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Es gab Erinnerungen, die hätte Avary liebend gern gelöscht. Dazu gehörten die letzten, die sie gemacht hatte, bevor sie sich selbst abgeschaltet hatte. Der grausige Cyborg, der sich selbst General Ko nannte, hatte Chris Alcon niedergeschossen. Feige und gnadenlos hatte er den Menschen ermordet, den Avary liebte, und das vom ganzen Herzen – und Androiden besaßen ein Herz, da konnten die Spötter und Androidenhasser sagen, was sie wollten. Avary war überzeugt, dass sie sogar mehr Herz hatte als so mancher Mensch, auch wenn ihres nicht schlug, kein Blut durch ihren Körper pumpte und nur auf metaphorischer Ebene existierte.
Dieses Herz hatte ihr zu zerbrechen gedroht, als sie gesehen hatte, wie General Ko aus einem in seiner künstlichen Hand verstecken Schussapparatur auf Chris gefeuert und ihn niedergestreckt hatte.
Er hatte Chris direkt in die Brust getroffen und …
Cover: STEVE MAYER
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Teil 4: Unter fremder Kontrolle
von P. J. Varenberg
© by author
© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)
www.alfredbekker.de
Der Umfang dieses Ebook entspricht 36 Taschenbuchseiten.
Bei Avary Sax waren Erinnerungen Daten. Daten, die auf Mikrochips und anderen Speichermedien abgespeichert waren, je nachdem, wie wichtig diese Daten waren. Vergessen konnte sie nur, wenn einer dieser Speicher beschädigt wurde. Oder wenn man ihn löschte. Doch das konnte sie nicht selbst. Sie war darauf angewiesen, dass ein Mensch das für sie übernahm. Ein anderer Androide hätte ihr den Gefallen nicht getan, da hätte sie ihn noch so sehr darum bitten können. Denn die Erinnerung eines Androiden zu löschen, bedeutete, seine Persönlichkeit zu verändern. Denn das machte einen Androiden, eine Künstliche Intelligenz ihrer Generation, aus – Erinnerungen. Das galt bei ihnen noch mehr als bei Menschen, bei denen genetische Determinierungen mit in die Persönlichkeit hineinspielen konnten, kulturell bestimmtes Verhalten, ein gesellschaftlich-genetisches Kollektivbewusstsein, dessen Existenz man Mitte des 21. Jahrhunderts bewiesen hatte.
Androiden einer Baureihe waren rein physiologisch gleich. Natürlich war ihr Verhalten abhängig von ihrer Programmierung. Aber die Persönlichkeit einer KI entstand durch persönliche Erfahrungen.
Es gab Erinnerungen, die hätte Avary liebend gern gelöscht. Dazu gehörten die letzten, die sie gemacht hatte, bevor sie sich selbst abgeschaltet hatte. Der grausige Cyborg, der sich selbst General Ko nannte, hatte Chris Alcon niedergeschossen. Feige und gnadenlos hatte er den Menschen ermordet, den Avary liebte, und das vom ganzen Herzen – und Androiden besaßen ein Herz, da konnten die Spötter und Androidenhasser sagen, was sie wollten. Avary war überzeugt, dass sie sogar mehr Herz hatte als so mancher Mensch, auch wenn ihres nicht schlug, kein Blut durch ihren Körper pumpte und nur auf metaphorischer Ebene existierte.
Dieses Herz hatte ihr zu zerbrechen gedroht, als sie gesehen hatte, wie General Ko aus einem in seiner künstlichen Hand verstecken Schussapparatur auf Chris gefeuert und ihn niedergestreckt hatte.
Er hatte Chris direkt in die Brust getroffen und …
Er ist tot!, schoss es Avary durch den Kopf. Chris ist tot!
Innerlich schrie sie auf vor Schmerz.
General Ko und seine scheußlichen Söldner, die sich selbst die Schwarze Garde nannten, hatten Avary vorübergehend ausgeschaltet und dann ihren künstlichen Körper gelähmt. Und Ko hatte sie verhöhnt, sie betatscht und …
Auch Androiden hatten Stolz und konnten Entwürdigung empfinden. Avary hatte sich einfach ausgeschaltet. Was General Ko ihr auch antun mochte, sie konnte es nicht verhindern. Doch sie wollte es wenigstens nicht erleben, es direkt erleiden.
Denn auch diese Erinnerung hätte sie nicht einfach löschen können. Es war besser, dass gar nicht erst gespeichert wurde, was geschah.
Jetzt war sie wieder „erwacht“. Etwas war in ihre Systeme eingedrungen und hatte sie „geweckt“.
Avary versuchte erneut, sich selbst abzuschalten, aber das gelang ihr nicht. Etwas blockierte den Befehl. Irgendeine fremde Programmierung.
Man war in ihre Systeme eingedrungen, hatte sie abgeändert, sie überschrieben?
Avary erschrak. Der Gedanke war entsetzlich. Gleichbedeutend für einen Menschen, wenn er aus der Bewusstlosigkeit erwachte und feststellen musste, dass man ihn einer Gehirnoperation unterzogen hatte.
Man war in ihre Persönlichkeit eingedrungen!
Sie schlug die Augen auf, fuhr hoch!
Und blickte sich gehetzt um.
Sie war nicht mehr an Bord der Schwebebarke. Sie befand sich in einem Raum. Und sie lag auf einer breiten Pritsche, die mit einem hellen Stoff bezogen war. Der Raum war recht groß, die Einrichtung mehr als spartanisch. Dennoch wirkte er luxuriös. Er bestand ganz aus gemasertem Marmor - die Wände, der Boden –, und es schien sich sogar um echten Marmor zu handeln.
Außer der Pritsche, die sich in der Mitte des Raumes befand, gab es nichts außer einem Becken, etwa einen halben Meter im Quadrat und in der Form einer Muschel, die auf einer Marmorsäule ruhte. Ein schmaler Wasserstrahl sprudelte etwas mehr als zehn Zentimeter in die Höhe, um dann ins Becken zu gluckern.
Es gab eine große, zweiflügelige Tür aus dunklem Holz, das ebenfalls echt wirkte. Avary allerdings bezweifelte, dass sie es war. Jedenfalls war es fein bearbeitet, zeigte kunstvolle Ornamente. Die altmodische Klinke war aus Messing.
Ihr gegenüber lag ein großes Fenster, verhangen mit einem durchscheinenden Vorhang, durch den das helle Licht einer Sonne strahlte, die sich im Zenit zu befinden schien.
Avary fand diesen Raum mehr als seltsam. Er schien keinem wirklichen Zweck zu dienen, dabei war er aus so wertvollen Materialien erbaut. Das war geradezu verschwenderisch. Außerdem war sie davon überzeugt, sich noch immer auf Bao zu befinden, einer ehemaligen Kolonie der Menschen, wo man Rohstoffe und Bodenschätze abgebaut hatte. Dort gab es Arbeiter und Angestellte, sicher auch solche, die besser verdienten. Aber dieser Raum hätte eher in den Amtssitz eines hoch stehenden Politikers oder in den Palast eines Aristokraten einer weniger fortschrittlichen Welt gehört.
Noch etwas war ihr sofort aufgefallen. Sie selbst funktionierte wieder einwandfrei und verspürte keinerlei Beeinträchtigung. Hatten ihre eigenen Systeme sie wieder so vollständig repariert? Nein, das war nicht möglich. Jemand hatte eingegriffen, hatte Hand an sie gelegt. Auch wenn er ihr damit geholfen hatte, so war ihr der Gedanke unangenehm. Sie verspürte keinerlei Dankbarkeit.