Unserer Zukunft auf der Spur - Bettina Ludwig - E-Book

Unserer Zukunft auf der Spur E-Book

Bettina Ludwig

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Beschreibung

"Menschliche Verhaltensmuster, soziale Regeln und gesellschaftliche Strukturen, die wir als universell hinnehmen, sind dies nicht. Und ja, manche von ihnen können wir ändern." Es kursieren eine ganze Menge Annahmen und Überzeugungen darüber, was den Menschen ausmacht. Wir wollen immer mehr, als wir haben. Wir sind eine gewalttätige Spezies. Wir sind getrieben und haben niemals genug Zeit. Hinter diesen Glaubenssätzen lauert die Idee von der "Natur des Menschen". Die Kulturanthropologin Bettina Ludwig stellt mit ihren Forschungen unser Welt- und Menschenbild auf den Kopf. Sie nimmt uns mit zu Jäger-Sammler*innen-Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hierarchien anders funktionieren, als wir es gewohnt sind. Sie erklärt, warum Spurenlesen die Urform der Wissenschaft ist und zeigt schlüssig auf, dass Menschen vor allem kulturell bedingt handeln, und nicht, "weil sie eben so sind". Aus dem Blick zurück entwickelt Ludwig eine Vision für eine Gemeinschaft, in der Diversität der Normalfall ist, und bricht damit eine Lanze für Optimismus und eine gute Portion Realismus.

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UM/WELTNR.3

BETTINA LUDWIG

UNSERER ZUKUNFTAUF DER SPUR

WER WIR WAREN,WER WIR SIND,WER WIR SEIN KÖNNEN

Inhalt

Vorwort

1ANTHROPOLOGIE – DEM MENSCHEN AUF DER SPUR

Kulturanthropologie – was ist das eigentlich?

Was müssen wir über den Menschen lernen, um seine Zukunft zu erahnen?

Fallstudie:Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften

Die Ju/’hoansi

2AUF SPURENSUCHE IN UNSERER VERGANGENHEIT

Homo wer?

Spurenlesen

Homo scientia?

3EIN WEG, DIVERSE SPUREN

Spuren der Zeit

Das Knappheits-Paradigma

Gewaltsames Miteinander?

Naturverbundenheit entmystifizieren

4ZUKUNFT HEISST, SPUREN HINTERLASSEN

So sind wir eben… nicht.

Über Zeit

Über Naturverbundenheit

Über Eigentum

Über Gewaltbereitschaft.

Fazit: RealistInnen sind nicht weltfremd

Anhang

Vorwort

Die Zukunft stellt uns alle immer wieder vor Rätsel. Obwohl wir wissen, dass sie nie wirklich greifbar sein wird und nur bedingt planbar, versuchen wir gleichzeitig immer mehr über sie zu erfahren. Dieses Buch verfolgt dasselbe Ziel. Was müssen wir über den Menschen erfahren, um zu verstehen, dass wir für die Zukunft gemacht sind? Das ist die Frage, die uns durch die folgenden Seiten leitet. Die Antworten haben viel zu tun mit kultureller Diversität, der Fähigkeit zur Wissenschaft und ganz zentral auch mit einer lange wenig beachteten und einzigartigen Fähigkeit des Menschen: dem Spurenlesen.

