Unheilvolle Nähe - Terri Blackstock - E-Book

Unheilvolle Nähe E-Book

Terri Blackstock

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Beschreibung

In seiner ersten Woche nach Abschluss der Polizeischule entdeckt der junge Polizist Scott Crown in einem Boot, das den Fluss hinabtreibt, die Leiche einer jungen Frau. Es stellt sich heraus, dass der Mord genauso verübt wurde, wie es der erfolgreiche Romanautor Marcus Gibson, der seit Kurzem auf Cape Refuge wohnt, in einem seiner Krimis beschrieben hat. Schnell wird der spleenige Schriftsteller zum Hauptverdächtigen. Und dann finden Polizeichef Cade und seine Freundin Blair in einer schwer zugänglichen, aber wunderschönen Tropfsteingrotte eine zweite Leiche – genau in dem Moment, als Cade ihr einen Heiratsantrag machen will.

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In seiner ersten Woche nach Abschluss der Polizeischule entdeckt der junge Polizist Scott Crown in einem Boot, das den Fluss hinabtreibt, die Leiche einer jungen Frau. Es stellt sich heraus, dass der Mord genauso verübt wurde, wie es der erfolgreiche Romanautor Marcus Gibson, der seit Kurzem auf Cape Refuge wohnt, in einem seiner Krimis beschrieben hat. Schnell wird der spleenige Schriftsteller zum Hauptverdächtigen. Und dann finden Polizeichef Cade und seine Freundin Blair in einer schwer zugänglichen, aber wunderschönen Tropfsteingrotte eine zweite Leiche – genau in dem Moment, als Cade ihr einen Heiratsantrag machen will.

Die amerikanische Autorin Terri Blackstock fand bereits im Alter von 14 Jahren zum Glauben an Jesus Christus. Doch zunächst schrieb sie erfolgreich unter zwei Pseudonymen, ohne dass sich ihr Glaube in ihren Büchern widerspiegelte. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs erlebte sie dann aber eine „geistliche Erweckung“, wie sie es selbst bezeichnet. Seitdem nutzt sie ihre Fähigkeiten für Gott und schreibt nur noch Bücher, die auf Jesus Christus hinweisen. In ihren Romanen verbindet sie nun auf unnachahmliche Weise spannende Unterhaltung mit tiefgründigen Fragen zum christlichen Glauben. Weltweit wurden bereits mehr als sechs Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft und ihre Romane standen mehrfach auf den Bestseller-Listen der New York Times.

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Aus dem Englischen von Hilke und Friedhelm von der Mark

Die Bibelzitate sind der überarbeiteten Elberfelder-Übersetzung (Edition CSV-Hückeswagen) entnommen.

Die deutsche Ausgabe erscheint aufgrund einer Vereinbarung mit dem Originalverlag The Zondervan Corporation L.L.C. in der Verlagsgruppe HarperCollins Christian Publishing, Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Breaker’s Reef

Copyright © 2005 by Terri Blackstock

Titelfotos:

Junge Frau: © www.shutterstock.com, 330321593, paffy

Polizeiwagen: © www.shutterstock.com, 157581782, s_bukley

Umschlaggestaltung und Satz: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

eBook Erstellung: ceBooks.de, Eduard Klassen

Paperback:

ISBN 978-3-942258-04-3

Art.-Nr. 176.804

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-54-8

Art.-Nr. 176.854

Copyright © der deutschen Ausgabe 2016

by BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

www.boas-media.de

Dieses Buch entstand aus Liebe zu dem Nazarener,

Jesus von Nazareth.

Danksagungen

Ganz besonders möchte ich meinen Freunden vom Hinds County Detention Center1 für all das danken, was sie mir über die Liebe, die Vergebung, die Gnade Jesu Christi und die Errettung durch Ihn beigebracht haben. Eure kühnen Kämpfe und Siege haben mir Gottes große Macht und Stärke gezeigt. Einige von euch haben ihre mühsam erworbene Weisheit mit mir geteilt, andere haben mir das Herz gebrochen und wieder andere haben mich in unglaubliche Spannung versetzt, weil ich zusehen kann, wie ihr Gottes Erlösung annehmt und euer Leben von Ihm verändern lasst ... auch dann, wenn ihr in die Freiheit entlassen werdet, wo es schwerfällt, gute Entscheidungen zu treffen.

Danke, dass ihr mir geholfen habt, dieser Romanserie Tiefgründigkeit zu geben und Figuren mit einer schwierigen Vergangenheit entstehen zu lassen, deren Leben nicht immer glatt verlaufen ist, die die Hölle auf Erden erlebt haben und sich wie Sklaven nicht daraus befreien konnten. Charaktere, nach denen der himmlische Vater täglich Ausschau hält, nach Seinen verlorenen Kindern, die nach Hause kommen. Menschen wie euch.

„Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr.“ (Lukas 15,20)

Oh, meine Schwestern, wie liebt Er euch! Vergesst das nie!

Polizeichef Matthew Cade hatte nie in Erwägung gezogen, einen anderen Beruf zu wählen, doch dieser Anruf um 4.30 Uhr morgens wegen des Todes eines Mädchens im Teenageralter ließ ihn sich einen Job als Buchhalter oder Elektriker wünschen – einen harmlosen Beruf, der ihn nicht dazu zwang, trauernden Eltern in die Augen zu sehen. Er saß auf dem Bettrand und rieb sich die Augen, während er sich das Telefon ans Ohr hielt.

„Sie stammt aus Cape Refuge, Chief.“ Myrtle, seine Nachtschichtleiterin, klang erschüttert. „Dieser neue Kollege, Scott Crown, hat sie gerade gefunden. Sie trieb in einem Boot. An dem Flussufer, an dem Tybee liegt. Sieht nach Mord aus.“

Cade riss sich zusammen. „Wer ist sie, Myrtle?“

„Sie haben mir noch keinen Namen genannt. Wenn sie ihn wissen, haben sie ihn bis jetzt noch nicht über Polizeifunk durchgegeben. Aber Chief Grant aus Tybee ist sehr wütend darüber, wie Crown vorgegangen ist, und er möchte, dass Sie so schnell wie möglich an den Tatort kommen.“

„In Ordnung, geben Sie mir die Adresse.“ Oswald, Cades Kater, sprang auf seinen Schoß und schnurrte nach Aufmerksamkeit, während Cade nach einem Stift griff und sich die Adresse notierte. Als er fertig war, stieg der Kater auf den Nachttisch und ließ sich auf den Notizblock plumpsen. „Also, was hat Crown angestellt?“

„Ich weiß es nicht genau, Chief. Aber er ist noch jung. Seien Sie nicht zu streng mit ihm.“

Er legte auf und dachte über den neunzehnjährigen Berufsanfänger nach. Crown hatte gerade erst seine Polizeiausbildung abgeschlossen und war noch nicht einmal seit einer Woche in Cades Einheit. Sein Ehrgeiz, der beste Polizist in der Einheit zu werden, hatte schon zu ein paar Missgeschicken geführt, aber es war noch nichts Ernstes passiert. Cade wusste, dass er dem jungen Mann ein wenig Zeit geben musste, um in seine Aufgabe hineinzuwachsen. Aber was hatte er nur getan, das den Polizeichef der Nachbarstadt so verärgerte?

Als Cade aufstand, ließ ihn der arthritische Schmerz in seinem Bein, den er jeden Morgen als Erstes spürte, zusammenzucken. Die vielen Brüche, die er bei einer Verletzung vor einem Jahr erlitten hatte, waren verheilt und er musste nur noch selten humpeln. Aber jeden Morgen wurde er an das erinnert, was er durchgemacht hatte.

Er zog sich an und eilte zu seinem Pick-up hinaus. Es war recht kühl für Mai, aber er wusste, dass es sich bis zum Ende des Tages auf bis zu 35 Grad aufheizen würde. Und das Leben würde so weitergehen wie immer – Mord hin oder her. Als er über die Brücke fuhr, die Cape Refuge mit Tybee Island verband, ging er in Gedanken die Gesichter der Mädchen im Teenageralter durch, die hier aufgewachsen waren. Wer auch immer das Mädchen war, ihr Tod würde schreckliche Folgen haben; er würde ihre Familie niederschmettern und ihre Freunde erschüttern. Er würde ein riesengroßes Loch in das Herz der Kleinstadt reißen.

Er erreichte den Tatort und hielt hinter den anderen Polizeiautos, die schon dort parkten. Einer der Polizisten aus Tybee kam auf ihn zu, als er ausstieg. „Oh, Sie sind es, Chief Cade. Ich habe Sie in Ihrem Wagen gar nicht erkannt.“

„Wo ist Chief Grant?“, fragte er.

