Unterwegs im weiten Land - Dagmar Weidinger - E-Book

Unterwegs im weiten Land E-Book

Dagmar Weidinger

0,0

Beschreibung

Seit 2014 führt die preisgekrönte Journalistin Dagmar Weidinger Gespräche mit bedeutenden Vertreterinnen und Vertretern der internationalen Psychotherapie-Szene sowie aus angrenzenden Bereichen. In dem Gespräch mit Verena Kast etwa wird der kollektive Schatten und die Angst vor dem Fremden beleuchtet, die Gespräche mit dem Theologen Eugen Drewermann und dem Kulturwissenschaftler Walter Ötsch handeln existenzielle Themen ab. Die Gespräche bleiben nie im Rahmen einer einzelnen Disziplin verhaftet, vielmehr werden Fragen der Psychotherapie ausgeweitet in den Bereich der Spiritualität, Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaft und in die persönliche Biografie der Gesprächspartner. Warum war etwa die Schweizer Hypnosetherapeutin Silvia Zanotta als Jugendliche Sängerin in einer Punk-Band oder welches Leben hätte die Feministin Bettina Zehetner ihrer eigenen Mutter gewünscht? Es gibt mehr als einen Ansatz, die verschlungenen Wege der Psyche aufzuspüren und Leid zu lindern. 17 Gespräche mit Menschen aus unterschiedlichen Sozialberufen geben spannende Einsichten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 258

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Copyright © 2022 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Freud Museum London

ISBN 978-3-7117-2121-1

eISBN 978-3-7117-5468-4

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

DAGMAR WEIDINGER

Unterwegs im weiten Land

Gespräche über die Psyche

Picus Verlag Wien

Für meinen Sohn Jan und meinen Partner Martin, mit denen ich oft im Alltag »Gespräche über die Psyche« führen darf – manchmal sogar beim Zähneputzen:

JAN: »Mama, was ist der Sinn deines Lebens?«

DAGMAR: (langes Überlegen, dann ausführliche Erklärung) …

JAN: »Mama, kurz, in wenigen Worten!«

DAGMAR: »Ein Leben in Einklang mit der Natur und den Menschen um mich. Und wie ist das bei dir, Jan?«

JAN: »Ein Leben in Einklang mit Lego.«

INHALT

Rudolf Anschober

Vorwort

Einleitung

Verena Kast

Gefühle sind unsere Orientierung

Eugen Drewermann

Gott möchte, dass wir uns selber finden

Richard Picker und Gerhard Bauer

Das glauben Sie ja selber nicht!

Franz Ritter und Martin Tauss

Der wesentliche Faktor ist innere Ruhe

Michaela Nowak und Klaudia Gehmacher

Jeder Mensch ist psychosefähig

Silvia Zanotta

Wer sich schämt, möchte verschwinden

Bettina Zehetner

Frauen trauen ihrer Wahrnehmung zu wenig

Angelika Grubner

Ich möchte meine Finger in manche Wunde legen!

Martha Pany

Genesung ist jederzeit möglich

Eva Jaeggi

Man braucht den Partner so, wie er ist

Harville Hendrix und Helen LaKelly Hunt

Imago behandelt die Beziehung

Wolfgang Krüger

Zuerst stoßen Sie immer auf ein Schweigen

Bernhard Schlage

Genealogie kann heilend wirken

Rainer Dirnberger

Man kann auch auf der Matte Nein sagen lernen

Elisabeth Dokulil

Die schlimmsten Käfige bauen sich die Menschen selbst

Heinz-Peter Röhr

Hass ist eine Droge

Alfred Pritz

Jeder Mensch hat seine eigene Ökobilanz

Ingrid Riedel

Das Robbensterben hat mich aufgeweckt

Walter Ötsch

Raus aus der kollektiven Trance!

Dank

Biografien

Weiterführende Literatur

Über die Autorin

VORWORT

In der Zeit der Pandemie gab es einen wichtigen Grundkonsens in unserer Gesellschaft: Der Gesundheit wurde die erste Priorität eingeräumt und dem Staat die hauptsächliche Verantwortung gegeben, diese Gesundheit als starker Staat zu schützen. In meiner Zeit als Gesundheitsminister war es allerdings von Anfang an ein zentrales Thema, wie stark wir zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit unterscheiden. Etwa bei den Schutzmaßnahmen. Aber die Pandemie hat uns auch gezeigt, wie hoch entwickelt die Qualität unserer medizinischen Betreuung von körperlichen Erkrankungen ist und wie ausgeprägt auch die Budgets für diesen wichtigen Lebensbereich sind. So sind im Laufe von Jahrzehnten völlig unterschiedliche Ansprüche und Standards für die Arbeit für körperliche und psychische Gesundheit entstanden.