Dieses Buch entstand als Folge einer Beobachtung, die sich vor allem während der globalen Pandemie immer mehr bemerkbar machte: Menschen stellen die Zukunft in Frage. Ist die Welt von Morgen tatsächlich für uns gedacht – und sind wir für sie gerüstet? Die unaufhaltbare Schnelllebigkeit unserer Zeit, die Anhäufung unnützen Besitzes, eine scheinbar steigende Gewaltbereitschaft und die moralische Entkoppelung von der Natur sind jedenfalls Phänomene, welche vielen von uns nicht zukunftswürdig erscheinen. Die folgenden Kapitel zeigen, dass all das weder zur Zukunft noch zur Gegenwart gehören muss. Dazu begeben wir uns auf die Spuren der Kultur von Jägern und SammlerInnen in der Jetzt-Zeit. Wir erfahren, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, in der Zeit keine große Rolle spielt, in der die Tage nicht in Stunden und die Jahre nicht in Monate eingeteilt werden. Wir setzen uns mit der Frage auseinander, ob der Mensch von Natur aus gewaltbereit ist oder nicht. Wir decken so manchen Mythos auf, wenn es um die sagenumwobene Naturverbundenheit bei sogenannten Naturvölkern geht. Und wir sehen uns an, wie es sich in einer Welt lebt, in der es kein Konzept von Besitztum gibt. Der Dreh- und Angelpunkt all dieser Beispiele ist Kultur, die Fähigkeit, die es uns als Menschen ermöglicht, Diversität zu leben und unterschiedlichste Formen des Zusammen-Lebens zu entwickeln. Es geht darum, zu begreifen, dass der Mensch von kultureller Diversität zehren kann, sie braucht, um Zukunft zu denken. Weg von Zurück-zum-Ursprung-Gedanken schreiten wir gedanklich in die Welt von morgen.

Ein weiterer Fokus meiner Forschung als Kulturanthropologin liegt auf der Kunst des Spurenlesens. Wir erfahren, warum Spurenlesen ein zentraler Aspekt des Lebens unserer steinzeitlichen Vorfahren war und warum uns diese Tatsache heute immer noch betrifft. Spurenlesen, soviel vorweg, hat uns alle zu WissenschaftlerInnen gemacht. Wir sprechen darüber, wie uns wissenschaftliches Schlussfolgern dabei hilft, unsere eigenen Spuren wahrzunehmen, zu interpretieren und – das ist vor allem für den Blick in die Zukunft von großer Bedeutung – dass es uns ermöglicht, von unseren vergangenen und gegenwärtigen Spuren zu lernen.

Als Anthropologin möchte ich einen Diskurs anstoßen, bei dem es nicht nur um Zahlen, Statistiken und virologische Daten geht, sondern auch um einen philosophischeren, einen menschlicheren Zugang. Große Fragen wie „Was ist Kultur?“, „Wo liegt der Ursprung der Wissenschaft?“, „Was ist Zeit?“ werden angesprochen, wissend, dass es darauf keine finalen Antworten geben kann und es dennoch wichtig ist, diese Fragen zu stellen. Gerade jetzt.

Der neue Blickwinkel auf die Definition von Wissenschaft ist wertvoll in einer Zeit, in der diese oft in Frage gestellt, kritisiert und gleichzeitig hochgelobt wird. Auf der Suche nach dem Ursprung von Wissenschaft ist sie als einzigartige Fähigkeit des Homo sapiens zu begreifen, die im Laufe der Evolution sein Überleben sicherte. Diese Fähigkeit tragen wir alle seither in uns. Und das ist gut so, denn sie hilft uns dabei, in die Zukunft zu navigieren.

Diversität ist ein Begriff, der heute weder aus gesellschaftlichen Debatten noch aus der Politik und Wirtschaft wegzudenken ist. Auf den folgenden Seiten deckt er ein breites Spektrum ab, denn er bezieht sich auf die gesamte Menschheitsgeschichte. Denken wir groß, weit und über unsere Komfortzone hinaus.