Der Mann deutete in Richtung Ufer, und Cade entdeckte dort seinen Kollegen, der gerade mit dem Gerichtsmediziner die Leiche untersuchte.

Während Cade hinüberging, schaute er auf das im Gras liegende Mädchen. Sie war klein, wog etwa 45 kg, und es sah so aus, als hätte sie jemand sorgfältig dort hingelegt. Ihre Arme waren ausgestreckt, die Knie waren zusammengelegt und zur Seite geneigt. Wegen der blitzenden Blaulichter konnte er ihr Gesicht noch nicht erkennen, aber ihr Haar war nass und lang ... Als er nähertrat, sah Keith Parker, der Gerichtsmediziner, zu ihm auf. „Hey, Cade. Kennen Sie sie?“

Chief Grant reichte ihm eine Taschenlampe. Cade bückte sich und leuchtete ihr ins Gesicht. Sein Herzschlag setzte aus. Es war Alan Lawrences Tochter Emily. Sie konnte nicht älter als 16 sein. Cade vermutete, dass sie noch nicht einmal den Führerschein gemacht hatte.

Zorn stieg in ihm auf und er rieb sich das Kinn. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Wer hatte das getan? Wer hatte das Leben dieses unschuldigen, liebenswürdigen Mädchens, das von seinen Eltern geliebt wurde, auf diese Weise beendet?

Er räusperte sich. „Ja, ich kenne sie. Ihr Name ist Emily Lawrence. Ihre Eltern heißen Alan und Marie.“ Er machte eine Pause und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Wissen Sie schon, woran sie gestorben ist?“

„Sie wurde erschossen“, antwortete Grant. „Scheinbar wurde sie woanders erschossen, dann hierher gebracht und in das Boot dort gelegt. Ihr junger Kollege hat sie gefunden.“

Cade richtete sich auf und sah in die Richtung, in die Grant nickte. Scott Crown stand bei den anderen Polizisten und beantwortete Fragen. Seine Uniform war nass, und er wirkte aufgewühlt und nervös. Der Junge tat Cade leid. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, gleich in seiner ersten Arbeitswoche ein totes Mädchen zu finden.

„Leider“, fuhr der Polizeichef von Tybee fort, „hat Ihr Kollege Beweise zerstört. Er hat die Leiche aus dem Boot gezogen, bevor er uns anrief. Und sie wurde nass, als er versucht hat, sie an Land zu bringen. Wer weiß, welche Beweise dabei vielleicht abgewaschen wurden? Ich hätte erwartet, dass Sie Ihre Leute besser ausbilden.“

Nun richtete sich Cades Zorn nicht mehr gegen den namenlosen Mörder, sondern gegen den Neuling in seinem Team. „Was hat er überhaupt hier gemacht? Er sollte in Cape Refuge auf Streife sein.“

„Er sah das Boot zwischen den beiden Inseln auf dem Fluss treiben und bemerkte, dass jemand darin lag. Er hätte dann sofort meine Leute verständigen sollen, anstatt in meinen Zuständigkeitsbereich herüberzukommen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen.“

Cade seufzte und sah erneut zu dem Burschen hinüber. Er hatte zunächst gezögert, einen so jungen Mann, der direkt von der Akademie kam, einzustellen, aber Crown war Joe McCormicks Neffe. Und weil sich sein Kriminalbeamter so für den jungen Mann eingesetzt hatte, hatte Cade beschlossen, ihm einen Vertrauensvorschuss zu geben. Aber er hatte Crowns Heldenkomplex schon an seinem ersten Arbeitstag bemerkt. Er hatte etwas von einem wandelnden Pulverfass an sich, und Cade hatte sich gefragt, ob er sich wirklich darauf verlassen konnte, dass er immer die Regeln einhalten würde.

Offensichtlich konnte er das nicht.

Er ging über die Wiese auf Crown zu. Der junge Mann drehte sich um, sah ihn und platzte sofort mit seiner Erklärung heraus. „Chief, ich weiß, dass ich mich falsch verhalten habe. Das war dumm. Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Aber da waren Geier, und ich nahm an, dass in dem Boot ein totes Tier liegt ... Ich bin über die Brücke gefahren und hierhergekommen ...“

„Das war schon der erste Fehler“, sagte Cade.

„Aber wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie sie vielleicht nicht gefunden!“

„Crown, wenn Sie die Kollegen von Tybee angefunkt und ihnen gesagt hätten, was Sie gesehen haben, wären die binnen weniger Minuten hier gewesen. Sie haben nicht nur ihren Zuständigkeitsbereich verlassen, sondern Sie haben auch noch Beweismittel vernichtet.“

Der junge Mann sah sich nach den anderen Polizisten um, als demütigte es ihn, vor ihnen zurechtgewiesen zu werden. „Ich habe sie nicht vernichtet.“

„Doch, das haben Sie! Ich weiß, dass man Ihnen an der Akademie beigebracht hat, niemals eine Leiche zu bewegen. Und dann gehen Sie hin und waschen die Beweise weg!“

Im Scheinwerferlicht der Polizeiautos konnte er sehen, wie der junge Mann errötete. „Okay, es tut mir leid! Ich bin zu dem Boot hinausgewatet und habe Emily erkannt. Ich war mir nicht sicher, ob sie tot ist. Ich habe versucht, sie zu retten!“

„Sie hätten überprüfen sollen, ob sie noch lebt, bevor Sie sie aus dem Boot gezogen haben!“

„Stimmt.“ Crowns Stimme wurde lauter, als er konterte: „Okay, wenn ich das richtig verstehe, soll ich das nächste Mal, wenn ich ein Mädchen sehe, das in einem Boot stirbt, so lange Däumchen drehen, bis die zuständigen Leute eingetroffen sind? Ich dachte, wir wären da, um zu helfen. Ich dachte, es wäre unser Job, Leben zu retten!“

Crown war wütend und hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Es brachte nichts, wenn Cade ihn weiter vor seinen Kollegen belehrte. Außerdem lag da ein totes Mädchen – und ein Mörder musste gefasst werden. Er hatte keine Zeit, sich weiter mit dem Neuling herumzustreiten.

„Fahren Sie zurück zur Polizeistation, Crown. Warten Sie dort auf mich.“

„Ich will nicht zurück. Ich habe sie gefunden!“

Cade trat ganz dicht vor den jungen Mann und zischte: „Sofort, Crown. Wenn ich noch ein Wort höre, sind Sie gefeuert.“

Endlich zog Crown sich zurück und stürmte, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zu seinem Wagen. Cade sah ihm nach, bis er davonfuhr. Dann stieß er einen frustrierten Seufzer aus und wandte sich wieder der Leiche zu.

Emily. Er erinnerte sich daran, wie er ihr im Hanover House bei der Ostereiersuche zugesehen hatte, als sie drei gewesen war. Sie war fast über die „versteckten“ Eier gestolpert und hatte das erste gefundene Ei regelrecht gefeiert, während die anderen Kinder alle übrigen Eier aufgesammelt hatten. Wer hatte sie tot sehen wollen?

Er ging zurück zu seinem Wagen und schaltete das Funkgerät ein. „Hier spricht Chief Cade. Schicken Sie alle verfügbaren Einheiten, um das dem Fundort der Leiche gegenüberliegende Ufer des Bull Rivers abzusperren. Ich will nicht, dass irgendjemand dort herumläuft, bevor ich da war. Wir wissen nicht, von welcher Seite des Flusses das Boot in die Strömung gestoßen wurde.“

Das Funkgerät knisterte und Myrtles Stimme krächzte durch den Äther. „Geht klar, Chief.“ Während sie per Funk die anderen Polizisten, die gerade im Einsatz waren, verständigte, ging er zurück zu der Leiche und beugte sich zu dem Rechtsmediziner hinunter. „Wo ist die Schusswunde, Keith?“

Der Gerichtsmediziner zeigte auf das Loch in ihrem Bauch. „Keine Austrittswunde, also wurde wahrscheinlich nicht aus der Nähe geschossen. Die Kugel ist noch drin. Aber sie wurde schon vor Stunden erschossen. Sie ist verblutet, bevor sie ins Boot gelegt wurde.“

Cade richtete sich auf. Ihm wurde ganz elend bei dem Gedanken, dass er zu ihr nach Hause gehen und ihren Eltern die Nachricht überbringen musste. Sie wussten vielleicht noch nicht einmal, dass sie gar nicht zu Hause war. Wenn sie vor der Zeit, zu der ihre Tochter zu Hause sein musste, zu Bett gegangen waren, würden sie es erst am Morgen bemerken. Doch wenn sie es genauer nahmen – und Cade war sich sicher, dass Alan das tat –, würden sie vermutlich bis jetzt wach geblieben sein, um auf sie zu warten und sie zur Rede zu stellen, wenn sie heimkam.

