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Der Bestseller »Unlearn Patriarchy« hat unglaublich viele Menschen inspiriert. Für den Folgeband der feministischen Anthologie versammeln die Herausgeberinnen und Bestsellerautorinnen Emilia Roig und Alexandra Zykunov zusammen mit Silvie Horch weitere prominente Autor*innen und Aktivist*innen, um den so hartnäckigen patriarchalischen Prägungen unserer Gesellschaft nachzuspüren und Möglichkeiten, diese endlich und ganz konkret zu verlernen. In 13 ehrlichen und radikalen Essays beleuchten die Beitragenden die krassen Auswirkungen des Patriarchats auf unser aller Leben. Sie berichten von ihrem eigenen Weg hin in eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und geben Impulse, wie wir internalisierte Muster erkennen und aufgeben können. Ein Must read für alle, die mit der andauernden Ungleichheit zwischen Frau und Mann, weiß und Schwarz, hetero und queer, arm und reich sowie den zugrunde liegenden Strukturen nicht einverstanden sind.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Unlearn Patriarchy 2
Wir müssen immer noch und immer wieder darüber sprechen, wie tief das Patriarchat mit nahezu allen Bereichen unseres Lebens verwoben ist. Teil 2 der feministischen Bestseller-Anthologie macht genau das und gibt neue Impulse, den so hartnäckigen patriarchalen Prägungen und Strukturen in allen Aspekten unseres Alltags nachzuspüren und diese endlich und ganz konkret zu verlernen. In 13 ehrlichen und radikalen Essays entwerfen die Beitragenden eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und helfen dabei, internalisierte Muster zu erkennen und aufzugeben. Ein Must-read für alle, die mit der andauernden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, weiß und Schwarz, hetero und queer, cis und trans*, behindert und nichtbehindert, arm und reich sowie den zugrunde liegenden Strukturen nicht einverstanden sind und diese endlich aufbrechen wollen.
Mit Beiträgen von Melina Borčak, Anne Dittmann, Miriam Davoudvandi, Asha Hedayati, Sarah Vecera u.v.a.
Ullstein
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Ein Buch der Ullstein-Reihe Wie wir leben wollen, herausgegeben von Silvie Horch1. Auflage 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Covergestaltung: Favoritbüro, Büro für Gestaltung, MünchenCovermotiv: © ShutterstockE-Book powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3173-7
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Das Buch
Titelseite
Impressum
intro
glossar
unlearn
körper – Yassamin-Sophia Boussaoud
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architektur – Karin Hartmann
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erziehung – Anne Dittmann
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sport – Ireti Amojo
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ableismus – Rebecca Maskos
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recht – Asha Hedayati
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mental health – Miriam Davoudvandi
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klasse – Saboura Naqshband
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gender pay gap – Alexandra Zykunov
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krieg und genozid – Melina Borčak
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kirche – Sarah Vecera
unlearn
medizin – Mandy Mangler & Gonza Ngoumou
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literatur – Nicole Seifert
die autor*innen
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
intro
Schon als im Herbst 2022 der erste Band Unlearn Patriarchy erschien, war offensichtlich, dass wir alle mit den Impulsen aus diesem Buch das Patriarchat nicht vollständig verlernen können, sondern dass dies nur der Anfang sein konnte. Es war klar, dass es zu viele Themen, zu viele Bereiche in der Gesellschaft gibt, die vom Patriarchat durchdrungen sind und unser aller Leben massiv prägen. Bereiche, von denen viele Menschen gar nicht denken würden, dass dort das Patriarchat überhaupt eine Rolle spielt. Im Recht etwa, der Architektur oder der Medizin. Sind vor dem Gesetz nicht alle Menschen gleich? Können wir uns nicht auf das Gleichheitsrecht im Grundgesetz berufen, das Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Sprache, Behinderung und weiteren Identitätsmarkern verbietet? Bauen wir nicht etwa Gebäude und Städte, die für alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht, gleich geeignet sind und in denen sich alle gleich wohl fühlen sollen? Ist das Medizin-System nicht so beschaffen, dass in der Notaufnahme, bei der Verschreibung von Medikamenten und Therapien allen Menschen gleich geglaubt und geholfen wird? Und weil die Antwort auf all diese Fragen heute immer noch Nein lautet, lag für das Herausgeberinnenteam des ersten Bands auf der Hand, dass noch viele neue Themen patriarchatskritisch durchleuchtet werden müssen. Getragen vom Erfolg und überwältigenden Feedback auf die von ihnen initiierte Anthologie war den beiden Herausgeberinnen Lisa Jaspers und Naomi Ryland klar: Es muss einen zweiten Band geben.
Nun heißt Unlearnen auch, nicht einfach so weiterzumachen wie bisher, die Welt nicht als unveränderbar zu betrachten, sondern, die vermeintliche »Normalität« immer wieder zu hinterfragen. Es geht ja gerade darum, alte Regeln, Muster und Einstellungen infrage zu stellen und abzulegen, damit Platz für Veränderung und Neues entstehen kann. Und so entschieden Naomi und Lisa, einem neuen Herausgeberinnenteam Platz zu machen, damit auch hier etwas ganz Neues geschaffen werden kann. Als sich dann die neuen Herausgeberinnen zusammenfanden, standen wir drei – Emilia Roig, Alexandra Zykunov und Silvie Horch – vor der gleichen großen Herausforderung: Wohin nur mit den ganzen Themen? Ständig entdeckten wir Bereiche unseres Alltags, die wir alle auch noch in das neue Buch hätten packen können. Wir hätten locker dreißig Kapitel benennen und viele hundert Seiten füllen können. Dabei war uns der Leitsatz, der sich schon durch den ersten Band zog, besonders wichtig: nicht in die Falle des privilegierten weißen Feminismus zu tappen. Ja, wir können uns über den Gender Pay Gap von 18 Prozent aufregen – aber nur, wenn wir genauso wütend darüber werden, dass der Gender Pay Gap bei Schwarzen Frauen mehr als 30 Prozent beträgt. Ja, wir können uns darüber echauffieren, dass Frauen eine schlechtere medizinische Behandlung bekommen und mehrere Jahre länger auf eine Diagnose warten als Männer – aber nur, wenn wir uns genauso stark darüber empören, dass Schmerzen und Symptome bei Frauen of Color oder behinderten Frauen noch seltener geglaubt und noch schlechter behandelt werden. Sprich: Uns war zu jeder Minute der Konzeption und der Diskussion mit den Beitragenden bewusst, dass wir nur dann ein zweites Unlearn Patriarchy herausbringen können, wenn Intersektionalität unser größter Anspruch ist und es bis zur letzten Seite bleibt. Denn ein Feminismus – davon sind wir drei ganz fest überzeugt –, der nicht zugleich rassistische, trans*- und homofeindliche, klassistische, ableistische und viele andere diskriminierende Strukturen mitdenkt und gegen diese Unterdrückungsformen kämpft, ist kein echter Feminismus – sondern nur ein Girl-Power-Slogan im patriarchalen Schafspelz.