In diesem Buch wird ein starker Fokus auf Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften gelegt. Sowohl auf jene, die heute existieren, als auch auf jene, die wir als unsere steinzeitlichen Vorfahren bezeichnen. Meine persönliche Reise zu und mit den Jägern und SammlerInnen begann 2014. Damals durfte ich bei der Organisation einer internationalen Konferenz zum Thema Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften in Wien mitwirken. Alle zwei bis drei Jahre trifft sich die internationale ForscherInnen-Community, um die neuesten Erkenntnisse in diesem Fachgebiet miteinander zu teilen. AnthropologInnen, ArchäologInnen, LinguistInnen, BiologInnen kommen zusammen, um über menschliche Organisationsformen zu debattieren. Für mich als Studentin erschloss sich damals eine völlig neue Welt. Es beindruckte mich nachhaltig, dass so viele ExpertInnen sich an einem Ort trafen, um über den Menschen nachzudenken und seine unterschiedlichen Formen sozialer, politischer und ökonomischer Organisation zu diskutieren. Ab diesem Zeitpunkt ließ mich das Thema nicht mehr los und ich begann selbst nachzuforschen. Ich tauchte immer tiefer ein in solche Fragestellungen wie „Wie und wo leben Jäger und SammlerInnen?“, „Wie sieht der Alltag dieser Menschen aus, worüber denken sie nach, was ist ihnen wichtig?“, „Wie kommt es, dass diese Menschen sich scheinbar so anders organisieren als ich das von der Gesellschaft kenne, ich der ich groß geworden bin?“ Eine faszinierende Reise begann. Ich tauchte ein in das Leben von Gemeinschaften, deren Mitglieder vom Jagen, Fischen und Sammeln lebten. Ich recherchierte zu Menschen, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche draußen leben. Ich lernte, dass es von einigen dieser Gesellschaften keine Aufzeichnung zu deren Grammatik und Sprache gab. Doch was mich am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass diese Gesellschaften politisch, ökonomisch und sozial nach völlig anderen Regeln funktionierten, als ich das gewohnt war. Diese Diversität zu Beginn erst einmal nur zu erahnen, war faszinierend.

Später stellte sich heraus, dass die Auseinandersetzung mit Jäger und SammlerInnen mich sehr viel mehr über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft unserer Menschheit lehrte, als ich das hätte erahnen können. Ich lernte zu verstehen, dass die sogenannte Gesellschaftsvergleichende Forschung uns einiges über die Natur des Menschen lehren kann. Gleichzeitig begriff ich, dass sie uns viel über allgegenwärtige Missverständnisse rund um eben diese Natur verät. Jene über Zeit, Naturverbundenheit, Gewaltbereitschaft und Besitztum greife ich in den folgenden Kapiteln auf.

2017 ließ ich schließlich all meine Bücher hinter mir und begab mich auf meine erste Feldforschungsreise in die Kalahari, nach Namibia. Ich lernte die Welt der Ju/’hoansi Jäger und SammlerInnen kennen.

In diesem Buch teile ich Erkenntnisse aus der Praxis sowie aus der Theorie. Meine anthropologischen Forschungen haben mir gezeigt, warum wir für die Zukunft gemacht sind und warum es wichtig ist, sowohl die gegenwärtigen als auch die prähistorischen Spuren der Menschheit aufmerksam zu lesen, wenn wir optimistisch in die Zukunft gehen wollen.

1

ANTHROPOLOGIE – DEM MENSCHEN AUF DER SPUR

Kulturanthropologie – was ist das eigentlich?

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden mit dem Begriff Kultur oft Aspekte wie kulturspezifische Kleidung, Essgewohnheiten, Rituale, Bräuche oder Lebensstile in Zusammenhang gebracht. Der Fokus liegt dabei meist auf Gesichtspunkten des kulturellen Lebens.

Spricht man in der Anthropologie von Kultur, wird die Sachlage etwas komplexer. Tatsächlich führen WissenschaftlerInnen bereits eine jahrhundertelange Debatte über das Konzept Kultur, die verschiedenste Blickwinkel in sich vereint. Obwohl der Begriff so zentral für die Kultur- und Sozialanthropologie ist, finden wir daher in der Wissenschaft keine einheitliche Definition. Umso wichtiger ist es zu beschreiben, was in diesem Buch gemeint ist, wenn von Kultur die Rede ist.