Doch nie im Leben würden sie eine solche Nachricht erwarten.

Er wünschte, er wäre für die Ermittlungen zuständig, aber die Tote war nicht in seinem Zuständigkeitsbereich gefunden worden. Er schaute immer noch auf die Leiche hinab, während der Gerichtsmediziner sich neben sie kniete.

„Ist das dort an ihrem Kiefer ein Bluterguss?“, fragte Cade.

„Ja, und an ihren Armen und Beinen sind noch mehr. Es hat definitiv einen Kampf gegeben. Und schauen Sie sich das an.“ Er zeigte auf die wund geriebene Haut um ihren Mund herum. „Es sieht so aus, als hätte man ihr Klebeband vom Mund und von den Handgelenken gerissen.“

Es war offensichtlich eine Entführung gewesen. Cade sah über das Wasser hinüber. Hielt sich dort drüben auf seiner Insel ein Mörder versteckt, der nach jungen Mädchen Ausschau hielt?

„Wir müssen die Familie benachrichtigen, Cade.“

Er wandte sich Grant zu. „Das mache ich. Sie sind Freunde von mir.“

„Ich warte noch auf das GBI. Ich brauche ihre Hilfe bei diesem Fall.“

Cade wusste, dass das GBI, das Georgia Bureau of Investigation2, die notwendigen Mittel hatte, um diesen Fall zu lösen. Er war froh, dass sie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hinzugezogen wurden.

„Einer unserer Kriminalbeamten muss ihr Zimmer durchsuchen und schauen, was dort zu finden ist“, sagte Grant. „Wenn Sie den Eltern die Nachricht schon überbringen würden, können mein Beamter oder die Kollegen der Staatspolizei dort gleich die Beweise sichern.“

Na klar. Lassen Sie mich ruhig die Drecksarbeit erledigen und dann machen Sie meinen Job. „In Ordnung. Ich versiegele ihr Zimmer und sorge dafür, dass es niemand betritt.“

Er ging mit großen Schritten zurück zu seinem Wagen und versuchte dabei, seine Gedanken zu ordnen. Wie sollte er ihnen diese Nachricht überbringen? Die Muskeln in seinem Nacken waren vor Anspannung steinhart und sein Kiefer schmerzte, als er die Zähne zusammenbiss. Was sollte er sagen? Wie konnte er das in Worte fassen?

Herr, schenke mir die richtigen Worte.

Als er zurück nach Cape Refuge fuhr, probte er im Kopf die verhassten Worte: Alan und Marie, es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten ...

Das Klingeln des Telefons riss Blair aus dem Schlaf. Sie setzte sich auf und griff zum Hörer. „Hallo?“

„Blair, ich bin’s.“ Ihre Schwester Morgan klang angespannt und gehetzt.

„Oh nein. Bei dir haben die Wehen eingesetzt.“

Ihre Schwester war im achten Monat schwanger und die Gefahr einer Fehlgeburt, wie es vor einem Jahr passiert war, war längst vorüber, aber es war immer noch zu früh für das Baby, auf die Welt zu kommen.

„Nein, mir geht es gut.“

Blair strich sich die Haare aus den Augen und seufzte vor Erleichterung. „Oh, das ist gut. Aber du klingst so, als hättest du schlechte Neuigkeiten.“

„Ich habe auch tatsächlich schlechte Neuigkeiten, Blair. Jonathan musste heute Morgen schon früh ins Rathaus, und er hat gerade angerufen und mir gesagt, dass letzte Nacht ein Mord geschehen ist. Emily Lawrence, die Tochter von Alan und Marie, ist tot.“

Blair atmete tief durch. „Sie wurde ermordet? Wie?“

„Ich weiß nichts Genaues, aber ich war mir sicher, dass du in deiner Zeitung darüber berichten willst.“

Blair stand auf. Sie erinnerte sich an das Mädchen, wie es regelmäßig in die Bücherei gekommen war, als sie noch dort gearbeitet hatte. Sie hatte versucht, es in die Geheimnisse der gehobenen Literatur einzuführen, aber das Mädchen war nicht über die Baby-Sitters Club-Bücher und Nancy Drew-Krimis hinausgekommen. Sie hatte Blair oft Listen mit Büchern gegeben, die sie für sie bestellen sollte.

Ihr wurde speiübel. Wie konnte sie nur tot sein? „Ich rufe sofort Cade an.“

„Nein, besser nicht“, erwiderte Morgan. „Er ist zu Hause bei ihren Eltern. So viel wusste Jonathan immerhin.“

Blair versuchte, sich zu konzentrieren, während sie ihre Kleidung zusammensuchte. Sie musste die Kamera mitnehmen. Wo war sie bloß? „Morgan, ich glaube, Sadie hat gestern Abend meine Kamera mit nach Hause genommen. Ist sie schon wach?“

„Nein, aber ich kann sie wecken. Möchtest du, dass sie heute früher zur Arbeit kommt?“

Letzte Woche hatten die Schulferien angefangen und Sadie arbeitete nun den ganzen Sommer über Vollzeit für sie. Sie würde nicht wollen, dass sie nur deshalb außen vor gelassen wurde, weil sie noch schlief. „Ja, sag ihr, dass ich sie in 15 Minuten abhole.“

„Sie wird bereitstehen.“

Sadie weinte, als sie die Außentreppe des Hanover Houses hinunterrannte und die Autotür aufmachte.

„Was ist mit Emily passiert?“, fragte sie, während sie einstieg. „Ich habe sie vor ein paar Tagen noch in der Schule gesehen.“

„Ich weiß es noch nicht, Liebes. War sie eine gute Freundin von dir?“

Sadies Gesicht verkrampfte sich, weil sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Nein, sie ist keine gute Freundin von mir. Aber ich mag sie. Sie ist eines der netten Mädchen.“

Blair war bekannt, dass Sadie sich mit den meisten ihrer Klassenkameraden nicht so gut verstand. Sie war als 16-jährige Ausreißerin nach Cape Refuge gekommen, die die Schule in der 9. Klasse abgebrochen hatte, und als sie hier wieder zur Schule gegangen war, war sie zwei Jahre älter als die meisten in ihrer Klasse gewesen. Als 18-jährige Elftklässlerin, noch dazu mit ihrer Vorgeschichte, war sie regelmäßig dem Spott der anderen ausgesetzt. Doch Blair wusste, dass manche Mädchen an der Schule so grausam waren, weil sie eifersüchtig auf Sadie waren. Ihr feines, blondes Haar und die großen blauen Augen hätten einer Schönheitskönigin alle Ehre gemacht. Aber für solche Dinge interessierte sich das junge Mädchen nicht. In ihrer Freizeit arbeitete sie als Reporterin und Fotografin für Blair. Trotz ihres jungen Alters war sie bereits eine begabte Journalistin.

Im Verlauf des letzten Jahres, seit Blair Sadie eingestellt hatte, war sie zu einer viel selbstbewussteren jungen Frau herangewachsen, die es nicht interessierte, was die Klassenkameraden von ihr dachten. Seltsamerweise fand sie mehr Freunde, seit sie nicht mehr so viel Wert darauf legte, von ihren Mitschülern akzeptiert zu werden.

Sadie wischte sich über die Augen. „Was hat Cade erzählt?“

„Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Er ist bei den Lawrences. Dort fahren wir jetzt auch hin.“

„Zu den Lawrences.“ Sadie wiederholte die Worte gedankenverloren. „Bist du sicher, dass wir das tun sollen? Ich meine, ist das nicht rücksichtslos, wenn die Presse auftaucht, nachdem sie gerade erst davon erfahren haben?“

„Wir werden sie nicht stören, Sadie, versprochen. Aber wir werden sicherlich nicht die einzigen Reporter sein, die dort auftauchen. Ich möchte nur ein paar Fakten sammeln. Und dabei sein, wenn die Polizei eine Erklärung abgibt. Wir helfen bei der Suche nach dem Mörder und wir sind dafür verantwortlich, auch diese Nachricht an unsere Leser weiterzugeben.“

Sadie atmete tief durch. „Du hast recht. Ich habe nur an ihre Eltern gedacht ... Was sie gerade durchmachen ...“ Ihre Stimme klang piepsig, dann brach sie ab.

