden. Demselben Muster folgend, werden hier nun auch der Zerfall des ÖEP und die Krise der Spätmoderne – obwohl der Begriff »Spätmoderne« zunächst etwas anderes nahelegt – nicht als ein Endstadium und Abschied von der Moderne begriffen, sondern als deren dialektische Fortentwicklung. Das signalisiert der von Ulrich Becks Risikogesellschaft für dieses Buch übernommene Untertitel Auf dem Weg in eine andere Moderne.[28] 

1.3 Das Undenkbare

Hinausgehend über die engere Beschäftigung mit der Krise des ÖEP lautet die Frage jetzt also, ob es eigentlich vorstellbar ist, dass die westliche Moderne und ihre grundlegenden Normen der Freiheit, des selbstbestimmten Subjekts, der Menschenrechte, der Demokratie, der offenen Gesellschaft etc. sich einmal überleben. Bisher war das nicht vorstellbar. Der Westen hatte sich den Untergang seines eigenen Projekts so schwer vorstellen können, dass er ihn vielmehr mit dem Untergang der Menschheit gleichgesetzt hat. Denn das Ende der Geschichte sollte nach westlicher Vorstellung die Weltherrschaft der europäisch-westlichen Aufklärungsideen sein, denen universelle Gültigkeit zugesprochen wurde und die schon seit Kant in die »kosmopolitische Gesellschaft« führen und den »ewigen Frieden« begründen 39sollten.[29]  Diese Gleichsetzung haben – in mobilisierender Absicht – gerade auch die ökoemanzipatorischen Bewegungen betrieben. Zwar traten sie immer auch als Kritiker bürgerlicher Ideale, der liberalen Demokratie und der westlichen Moderne insgesamt auf. Gerade den modernistischen Vorstellungen von Herrschaft, Kontrolle und instrumenteller Naturaneignung standen sie immer höchst skeptisch gegenüber. Gleichwohl standen diese Bewegungen und ihr Projekt aber immer fest in der Tradition der Moderne. Sie haben stets fest an die Gestaltbarkeit und Steuerbarkeit geglaubt und an den Mythos von der rationalen Politik. Sie waren entschieden, die Schwächen, Nebenwirkungen und Schattenseiten der bisherigen Moderne zu reparieren – und dafür haben sie auf ihr Recht und ihre Fähigkeit zur selbstbestimmten Gestaltung, Kontrolle und Steuerung gepocht. Auch wenn sie die Ideen der kantischen Vernunft zunehmend kritisch sahen, verfolgten sie doch fest das Projekt der Moderne, das sie aus seinen eigenen Fallstricken befreien wollten. Insofern war das ÖEP entgegen seiner häufigen (Selbst-)Darstellung nie wirklich eine Alternative zum, sondern vielmehr eine erneuerndeVerlängerung des bürgerlich-liberalen Projekts. Das gilt bis heute fort, wo emanzipatorische Bewegungen das kolonialistische und rassistische Erbe der bisherigen Moderne aufarbeiten.

Die mögliche Erschöpfung ihres Projekts jedoch, sein Obsolet-Werden und seine emanzipatorische Preisgabe, konnten (und wollten) die Vorkämpfer des ÖEP40sich nie vorstellen. Bis heute nicht. Diese Möglichkeit war und ist aus ihrer Perspektive, d. ‌h. innerhalb ihres normativen Horizonts, im wörtlichen Sinne un-denkbar. Dieses mögliche Obsolet-Werden wird, wohl nicht zuletzt darum, immer schon als das Ende, als Apokalypse, als Untergang der Menschheit gedacht. Als solcher bildet es den dystopischen Gegenpol zum Ende der Geschichte im ewigen sozialökologischen Frieden der kosmopolitischen Gesellschaft. Dieses Denken setzt sich in der Rhetorik heutiger Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten fort, zum Beispiel, wenn sie sich als die Letzte Generation bezeichnen. Ebenso spricht es aus den Warnungen von Erdsystemwissenschaftlern, dass das Überschreiten nicht verhandelbarer »planetarer Grenzen« zur Unbewohnbarkeit des Planeten führen und das Überleben der Menschheit gefährden könnte.[30]  Aber das ist eine sehr westliche Vorstellung und Sorge. Sie wird in anderen Teilen der Welt, wo man sich mitunter gerade am Anfang einer neuen eigenen Blütezeit sieht, so nicht geteilt.

Tatsächlich ist die Rede vom Untergang der Menschheit – bei aller theoretischen Möglichkeit und trotz der inzwischen umfassend belegten Zerstörung biophysischer Systeme – gewissermaßen das linksaktivistische Gegenstück zur rechtspopulistischen Leugnung der Klimaerwärmung und der Nachhaltigkeitskrise. »Ende oder Wende« und »Weiter so ist keine Option« sind das TINA (»there is no alternative«) der emanzipatorischen Klimabewegung und der kritischen Umweltso41ziologie. Gemeinsam ist diesem emanzipatorisch-kritischen TINA-Denken und dem Denken der Klimawandelleugner, dass sie beide ein Szenario ausblenden, das faktisch zwar das realistischste ist, das aber aus den jeweiligen Perspektiven eine Welt zum Einsturz bringen würde und daher unerträglich ist. Allein: »There is an alternative« und »Weiter so« sind auch durchaus eine Option – das bedeutet aber, dass spätmoderne Gesellschaften sich von den Normen und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen trennen (müssen), die westliche Gesellschaften insgesamt, und die Vorkämpfer des ÖEP und der SÖT insbesondere, bisher lautstark und identitätsgebend vor sich hergetragen haben. Genau das ist der Preis, der entrichtet werden muss, wenn es heißt: »whatever it takes«. Entsprechend sind die Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe, die sich diesen Namen gegeben hat, wohl nicht die letzte Generation, die die Klimaerwärmung noch auf das im Pariser Klimaabkommen festgelegte Maß von unter 1,5 Grad begrenzen kann (dieser Glaube wäre bzw. ist eine fatale Selbstüberschätzung), und ganz gewiss nicht die letzte Generation vor dem klimabedingten Untergang der Menschheit. Eher sind sie wohl die letzte Generation, die im modernistischen Geiste und in der Tradition der ökoemanzipatorischen Aufbruchsbewegungen seit den achtziger Jahren noch daran zu glauben versucht, dass die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden und das Projekt einer sozialökologischen Transformation umgesetzt werden kann. Die Spätmoderne ist nicht am Ende der Geschichte, wohl aber am Ende dieser Geschichte.

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