KULTUR HEISST, ÜBER SYMBOLE ZU KOMMUNIZIEREN

Stellt man sich die Frage, wie Menschen soziale und kulturelle Informationen untereinander vermitteln, landet man bei der symbolhaften Kommunikation. Menschen haben die Fähigkeit, über Symbole zu kommunizieren, was es ihnen wiederum ermöglicht, Kultur zu leben. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbolen. Während ein Zeichen auf ein anderes Ding oder Ereignis hinweist, repräsentiert ein Symbol ein anderes Ding oder komplexes Ereignis. Beispiele für Zeichen sind die Höhe von Quecksilber im Röhrchen eines Thermostats, das die Temperatur anzeigt, ein Schild mit einem Bild von einem Mann oder einer Frau an der WC-Tür, das darauf hinweist, ob der Eintritt gestattet ist oder nicht, oder ein Schild mit einem Hurrikan, das eine Warnung signalisiert.

Ein Symbol hingegen erfüllt eine viel komplexere Funktion. Stellen wir uns ein christliches Kreuz vor. Dieses Stück Holz oder Metall repräsentiert ein ganzes religiöses Glaubenssystem und weist auf seine Mythen, Traditionen und Praktiken hin. Um dieses Symbol zu schaffen, zu verstehen und zu verwenden, muss man ideologische und abstrakte Sinnbezüge verarbeiten können. Ein weiteres Beispiel wäre ein Ehering, welcher für die komplexe, abstrakte und kulturbezogene Idee eines Bandes der Liebe und Treue steht.

Noch klarer wird es, wenn man den Unterschied zwischen Mensch und Tier in Bezug auf ihr Kommunikationssystem betrachtet. Der rationale Beobachter wird zustimmen, dass es unmöglich für einen Hund oder Affen ist, ein Verständnis für die Bedeutung eines christlichen Kreuzes zu haben oder die Symbolik eines Eherings zu erfassen. Keine Kuh würde sich selbst als heilig bezeichnen und kein Vogel würde den Unterschied zwischen dem Wert eines Diamanten und eines Kieselsteins verstehen. Was wir sehen ist, dass Wörter letzten Endes sowohl Symbole als auch Zeichen für Menschen sind, aber für Tiere sind sie lediglich Zeichen. Macht ein Hund auf einen gegebenen Reiz hin eine Rolle, so hat er nicht selbst entschieden, wie dieser Reiz auszusehen hat. Ob es ein Handzeichen oder ein Laut ist, entscheidet der Hundebesitzer. Der Hund selbst spielt dabei eine passive Rolle. Er lernt die Bedeutung eines mündlichen Kommandos genauso wie seine Speicheldrüsen lernen können, auf den Klang einer Glocke zu reagieren. Beim Menschen ist das anders, wir erschaffen selbst Zeichen und Symbole. Wir lassen Gold zu einem wertvollen Edelmetall werden, erfinden ein Notensystem für die Schule und schaffen es, das Abnehmen einer Kopfbedeckung in einem Gotteshaus als Zeichen des Respekts zu verstehen. Der Mensch geht über die bloße Sinnesverarbeitung hinaus und versteht es, einem Zeichen eine komplexere Bedeutung sowie einen symbolischen Charakter zu verleihen.I

Die symbolhafte Kommunikation des Menschen ist eine der Grundvoraussetzungen für die vielen und diversen kulturellen Settings, die wir in der Geschichte sowie in der Gegenwart erkennen. Um sich das Ausmaß an kulturellen Möglichkeiten und Eventualitäten auszumalen, können wir uns daran halten, was der Anthropologe Marshall Sahlins schrieb: „Wir werden mit dem Rüstzeug für tausend verschiedene Leben geboren (…), obwohl wir letzten Endes doch nur eines führen.“II

KULTUR IM GESELLSCHAFTSMODELL

In der Kultur- und Sozialanthropologie steht die Analyse der Gesellschaft im Vordergrund. Um Kultur als Teil davon zu verstehen, müssen wir uns erst einmal fragen, was Gesellschaft eigentlich ist. Denn beide sind eng miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig.