„Ich denke ebenfalls an sie, Liebes. Vertrau mir, okay?“

* * *

Wie Blair es vorhergesagt hatte, parkte bereits der Übertragungswagen eines Fernsehsenders vor dem Haus der Lawrences. Und etliche Leute standen zusammengedrängt im Hof. Es waren Reporter aus Savannah, die auf eine Presseerklärung warteten. Blair bemerkte Cades Wagen in der Einfahrt, daneben stand ein Polizeiauto von Tybee Island.

Sadie hatte aufgehört zu weinen, aber ihr Gesicht war angespannt. Sie starrte auf die Haustür, als versuchte sie sich vorzustellen, was dahinter gerade vor sich ging.

Gott sei Dank, war Cade derjenige, der mit der Familie sprach. Er hatte Blair die Nachricht überbracht, als ihre Eltern ermordet worden waren. Er hatte eine einfühlsame Art, und wenn es jemanden gab, der trösten konnte, dann war er es, das wusste Blair.

Ihr Herz war erfüllt mit Liebe zu ihm, und sie sprach ein stilles Gebet, in dem sie Gott bat, ihm all die Kraft zu geben, die er brauchte. Sie wünschte, sie könnte zu ihm hineingehen und ihm die Hand halten, während er das schwierige Gespräch führte, ihn trösten, wenn es ihm schwerfiel, noch länger stark zu bleiben. Sie waren sich im letzten Jahr so nahegekommen, dass sie seine Lasten genauso empfand wie ihre eigenen und ihm helfen wollte, sie zu tragen.

Als hätten ihre Gedanken ihn gerufen, ging die Haustür auf und Cade trat heraus. Die anderen Reporter stürzten mit ihren Mikrofonen auf ihn zu und riefen laut ihre Fragen, doch Blair hielt sich zurück. Sie würde die Story schon noch früh genug bekommen.

„Chief Cade, haben die Eltern eine Vermutung, wer ihre Tochter getötet haben könnte?“

„Wie haben ihre Eltern die Nachricht aufgenommen?“

„Hatten sie ihre Tochter bereits vermisst?“

Er stieg die Stufen der Veranda hinab und durchquerte den Hof, bevor er etwas sagte. „Die Polizei von Tybee arbeitet mit der Staatspolizei an diesem Fall“, erklärte er im Gehen. „Sie sind gerade drinnen. Sie werden bald eine Pressemitteilung abgeben.“ Cade schaute Blair an und deutete mit dem Kopf zu seinem Wagen.

Blair reichte Sadie die Autoschlüssel. „Ich fahre mit ihm und hole mir die Story. Kannst du für die offizielle Pressemitteilung der Polizei hierbleiben und dann mit meinem Auto zum Büro kommen?“

„Ja klar.“

Blair zögerte. „Sadie, ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, mir geht es gut. Geh schon. Das ist wichtig.“

Cade stieg in seinen Wagen und Blair rutschte auf den Beifahrersitz. „Sie werden uns der Vetternwirtschaft bezichtigen“, sagte sie.

„Lass sie doch.“ Er wandte sich um, schaute durch die Heckscheibe und fuhr rückwärts aus der Hofeinfahrt heraus. Sein Gesicht war angespannt und seine Mundwinkel zitterten.

„Cade, geht es dir gut?“

Er ignorierte die Frage. „Marie ist zusammengebrochen und hat geschrien, dass das nicht wahr ist, dass es nicht ihre Tochter sein kann. Und Alan war nicht in der Lage, sie zu trösten. Er hat selbst geweint wie ein kleines Kind.“ Tränen funkelten in seinen Augenwinkeln. „Ich kann mich noch daran erinnern, als Emily drei war. Es war bei der Ostereiersuche bei euch zu Hause. Dein Vater hatte Jonathan und mich gebeten, ihm dabei zu helfen, die Eier zu verstecken, und ich habe versucht, ihr dabei zu helfen, ein paar zu finden. Sie war so ein süßes, kleines Ding.“

„Oh, Cade.“ Sie nahm seine Hand, und er drückte ihre, aber er sah sie nicht an, weil er fuhr.

„Ich denke, sie müssen Marie ein Beruhigungsmittel geben. Ich habe Dr. Spencer angerufen und ihn gebeten, zu ihnen zu kommen. Er ist der Hausarzt der Familie und sollte daher am ehesten in der Lage sein, ihnen zu helfen.“

„Ich bin mir sicher, Morgan und ihre Freunde werden bald kommen, um sie zu trösten. – Cade, was ist passiert? Wie und wo wurde sie gefunden?“

Er bog zum Redaktionsbüro ab und fuhr dort auf einen Parkplatz. Nachdem er den Motor ausgemacht hatte, saß er einen Moment lang da und erzählte ihr dann alles, was er sagen durfte. Er schilderte ihr nach und nach die Fakten, wobei es ihm schwerfiel, die Emotionen in seiner Stimme und in seinem Gesicht zu kontrollieren.

Sie beugte sich zu ihm hinüber und zog ihn in eine Umarmung. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich als Vater fühlt, wenn man eine solche Nachricht bekommt.“

„Ich mir auch nicht.“

Er hielt sie eine Weile fest und klammerte sich dabei an sie, als würde er in tiefster Verzweiflung versinken und in dieser schrecklichen Tragödie untergehen. Als er sie losließ, atmete er tief durch. „Ich sollte jetzt besser mal zur Polizeistation fahren. Ich muss meinen Leuten Anweisungen geben.“

„Schaffst du das?“

„Ja, es geht mir gut.“

Sie schaute zu ihm auf und wünschte sich, er würde sich einfach gehen lassen und weinen, anstatt so hart um seine Beherrschung zu ringen. Sie wusste, dass es ihm das Herz brach.

Er berührte ihr Gesicht und küsste sie zärtlich. „Danke, dass du für mich da bist. Soll ich dich zurück zu den Lawrences bringen?“

„Nein, danke. Ich warte hier auf Sadie.“ Sie stieg aus, ging um den Wagen herum und trat an sein geöffnetes Fenster.

Er starrte abwesend durch die Windschutzscheibe. „Die Lawrences sind nette Leute. Überzeugte Christen, die in ihrer Gemeinde aktiv sind. Und sie lieben ihre Kinder. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass solchen Leuten, die es wirklich nicht verdient haben, so schreckliche Dinge passieren.“

„Ich auch nicht.“ Sie lehnte sich ins Fenster. „Aber ich erinnere mich daran, was du zu mir gesagt hast, als meine Eltern ermordet wurden und ich Gott für einen himmlischen Terroristen hielt, der geisteskranke Mörder benutzt, um seinen Willen auszuführen. Du hast geantwortet, dass Gott ein liebender Vater ist, dessen Absichten wir aber nicht immer begreifen können. Du hast gesagt, dass wir den Zweck ihres Todes vielleicht nie verstehen können, aber dass wir sicher sein können, dass Gott einen damit verfolgt.“

Cade sah ihr in die Augen und strich ihr die Haare zurück. „Ich glaube das immer noch, aber ich musste noch mal daran erinnert werden.“ Er küsste sie erneut. „Du tust mir gut, weißt du das?“

„Natürlich weiß ich das. Ich versuche schon seit einem Jahr, dir das beizubringen.“ Sie streichelte sein unrasiertes Kinn, und er nahm ihre Hand und küsste ihre Finger.

„Ich wusste es schon viel länger.“

Sanft lächelnd trat sie zurück, und er fuhr los.

„Ich rufe dich später an.“

Sie lächelte immer noch, als sie ihm nachsah, wie er davonfuhr.

Sadie stand mit den anderen Reportern im Hof der Lawrences und wartete darauf, dass einer der Kriminalbeamten der Staatspolizei herauskommen und eine Presseerklärung abgeben würde. Die Nachbarn kamen herbei, um so viel wie möglich mitzubekommen. Ein paar gingen an die Tür und klopften; sie wollten wahrscheinlich ihre Hilfe anbieten, aber die Familie reagierte nicht darauf.

Ein Auto voller Teenager hielt hinter einem der Fernseh-Übertragungswagen, und als sie heraussprangen, wandte Sadie sich ab. Sie waren alle in ihrer Klasse – zwei Cheerleader und ein Nachwuchs-Quarterback.

„Sadie!“

Sie wandte sich ihnen wieder zu, erstaunt darüber, dass sie überhaupt ihren Namen kannten, obwohl sie sie sonst immer ignoriert hatten. Sie kamen über den Rasen auf sie zu.

„Sadie, stimmt das mit Emily?“ April Manning sprach sie an, als wären sie die besten Freunde.