Dieser zweite Band erscheint in einer Zeit, in der der Backlash groß ist: Das weltweite Reformtempo in Sachen Gleichberechtigung ist auf einem 20-Jahres-Tief angekommen, analysierte die Weltbank 2023. Auch hier, in einem ach-so-aufgeklärten und modernen Land wie Deutschland. Deshalb ist es so wichtig, gerade jetzt und gerade in unserem Land über das Patriarchat zu sprechen, über sein Überdauern, seine stetige Wandlung und sein allerletztes Aufbäumen. Und darüber, wie sehr sein Fortbestehen gerade durch andere Diskriminierungsformen gestützt und am Leben erhalten wird.
Und wenn wir schon bei Unlearn sind: Lasst uns auch endlich diesen ganzen Empowerment-Ansatz unlearnen. Heißt es doch immer: Frauen und anders marginalisierte Gruppen müssten endlich selbstbewusster werden, sie müssten einfach mehr fordern, mehr auf den Tisch hauen, sich vernetzen, unterstützen, ermächtigen – einfach mehr tun. Aber wisst ihr was? Vielleicht sind wir endlich mal an einem Punkt in der Geschichte, an dem Frauen einfach gar nichts mehr müssen. Stattdessen sind jetzt endlich mal die Institutionen dran. Und die Männer, in deren Hand die meiste Macht heute immer noch liegt. Vielleicht sind also endlich mal sie dran, zu lernen und zu unlearnen, Platz zu machen und endlich etwas zu verändern.
Hamburg und Berlin im Januar 2024Alexandra, Emilia, Silvie
Der Begriff »Ableismus« wurde in den 1980er-Jahren von der US-amerikanischen Behindertenbewegung entwickelt. Er leitet sich ab aus dem Englischen ableism und beschreibt Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Menschen mit Behinderung, die als weniger fähig (englisch: able) konstruiert werden. Er stellt Körper, Psyche, Geist und Sinne des Menschen als eine bestimmte Norm dar, die es zu erfüllen gilt; dadurch entwertet er und grenzt Individuen mit davon ›abweichenden‹ Merkmalen aus.
BIPoC ist die Abkürzung von Black, Indigenous, People of Color – und ist die politische Selbstbezeichnung von Schwarzen, Indigenen und nicht weißen Menschen. Die Begriffe entstanden aus Widerstand zu diskriminierenden Fremdbezeichnungen und symbolisieren den Kampf gegen Unterdrückung und für Gleichberechtigung.
Mit dem lateinischen Wort »cis« (deutsch: binnen, innerhalb) werden Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht übereinstimmt. Also ein Mädchen, das sich später auch als Mädchen und Frau versteht oder ein Junge, der sich später auch als Junge oder Mann identifiziert. Es ist der sprachliche Gegenpart zum lateinischen Begriff »trans« (deutsch: darüber hinaus). Der Begriff »cis« unterstreicht, dass nicht alle Menschen sich mit ihrem zugewiesenen Geschlecht identifizieren müssen und vermeidet die Konstruktion, dass nur heteronormativ lebende Menschen als »normal« gelten.
Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht binäre, trans* und agender Personen – also all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Das Gender-Sternchen * am Ende dient als Symbol, um alle weiteren nicht benannten marginalisierten Geschlechtsidentitäten mit einzubeziehen. Dabei sollte FLINTA* aber nicht einfach als Synonym für weiblich gelesene Personen benutzt werden, da auch männlich gelesene trans* und nicht binäre Personen dazugehören.
»Frau« und »Mann« verstehen wir nicht als unveränderliche und objektive biologische Kategorien, sondern als Konstrukte, die sozial, historisch, kulturell und politisch beeinflusst werden. »Den« Mann oder »die« Frau gibt es so natürlich nicht, auch wenn das Patriarchat uns das zu gern einreden würde. Die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten wird im Buch durch das Gender-Sternchen * in Personenbezeichnungen repräsentiert.
Der Begriff der Intersektionalität wurde 1989 von der afroamerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt und beschreibt die Verschränkung und Wechselwirkung (englisch: intersection) verschiedener Unterdrückungssysteme und Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus, Homo- und Transdiskriminierung. Ein intersektionaler Feminismus trägt dem Rechnung, indem er nicht allein patriarchale Strukturen gegenüber weißen heterosexuellen cis Frauen bekämpft, sondern etwa auch die weiße Vorherrschaft, Rassismus, Klassismus, Transfeindlichkeit und viele andere parallel ablaufende Diskriminierungsformen mitdenkt und gleichermaßen kritisiert.
Unter Klassismus versteht man ein Denken und Handeln, das Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft diskriminiert und sie am gesellschaftlichen Aufstieg hindert. Klassistisch sind Menschen, wenn sie andere aufgrund ihres Bildungsstands oder Kleidungsstils, ihrer Ausdrucksweise oder Herkunft, ihres Berufs- oder Kontostandes, ihres Elternhauses und anderer ähnlicher Vorurteile abwerten und benachteiligen. Diese Erfahrung geht bei den Betroffenen oft mit Schuld- und Schamgefühlen und sozialer Isolation einher.
Schwarze Menschen ist eine Selbstbezeichnung und beschreibt eine von Anti-Schwarzem Rassismus betroffene gesellschaftliche Position. Wir schreiben Schwarz groß, weil es sich nicht um eine (Haut)Farbe handelt, sondern um eine soziale und politische Konstruktion in einem globalen Machtgefüge weißer Dominanz.
»weiß« schreiben wir kursiv, weil es sich nicht auf eine biologische Eigenschaft und reelle Hautfarbe bezieht, sondern als Kategorie ebenfalls politisch und sozial konstruiert ist. Weiße Menschen haben eine vorherrschende und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus inne, die durch die kursive Schreibung sichtbar gemacht wird. Weißsein ist ein so unbewusstes wie prägendes Selbst- und Identitätskonzept, das das Verhalten weißer Menschen beeinflusst und sie mit Privilegien ausstattet.
Wenn ich über mich selbst sage oder schreibe »Ich bin fett«, dann fühlen sich sehr viele Menschen verunsichert, überrumpelt oder sogar angegriffen. Vor allem dünne, normschöne Menschen. Und ich könnte hier natürlich mit einer witzigen, leicht verdaulichen Anekdote in dieses Kapitel einsteigen. Es euch Leser*innen angenehm gestalten. Aber das möchte ich nicht. Denn diese Gesellschaft macht absolut gar nichts dafür, dass mein Leben als fette Person auch nur erträglich ist. Fett zu sein bedeutet, jeden einzelnen Tag in meinem Leben gegen ein System anzukämpfen, das meine Existenz nicht aushalten kann. Ein System, das mich lieber sterben sehen würde als leben. Das klingt hart? Ja, das ist es. Dünne Menschen denken beim Thema Fettfeindlichkeit vielleicht an Diskussionen über Schönheit und an fette Körper als Gegenpol zu ihrer Existenz. Menschen denken an Krankheiten, Diäten, Faulheit, Trägheit, mangelnde Disziplin, Dummheit und individuelles Versagen. Ich denke an den täglichen Kampf. Darum, dass ich gesehen werde. Als Mensch.
Wann immer wir uns über Körper im Patriarchat unterhalten, sprechen wir eigentlich über den Ursprung patriarchaler Strukturen. Im Körper manifestiert sich die Unterdrückung, die nicht allein auf der Geschlechtszugehörigkeit basiert, sondern zu der weitere Diskriminierungsformen hinzukommen. Deshalb betrachte ich den Körper aus intersektionaler Perspektive und spreche über Anti-Schwarzen Rassismus, Fettfeindlichkeit, Ableismus, Transfeindlichkeit und Transmisogynie.