Gesellschaft ist ein Begriff, der in unterschiedlichsten Kontexten Verwendung findet. PolitikerInnen sprechen von Interessen der Gesellschaft, JournalistInnen von der Stimmung einer Gesellschaft und ÖkonomInnen vom Wiederaufbau der Gesellschaft. Nicht immer geht damit eine strikte Definition einher. Bei einer Gesellschaft handelt es sich in diesen Fällen meist, ganz allgemein, um die Gesamtheit von Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen leben. Um für die Wissenschaft wiederverwertbare Daten zu erheben, muss der Begriff genauer definiert werden. Ein Zugang in der Anthropologie, auf den sich auch die Inhalte der nächsten Kapitel stützen, ist es, Gesellschaft als lebenden Organismus zu skizzieren. Dieses Grundmodell geht auf mehrere große Denker zurück, darunter bereits die Philosophen Platon und Aristoteles. Als Begründer der Soziologie arbeitete auch Auguste Comte damit. Ab dem 19. Jahrhundert entwickelte es sich stetig weiter und ist bis heute in der Anthropologie in unterschiedlichen Nuancen in Verwendung. Ihnen allen gemein ist das Bild von Gesellschaft als Organismus, dessen Einzelteile jeweils spezifische Funktionen innehaben und gleichzeitig eng zusammenarbeiten. Der Mechanismus, der für den Zusammenhalt des gesamten Organismus sorgt, ist Kultur.

Um den gesamten Gesellschafts-Organismus besser zu verstehen, untersucht man in der Kultur- und Sozialanthropologie unterschiedlichste Aspekte. So prüfen AnthropologInnen beispielsweise demografische Daten, untersuchen das vorherrschende Verwandtschaftssystem einer Gesellschaft, erforschen die Entwicklung von Technologien, rekonstruieren die Evolution politischer Organisationen, modellieren historische Kontakte zwischen Gesellschaften und vieles mehr. Während Demographie, politische Struktur oder Verwandtschaftssysteme die Einzelteile ausmachen, ist Kultur das Informationsnetzwerk zwischen ihnen.

Zentral in Bezug auf dieses Netzwerk ist die Akkumulation von Wissen, das der Mensch über Generationen zusammenträgt und das aufeinander aufbaut. Was ist damit gemeint? Blickt man ins Tierreich, so lernen Krähen zum Beispiel von ihren Eltern, dass man eine Nuss knackt, indem man sie auf den Boden wirft und darauf wartet, bis ein Auto sie überfährt. So wird es auch die Folgegeneration machen und auch die nächste und die nächste. Menschen hingegen haben früher Nüsse mit Steinen geknackt, heute entwickeln sie Autos. Wissen und Know-how wird immer komplexer beziehungsweise kann es sich verändern. Durch den Mechanismus Kultur schaffen wir es, unsere Erfahrungen und unser Wissen aufeinander aufzubauen.

Die Sache mit der Kultur sowie die Definition von Gesellschaft sind komplexe Unterfangen und beschäftigen WissenschaftlerInnen mitunter ihre gesamte Karriere hindurch. Modelle wie diese helfen, trotz aller Komplexität, Erklärungsansätze für gesellschaftliche Phänomene aufzustellen.

Nehmen wir das Bild von Kultur als Mechanismus und Gesellschaft als Organismus mit, wenn wir uns auf die Spuren unserer Zukunft machen.

DIE NATUR (DES MENSCHEN)

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist es ein beliebtes Hilfsmittel, Kultur der Natur gegenüberzustellen, um sie zu definieren. Dabei umfasst Natur meist all jenes, das von selbst ist, wie es ist. Kultur hingegen ist das, was der Mensch hervorbringt oder verändert. Ist das tatsächlich so?

Nun, die Debatte um den Begriff Natur ist eine, die ebenso lange existiert wie die Disziplin der Anthropologie selbst. Und auch hier sind duale Annahmen wiederzufinden. Es gibt also, wie schon bei der Kultur, auch hier nicht die eine Definition. Historisch betrachtet ist das Verständnis, das wir heute von Natur haben, jedenfalls ein relativ junges. Es stammt aus der griechischen Antike. Erst seit etwa 3000 Jahren trennen wir Natur und Kultur konzeptionell voneinander. Spätestens Aristoteles führte die Unterscheidung zwischen physis (Natur) und téchne (Kunst, Wissenschaft und Technik) ein. Von da an wandten sich Denker also immer mehr vom Weltganzen ab und begannen zu differenzieren. Heute verbindet man Natur in der „westlichen Welt“ meist mit der Idee der natürlichen Umwelt, also mit all dem, was außerhalb der eigenen vier Wände passiert. Innerhalb unserer Wohnungen sprechen wir nicht von Natur. Begeben wir uns in den Wald, sprechen wir von Natur.