„Ich weiß auch nur das, was bisher gemeldet wurde.“

„Aber du arbeitest doch für die Zeitung, oder?“ Courtney Gray strich sich ihr in drei verschiedenen Tönen gefärbtes Haar zurück. „Du solltest es wissen.“

„Ich warte auf eine Presseerklärung. Die Polizei ist immer noch drinnen.“

„Im Radio haben sie gesagt, dass sie in einem Boot gefunden wurde. Wurde sie erschossen oder so?“

Sadie kämpfte gegen den Ärger an, der in ihr aufkeimte. Waren sie eigentlich schwerhörig? „Wie ich euch schon gesagt habe: Ich weiß wirklich nichts.“

Steve spekulierte laut drauf los. „Sie wirkte immer so prüde, aber es gab Gerüchte, dass sie vielleicht ein Drogenproblem hatte.“

Ein Drogenproblem? Sadie wusste, dass das nicht wahr war. „Emily war eine Christin. Sie hat keine Drogen genommen.“

„Man kann nie wissen“, sagte April. „Die Leute sind nicht immer so, wie sie sich in der Schule geben.“

Steve stupste sie an. „Damit kennst du dich ja aus.“

Das Mädchen grummelte vor sich hin.

Sadie hatte nicht die Kraft, sich mit ihren Gerüchten und Spekulationen abzugeben. „Ich muss ... den Film wechseln.“ Sie ließ sie einfach stehen und weiter über nichtige Details aus Emilys Leben und über ihren Tod diskutieren, und stieg in Blairs Wagen. Hier konnte sie sitzen, bis die Polizeibeamten herauskamen, um eine Presseerklärung abzugeben. Das war besser, als wenn sie wie einer dieser trauernden Groupies auf dem Hof stehen würde.

Sie lehnte ihren Kopf gegen den Sitz und wünschte, sie könnte positiver über sie denken. Aber die vielen Verletzungen, die sie von ihnen erlitten hatte, seit sie in Cape Refuge zur Schule ging, taten immer noch weh. In den letzten Monaten hatten die kränkenden Bemerkungen zwar etwas nachgelassen – oder aber sie bemerkte sie gar nicht mehr – und sie fühlte sich nicht mehr unsicher, wenn sie den Flur entlangging. Es gab wichtigere Dinge, über die sie sich Gedanken machen musste – wie zum Beispiel über ihre Mutter oder ihren Job.

Ihr Leben war jetzt ausgefüllt, viel ausgefüllter als früher, als ihre Mutter noch im Gefängnis gewesen war und Sadie ihre Tage damit verbracht hatte, sich und ihren kleinen Bruder vor seinem gewalttätigen Vater zu schützen. Sie war körperlich und psychisch am Ende gewesen, als sie hierhergekommen war und im Hanover House Zuflucht gefunden hatte. Morgan und Jonathan Cleary hatten sie in dem Haus aufgenommen, das verschiedene Leute, die ein schwieriges Leben hatten, beherbergte, und sie waren die Pflegeeltern von ihr und ihrem kleinen Bruder Caleb geworden, bis ihre Mutter vor rund einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen worden und zu ihnen gekommen war.

Bei all den Veränderungen hatte Sadie keine Zeit mehr, über ihre mangelnde Beliebtheit in der Schule zu jammern. Und seit es sie nicht mehr interessierte, hatte sie Freunde gefunden, und die anderen, denen sie aus dem Weg ging, verloren die Lust daran, sie zu ärgern.

Die Haustür ging auf, und Sadie setzte sich auf. Die Polizeibeamten kamen aus dem Haus. Sie sprang aus dem Wagen und schoss Fotos, während die Polizisten immer noch oben auf der Veranda standen. Sie ging zu dem Pulk der Reporter, die vor der Verandatreppe standen, zog das kleine Tonbandgerät aus ihrer Tasche und streckte es zwischen all die anderen Mikrofone und Tonbandgeräte.

Einer der Polizisten trat vor. „Ich möchte im Namen der Polizei von Tybee Island und des Georgia Bureau of Investigation eine kurze Erklärung abgeben. Heute, am 30. Mai, wurde um ungefähr vier Uhr morgens in einem Boot, das zwischen Tybee Island und Cape Refuge trieb, eine Leiche entdeckt. Die Tote wurde am Flussufer von Tybee Island an Land gebracht und als die 16-jährige Emily Lawrence identifiziert. Todesursache war eine Schusswunde. Im Moment behandeln wir die Sache als einen Mordfall, aber wir haben bisher keine Verdächtigen. Die Autopsie soll morgen durchgeführt werden. Wir bitten die hiesige Bevölkerung, die Polizei anzurufen, wenn sie irgendetwas mitbekommen haben, das mit diesem Fall in Zusammenhang stehen könnte. Die Familie wird sich im Moment nicht äußern. Sie bitten darum, dass Sie heute ihren Wunsch nach Privatsphäre respektieren und ihr Grundstück verlassen. Das war’s.“

Er und der andere Polizist bahnten sich ihren Weg durch die Menge und gingen zu ihren Autos, während die Reporter sie mit Fragen bombardierten.

Sadie ließ die Kamera um ihren Hals baumeln, zog den Notizblock aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und machte sich ein paar Notizen. Da kamen ihre drei neuen „Freunde“ schon wieder auf sie zu.

April hatte Tränen in den Augen. „Es ist schrecklich, einfach schrecklich. Wer hätte je gedacht, dass jemand aus unserer Klasse ermordet werden würde?“

Sadie schluckte ihre Gefühle hinunter und sah von ihrem Notizblock auf. „Wisst ihr, mit wem Emily am meisten zusammen war? Außerhalb der Schule, meine ich?“

„Natürlich, ja“, sagte Steve. „Sie hat viel Zeit mit Danny Brewer, Lourdes Grant und dieser Clique verbracht.“

Sadie notierte sich das.

„Wirst du sie interviewen?“

„Vielleicht.“

„Du könntest auch uns interviewen.“ Courtney lächelte sie hoffnungsvoll an.

Sadie zuckte mit den Schultern. „Okay. Gibt es irgendwas, das du über Emily erzählen willst?“

„Ja“, sagte Courtney. „Schreib auf, dass sie ein nettes Mädchen war. Dass die Leute sie mochten und so was.“

Originell, dachte Sadie. Das ist der Stoff, mit dem man Preise gewinnt.

„Und schreib meinen Namen mit e und nicht mit a. G-R-E-Y.“

„Ich möchte auch etwas sagen“, mischte sich April ein. „Schreib, dass es unheimlich ist, zu wissen, dass jemand da draußen ist, der deine Freunde ermordet. Man hat dann Angst davor, abends auszugehen.“

Das war etwas, das sie gebrauchen konnte. Sie notierte es. „Noch etwas?“

Nun war Steve bereit für seine 15 Minuten. „Ja, ich habe letzte Woche mit ihr gesprochen, da schien es ihr gut zu gehen. Ich durfte ihr Handy benutzen. Sie machte nicht den Eindruck, als sei sie depressiv oder verrückt oder irgendetwas in der Art.“

„Und wie heißt du mit Nachnamen?“ Sie kannte seinen Nachnamen so gut wie ihren eigenen. Wer kannte ihn nicht? Aber sie wollte bei ihm nicht den Eindruck erwecken, dass sie ihn jemals bemerkt hatte.

„Singer“, sagte er. „S-I-N-G...“

„Ich hab’s schon.“ Sie klappte ihren Notizblock zu. „Also, vielen Dank, Leute. Ich muss jetzt gehen. Ich muss meinen Artikel schreiben.“

Sie ließ sie stehen und ging zurück zu Blairs Wagen.

Matt Frazier hatte sich mit dem Transporter des Blumenladens seines Vaters hinter das Auto gestellt und rief nach ihr.

Sadie lächelte ihn an. „Hallo, Matt.“

Er war ihr allererster Freund auf Cape Refuge gewesen. An dem Tag, als sie beim Hanover House abgesetzt worden war und niemand zu Hause gewesen war, war er vorbeigekommen, um einen Blumenkranz für die Tür zu bringen. Und dann hatten sie sich in den letzten eineinhalb Jahren immer besser kennengelernt.