Ich schreibe dieses Kapitel aus der Sicht einer fetten, rassifizierten, nicht binären Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Und aus der Sicht einer Person, die zwei Kinder zur Welt gebracht hat. Das führt uns gleich zum ersten Aspekt in einer Reihe vieler Gewissheiten, die wir sehr gern verlernen dürfen.
Insbesondere das Bild der züchtigen, tugendhaften, christlichen Frau wurde im Kolonialismus bewusst genutzt, um nicht weiße Körper zu entmenschlichen und Gewalt an ihnen zu legitimieren. Ein wirklich schreckliches Beispiel für diese Entmenschlichung ist Sarah »Saartjie« Baartman. Sie wurde um 1789 in Südafrika geboren und war eine Khoikhoi. Kolonialisten nannten Menschen wie Saartjie »Hottentotten« – ein gewaltsamer Begriff für die Völkerfamilie der Khoikhoi, der bis heute als Beschreibung für vermeintlich unzivilisiertes Verhalten verwendet wird. Saartjie war eine fette, Schwarze Frau. Mit nicht einmal 20 Jahren wurde sie nach Europa gebracht und dort als »Kuriosität« ausgestellt. Weiße Menschen betrachteten ihren Körper als Form der absurden Unterhaltung. In Großbritannien bekannt als »Hottentot Venus«, in Frankreich als »Vénus hottentote«, wurde Saartjie begafft, verspottet, fetischisiert – entmenschlicht. Ihr Körper war für weiße Menschen nichts weiter als ein Ding, das ihnen »Spaß« bringen sollte. Und das bis über ihren Tod hinaus. Saartjie starb am 29. Dezember 1815, mit nur 26 Jahren. Ihr Körper wurde seziert und konserviert. Und Saartjie ist nur ein Beispiel von unzähligen. Fette, Schwarze und Braune, indigene Menschen und ihre Körper wurden von weißen Menschen ausgebeutet und konsumiert. Sie waren »Forschungsobjekte«, »Vergnügen«, »Besitz«. Diese Verbrechen weißer Menschen müssen als solche benannt und verurteilt werden.
Und die Gewalt wirkt bis heute fort. Nicht normschöne, nicht weiße, dicke, fette, dick_fette, mehr- und hochgewichtige Körper werden auf unterschiedliche Arten entmenschlicht. Ein Teil dieser Entmenschlichung basiert auf geschlechtlichen Stereotypen. Das binäre Geschlechtssystem kennt zwei Kategorien: »Männlichkeit« und »Weiblichkeit«. Was »weiblich« ist, kann nicht »männlich« sein und umgekehrt. »Weiblichkeit« wird von der patriarchalen Gesellschaft als minderwertig abgewertet. Doch noch weiter unten in der Rangfolge befinden sich Personen, die von dieser rigiden Darstellung der Weiblichkeit abweichen: diejenigen, die nicht »weiblich« genug sind, weil sie die fragile, unterwürfige, weiße Schönheit nicht verkörpern. Diese wird definiert von Anti-Schwarzem Rassismus und von Fett- und Transfeindlichkeit.
Auch die Kategorie der gesellschaftlichen »Männlichkeiten«, die innerhalb patriarchaler Strukturen nicht männlich genug oder der »Weiblichkeit« zu ähnlich sind, ist konstruiert. Und spätestens jetzt wird deutlich, wie absurd diese Konstrukte sind: Unsere Körper sind im Patriarchat entweder »weiblich« und somit schwach, sie sind nicht »weiblich genug« und somit wertlos oder sie sind dem »weiblichen zu ähnlich« und somit ebenso Abwertung und Gewalt ausgesetzt. Alle diese Kategorien legitimieren unterschiedliche Arten von Gewalt an nicht normschönen Körpern.
Wir glauben, wir könnten Geschlechter an bestimmten körperlichen Merkmalen festmachen und aufgrund eines Penis oder einer Vulva das Erleben und Handeln eines Menschen oder einer ganzen Personengruppe erklären und festlegen. Doch das ist ein Trugschluss. Ich bin eine Person mit Vulva und Vagina. Ich habe Kinder zur Welt gebracht. Aber ich bin keine Frau. Ich bin nicht binär. Meine Pronomen sind they/them. Das Paradoxe ist, dass mir Menschen vor meinem Outing als nicht binäre Person »Weiblichkeit« immer abgesprochen haben. Als fette, Braune Person war ich nicht »weiblich« genug. Als nicht binäre Person wird mir diese Weiblichkeit dann plötzlich zugesprochen und aufgezwungen.
Die Entmenschlichung und daraus folgende Unterdrückung und Nutzung dieser Körper ist wesentlich für den Erhalt patriarchaler Privilegien. Um es mit einem plakativen Beispiel zu verdeutlichen: Fette Schwarze und Braune Frauen und nicht binäre Menschen dürfen der Gesellschaft gerne dienen und dafür dann auch noch dankbar sein. Wir dürfen putzen, kochen, Nanny sein, in Fabriken arbeiten, überall dort arbeiten, wo man uns nicht sieht. Wir dürfen keine Rechte einfordern, sind nicht sichtbar, werden nicht repräsentiert. Denn es soll uns nicht geben. Aber es gibt uns. Und wir wollen uns nicht verstecken. Wir wollen nicht versteckt werden. Jedoch sind wir vor allem für cis Männer oft nicht mehr als ihr geheimster Fetisch.
Sabrina Strings arbeitet in Fearing the Black Body – The Racial Origins of Fat Phobia heraus, wie die gegensätzlichen Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit entstanden sind, wie sehr sie auf Misogynie und Transmisogynie basieren und mit der Dämonisierung von dicken und fetten Schwarzen und Braunen Körpern verknüpft sind. Auch heutzutage ist das Idealbild einer Frau: zierlich, dünn, untergeben, diszipliniert – und eben auch: weiß. Die Verwirklichung patriarchaler Machtstrukturen. Im Gegensatz dazu steht der üppige, runde, kurvige, dicke, fette Schwarze und Braune Körper. Ein Körper, der in diesem System die allerschönste Rebellion und Revolution darstellt. Schwarzen und Braunen Frauen wurde und wird ihre Weiblichkeit abgesprochen. Denn Weiblichkeit war gleichbedeutend mit Schwäche, und »schwache, weibliche Körper« hätten keine körperlich so extrem harte Arbeit auf Plantagen leisten können. Indem man Schwarze und Braune Frauen nicht als Frauen anerkannte, konnte man ihnen dieselbe Arbeit wie Männern zumuten. Das Absprechen ihrer Weiblichkeit legitimierte Entmenschlichung und Ausbeutung.
