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Nur wenn es uns gelingt, das Mantra des scheinbar ewigen Wirtschaftswachstums zu überwinden, können wir unseren Planeten retten und damit unser Überleben als Menschheit sichern. Der Verzicht auf einen alle Maßen sprengenden übermäßigen Konsum ist in Wahrheit gar kein Nachteil, sondern macht uns glücklicher und unsere Welt friedlicher. Eindringlich appelliert der Autor an uns alle, die Grenzen des Wachstums zu erkennen, bevor es zu spät ist. Faktenreich zeigt Helmut von Siedmogrodzki auf, dass die gängigen "Lösungen" in die Sackgasse führen. So ist der Ruf, den Kapitalismus zu überwinden, sinnlos, weil der Sozialismus "Mutter Erde" nicht weniger stark ausbeutet. Ebenso ist es ein Irrglaube, dass der technische Fortschritt den Ressourcenverbrauch eindämmen könnte - im Gegenteil, wie etwa der enorme Strombedarf Künstlicher Intelligenz beispielhaft zeigt. Und das Wachstum auf Pump mit einer schwindelerregenden Staatsverschuldung werden wir alle am Ende teuer bezahlen müssen. Doch Helmut von Siedmogrodzki belässt es nicht etwa dabei, zu sagen, was nicht funktionieren wird, sondern weist konkrete Wege auf, um der Wachstumsfalle zu entkommen . Schritt für Schritt erläutert der Autor die Grundlagen für ein nachhaltiges Wirtschaften. Dabei benennt er drei Schlüsselfaktoren. Erstens die Transformation zu einer Dienstleistungsgesellschaft, in der die bedarfsgerechte Nutzung statt der Besitz von Gütern im Vordergrund steht. Zweitens eine starke Regionalisierung der Wertschöpfungsketten, um einer übertriebenen Globalisierung Einhalt zu gebieten. Und drittens eine Modernisierung des Finanzsystems, das auf Transaktionen verzichtet, die keinerlei Nutzen für die Gemeinschaft bringen Als jahrzehntelang erfolgreicher Unternehmensberater versteht Helmut von Siedmogrodzki sein Werk auch als eine konkrete Handlungsanleitung für die Wirtschaft. Er erklärt methodisch, wie sich Unternehmen zukunftsfähig aufstellen können und die Wirtschaft neu gedacht werden muss, um die Welt für unsere Kinder und Kindeskinder zu bewahren.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für meine Söhne Arndt und Michael
Vorwort
Zeit für einen Paradigmenwechsel
Grenzen des Wachstums
Das Wachstums-Mantra
Gesellschaft im Wandel
Wachstum und sozio-ökologisches Gleichgewicht
Das Jahrzehnt des Handelns
Leben im Überfluss
Die Wegwerfgesellschaft
Falsche Anreize
Kampf um die Lebensräume
Wachstum auf Pump
Die Schuldenfalle
Too big to fail
Die Sackgasse
Die Geldschwemme
Vertrauen auf Innovation
Künstliche Intelligenz
Grenzen des Fortschritts
Kapitalismus versus Sozialismus
Das zukunftsfähige Unternehmen
Agilität und Anpassungsfähigkeit
Nachhaltigkeit ist keine Strategie
Unternehmertum als Dienstleistung
Globalisierung versus Regionalisierung
Unternehmenswertsteigerung mit Nachhaltigkeit
Wirtschaft neu denken
Postwachstum gleich Null-Wachstum?
Sozialleistung statt Materialdurchsatz
Effizienz-Konsistenz-Suffizienz
Grundlagen der Wirtschaft von morgen
Sustainable Finance
Ohne Veränderung geht es nicht
Wer macht mit?
Falsches Vorbild
Schlußwort
Danksagung
Über den Autor
Über das Diplomatic Council
Bücher im DC Verlag
Literaturverzeichnis
Quellenangaben und Anmerkungen
Wir saßen auf der Terrasse des kleinen Cafés der ehemaligen Herrenmühle. Die Kinzig stürzte mit lautem Getöse über das Wehr, sodass man kaum sein eigenes Wort hörte. Heftige Unwetter hatten Deutschland in den letzten Tagen heimgesucht. Gewaltige Regenmassen hatten ganze Häuser weggeschwemmt, Orte verwüstet, Straßen in reißende Flüsse verwandelt; Staudämme brachen unter den Wassermassen ein.