„Sadie, sind Emilys Eltern schon herausgekommen, um ein Interview zu geben?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nur die Polizei.“

Er sah zur Tür hinüber. Einige Reporter standen immer noch zusammengedrängt im Hof und wollten offenbar nicht gehen. „Mein Vater wollte, dass ich ihnen einen Kranz bringe. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wie konnte so etwas passieren?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Arme Emily.“

Sie standen beide schweigend da und Sadie sah die hilflose Wut in seinen Augen. Schließlich sah er sie an. „Geht es dir gut?“

Sie lächelte ihn durch den Schleier der Tränen, die ihr in den Augen standen, an. „Ja, danke.“

„Ich weiß, dass sie in deiner Klasse war. Sie war ein tolles Mädchen. Ich habe sie manchmal im Baseballstadion getroffen, wo sie am Imbissstand gearbeitet hat. Sie war immer so fröhlich und lebhaft. Sie hat nie jemandem etwas getan.“

Sadie hatte Angst, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, deshalb streckte sie ihre Hand nach dem Griff der Autotür aus. „Ich muss los.“

Er trat zur Tür, öffnete sie für sie und sah sie an, während sie einstieg. „Ruf mich an, wenn du reden willst, okay? Ich habe heute später am Vormittag noch Vorlesungen, aber ich habe mein Handy dabei.“

„Vielleicht mache ich das.“

Er schloss die Tür, und sie fuhr davon. Eine Träne kullerte über ihr Gesicht und sie wischte sie weg. Matt hatte sie getröstet, obwohl er Emily wahrscheinlich schon länger kannte als sie. Aber so war er nun mal.

Blair hatte schon öfter vermutet, dass der Collegestudent, der im zweiten Studienjahr war, ein Auge auf Sadie geworfen hatte, aber sie war sich da nicht so sicher. Er hatte sie nie eingeladen, mit ihm auszugehen, jedenfalls nicht zu einem echten Date, aber er hatte in letzter Zeit angefangen, in ihre Kirchengemeinde zu kommen, und hatte sich dort immer neben sie gesetzt. Sie genoss es, Zeit mit ihm zu verbringen, aber sie konnte nicht sagen, ob es jemals mehr als eine Freundschaft werden würde.

Trotzdem war es schön, dass es einen jungen Mann gab, den ihre Gefühle interessierten. Es war wie ein Sonnenstrahl, der durch eine dicke, graue Wolkenschicht brach.

Sie fragte sich, was ihre Mutter dazu sagen würde.

„Also, Miss Sheila Caruso, sagen Sie mir, warum Sie für diese Stelle geeignet sind.“ Der berühmte Marcus Gibson stand wie ein Ankläger vor Sheila. Seine Hände lagen ausgestreckt auf den zwei einzigen Stellen auf seinem Schreibtisch, auf denen nichts anderes lag.

Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Denn in Wahrheit war sie wahrscheinlich gar nicht für den Job als Assistentin eines Autors geeignet, und wenn er wüsste, dass sie wegen Drogendelikten verurteilt worden war und ein Jahr im Gefängnis gesessen hatte, würde er sie auf der Stelle fortjagen. Aber Sadie, ihre Tochter, hatte sie dazu ermutigt, es zu versuchen, und sie durfte sie nicht enttäuschen. „Also, in Ihrer Anzeige haben Sie jemanden gesucht, der Maschine schreiben kann, und ich kann schnell tippen. Ich habe gerade erst auf dem Community College einen Sekretärinnenkurs abgeschlossen. Und ich kann auch mit dem Computer umgehen.“

Sie warf einen raschen Blick zu dem Laptop auf seinem Schreibtisch hinüber und hoffte, dass sie mit diesem ebenfalls zurechtkommen würde. Er sah ganz anders aus als der Computer, den sie in der Schule gehabt hatte.

„Ich brauche auch Hilfe bei der Ablage.“ Er nahm eine weniger anklagende Haltung ein und wedelte mit einer Hand über den Tisch. Er war bedeckt mit wüsten Stapeln von einzelnen Blättern, Zeitschriften und Büchern. „Aber ich möchte nicht, dass jemand herkommt und alles planlos irgendwo hinwirft. Ich habe ein System, deshalb muss derjenige, der diesen Job übernimmt, lernfähig sein. Haben Sie Erfahrung mit so etwas?“

Während er auf ihre Antwort wartete, nahm er einen Panama-Hut von einem der Stapel, stieß leicht mit seiner Faust hinein und schien darüber nachzudenken, was das bewirkt hatte.

„Ähm ...“ Sie zögerte. Sollte sie warten, bis er mit dem Hut fertig war? „Nein, nicht wirklich. Ich habe noch nie für einen Schriftsteller gearbeitet.“

„Gut.“ Er warf den Hut quer durch den Raum, sodass dieser auf einem alten hölzernen Aktenschrank landete. „Genau so jemanden suche ich. Jemanden, der noch keine Erfahrung hat.“

Sie nahm an, das sei sarkastisch gemeint, und ihre Hoffnungen schwanden. Sie wartete auf seine Absage, aber stattdessen fing er an, sich durch einen der Stapel zu wühlen. Schließlich zog er ein Buch unter einem Stoß handgeschriebener Blätter hervor und fing an, es wie wild durchzublättern.

„Was wissen Sie über Forensik?“

Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach einer passenden Antwort. „Ähm ... na ja, nur das, was ich im Fernsehen gesehen habe.“

Er sah sie an, als würde er sie für dumm halten. „Glauben Sie wirklich an den Unfug, den Sie in einem einstündigen, langweiligen Streifen sehen, für den irgendein zweitklassiger Autor aus Hollywood das Drehbuch verfasst hat?“

Sie schluckte. „Ich habe nicht gesagt, dass ich das alles glaube – sondern nur, dass das alles ist, was ich darüber weiß.“

„Also haben Sie während Ihres Gefängnisaufenthalts nichts über kriminaltechnische Ermittlungen gelernt?“

Also wusste er es. Sie räusperte sich. „Woher wissen Sie, dass ich ...?“

„Ich habe Sie gegoogelt.“

Sie starrte ihn an und fragte sich, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Wie bitte?“

„Ich habe Sie gegoogelt. Im Internet nach Ihnen gesucht. Ich weiß alles über Ihre Haftstrafe.“

„Ach so.“ Also war dieses Gespräch nur ein albernes Luftschloss gewesen. Natürlich hatte er sie überprüft. Was hatte sie auch erwartet?

„Ich habe mich im letzten Jahr sehr verändert.“ Sie beugte sich vor, damit er sie besser verstehen konnte. „Wissen Sie, meine Kinder wohnten bei ein paar Leuten hier auf Cape Refuge, während ich im Gefängnis saß. Und als ich entlassen wurde, kam ich dann ebenfalls hierher ... ins Hanover House, damit sie nicht ihre Heimat verlieren.“

Sein Blick wanderte zu seinem Bildschirm hinüber und er fing an, zu tippen. Sie war sich nicht sicher, ob er sich Notizen machte oder seine E-Mails bearbeitete. Sie schluckte und redete weiter.

„Hanover House – vielleicht kennen Sie es, es ist drüben an der Meerenge, das große gelbe Haus gegenüber dem Strand am Ocean Boulevard?“ Er ließ sich nicht anmerken, ob er es wusste oder nicht. „Wie auch immer, es ist so eine Art Resozialisierungseinrichtung mit einem strengen Bibel-Lernprogramm, und es hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.“ Sie merkte, dass sie abschweifte, und ihre Stimme wurde leiser. „Ich habe mich beachtlich weiterentwickelt, und meinen Kindern geht es wirklich gut, und ich weiß, dass ich diesen Job machen kann, wenn Sie mir eine Chance geben.“

Es herrschte eine Zeit lang Stille, die nur von dem Tippgeräusch auf der Computertastatur unterbrochen wurde. Hatte der Mann vergessen, dass sie hier war?

„Ich möchte Sie vielleicht über das Leben im Gefängnis befragen“, sagte er schließlich. „Ich finde das faszinierend. Normalerweise versuche ich mich in meine Charaktere hineinzuversetzen – zu erleben, was sie erleben – aber ich habe es noch nicht geschafft, im Gefängnis zu landen.“

Sie runzelte die Stirn und war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Ähm, ja. Natürlich. Alles, was Sie wissen wollen.“

Er tippte weiter. „Sie bekommen 400 Dollar pro Woche. Für ungefähr 40 Stunden, vielleicht mal etwas mehr oder weniger. Ich brauche Ihre Entscheidung binnen 24 Stunden.“

Sie erstarrte und glotzte ihn an. Hieß das, dass er ihr den Job anbot? Machte ihm ihre Gefängnisstrafe nichts aus?

Als hätte er seine letzte Aussage vergessen, wandte er sich zu der Kommode hinter seinem Schreibtisch um. Sie sah aus, als ob er sie auf dem Sperrmüll gefunden hätte. Eins der Beine fehlte und war durch einen Betonblock ersetzt worden. Er blätterte ein anderes Buch durch. Sie fragte sich, ob er immer noch über die Forensik nachdachte oder ob er schon zu einem anderen Thema gewechselt war.