In der patriarchalen Gesellschaft ist ein »schöner Körper« ein weißer, dünner Körper. Und ein »guter« Körper ist ein weißer, dünner, gesund erscheinender. Da’Shaun L. Harrison schreibt in Belly of the Beast – The Politics of Anti-Fatness as Anti-Blackness: »Die Schreibweise von Hübsch mit großem H meint viel mehr als nur das äußere Erscheinungsbild und erfordert, über die daraus folgenden strukturellen Vorteile gegenüber Hässlichen Personen nachzudenken. Wenn ich das H in Hübsch, das S in Schön und das H in Hässlich großschreibe, dann möchte ich damit benennen, wer Zugang zu Attraktivitätskapital hat und wer nicht, das heißt, wer Identitäten verkörpert oder besitzt, die zu mehr Chancen, Macht und Ressourcen führen. Genauer gesagt sind ›hübsch‹, ›schön‹ und ›hässlich‹ – wenn sie kleingeschrieben werden – subjektiv. Sie sind keine Identitäten, sondern werden vom Individuum bestimmt. Sie sind dann immer noch im Anti-Schwarzen Rassismus verwurzelt, aber keine strukturellen Identitäten. Wenn Hübsch, Schön und Hässlich großgeschrieben werden, gründen sie im Gegensatz dazu auf den Strukturen, die zur Marginalisierung von Menschen aufgrund ihres Schwarzseins, ihrer Gender(freien)- Präsentation und ihres Körpers führen. Insbesondere in den USA basieren Schönheitsstandards auf Anti-Schwarzem Rassismus, Fettfeindlichkeit, einem normierten Verständnis von Körperformen (Anti-Unförmigkeit), CisHeterosexismus und Ableismus. Daher haben Menschen, die Schwarz, fett, behindert oder trans* sind, in der Regel keinen Zugang zu dem, was als Schön gilt. Allerdings ist es möglich – genau wie in Bezug auf andere Formen des Kapitals –, gleichzeitig verschiedene Identitäten zu verkörpern, die in der modernen Gesellschaft einerseits geschätzt und andererseits marginalisiert werden, weshalb der Begriff ›Privileg‹ nicht konkret genug ist und oft nicht weit genug geht. Attraktivität ist komplex. Die Vorstellung, ein Privileg zu haben, suggeriert, dass Menschen sich gegen dieses Privileg entscheiden könnten, dass diejenigen, die sich nicht schön fühlen, unmöglich vom Schön-Sein profitieren könnten oder dass sie nicht unter der Gewalt gegen das Hässlich-Sein leiden würden. Die befähigende Attraktivitätspolitik und das Attraktivitätskapital legen jedoch nahe, dass Menschen sich nicht hübsch fühlen müssen, um Hübsch zu sein. Sie müssen sich nicht schön fühlen, um Schön zu sein. Sie müssen sich nicht hässlich fühlen, um Hässlich zu sein.«1
Da’Shaun L. Harrison findet hier sehr deutliche Worte für einen Umstand, den wir nur allzu gerne verleugnen: Schönheit ist weißes Kapital und Hässlichkeit mehr als subjektive Wahrnehmung, sie sind gesellschaftlich definiert. Daraus ergibt sich das sogenannte »Pretty Privilege«. Demnach werden als attraktiv geltende Menschen bevorzugt behandelt; ihnen werden positive Eigenschaften zugeschrieben, mit all den daraus resultierenden Vorteilen im Job und Privatleben. Das ist strukturell bedingt und beschreibt, welchen Diskriminierungen normschöne Menschen nicht ausgesetzt sind.
Während normschöne Menschen nicht diskriminiert werden, geht fett und Schwarz zu sein, fett und Braun zu sein, fett und trans*, fett und genderqueer, fett und behindert zu sein mit unterschiedlichen Abwertungen einher. Diese ziehen sich durch vermeintlich »harmlose« Bereiche wie Freund*innenschaften und Dating, über den erschwerten Zugang zu Bildung und Arbeit, bis in den medizinischen Bereich, wo fetten Körpern notwendige Maßnahmen verwehrt bleiben. Ärzt*innen etwa schieben gesundheitliche Komplikationen oft auf das Gewicht und raten den Patient*innen zur Diät, statt weitere Untersuchungen und Therapien zu veranlassen. Oder Medikamentendosen und medizinische Behandlungen werden nicht auf das Gewicht angepasst. Das kann im schlimmsten Falle Menschenleben kosten, und das tut es immer wieder.
Wir wissen ganz genau, dass es Gründe dafür gibt, warum wir bestimmte Menschen automatisch als attraktiver wahrnehmen, als potenzielle Partner*innen in Betracht ziehen und dass dies nur bedingt mit individuellen Vorlieben zu tun hat. Denn in einer Gesellschaft, in der intersektionale Diskriminierungsformen zur alltäglichen Erfahrung marginalisierter Menschen gehören, ist unser ästhetischer Geschmack, ist unser Blick auf Menschen geprägt von sehr stabilen Stereotypen. Das trifft ganz besonders komplex mehrfach marginalisierte Menschen.
Nehmen wir das Beispiel Dating: Die Erfahrungen dicker, fetter, dick_fetter, mehr- und hochgewichtiger Menschen lassen sich zunächst in zwei grundsätzliche Kategorien unterteilen – in Fetischisierung und in eine spezifische Art der Asexualisierung. Die kollektive Fetischisierung zeigt sich vor allem darin, dass dick_fette Körper die mit am meisten gesuchte Kategorie auf Pornoseiten ist, Menschen jedoch öffentlich nicht zugeben würden, dass sie fette Körper anziehend oder gar schön finden. Wir sind der schmutzige Fetisch, das dunkle Geheimnis. Ist ein Mann mit einer dicken oder fetten Frau in Beziehung, so wird ihm ein Fetisch unterstellt. Echte Liebe, nicht fetischisierte Sexualität gibt es für dick_fette Menschen, in dieser Gesellschaft, nicht.
Der andere Pol ist die systematische Asexualisierung. Vor allem Schwarze, Braune dick_fette, mehr- und hochgewichtige Frauen und Schwarze, Braune dick_fette, mehr- und hochgewichtige weiblich gelesene und weiblich misgenderte Personen berichten davon, dass sie als »Big Mama«, als Familienmitglieder, als Schwestern, Geschwister, als Kümmerer*innen eingeordnet werden und nicht als potenzielle Partner*innen in Betracht kommen. Dies liegt am kolonialen, eurozentrischen Gaze. Wir kennen den Begriff Gaze vor allem im Kontext des Male Gaze. Dieser bedeutet übersetzt das »männliche Starren« oder auch der »männliche Blick« und steht für die Darstellung von Frauen und weiblich misgenderten Personen durch die metaphorischen »Augen eines Mannes«. Frauen und weiblich misgenderte Personen werden so entmenschlicht, aus Individuen werden unspezifische Objekte und Projektionsflächen. Meines Erachtens lässt sich diese Theorie auch auf dicke, fette, dick_fette, mehr- und hochgewichtige, nicht normschöne Schwarze und Braune Frauen, weiblich gelesene und weiblich misgenderte Personen anwenden. Denn kaum etwas widerspricht dem weißen, patriarchalen Narrativ so sehr wie ein fetter Schwarzer, Brauner, weiblicher oder weiblich misgenderter Körper.