Über 170 Tote hat das Jahrhunderthochwasser verursacht und zahllose Existenzen vernichtet. Die Schäden sollten sich auf mehr als 12 Milliarden Euro summieren. Auch die Kinzig war bis an den hohen Uferrand gefüllt. Die Nachrichten und Talk-Shows hatten tagelang kein anderes Thema. Die Folgen des Klimawandels waren jetzt auch vor unserer Haustür brutal sichtbar geworden. Unser Gespräch führte uns unwillkürlich von den zunehmenden Naturkatastrophen weltweit über die noch andauernde Covid-19 Pandemie zur Bedeutung von Nachhaltigkeit und den begrenzten natürlichen Rohstoffen auf unserer Erde.
„Diese Themen beschäftigen mich schon eine ganze Weile. Endlich finde ich jemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen kann“, erfreute sich meine Gesprächspartnerin. Wie können wir stetig unsere Wirtschaftsleistung erhöhen, unseren Konsum steigern, obwohl die notwendigen weltweiten Ressourcen begrenzt sind und von Jahr zu Jahr geringer werden? Können wir weiter hinnehmen, dass Wälder in ungeheurem Ausmaß gerodet werden, Tier- und Pflanzenarten ausgerottet werden, nur um unseren Konsumhunger zu stillen? Wie lange können wir die Menschen der sogenannten „Dritten Welt“, die für geringes Entgelt und unter teils unsozialen Bedingungen unsere Haute Couture fertigen, in ihren Heimatländern halten und davon abhalten, sich auch ein Stück von dem Kuchen Wohlstand zu nehmen? Schnell mussten wir uns eingestehen, dass wir ja selbst Teil des Ursachensystems sind und eine Lösung nur durch Änderung des eigenen konsumtiven Verhaltens möglich ist. Die Argumente von Fridays for Future und Scientist for Future erschienen uns im Licht unserer Erörterungen gar nicht mehr so radikal. Im Gegenteil, offensichtlich bewirken nur zwingend vorgebrachte Forderungen ein allmähliches Umdenken der Gesellschaft.
Dass wir auf unserem Planeten mit nur begrenzten Ressourcen nicht unendlich weiter wachsen können, ist fast eine Binsenweisheit. Dennoch fällt es uns nach jahrhundertelangem Wachstum und dem unvergleichlichen Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg schwer, uns von liebgewordenen Konsumgewohnheiten zu verabschieden. Nichts anderes wird uns aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Zukunft übrigbleiben.
Es hat 50 Jahre und eine Pandemie gebraucht, bis die Erkenntnisse von Donella und Dennis Meadows in ihrer Studie zur Lage der Menschheit und Zukunft der Weltwirtschaft aufgezeigten Grenzen unseres Handelns im politischen und gesellschaftlichen Alltag angelangt sind.1
Der prognostizierte Klimawandel findet statt und ist nicht mehr zu leugnen. Die Konsequenzen des fortschreitenden, sich beschleunigenden Raubbaus an der Leistungsfähigkeit unseres Ökosystems werden zunehmend sichtbar.
Offenen Auges berauben wir uns der eigenen Lebensgrundlage.
„Die Gretchen-Frage ist doch: Wie überzeugen wir genügend viele Menschen auf allen Kontinenten, sich mit diesem Thema ernsthaft zu beschäftigen und ihr Gesellschafts- und Wirtschaftssystem in eine Balance mit dem Ökosystem der Erde zu bringen?“, schlussfolgerte mein Gegenüber.
Ein 15-jähriges Mädchen hat die Staats- und Unternehmenslenker aufhorchen lassen. Greta Thunberg hat es geschafft, dass ihr die Welt zuhört und eine Bewegung in Gang gesetzt, die Menschen auf der ganzen Welt nachdenklich gemacht hat.
Wir haben Alarmstufe rot erreicht, ermahnte António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, angesichts der unzureichenden Pläne zur Begrenzung der Erderwärmung aller 193 Mitgliedsstaaten in seiner Rede am 18. April 2021 in Malaysia.2
Wir müssen heute die richtigen Entscheidungen treffen, für unser Leben von Morgen.