Offenbar hatte er die Seite gefunden, die er gesucht hatte, und fuhr mit dem Finger über die Abschnitte. „Ich kann nicht in einem Raum mit Ihnen arbeiten. Ich werde meistens nicht da sein, wenn Sie hier sind. Ich mag es, draußen zu schreiben. Das wahre Leben zu erleben. Ich gehöre nicht zu diesen Möchtegern-Autoren, die den ganzen Tag in ihren vier Wänden sitzen und die Seiten mit ihrem Gefasel füllen. Und ich weiß, was Sie gerade denken. Aber dass ich mit Nachschlagewerken arbeite, macht mich keineswegs zu einem schlechteren Autor.“

Sie atmete tief durch. „Oh nein. Ich habe gar nichts gedacht.“

„Ich muss die Sachen einfach sofort überprüfen und Worte, Details, geschichtliche Hintergründe und Erklärungen finden ... Wissen Sie, wie der Knopf an einer Lampe heißt? Das kleine, schwarze Teil, das rein- und rausgeht und das verflixte Ding ein- und ausschaltet?“

„Schalter?“

Er sah ärgerlich aus. „Glauben Sie wirklich, dass ich nicht selbst auf Schalter gekommen wäre?“

„Nein ... Ich ...“

„Macht nichts.“ Er verzog das Gesicht, als hätte er Arsen geschluckt. „Wenn ich etwas hasse, ist es Gestotter aus Unwissenheit. Es wäre die perfekte Metapher gewesen, wenn ich bloß dieses blöde Wort finden würde.“ Er sah sich um, als hoffte er, die Antwort auf einer der anderen mit Stapeln bedeckten Ablageflächen zu finden. „Wenn Sie den Job haben wollen, können Sie morgen anfangen. Die Papiere müssen hier irgendwo rumliegen.“

Sie hielt die Luft an und fragte sich, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Ich möchte den Job“, sagte sie schnell. „Und ich kann gleich morgen herkommen.“

„Gut. Ich habe eine Menge amtlichen Schreibkram hier, den Sie morgen erledigen müssen. Wir wollen der Regierung ja keinen weiteren Grund geben, mich zu belästigen. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

„In Ordnung.“

Er ließ das Buch offen liegen, ging zu einem der Papierstapel und begann, ihn zu durchwühlen. „Ihr Job wird zunächst hauptsächlich darin bestehen, einige meiner älteren Bücher abzutippen. Ich habe sie damals auf einer Schreibmaschine geschrieben, aber mein heutiger Verleger möchte sie neu auflegen und ich brauche sie deshalb auf der Computer-Festplatte.“

„Das kann ich machen.“

„Ich möchte eine ganz genaue Abschrift haben. Es darf kein Komma verrückt sein. Kein Anführungszeichen ausgelassen werden. Es muss genauso sein wie mein Original.“

„Kein Problem.“

„Dann sehe ich Sie morgen.“

Als sie sein Häuschen verließ, atmete sie erleichtert auf. Doch sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich erst noch an seine Marotten gewöhnen musste, wenn sie für ihn arbeiten wollte. Sie redete sich selbst gut zu, dass sie das schaffen würde. Sie war schon mit etlichen schwierigen Typen unter den Vollzugsbeamten und ihren Mitgefangenen klargekommen. Und auch seit ihrer Entlassung musste sie mit den unterschiedlichen Persönlichkeiten im Hanover House klarkommen.

Außerdem würde es vielleicht eine interessante Arbeit werden. Auf jeden Fall kein langweiliger Behördenjob.

Sie konnte es nicht erwarten, Sadie zu erzählen, dass sie die Stelle bekommen hatte.

Der ehemalige Waschsalon, der zur Polizeistation umfunktioniert worden war, war überfüllt mit Pfadfindermädchen aus Cape Refuge. Cade hatte völlig vergessen, dass er Joyce, ihrer Gruppenleiterin, versprochen hatte, dass ihnen an diesem Morgen jemand die Arbeit in der Polizeistation erklären würde. Scheinbar war Alex Johnson für ihn eingesprungen.

Zusätzlich zu den schnatternden Mädchen installierten fünf Computerspezialisten vom GBI die modernere technische Ausstattung, die das Bürgermeisteramt ihnen bewilligt hatte, und legten Kabel, um sie per Internet mit dem Georgia Criminal Justice Information System Network zu verbinden. Myrtle, die Schichtleiterin, saß an ihrem Platz, hatte die Kopfhörer aufgesetzt und versuchte, trotz des Wirrwarrs um sie herum, den Funkverkehr zu verstehen.

Cade stieg über ein paar Kabel und tippte der Gruppenleiterin der Pfadfinder auf die Schulter. „Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander, Joyce. Ich habe vergessen, dass ihr heute kommen wolltet. Und Sie haben sich vorher nicht noch mal gemeldet.“

„Ich dachte, dass das nicht nötig sei, Cade. Ich habe vor drei Wochen mit Ihnen gesprochen, und Sie haben gesagt, dass es klappen würde.“

Er nickte Alex zu. „Nehmen Sie sie mit nach hinten und zeigen Sie ihnen die Gefängniszellen. Und dann können Sie sie mit nach draußen nehmen und ihnen den Schnickschnack in Crowns Streifenwagen zeigen.“

Alex zwinkerte ihm zu. Offenbar hatte er verstanden, dass Cade sie aus dem Gebäude haben wollte.

„Bedankt euch bei Chief Cade, meine Damen“, sagte Joyce. „Er ist ein sehr beschäftigter Mann und hat gerade viel Arbeit.“

„Danke, Chief Cade“, riefen die Mädchen im Chor.

Cade zwang sich zu einem Lächeln, doch ihm war übel dabei, wenn er daran dachte, dass sie alle bald von dem Mord an einem Teenager aus ihrer Stadt – einem Mädchen, das ohne Weiteres ihr Babysitter gewesen sein könnte – erfahren würden.

Als die Mädchen den Raum verließen, sah Cade sich in dem Chaos um. Die Computerspezialisten von der Staatspolizei hatten die Gehäuse mehrerer Computer geöffnet, und Platinen und Peripheriegeräte lagen offen auf den Schreibtischen herum. Zwei Männer lagen bäuchlings auf dem Boden und legten Kabel an den Wänden entlang. Es war der unpassendste Tag für diese Arbeiten, aber er hatte diese Upgrades so nachdrücklich gefordert, dass er die Techniker nun kaum rausschmeißen konnte.

Unmittelbar nachdem Jonathan Cleary – Cades bester Freund und Blairs Schwager – im letzten Jahr zum Bürgermeister gewählt worden war, hatte er begonnen, die nötigen Geldmittel für eine größere und besser ausgestattete Polizeistation aufzutreiben. Bisher war es aber nur ein Traum geblieben. Doch selbst wenn er es schaffen würde, die Zustimmung des Stadtrats zu erhalten und die erforderlichen Mittel zusammenzubekommen, um eine neue Polizeistation zu bauen, würde es mindestens ein Jahr dauern, bis das Cape Refuge Police Department dort einziehen könnte. Bis dahin, so hoffte Cade, würden sie durch die neue Computerausrüstung zum Standard der Polizeieinheiten anderer Städte aufschließen können und so in die Lage versetzt werden, in ihrer kleinen Dienststelle mehr Aufgaben selbst zu erledigen.

Scott Crown saß an seinem Schreibtisch in der Ecke des Raumes, und an seinem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass er immer noch über das nachgrübelte, was heute Morgen passiert war. Cade hatte keine Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern, weil er mit den Lawrences sprechen musste. Stattdessen hatte er Crown angewiesen, seinen Bericht über den Fund der Leiche zu schreiben, und ihn eine Zeit lang in seinem eigenen Saft schmoren lassen.

Aber der Trotz stand immer noch in seinen Augen, als er zu Cade aufsah. „Meine Schicht ist vorbei. Wenn ich nicht mehr für irgendetwas Wichtiges gebraucht werde, kann ich ebenso gut nach Hause gehen.“

„Sie wissen, dass wir alle verfügbaren Kollegen herbeordert haben, um das Flussufer abzusuchen.“

„Dann lassen Sie mich mitsuchen.“

Sein Tonfall klang so, dass Cade ihn gern nach Hause geschickt hätte. Für immer. „Kommen Sie in mein Büro. Wir müssen reden.“

„In Ordnung.“

Cade führte den jungen Mann in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. „Setzen Sie sich.“

Crown setzte sich und verschränkte die Arme wie ein Kind, das einen Verweis erhält.