Um das koloniale Narrativ hinter diesen Zuschreibungen zu verstehen, ist es hilfreich, die Geschichte des Begriffes »Mammy« zu kennen. »Mammy« oder »Mammie« war eine bewusst abwertende Bezeichnung für »Nanny« und wurde ausschließlich für Schwarze versklavte Frauen genutzt, die in weißen Haushalten die Erziehung der Kinder übernehmen mussten. Diesen Frauen wurde häufig die Erziehung, Betreuung und sogar das Stillen ihrer eigenen Kinder untersagt. Sie waren die »Kümmererinnen« weißer Kinder, ohne das Recht auf eigene Grenzen und Bedürfnisse.
Ich selbst bin eine fette, rassifizierte, nicht binäre trans* Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Eines meiner Elternteile ist nordafrikanisch indigen. Ich habe drei Schwangerschaften und zwei Geburten hinter mir. Mein Körper, mein Aussehen, meine Existenz widersprechen dem eurozentrischen, kolonialen Narrativ. Ich gelte nicht als schön, nicht als anziehend oder sexuell reizvoll. Auch mich lesen Menschen als »mütterlich«, als Kümmerer*in, als besonders lieb, als Teil ihrer Familie. Als alles Mögliche, aber gefühlt nie als potenzielle Partner*in, nie als sexuelles Wesen. Meinem fetten, Braunen Körper, meiner Existenz wird Sexualität oft ganz und gar abgesprochen. Das geschieht vor allem durch weiße, normschöne Menschen, aber nicht nur. Es ist keine Seltenheit, dass auch mehrfach marginalisierte Menschen mich in ihrem Leben die Rolle einer Partner*in, eines Partners* einnehmen lassen, ihr Leben und ihren Alltag mit mir teilen, mich aber nicht als romantische, als sexuelle Partner*in in Betracht ziehen.
Natürlich müssen mich nicht alle Menschen attraktiv finden. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich als asexuelles Wesen betrachtet und damit abgewertet und entmenschlicht werde. Schließlich ist Sexualität eines der ursprünglichsten menschlichen Bedürfnisse. Ich darf alles sein, aber keine Sexualpartner*in. Und auch mir sehr nahestehende Menschen dachten, es sei in Ordnung, mir Dinge zu sagen wie »Ich finde dich schon attraktiv, aber du bist für mich halt so geschwister- und familienmäßig – mit solchen Menschen kann ich keinen Sex haben« oder »Ich sehe dich einfach nicht so«, ohne diese Haltung als Folge ihrer Sozialisierung zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Denn es ist kein Zufall, es hat nichts mit persönlicher Präferenz zu tun, dass Menschen wie ich eben so gelesen und eingeordnet werden, dass wir auf »unseren Platz verwiesen« und ausgegrenzt werden. Es ist ein gewaltsames Zusammenspiel unterschiedlicher intersektionaler Diskriminierungsformen.
Fette Menschen sind in dieser Gesellschaft keine romantischen und/oder sexuellen Partner*innen. Wir sind die angenehmen Freund*innen, bei denen Mensch er*sie*they selbst sein kann. Wir sind anregende Diskussionspartner*innen, die besten Ratgeber*innen. Alles. Aber Sex wollen Menschen dann natürlich lieber mit jenen, deren Körper näher am normschönen Ideal sind. Davon kann sich durch die seit Jahrhunderten fortgeschriebenen und durch Werbung und Social Media verfestigten Körperbilder niemand freisprechen. Diese Prägung gilt sogar für Menschen, die selbst von Fettfeindlichkeit und anderen intersektionalen Diskriminierungsformen betroffen sind. Denn der koloniale, eurozentrische Gaze beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Raum. Er ist längst Teil der kollektiven menschlichen Wahrnehmung.
Das Verheerende ist: Selbst wenn wir als mögliche Sexualpartner*innen betrachtet werden, geht das keinesfalls damit einher, dass wir Menschlichkeit zugesprochen bekommen. Da’Shaun L. Harrison findet auch hier sehr starke Worte: »Lassen wir uns nicht täuschen: Fickbar und attraktiv/befähigt zu sein, bedeutet nicht, dass Menschen, die Sex mit einer Schwarzen fetten Person haben, diese als ein gut zu behandelndes Lebewesen betrachten. Und das ist der Grund dafür, dass fette Subjekte oft mit Unsicherheiten leben. Die eigene Fickbarkeit wird nicht von uns selbst, sondern von anderen bestimmt, und es kommt darauf an, ob andere Attraktivität in uns erkennen oder nicht. Für diese Art des Begehrens ist eine politische Auseinandersetzung nicht unbedingt notwendig. Es könnte sich auch um einen Fetisch handeln, fette Menschen als nichts weiter als sexuelle Objekte zu begehren. Fickbarkeit als Attraktivität/Befähigung bedeutet, dass Attraktivität/Befähigung zur Erfahrung des Menschseins gehört. Und als unAttraktiv zu gelten, was Schwarze, fette Personen besonders betrifft, bedeutet, dass die Trennung zwischen dem, was als menschlich und nicht menschlich gilt, aufrechterhalten wird.«2
Was das Schreiben dieses Textes für mich so schwierig macht, ist nicht etwa meine eigene Betroffenheit, sondern der fatale Umstand, dass es keine deutschen Quellen und keine Übersetzungen ins Deutsche von Büchern und Beiträgen zum Zusammenwirken von Rassismus und Fettfeindlichkeit gibt. Denn im deutschsprachigen Raum finden Diskurse zu Körpern fast ausschließlich in relativ privilegierten Personengruppen statt. Dies zeigt sich sehr deutlich anhand von deutschsprachigen Onlinebeiträgen unter dem Hashtag #bodypositivity.
Die Body-Positivity-Bewegung entwickelte sich aus der Fat-Acceptance-Bewegung, die in den späten 1960er-Jahren in den USA entstand. Sie steht für die Befreiung dicker, fetter, dick_fetter, mehr- und hochgewichtiger Schwarzer und Brauner Körper von kolonialen, rassistischen und ableistischen Körperbildern. Doch dieser Hashtag und die damit einhergehende Revolution wurden längst zweckentfremdet. Body Positivity steht nun für die grundsätzliche Abschaffung unrealistischer und diskriminierender Schönheitsideale und stärkt somit vor allem Menschen, deren Körper näher an weißer Normschönheit sind. Normschönere Menschen sind unter diesem Hashtag sichtbarer, bekommen Werbedeals, Buchverträge, werden eher gehört und geachtet und haben darüber Zugang zum weißen Kapital. Patriarchale Wunschbilder und die Kapitalisierung von Körpern verbinden sich. Indem vermeintliche Diversität suggeriert wird, bleiben mehrfach marginalisierte Menschen weiterhin unterdrückt.
Ich möchte, dass wir gewaltvolle Narrative über Körper verlernen, während mein Körper in dieser Gesellschaft das Schlimmste ist, was die meisten Menschen sich vorstellen können. Und dabei befinde ich mich in meinem Fettsein gar nicht mal am Ende des Spektrums. Fette Körper sind hochpolitisch. Und dass uns dies unter dem Deckmantel wachsender, gesellschaftlicher Diversität abgesprochen wird, ist es ebenso. Wir werden unsichtbar gemacht. Nicht zufällig. Nein, wir sollen nicht existieren. Uns soll es nicht geben.