Helmut von Siedmogrodzki
In Russland verbrennen Wälder von der Größe Siziliens, Naturkatastrophen reihen sich aneinander mit immer verheerenderen Folgen, unsere Fischbestände sind verseucht mit Antibiotika und Mikroplastik, Tier- und Pflanzenarten sterben massenweise aus, Trinkwasser wird ein immer knapperes Gut. Diese und ähnliche Ereignisse sind die Konsequenzen des ungehemmten Raubbaus an den natürlichen Ressourcen und eines unbekümmerten massenhaften Konsums. Unser Wirtschaftsmodell ist auf Wachstum ausgerichtet – nicht nur im Kapitalismus, selbst im kommunistischen China. Ohne Wachstum keine Beschäftigung, keine Investitionen, keine Innovationen und kein Wohlstand – so lautet das Dogma. Nur wohin und wie lange wollen wir wachsen? Es ist eine unbestrittene Erkenntnis, dass endloses Wachstum bei endlichen Ressourcen schlicht unmöglich ist.
„Wer glaubt, exponentielles Wachstum könnte in einer endlichen Welt unendlich weitergehen, ist entweder ein Wahnsinniger oder Wirtschaftswissenschaftler.“ (Kenneth Boulding bei einer Anhörung des US-Kongresses 1973).3
Bei einer Weltbevölkerung von erwarteten 9,7 Milliarden Menschen im Jahr 2050 dürfte unser Ökosystem bei unveränderten Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens und unverändertem Konsumverhaltens an seine Belastungsgrenzen stoßen.
Ende 2015 haben 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die „Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung“ mit 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) vereinbart. Die Agenda zielt darauf ab, Armut zu beenden, den Planeten zu schützen und Wohlstand für alle zu erreichen. Aber was bedeutet Wohlstand? Und geht Wohlstand einher mit größerer Zufriedenheit? Tatsache ist, dass der Katalog der zu den Grundbedürfnissen zählenden Gütern in den Wohlstandsländern stetig gewachsen ist, die Zufriedenheit aber relativ abgenommen hat.4 Mehrere Studien belegen, dass die Zunahme an Lebenszufriedenheit ab einem bestimmten Einkommensniveau nicht nur nicht mehr zunimmt, sondern sogar stark abnimmt.5
Die seit Jahren stärker werdende Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit den Lebensumständen, Selbstzweifel und Misstrauen gegenüber den Regierungen in den westlichen Industriestaaten vor allem in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie mag hierin eine Erklärung finden. Die Urbanisierung hat immer mehr Menschen in anonymen Wohnblocks zusammengebracht und uns gleichzeitig stetig von der Natur entfernt. Wir wünschen uns das Frühstücksei, aber klagen gegen den störenden Hahnenschrei. Die Digitalisierung tut ein Übriges, uns aus dem Rhythmus der natürlichen Zeitenfolgen zu entrücken. Die Folgen sind soziale Armut, Aggressivität und permanente Stresssituationen. In diesem Lebensumfeld bahnt sich eine steigende Unzufriedenheit ihren Weg in Form von gewalttätigen Besuchern von Fußballstadien, Steine werfenden, aggressiven Demonstranten und Angriffen auf unschuldige Bürger.
Landfressende Städte und fortschreitende Vernichtung von Habitaten von Flora und Fauna verengen die Lebensgemeinschaft von Menschen und Wildtieren. Dies wiederum begünstigt die Übertragung von Viren vom Tier auf den Menschen und fördert die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 oder Ebola.
Fortgesetztes Wachstum wird uns am Ende (vielleicht) einen höheren Lebensstandard, jedoch nicht mehr Lebenszufriedenheit bringen. Das ungehemmte Wachstum erschöpft uns selbst und unser Ökosystem. In großen Teilen der Erde werden sich die Lebensumstände dramatisch verschlechtern und eben diesen Wohlstand gefährden. Ein Paradigmenwechsel in der Gestaltung unseres Wirtschaftssystems und unserem Verständnis von Wohlstand ist notwendig.