Cade zog seinen Stuhl hinter den Schreibtisch. „Ich habe keine Zeit auf Ihre Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, Crown. Ich bin kein Babysitter oder Grundschullehrer. Wenn Sie nicht etwas mehr Respekt zeigen und zugeben können, wenn Sie etwas falsch gemacht haben, gibt es in meiner Einheit keinen Platz für Sie.“

„Aber ich ...“

„Ich möchte Ihre Rechtfertigungen nicht hören, Crown. Sie haben es heute Morgen total vermasselt. Es geht hier nicht nur um eine kleine Ordnungswidrigkeit. Sie haben möglicherweise eine Mordermittlung erschwert. Und bis Sie das einsehen und aus Ihren Fehlern lernen, kann ich Sie in meiner Abteilung nicht gebrauchen.“

„Sie hätten mich nicht vor all den anderen zusammenstauchen müssen.“ Crown sank auf seinen Stuhl zurück. „Sie wissen, dass ich versucht habe, das Richtige zu tun. Was glauben Sie, wie ich jetzt dastehe?“

„Ich bin nicht dafür da, Sie gut aussehen zu lassen, Crown. Sie haben selbst dafür gesorgt, dass Sie schlecht dastehen. Sie haben versucht, den Helden zu spielen, und es ist nach hinten losgegangen.“

„Ich kannte sie, okay? Sie ist die Schwester eines Kumpels von mir. Was erwarten Sie da von mir?“

„Ich erwarte, dass Sie sich an die Regeln halten. Sie wussten doch noch gar nicht, wer sie war, als Sie zu dem Boot gewatet sind.“

Seine Lippen kräuselten sich, und Cade rechnete damit, dass er etwas erwidern würde, das ihm einen Kündigungsgrund lieferte.

Doch dann wurde Crowns Gesicht weicher. Seine Lippen zitterten. „Es tut mir leid, Chief. Wirklich. Bitte feuern Sie mich nicht. Ich möchte als Polizist arbeiten. Das wollte ich schon, seit ich ein kleines Kind war. Es war ein Traum, der für mich wahr geworden ist.“

„Das klang aber vorhin nicht so.“

„Ich weiß.“ Er faltete seine Hände zwischen den Knien und schluckte. „Ich hätte Ihnen gegenüber nicht so reagieren sollen. Aber geben Sie mir noch eine Chance, Chief. Ich lerne daraus. Das verspreche ich.“

Cade lehnte sich in seinem Stuhl zurück und tippte mit dem Finger gegen sein Kinn. „In Ordnung, Crown. Aber ich erwarte dann auch, dass Sie sich entsprechend verhalten. Sie halten sich streng an die Vorschriften, verstanden? Sie befolgen die Regeln. Folgen Sie nicht Ihrem Bauchgefühl und tun Sie nicht mehr einfach das, was Sie für richtig halten.“

„Okay.“ In seinem Gesicht konnte man noch einen Rest Ärger erkennen, aber er klang zerknirscht. „Möchten Sie, dass ich mich wieder an die Arbeit mache?“

„Heute nicht mehr. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie ein bisschen. Wir sehen uns, wenn Sie zur Nachtschicht kommen.“

Crown stöhnte, gab aber keine Widerworte. Er stand auf, ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. „Danke, Chief. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Cade sah ihm in die Augen. „Sorgen Sie dafür, dass das tatsächlich so ist.“

Er sah ihm nach, als Crown sein Büro verließ, und hoffte, dass es richtig war, ihn zu behalten. Er stand auf und ging zurück ins Großraumbüro. Durch das vordere Fenster sah er, dass die Pfadfindermädchen auf dem Parkplatz waren, sich abwechselnd in den Streifenwagen setzten und das Blaulicht an- und ausmachten. Er ging zu Sarah hinüber, die Myrtle für die Tagschicht abgelöst hatte. „Haben Sie es schon geschafft, alle Beamten, die eigentlich freihaben, zu erreichen?“

„Die meisten von ihnen. Ein paar sind bereits gekommen und ich habe sie direkt zum Fluss geschickt.“

„Holen Sie sie hierher. Ich muss sie informieren und ihnen ein paar Anweisungen erteilen.“

Er ging zurück in sein Büro. Einer der Computerspezialisten hatte in der Zwischenzeit seinen Schreibtisch in Beschlag genommen, saß auf seinem Stuhl und beschäftigte sich mit seinem Computer. „Was glauben Sie, wie lange Sie noch brauchen werden?“

Der Mann sah auf. „Nicht sehr lange, aber solche Dinge brauchen halt ihre Zeit.“

Cade lehnte sich gegen die Tür. „Ich möchte Sie nicht hetzen. Aber ich muss meine Arbeit erledigen.“

„Na ja, dafür geht alles viel schneller und effizienter, wenn ich das hier aufgebaut habe. Das wollten Sie doch, nicht wahr?“

„Das möchte ich allerdings.“

„Dann ist ja alles klar.“ Offensichtlich hatte der Techniker, der aussah wie Bill Gates, bevor er Milliardär wurde, einen Überlegenheitskomplex. „Ich habe im Radio von dem Mädchen gehört, das ermordet wurde. Ist das Ihr Fall?“

„Nein. Sie stammt zwar aus Cape Refuge, aber sie wurde nicht hier gefunden. Es war außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs.“ Er sah keine Notwendigkeit darin, ihm zu erzählen, dass er lediglich ihren Eltern die Todesnachricht hatte überbringen müssen.

„Verbrecher halten sich eben nicht an Stadtgrenzen.“ Der Techniker tätschelte den Computer. „Dieses Prachtstück wird Ihnen dabei helfen, all die Informationen zu bekommen, die Sie brauchen. Wollen Sie wissen, welche Wiederholungstäter es in Ihrer Gegend gibt? Oder Kinderschänder? Oder Vergewaltiger? Ein Knopfdruck. Wollen Sie Einsicht in FBI-Akten nehmen? Oder in Akten der Polizeibehörden der Bundesstaaten? Wollen Sie die Berichte der Spurensicherung und die Autopsieergebnisse lesen? Mit dem Kriminallabor in Kontakt treten oder die ACIS-Datenbank durchsuchen?“

„Das Meiste davon konnte ich auch vorher schon.“

„Aber nicht so schnell. Ein Knopfdruck, mein Freund, und die ganze Welt gehört Ihnen.“

„Ich freue mich schon darauf.“

Der Mann wirkte so aufgeregt wie ein NASA-Ingenieur beim Start einer Rakete. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich zeige Ihnen, wie alles funktioniert. Wir werden allen, die damit arbeiten sollen, eine Einweisung geben. Können Sie morgen alle hierher bestellen?“

„Das ist schon erledigt. Wir haben das bereits vor einer Woche eingeplant.“

Cade huschte aus dem Raum, sobald sich die Gelegenheit bot, und ging zu dem kleinen Verhörraum. McCormick betrat soeben das Gebäude, gefolgt von zwei Beamten in Uniform, die gerade ihre Schicht antraten. „Kommen Sie alle hierher“, rief er.

Er ging hinein und wartete, während der Rest seiner Einheit sich versammelte.

Als endlich alle da waren, schloss er die Tür und informierte sie über den Mord. Chief Grant hatte Cades Dienststelle um Unterstützung bei den Ermittlungen gebeten, weil das Mädchen aus Cape Refuge stammte. Grant nahm an, dass sie mit informellen Befragungen bei ihrer Familie und ihren Freunden vielleicht schneller zu Ergebnissen kommen könnten als Außenstehende.

Cade hatte gehofft, sie motivieren zu können, heute härter zu arbeiten, aber als sie zurück ins Großraumbüro gingen, wurden die Computer gerade gestartet. Alle versammelten sich um die Monitore, um zu sehen, was das neue System alles konnte. Wie Kinder, die eine neue Playstation bekommen haben, ließen sie sich sofort von dem ablenken, was wirklich zählte: das ermordete Mädchen und die trauernde Familie.

Doch für Cade war das nicht so einfach. Egal, welche alltäglichen Pflichten seine Aufmerksamkeit erforderten, er konnte die schreckliche Tatsache, dass ein Kind aus Cape Refuge grausam ermordet worden war, nicht aus seinen Gedanken verdrängen.

Und der Mörder war noch auf freiem Fuß.

„Ich habe dieses Kinderbett letztes Wochenende auf der Antiquitätenauktion gesehen, Morgan, und dachte, dass es perfekt für Sie wäre.“ Clara Montgomery kletterte auf die Ladefläche ihres Pick-ups und nahm neben dem Bettchen eine Pose ein. „Ich gebe es Ihnen zum Einkaufspreis. Nur fünftausend Dollar. Es ist aus echtem Mahagoni, äußerst stabil und wahrscheinlich schon 100 Jahre alt.“