Wie politisch fette Körper sind, wird besonders spürbar in der Medizin und in der Geburtshilfe, wie ich selbst erlebt habe. Ich war schwanger. Und bevor ich gefragt wurde, wie es mir geht, ob die Schwangerschaft gewollt war oder nicht, ob ich Fragen habe, wurde mir von meiner Ärztin erklärt, dass mein Gewicht ein Problem sei. Dass ich als Veganer*in mit meinem fetten Körper sicherlich zu viele Kohlenhydrate zu mir nehme und das in der Schwangerschaft gefährlich werden könne. Es fielen Begriffe wie Risiko, Fettleibigkeit, Diabetes, Schwangerschaftsdiabetes, Verantwortung, Abnehmen, Diät während der Schwangerschaft, Gewicht des Embryos. Ich habe das als extrem übergriffig und taktlos empfunden und sah mich in meinen Erfahrungen bestätigt, dass fette Körper innerhalb der patriarchalen Norm ausgegrenzt und bewusst als krank und defizitär dargestellt werden.
Während meiner Schwangerschaft hatte ich Schmerzen, Blutungen, Kreislaufprobleme und musste ins Krankenhaus. Und auch hier: Niemand wollte wissen, wie es mir geht. Dabei war ich ja gekommen, damit mir geholfen wird und Komplikationen ausgeschlossen werden. Bereits bevor ich untersucht wurde, hieß es: »Durch Ihr Gewicht ist das Risiko für eine Fehlgeburt signifikant erhöht. Wenn Sie eine gesunde Schwangerschaft und ein gesundes Kind möchten, ist eine Abnahme zwingend notwendig.« Während und nach der Untersuchung bekam ich kaum Informationen. Mir wurde nicht erklärt, was in den nächsten Tagen passieren kann, wie ich damit umgehe, bei welchen Symptomen ich zurück ins Krankenhaus gehen sollte. Ich wurde nicht gefragt, ob äußere Einflüsse zur Blutung geführt haben könnten. Ich wurde nicht gefragt, ob ich eine*n Partner*in habe. Mein*e Partner*in durfte mich zu keinem Termin begleiten, obwohl dies zu diesem Zeitpunkt der Corona-Pandemie wieder möglich war. Auf Nachfrage wurde mir erklärt, ich würde dies schon »alleine schaffen«. Wie es mir ging, war vollkommen egal. Als würde mein fetter, Brauner Körper ohne Kopf, ohne Seele, ohne Verstand existieren. Als wäre ich ein Objekt.
Ich war also schwanger – und auf einmal war ich es nicht mehr. In mir waren sehr viele Gefühle. Zu viele, um sie in Worte fassen zu können. Und bevor ich gefragt wurde, wie es mir damit ging, was ich empfand, ehe ich über weitere Schritte nach dem Abgang informiert wurde, bekam ich Tipps, wie die nächste Schwangerschaft besser verlaufen würde. Natürlich hatten alle mit meinem Körper zu tun. Dass ich zwei relativ komplikationslose Schwangerschaften ausgetragen hatte, meinen Körper gut kenne, wurde mir abgesprochen. Die Ärzt*innen taten, als hätte ich zuvor einfach »Glück gehabt«, und mir wurde vermittelt, ich sei selbst schuld an diesem Abort. Mir wurde nicht erklärt, dass statistisch jede dritte Schwangerschaft vor der zwölften Woche endet. Ich wurde nicht ausreichend aufgeklärt. Mir wurde nicht gesagt, dass ich Anspruch auf eine Hebamme habe. Ich war quasi einfach selbst schuld. Als dick_fette, Braune, nicht binäre Person wurde mir das verwehrt, was wesentlich sein sollte in so einer Situation: Empathie, ein achtsamer Umgang und – am wichtigsten – mein Recht auf Aufklärung und eine sorgfältige Behandlung.
Ich weiß, dass ich nicht der berühmt-berüchtigte Einzelfall bin. Mir ist bewusst, dass auch andere schwangere, nicht mehrfach marginalisierte Menschen häufig nicht so betreut werden, wie es richtig und angemessen wäre. Meine marginalisierte Identität spielte hier jedoch eine wesentliche Rolle. Ich war schwanger. Und Ärzt*innen fanden es in Ordnung, meine Grenzen zu missachten und mich zu verletzen – Rassismus und Fettfeindlichkeit unter dem Deckmantel der »Besorgnis«.
Mir war vermutlich nie bewusster, dass mein Körper politisch ist, als im Jahr 2022. In einem Jahr, in dem ich mein Zuhause mit meinen Kindern zusammen und meinen Job verloren habe. Mich selbst fast verloren, fast aufgegeben habe. Ich hatte endlich, endlich eine Antwort auf meine starken Schmerzen. Nach Jahren, in denen ich im Medizinbetrieb ausschließlich rassistische und fettfeindliche Gewalt erfahren hatte. In denen mir genau diese Schmerzen abgesprochen und mein Körper entmenschlicht wurde. Am 29. November 2022 wurde ich nach über zehn Jahren Schmerzen am Unterleib operiert. Ich hatte Ärzt*innen gegenüber immer und immer wieder versucht deutlich zu machen, dass ich während meiner Periode unverhältnismäßig starke Schmerzen habe, dass ich mich bei Bewegungen einschränken muss. Dass ich Schmerzen beim Geschlechtsverkehr habe und das Gefühl, dass da etwas ist, was da auf jeden Fall nicht hingehört. Es war ein kleinerer Eingriff geplant. Drei kleinere Schnitte, eineinhalb, maximal zwei Stunden im OP-Saal, um mich von meinen Schmerzen zu befreien. Ich stellte mich darauf ein.
Um neun Uhr morgens begann meine OP. Als ich um 16 Uhr mit heftigeren Schmerzen denn je aufwachte, wusste ich, dass etwas nicht stimmen konnte. Während der OP hatten sie sich notfallmäßig entschieden, meine Kaiserschnittnarbe zu öffnen, wegen einer überraschenden, aber sehr eindeutigen Entdeckung. Mein Unterleib war überwuchert von einem Tumor, der linke Eierstock als solcher nicht mehr zu erkennen, sondern ein einziges Geschwulst. Der Tumor und damit mein Eierstock wurden entfernt.
Damit hatte ich nicht gerechnet – aber es erklärte, warum ich so viele Jahre unter schlimmen Unterleibsschmerzen gelitten hatte. Nun wartete ich auf die Befunde. Darauf, ob ich mit 32 Jahren Eierstockkrebs hatte oder nicht. Nach vier Tagen kam die Entwarnung. Es waren gutartige Tumore. Ich saß auf meinem Krankenhausbett und weinte. Vor Erleichterung. Vor Freude. Vor Schmerz. Seitdem versuche ich zu heilen. Mein Bauch verändert sich mit jedem Tag. Die Schmerzen werden immer weniger. Ich kann meine Beine endlich so bewegen, wie ich es möchte. Ich spüre, dass da endlich nichts mehr ist, was da nicht sein sollte. Dass mein Körper gut ist, nicht das Problem ist.