Zur Schlussfolgerung, dass ein Paradigmenwechsel notwendig ist, kamen bereits die Autoren der Studie „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome 1972. Viele der Annahmen und Ergebnisse wurden in verschiedenen nachfolgenden Studien und der aktuellen Entwicklung des Klimawandels bestätigt.6
Vor allem deren Aussage, dass die abgehenden Winde von Wiederkäuern erheblich zur Erderwärmung beitragen, nämlich durch das freigesetzte Methangas, hat eher zu Lachsalven als ernsten Diskussionen beigetragen. Mittlerweile ist auch dieses Ergebnis Faktum.
Tim Jackson, britischer Wirtschaftswissenschaftler und Professor für nachhaltige Entwicklung, zeigte in seiner aktualisierten Arbeit „Wohlstand ohne Wachstum – das Update“ (2017) einen Weg aus dem „Wachstumsdilemma“ auf: Abkehr von einem materialistischen, exzessiven Konsumismus, der uns anhält, alle sechs Monate ein neues Smartphone, die neueste Mode und alle drei Jahre ein neues schickes Auto zu kaufen, hin zu einer dienstleistungsorientierten Marktwirtschaft, die uns die für unsere Lebensgestaltung notwendigen und gewünschten Güter bereitstellt.
Im Vordergrund dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems stehen nicht mehr Statussymbole, wie das größte und schnellste Auto, die teuerste Wohnung, das schickste Outfit, finanzieller Erfolg und Image, sondern Selbstakzeptanz, Beziehung, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. „Menschen, die sich stärker an diesen inneren Werten orientieren, sind glücklicher und empfinden zugleich mehr Verantwortung für die Umwelt als Menschen mit materialistischen Werten“, drückt es Tim Kasser aus, Professor für Psychologie am Knox College in Illinois.7 Er forscht seit Jahren mit vielen namhaften Kollegen auf dem Gebiet Werte und Wohlbefinden und ist bekannt für seine Studien zu den negativen Auswirkungen von Materialismus.8 „Die Hinwendung zu den „inneren Werten“ des Menschen, statt auf Äußerlichkeiten Wert zu legen, macht sie glücklicher und verbessert die Lebensqualität.“ – so die Schlussfolgerungen aus einer Studie von Professor Helga Dittmar und Kollegen aus dem Jahr 2014.9
Seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert haben die Staaten, vor allem der westlichen, marktwirtschaftlich orientierten Hemisphäre einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufstieg erfahren. Begleitet wurde dieses Wachstumsszenario von technologischen Fortschritten in immer kürzeren Zeitabständen. Es gab zwar auch Rücksetzer während der letzten 100 Jahre, Wirtschaftskrisen, die große Depression, Hyperinflation und Kriege. Doch das Anheizen der Rüstungsindustrie hat den wirtschaftlichen Zusammenbruch nur verzögert, aber nicht verhindert. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen beinahe alle Industriestaaten mehr oder minder wieder am Anfang. Das galt besonders für Deutschland. Der Wiederaufbau Deutschlands und anderer in den Zweiten Weltkrieg verwickelten Staaten stand unter dem unbändigen Willen, die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, Arbeitsplätze zu schaffen und Wohlstand zu erzeugen. Das funktionierte wunderbar mit großzügigen Finanzspritzen aus den USA (dem „Marshall Plan“), einer Währungsreform und kreativem Unternehmertum. Jahr für Jahr stiegen die Löhne, die Arbeitszeiten wurden geringer; der Wohlstand für immer mehr Menschen nahm kontinuierlich zu, unterstützt von einer stetigen Steigerung des Wirtschaftswachstums. Doch trotz eines gehobenen Wohlstands der Allgemeinheit fordern die Gewerkschaften weiterhin höhere Löhne und Gehälter, Unternehmensinhaber wollen höhere Gewinne, die durch eine höhere Produktivität und Kostensenkung einerseits und Preissteigerungen andererseits gesichert werden.
Die Lenker von Kapitalgesellschaften ordnen sich der Forderung der Aktionäre unter, den Unternehmenswert der Investition stetig zu steigern. Kostensenkungsprogramme lösen einander ab, Mitarbeiter werden entlassen, womit die allgemeine Kaufkraft wiederum sinkt. Wohin soll diese Spirale des kontinuierlichen Wachstums führen?