In diesem Buch beinhaltet der Begriff Natur nicht nur die Außenwelt wie zum Beispiel Bäume, Gewässer und Tiere, sondern auch abstrakte Konzepte wie die Natur des Menschen. Diese philosophische Sichtweise meint mit Natur alles, was wir auf diesem Planeten wahrnehmen und somit nicht nur Materielles. So ist eben auch der Mechanismus Kultur ein Teil davon. Damit ergibt sich die Idee, dass Kultur in der Natur des Menschen liegt.

1Ist in diesem Buch die Rede von AnthropologInnen, sind Kultur- und SozialanthropologInnen gemeint. Der Einfachheit halber wird teilweise die abgekürzte Form verwendet.

Was müssen wir über den Menschen lernen, um seine Zukunft erahnen zu können?

Innerhalb der Anthropologie befasst man sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart des Menschen. Auch in diesem Buch liegt der Fokus sowohl auf unserer Vergangenheit – dem Leben in der Steinzeit – als auch auf der aktuellen kulturellen Diversität auf unserem Planeten. Am Ende werden uns beide Perspektiven dabei helfen, uns mit der Zukunft des Menschen zu befassen. Wie können wir Gemeinschaft neu denken? Wie kann eine von Diversität gestützte, kulturelle Neuordnung aussehen, das heißt: Welche gesellschaftlichen Strukturen, Werte und Normen können und wollen wir in Zukunft leben? Die Zukunft ist zwar nicht vorhersagbar, jedoch vorstellbar. Uns Gedanken darüber zu machen, wie wir morgen leben könnten, ist schließlich unumgänglich, um gesellschaftliche Visionen greifbar zu machen. Zukunft braucht den Mut, Kultur neu zu denken. Es ist nicht nur an der Zeit, Kultur als Konzept besser zu verstehen, sondern auch unser Zusammenleben teilweise neu zu kalibrieren. Abläufe, Werte und Normen, die als naturgegeben hingenommen werden, sind dies nämlich oft nicht. Die vergleichende anthropologische Forschung liefert dafür Beweise. So werden wir Beispiele dafür sehen, wohin unsere Kulturfähigkeit uns führen kann. Wir erfahren, dass Konzepte wie Zeit oder Besitztum nicht universell sind und demzufolge auch wandelbar.

Worüber wir uns ebenfalls Gedanken machen müssen, wenn es um Zukunftsvisionen geht, ist unser Menschenbild. Hierbei handelt es sich um die Vorstellung, die man vom Wesen des Menschen hat. Das Menschenbild ist Teil des eigenen Weltbildes und umfasst die Gesamtheit aller Überzeugungen darüber, was und wie der Mensch von Natur aus sei, wie er in seinem sozialen und physischen Umfeld lebt, welche Werte und welche Ziele sein Leben haben soll.

Ein komplexes Thema. Die vielen verschiedenen Beschreibungen, die im wissenschaftlichen sowie im alltagsgebräuchlichen Kontext herumschwirren, sind ein klares Indiz dafür, dass man sich nicht einig ist über diese eine Natur des Menschen. Im Gegenteil, es herrscht sogar eine umfassende Debatte darüber, was uns Menschen überhaupt zum Menschen macht. Allein in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, sei es in der Psychologie, der Archäologie oder auch der Anthropologie, ist man sich keineswegs einig, wenn es um die Frage geht, was den Menschen in seinem Fundament ausmacht.