Dieser Prozess war nicht so einfach. Denn die Schmerzen nach der OP waren extrem. Die Wochen und Monate danach waren extrem. Mein Körper, meine Seele, mein Herz, mein Bauch – sie erholten sich von sehr viel Schmerz. Und von sehr viel Gewalt. Von all dem, was zu mir gesagt wurde, wie ich angefasst wurde. Die Erfahrungen in der Klinik vor und nach der OP waren noch mal um einiges diskriminierender als während meiner Schwangerschaften. Denn Fettfeindlichkeit ist mehr, als dass es keine passende Kleidung zu kaufen gibt. Fettfeindlichkeit und Rassismus sind mehr als »sich nicht schön finden zu können«. Es geht um unseren Schmerz. Um Leid. Um Leben. Ich bin kein Einzelfall. Die Diskriminierung von fetten Körpern im Gesundheitssystem, insbesondere in der Gynäkologie, ist keine Seltenheit. Der Fat Studies Reader3 – eine Sammlung wissenschaftlicher Essays – hat der strukturellen Benachteiligung fetter Körper in der Medizin ein ganzes Kapitel gewidmet. Und natürlich ist auch dieses 2009 erschienene Werk ausschließlich auf Englisch verfügbar.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie unsere Vorstellung von einem gesunden Leben und gesunden Körper von der Medizin geprägt wird, ist der Body Mass Index (BMI). Der belgische Mathematiker Adolphe Quetelet gilt als Erfinder des BMI, der heute als Standard für die Bewertung des Körpergewichts in Relation zur Größe zugrunde gelegt wird. Mit seiner Formel wollte er jedoch keine Aussage über gesunde und ungesunde Körper treffen, sondern eine mathematische Darstellung des »Normalen« finden. Und was wurde als »normal« zugrunde gelegt? Natürlich der weiße, mitteleuropäische Mann. Und so verwenden wir bis in die heutige Zeit eine zutiefst rassistische Formel und nutzen diese aktiv, um Menschen notwendige medizinische Behandlung zu verwehren. Dies ist besonders relevant in der Gynäkologie und Geburtshilfe. In Deutschland wird beispielsweise vom BMI abhängig gemacht, ob eine Kinderwunschbehandlung durchgeführt wird und ob die Kosten dafür übernommen werden. Auch wird es Menschen mit höherem BMI grundsätzlich untersagt, in einem Geburtshaus zu gebären. Möchte eine gebärende dick_fette Person eine Wassergeburt versuchen, so ist es dem medizinischen Personal gestattet, diese aufgrund des BMIs zu untersagen. Und ja, alle fette Menschen kennen das Argument der Gesundheit und dass ihr Körper krankhaft sei. Dies ist nicht nur ableistisch, sondern auch schlichtweg heuchlerisch. Denn die meisten Krankheiten, die mit fetten Körpern in Verbindung gebracht werden, könnten durch eine diskriminierungssensible Medizin vorzeitig erkannt und nachhaltig behandelt werden. Fettfeindlichkeit verhindert dies. Fette Menschen gehen beispielsweise tendenziell seltener zu Ärzt*innen, denn Ärzt*innen nehmen unsere Symptome nicht so ernst und schieben unsere gesundheitlichen Beschwerden auf das Gewicht. Sie beschämen und stigmatisieren fette Menschen und sorgen so dafür, dass Krankheiten unbehandelt bleiben und sich sogar verschlimmern. In einer Übersichtsarbeit der Yale University aus dem Jahr 2017 zeigte sich, wie sich die Benachteiligung von dicken Menschen in ärztlichen Behandlungen niederschlägt: Für mehrgewichtige und fette Patient*innen nehmen sich Ärzt*innen deutlich weniger Zeit als für dünne Patient*innen und es findet eine mangelnde Aufklärung statt.
Die psychische Belastung, der dicke, fette, dick_fette, mehr- und hochgewichtige Menschen ausgesetzt sind, resultiert aus einer Gesellschaft, die uns schlichtweg hasst. So sehr, dass sie bewusst lieber auf risikoreiche, teilweise lebensgefährliche Operationen wie eine Magenverkleinerung oder einen Magenbypass setzt, als ihren Umgang mit fetten Körpern zu hinterfragen.
Unlearn Körper – das ist so viel. Kaum definierbar. Kaum einzuschränken. Denn es ist mehr als das Akzeptieren eines dicken Körpers, mehr als individuelle Wahrnehmung, mehr als Selbstliebe. Ich kann mich nicht einfach aus meiner Diskriminierung herauslieben. Vor allem nicht in einer Gesellschaft, die bereit ist, alles zu geben, nur um nicht auszusehen wie ich.
Unlearning ist so komplex, weil Fettfeindlichkeit selbst in diskriminierungssensiblen Räumen nicht als intersektionale Diskriminierungsform anerkannt wird. Wir müssen in all diesen Räumen über fette Körper sprechen. Fettfeindlichkeit ist eine intersektionale Diskriminierungsform. Und sie ist genauso schlimm wie alle anderen Formen der Diskriminierung.
Fettfeindlichkeit schließt strukturell aus.
Fettfeindlichkeit verletzt.
Fettfeindlichkeit tötet.
Fettfeindlichkeit zu verlernen ist eine Lebensaufgabe. Für alle. Selbst für davon betroffene Menschen. Sie ist in jedem sozialen Kontext relevant. Dies bestätigen mittlerweile auch Studien, die die Erfahrungen unzähliger Betroffener, deren Expertise in dieser Gesellschaft abgewertet wurde und wird, sichtbar machen. Denn wenn wir fette Körper mit einem nicht verbinden, dann mit Intellekt. Fette Menschen gelten als dumm, disziplinlos, faul, schmutzig, ekelhaft. Das haben wir vor allem einem ach so großen deutschen Denker zu verdanken: Immanuel Kant definierte 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft den vernunftbegabten Menschen. Dieser war natürlich männlich, weiß und existierte im Gegensatz zum »wilden, unzivilisierten« Braunen und Schwarzen Menschen.
Ich könnte noch so lange weiterschreiben. So viele Zusammenhänge versuchen zu erklären. Ich könnte jede fettfeindliche Situation in meinem Leben schildern und aufarbeiten. Aber ich entscheide mich bewusst dafür, dieses Kapitel sanft zu beenden. Denn eines der schlimmsten Dinge, die wir in dieser Gesellschaft erfahren, ist, dass uns als fetten, rassifizierten Menschen unsere Sanftheit abgesprochen wird.
Dein dicker Körper, dein fetter Körper, dein mehrgewichtiger Körper, dein hochgewichtiger Körper darf sein. Du darfst Raum einnehmen. Du darfst tief einatmen und deinen weichen, dicken, fetten, Bauch mit Luft füllen. Ein- und ausatmen und all den Raum einnehmen, der dir zusteht. Du bist wertvoll. Dein Körper ist wertvoll. Du bist nicht das Problem. Du, ja du. Du bist die allerschönste Revolution.
Unlearn Body – unlearn everything.