Die Finanzkrise 2007/08 hat die Fragilität dieses Wirtschaftssystems sichtbar werden lassen. Ein weltweiter Zusammenbruch des Finanzsystems und damit einhergehend der Weltwirtschaften wurde nur durch immense Finanzspritzen und das noch hungrige China verhindert. Der frühe Kollaps unseres Finanz- und Wirtschaftssystems wurde durch eine ungeheure Anhäufung von Schulden verschoben. Erneut galt das Mantra, die Wirtschaft muss wachsen, damit Beschäftigung und Wohlstand erhalten bleiben. Die Finanzkrise hätte eine Mahnung sein können, einen Weg zur Neuorientierung einleiten können, doch stattdessen verhalte diese Warnung weitgehend ungehört.
Die Coronavirus-Pandemie hat daran nichts geändert – leider. Der durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ausgelöste breite gesellschaftliche Diskurs drehte sich in der Hauptsache um die Rechte des Einzelnen. Allen voran die Freiheitsrechte. Der Klimaschutz, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen durch unersättlichen Konsum, traten dagegen in den Hintergrund. Doch ohne Natur kann es auch keine Freiheit geben. Welche Freiheitsrechte bleiben uns, wenn Anbauflächen veröden, Landstriche im Meer versinken, die Armut in den Entwicklungsländern steigt und eine ungeahnte Völkerwanderung auslösen wird? Noch während der Pandemie erschallten erneut die Rufe nach dem Wachstum der abgebremsten Weltwirtschaften.
Seit der Finanzkrise 2008 sind die weltweiten Schulden laut dem Institute of International Finance (IIF) um 87 Billionen Dollar auf über 322 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Um die durch Corona verursachte Delle in der Wirtschaftsleistung ihrer Mitgliedsländer auszubügeln, hat die Europäische Union beschlossen, einen Corona-Aufbaufond in Höhe von 750 Milliarden Euro aufzulegen, der – wie sonst? – über Kredite finanziert wird. US-Präsident Joe Biden legte gar ein 2,2 Billionen Dollar-Programm auf. Die Zentralbank der Vereinigten Staaten von Amerika fürchtete sich, den Zinssatz anzuheben, der zahlreiche Staaten in die Zahlungsunfähigkeit treiben würde, und eine zweite weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen könnte. Wir sind unsere eigenen Gefangen des Wachstums-Mantras.
Wir leben in disruptiven Zeiten. Die technologische Entwicklung schreitet in atemberaubendem Tempo voran und lässt die meisten von uns verunsichert zurück. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Internet of Things und Quantencomputer lassen sich nur noch mittels abstrakter mathematischer Formeln erfassen und bleiben für die Allgemeinheit ein Buch mit sieben Siegeln. Unser Verhalten wird durch Algorithmen bestimmt.
Die massenhafte Verarbeitung unserer persönlichen Daten durch marktbeherrschende Konzerne, die uns täglich unsere prognostizierten Wünsche vorstellen, vermitteln ein Gefühl der Manipulation, des nicht mehr selbst bestimmten Handelns. Diesem Gefühl der Ohnmacht stellt sich zunehmend der Wunsch nach Veränderung entgegen. Vor allem junge Menschen machen auf sich aufmerksam und formulieren mit Nachdruck ihre Forderungen nach einem neuen gesellschaftlichen Konsens. Dieser Konsens verlangt nach einem ökonomischen Nachhaltigkeitsmodell, das mit dem ökologischen Gesamtsystem des Erdtrabanten im Einklang steht.
Die Grenzen des Wachstums werden definiert durch die Nachhaltigkeit und Wiederverfügbarkeit der Ressourcen und der Vereinbarkeit mit dem unser Leben ermöglichenden Ökosystem. Die Folgen des weitgehend unbestrittenen, negativen Wandels des Klimas, des fortschreitenden Aussterbens von Tier- und Pflanzenarten, der Zunahme von Naturkatastrophen und Pandemien sind schon heute deutlich sichtbar und setzen die Grenzen für zukünftiges Handeln. Während der technologische Fortschritt wie ein Hochgeschwindigkeitszug an uns vorbeirauscht, zeigen sich die Veränderungen unseres Ökosystems bisher schneckengleich nur in größeren Zeitabständen. Diese generationenübergreifende Langsamkeit macht es uns schwer, die Notwendigkeit zur Änderung unseres Verhaltens als Verbraucher und Wirtschaftende zu erkennen und einzusehen. Allerdings dürfte sich, ohne eine Anpassung an die geschaffenen Konditionen, der Wandel unseres Ökosystems – und damit die negativen Konsequenzen – ebenfalls beschleunigen.