Medien, Politik oder soziale Debatten sind gespeist von uneinheitlichen Informationen und Vorstellungen. Für die einen ist der Mensch ein homo oekonomikus, für andere nicht. Für manche ist der Mensch gesteuert von seinen Fortpflanzungstrieben, für andere nicht. Für manche ist der Mensch ein innovationsgetriebenes Tier, andere sehen das nicht so. Und diese Uneinigkeiten verwirren.

In einer Sache ist man sich jedoch, wenn auch größtenteils unbewusst, einig. Hinter vielen landläufigen und auch wissenschaftlichen Sichtweisen steckt oft ein Bild, das wir, ohne es zu bemerken, immer wieder reproduzieren. Es ist das Bild vom Menschen als Tier, das gebändigt werden könnte. Der Mensch soll sich im besten Falle kultiviert verhalten. Das natürliche, triebgesteuerte Geschöpf soll zum kulturell angepassten Wesen werden. Berühmte Denker wie der englische Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der italienische Philosoph Niccoló Machiavelli oder John Adams, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten prägten im Laufe der Geschichte diese Conditio Humana.

Nun, diese Ansicht beinhaltet zwei folgenschwere Annahmen. Zum einen, dass der Mensch ein komplexes Tier sei, und zum anderen, dass der Mensch aus seinem Naturzustand heraus verändert werden müsse. Damit einher geht die bereits erwähnte kategorische Trennung der Kultur von der Natur.

Aus anthropologischer Perspektive muss die erste Annahme auf die kulturellen Unterschiede zwischen Tier und Mensch geprüft werden. So deuten zum Beispiel die sprachliche Vielfalt innerhalb der Spezies Mensch, die Idee, Bildungsgrade zu definieren oder aber die Fähigkeit, einen Ring als Treueversprechen zu interpretieren auf die Tatsache hin, dass Tier und Mensch sich nicht graduell unterscheiden, sondern qualitativ. Kulturfähigkeit wie hier definiert ist nur dem Menschen inhärent.

Die zweite Annahme deutet darauf hin, dass der Mensch ein von seiner Natur getriebenes Wesen sei, das in ein kulturelles verwandelt werden kann und soll. Der triebgesteuerte junge Mann, das ungezügelte Kind, die hormongesteuerte Frau – Rollenbilder, die uns allen nicht fremd sind. Sie und andere sind Teil unserer Alltagskultur.

Woher kommen diese Bilder und vor allem: Inwiefern gilt es sie zu überdenken? Dazu machen wir in Kapitel 4 eine kurze Reise in die Geschichte. Wir versuchen zu verstehen, wie es zum Bild des Menschen als zu bändigendes Tier gekommen ist und warum es bis heute fixer Bestandteil unserer Welt ist. Denn wenn uns die Anthropologie eines lehrt, dann ist es die Notwendigkeit, die Dinge und wie sie sich uns darstellen, ständig zu hinterfragen. Werte und Rahmenbedingungen auf ihren Kontext zu überprüfen, hilft demnach, irrtümliche Schlussfolgerungen über die Natur des Menschen aufzudecken.

EIN NEUES MENSCHENBILD, EINE NEUE WELTANSCHAUUNG

Um gesellschaftliche Strukturen an die Herausforderungen im Hier und Jetzt – und perspektivisch auch in der Zukunft – anzupassen, braucht es in mancher Hinsicht eine neue Weltanschauung. Es ist an der Zeit, den Menschen wieder ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Damit meine ich nicht seine technologischen Errungenschaften oder seine wirtschaftlichen Erfolge, wobei beide Aspekte nicht verteufelt werden sollten. Nehmen wir uns Raum und Zeit dafür, darüber nachzudenken, wie der Mensch eigentlich funktioniert, was ihn ausmacht und was er braucht. Denken wir dann über (neue) Strukturen für das Zusammenleben der Menschen nach. Stets mit Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der heutigen Welt.

Man hört immer wieder, den Menschen würde das Leben zu schnell, Besitz sei unbefriedigend verteilt, Gewalt solle abnehmen und der Natur beziehungsweise dem Klima solle mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Stimmen, die nach einem Umbruch, nach Veränderungen rufen, werden immer lauter.