Bei mir um die Ecke wurde kürzlich ein neuer Park eingeweiht. Ein echter Kiezpark, mit einer in Beton gegossenen Skatebahn, einer Graffitiwand, vielen neuen Bäumen und einer Liegewiese. Er ist sogar inklusiv gestaltetet mit Angeboten für sehbehinderte Kinder und rollstuhlgerechten Wegen und Spielflächen. Eigentlich ein echtes Vorzeigeprojekt – gäbe es genügend Sitzgelegenheiten. Denn kaum waren die letzten Baustellenbänder entfernt, brachten die ersten Leute ihre Campingstühle mit. Die vielen Personen, die ihren Kindern beim Spielen oder Skaten zuschauen – meist Mütter – können sich zwar auf sehr hochwertig gestaltete Bänke aus anthrazitfarbenem Stahl mit Holzlamellen setzen, aber nur wenn sie einen freien Platz erwischen. Nicht jede*r kann und möchte sich auf eine Wiese legen, und auch nicht alle können unbegrenzt lange stehen. Ich selbst war zur Zeit der Eröffnung eingeschränkt und konnte nicht lange laufen. Nach 15 Minuten musste ich wieder gehen. Die Liegewiese war nass und die Bänke waren besetzt. Und damit sind wir beim ersten Problem einer Stadtplanung, die theoretisch für alle konzipiert ist, in der Praxis aber zu einseitig gedacht ist und damit viele von uns ausschließt. Denn wer nutzt am meisten Sitzbänke? Personen, die sich ausruhen oder schlicht Zeit im öffentlichen Raum verbringen möchten, sprich Ältere, Kinder oder Menschen mit Einschränkungen – meistens begleitet von Frauen. Und Eltern, die ihre Kinder begleiten, auch hier meistens Frauen. Wie viele Bänke also in Parks, Fußgängerzonen oder auf Plätzen stehen, zeigt deutlich, welche Lebensrealitäten für die Planung eine Rolle spielten – und welche weniger.
So ist es vielleicht kein Zufall, dass in unserem Park auch Toiletten fehlen. Denn um sich in öffentlichen Räumen länger aufhalten zu können, brauchen vor allem Frauen Toiletten. Sie nutzen sie öfter und länger, weil sie Periodenprodukte wechseln müssen und Krämpfe aushalten oder sie begleiten kleine Kinder oder Ältere dahin. Deshalb brauchen sie viele saubere öffentliche Toiletten und im Verhältnis zu Männern mehr Kabinen für mehr Toilettengänge. Es bleibt unfassbar, dass dieser natürliche (und soziale!) Bedarf nicht längst in den Baunormen verankert ist und Frauen sich stattdessen immer wieder anhören müssen, sie hätten eine »Mädchenblase«. Und auch für Frauen jenseits der Menopause und darüber hinaus bemisst sich die Länge eines Spaziergangs an der Entfernung zur nächsten erreichbaren Toilette. Allein der Anteil von Frauen über 70 Jahren hat sich seit 1970 von 9,9 Prozent auf 17,9 Prozent erhöht.4 Das waren 2018 ca. 7,5 Millionen Frauen. Saubere Toiletten in öffentlichen Räumen haben sie immer noch nicht.
Aber von Sitzbänken und Toiletten mal abgesehen: Was macht eine lebenswerte Stadt überhaupt aus? Ein Ziel der Planung öffentlicher Freiflächen – sei es eine Strandpromenade, ein Opernplatz oder eben ein Quartierspark – ist eine hohe Aufenthaltsqualität. Genau das macht attraktive, lebendige Städte aus: öffentliche Räume, die aus vielfältigen Gründen möglichst lange und von möglichst vielen Menschen allen Alters genutzt werden. Kopenhagen etwa liegt seit einigen Jahren im Ranking der lebenswertesten Städte der Welt unter den ersten Plätzen.5 In ihren lokalen Leitlinien für Architektur und Stadtplanung setzte sich die Stadt 2009 zum Ziel, ihren Bewohner*innen vielfältige öffentliche Flächen anzubieten, die dazu einladen, sie oft und lange zu nutzen: »Unser Ziel lautet: Bis 2015 werden die Kopenhagener 20 Prozent mehr Zeit im städtischen Raum verbringen als heute.«6 Dabei erfüllen öffentliche Räume bei einer intensiven Nutzung ein tiefes soziales Bedürfnis: Teil einer Gemeinschaft sein, sich gegenseitig anschauen, beobachten, sich anlächeln. In Kontakt gehen zu können, ohne es zu müssen. Die kanadische Stadtforscherin Jane Jacobs beschrieb schon 1961, wie viele Augen, die auf den öffentlichen Raum gerichtet sind, auch zu mehr Sicherheit und Verbindlichkeit führen.7 Dieses Wissen ist da und wurde durch die Arbeit des dänischen Architekten Jan Gehl in die ganze Welt exportiert: Ihm und der damals vor Ort zuständigen Janette Sadik-Khan ist es zu verdanken, dass am New Yorker Times Square nun mehr Menschen als Autos zu sehen sind und am Herald Square mittags die Yogamatten ausgerollt werden. Jan Gehl zeigte die Bedeutung des Maßstabs »Mensch« für die Attraktivität von Städten.8
Und doch sind Bedarfe einiger Gruppen von Nutzer*innen im Verhältnis bis heute so gut wie unerforscht. Gerade zu den Bedürfnissen von Mädchen und jungen Frauen gibt es kaum Daten. Denn wen sprechen Bewegungsflächen, Skatepark und Klettergerüste in erster Linie an? Bewegungsfreudige Kinder und Jugendliche. Aber haben sie alle das gleiche Bedürfnis, sich zu bewegen? Erst seit einigen Jahren wächst das Bewusstsein dafür, dass Mädchen und Jungen öffentliche Räume unterschiedlich nutzen. Hier geht es nicht um Klischees entlang der Geschlechterlinie, denn alle Jugendlichen mit wenig Interesse an Sport werden mit diesen kostspielig zu errichtenden Angeboten nicht erreicht. Immer noch gibt es eklatant wenige Untersuchungen dazu. Zwar werden schon seit Jahrzehnten Jugendprojekte ausgewertet, aber die Daten wurden selten nach Geschlecht erhoben. Es gibt kaum konkrete Informationen, die in die Planung einfließen könnten. Anders zum Beispiel als zur baulichen Barrierefreiheit, die in den Landesbauordnungen verankert ist und bei öffentlichen Räumen und Gebäuden inzwischen angewendet werden muss.
Da Mädchen tendenziell anders sozialisiert sind und grundsätzlich mehr »unter Beobachtung« stehen, wünschen sie sich zum Beispiel Orte, an denen sie sich ungestört treffen und unterhalten können.9 Damit ist nicht gemeint, an den Rändern von Spielfeldern herumzuhängen und Jungen beim Bolzen zuzuschauen. Die britische Initiative »Make Space for Girls« bemerkt auf ihrer Internetseite lakonisch: »Die meisten Stadtverwaltungen haben mehr Zeit und Geld für Hundekot ausgegeben als für weibliche Teenager.«10 Mit Case Studies in Barcelona, Kopenhagen, im schwedischen Umeå und eigener Forschung trägt die Initiative Wissen zusammen und bereitet gute Beispiele auf. Eine erschreckende Erkenntnis ihrer Untersuchung ist, dass Mädchen öffentliche Freiräume meiden, wenn zu viele Jungen, insbesondere in Gruppen, anwesend sind, die sie beobachten und ihr Verhalten kommentieren. In einer britischen Studie gaben 59 Prozent der Mädchen an, sie fühlten sich in Parks nicht willkommen, weil die Räume von Jungen dominiert seien.11 Die vierzehnjährige Lily wird mit den Worten zitiert: »Warum sollte ich in den Park gehen? Dort gibt es nichts für mich.«12