Unzweifelhaft ist die Herausforderung an uns enorm. Verlangt wird nicht weniger als mit Jahrhunderte alten Paradigmen zu brechen. Unser ganzer Wohlstand basiert auf der Annahme kontinuierlichen Wachstums, befeuert durch stetige Innovation. Wie also können wir einerseits den erarbeiteten Wohlstand der Industrieländer erhalten, und dennoch bei zunehmender Weltbevölkerung und riesigem Nachholbedarf der weniger entwickelten Regionen eine Balance zwischen Verbrauch und Angebot an verfügbaren Grund- und Nährstoffen herstellen, und dabei den sozialen Frieden wahren?
Die massiven Eingriffe unseres Wirtschaftens in das globale Ökosystem unserer Erde haben dieses bereits erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht und überfordern schon heute die Regenerationsfähigkeit der Natur in Teilen. Wie schnell sich andererseits die Umwelt wieder erholen kann, sieht man beispielhaft am Wachstum von Fischbeständen in sonst überfischten Gewässern, die während der Coronavirus-Pandemie in Ruhe gelassen wurden.
Politiker, Umweltverbände und Wissenschaftler verfolgen daher den Ansatz der „Entkoppelung“. Fortgeführtes Wachstum soll ermöglicht werden durch effizientere Produktionsverfahren, den vermehrten Einsatz nachwachsender Rohstoffe, den verminderten Einsatz von Materialien, die Reduzierung von Emissionen sowie innovative und umweltfreundliche Produkte. Auch die deutsche Bundesregierung setzte in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie 2021 auf „Entkoppelung“. Aber führen Wachstum und Entkoppelung tatsächlich zu einem Gleichgewicht des natürlichen Lebensraums und der Eindämmung der Folgen des Klimawandels?
Wachstum und Wohlstand kann nicht nur für die westlichen Industrienationen gelten. Die 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben sich verpflichtet, bis 2030 Armut und Hunger weltweit zu beseitigen. Von diesem Ziel sind wir meilenweit entfernt. Gleichzeitig produzieren wir in der westlichen Hemisphäre Nahrungsmittel im Überfluss. Damit nicht genug, vernichten wir Nahrungsmittel und neue Produkte, die keinen Abnehmer gefunden haben, der Preisstabilität und des Wachstums wegen – ein Unding! Das Wohlstandsgefälle in unseren Gesellschaften zu Hause und weltweit ist inzwischen auf ein Maß angewachsen, welches unweigerlich soziale Unruhen anheizt. Die Flüchtlingsströme nach Europa oder von Mittelamerika in die Vereinigten Staaten von Amerika sind nur ein kleiner Vorgeschmack der zu erwartenden Völkerbewegungen und der damit einhergehenden sozialen Auseinandersetzungen.
Millionen von Menschen leben seit Jahrzehnten in eingezäunten Flüchtlingscamps ohne Hoffnung, diesem Rand der Zivilisation je entrinnen zu können. Die auf Wachstum ausgelegten Wirtschaftssysteme werden diese Situation weiter verschärfen. Urbanisierung und die damit verbundene Versiegelung von Anbauflächen, die massenweise Rodung von Wäldern, die Beseitigung der Lebensräume vielfältiger Tier- und Pflanzenarten und die Ausbeutung der in der Erde vorkommenden Rohstoffe haben eine Eigendynamik entwickelt, die als Katalysator den Klimawandel und die Zerstörung unseres Lebensraums beschleunigen.
Olaf Scholz betonte in seiner Zeit als Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland 2021 die Ernsthaftigkeit der Situation: „Wir brauchen eine zweite industrielle Revolution, um die Klimaziele zu erreichen und um unseren Wohlstand zu erhalten.“ Und weiter: „Wenn wir das jetzt verstolpern, gefährden wir unsere Industrie, unsere Arbeitsplätze, unseren Wohlstand.“10
Auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte, „die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele sei beim jetzigen Tempo nicht zu schaffen.“11
Auf ihrem Nachhaltigkeitsgipfel im Jahr 2019 haben die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen postuliert, dass die Sustainable Development Goals im Jahr 2030 nicht erreicht würden, wenn sich aktuelle Trends fortsetzten. Klimawandel, Artensterben und steigender Ressourcenverbrauch stoßen ebenso offensichtlich an planetare Grenzen, wie Gerechtigkeitsfragen zwischen Generationen und Regionen einer Lösung bedürfen.12
António Guterres betonte bei seiner zweiten Vereidigung als Generalsekretär der Vereinten Nationen gegenüber den versammelten Botschaftern: „We are truly at a crossroads, with consequential choices before us. Paradigms are shifting. Old orthodoxies are being flipped.“ („Wir befinden uns wirklich an einem Scheideweg, mit daraus resultierenden Entscheidungen, die uns bevorstehen. Paradigmen verschieben sich. Alte Orthodoxien werden umgedreht.“)
Wie aber soll sich etwas ändern, wenn uns täglich Influencer suggerieren, wir benötigten ein neues Auto, jugendlich trimmende Kosmetika, neue Kleider, ein neues Smartphone, ein größeres Haus und all dies supergünstig, am billigsten, für fast kein Geld. Die Coronakrise hat uns auch diesbezüglich vor Augen geführt, dass diese Produkte zu solch niedrigen Preisen hierzulande gar nicht mehr produziert werden können. Selbst China gilt bei vielen Unternehmen bereits als zu teuer, nachdem Löhne und Sozialabgaben über Jahrzehnte um durchschnittlich mehr als zehn Prozent jährlich angehoben wurden. Seit der Erfindung des Discounters hat sich unsere Gesellschaft zu einer „Ich-will-alles-haben-aber-billig-Gemeinschaft“ entwickelt. Während man in den Anfängen der Discounter-Zeit noch eher abschätzig auf die weniger begüterte Kundschaft der neuen Wettbewerber herunterschaute, tummeln sich heute die Porsche- und Mercedesfahrer ohne Scheu zwischen den Regalen der Billiganbieter. Reich bleibt nur, wer wenig ausgibt!
Kann unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem nur dann überleben, wenn wir jedes Jahr eine üppige Gehaltserhöhung in der Tasche haben, jedes Jahr die Dividende der Aktionäre erhöht wird, die Vergütungen der Star-Unternehmenslenker im dreistelligen Millionenbereich liegen? Müssen Fußballspieler Millionengehälter kassieren, während Kinder in Bangladesch für wenige Cents die Trikots zusammennähen? Am Ende zahlen wir alle die Zeche.
Wir stehen an einem Scheidepunkt, sagte António Guterres. Die vor uns liegenden notwendigen Veränderungen mögen uns genauso utopisch erscheinen wie die Abkehr von den Pferdefuhrwerken im 19. Jahrhundert und ihr Ersatz durch autonome Fahrzeuge im 21. Jahrhundert. Die heutige Generation Z wird sich kaum noch die mit vielen Zylindern und noch mehr PS bebilderten Auto-Quartettkarten legen. Den Adrenalinschub des durchgetretenen Gaspedals eines 600 PS-starken Boliden werden diese Nachkommen nur noch in einem Motodrom erleben. Selbststeuernde, komfortabel ausgestattete Kommunikationsvehikel, die auf Abruf in wenigen Minuten verfügbar sind, bringen die Menschen der Zukunft geräusch- und emissionslos an ihr Ziel. Das Auto, lange Zeit ein Statussymbol, wandelt sich zurück zu seiner ursprünglichen Bestimmung: dem Transport.
Entkoppelung und disruptive Technologien alleine werden nicht ausreichen, um unsere Lebensräume zu erhalten. Wir müssen unser Verhalten und unser Wirtschaftssystem grundlegend verändern. Dies muss indes nicht notwendigerweise auf