Das Ziel muss daher langfristig die Gleichstellung sein. Es darf nicht sein, dass es für eine notwendige therapeutische Arbeit im Bereich unserer psychischen Gesundheit Wartezeiten von Monaten gibt.

Stellen wir uns Ähnliches bei körperlichen Verletzungen vor: Ein Patient, der mit seinem Beinbruch wieder nach Hause geschickt wird mit dem Hinweis, dass es erst in vier Monaten entsprechende Operationsmöglichkeiten gibt. Ein gesellschaftlicher Aufstand wäre die Folge.

Im Bereich der psychischen Gesundheit fehlt es oft an Ressourcen – dies nimmt unsere Gesellschaft häufig als Realität zur Kenntnis.

Aber es ändert sich auch vieles: Vor allem Tabus werden gebrochen. Der prominente Fußballspieler, der über Depressionen spricht, die Tennisspielerin, der die Freude abhandengekommen ist und die unter Tränen darüber spricht, der Kabarettist, der in ehrlichen Worten seine Erschöpfung beschreibt und sich für einige Monate verabschiedet.

Wir lernen darüber zu sprechen, wir lernen Tabus zu beenden, wir lernen zu unserer Verletzlichkeit und unseren Verletzungen zu stehen. Ein wichtiger Schritt.

Ich habe daher am Beginn meiner Tätigkeit als Gesundheitsminister alle im Bereich der psychischen Gesundheit Tätigen an einen runden Tisch gerufen mit der Fragestellung, wie eine gute Zusammenarbeit zwischen aktiv im Gesundheitssystem Tätigen und der Politik verwirklicht und eine Stärkung des Gesamtbereiches von psychischer und körperlicher Gesundheit umgesetzt werden könnte.

Unumstritten ist: Es braucht mehr Ressourcen – viel mehr Ressourcen. Und Zugangsmöglichkeiten für alle. Voraussetzung dafür ist etwa eine Erleichterung des Zugangs zur Ausbildung durch Schwerpunkte beim Ausbau wie etwa in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie, Demenztherapie oder die gezielte Erweiterung von Traumatherapie auch auf der muttersprachlichen Ebene. Wir brauchen dafür Stipendien für den Zugang zur Ausbildung, wir brauchen Clearingstellen für einen bedarfsgerechten Zugang und eine massive Erhöhung der vorhandenen Ressourcen.

Es ist die Aufgabe der Politik, diese Weichenstellungen zu schaffen.

Die Pandemie bringt in vielen Bereichen eine historische Zäsur. Sie bringt Veränderung und birgt damit neben all dem Leid und der Sorge auch Chancen in sich.

Die Interviews in diesem Buch empfehlen auch aufgrund kluger Fragestellungen der Autorin für jede Leserin und jeden Leser in vielen konkreten Praxisbeispielen Zugangsweisen unterschiedlicher therapeutischer Ansätze.

Walter Ötsch spricht in seinen Antworten unter anderem von der Bedeutung der guten Bilder für die Zukunft. Etliche Beiträge in diesem Buch skizzieren solche guten Bilder und geben damit eine Antwort, warum wir viel mehr Aufmerksamkeit, Raum, Zeit und Ressourcen für die psychische Gesundheit brauchen. Und vielleicht auch noch mehr Mut und Energie der Berufsgruppe, ihre Erfahrungen und ihr Wissen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.

Danke für die wichtigen Beiträge.

Rudolf Anschober

EINLEITUNG

»Gespräche über die Psyche« begannen mich als Journalistin erstmals 2009 zu interessieren. Damals tagte der Psychiatrie-Untersuchungsausschuss im Wiener Rathaus. Grund für die über ein Jahr andauernden Gespräche mit Expertinnen und Experten aus dem Psy-Bereich war u. a. ein brennendes Netzbett auf der Psychiatrie des Wiener Otto-Wagner-Spitals gewesen. Netzbetten und ihre Verwendung waren mir zu dem Zeitpunkt bereits vertraut, da ich selbst als Praktikantin im Rahmen des psychotherapeutischen Propädeutikums mehrfach deren Einsatz auf einer Wiener Akutstation erlebt hatte.

Mein Besuch des Untersuchungsausschusses war somit ein Stück weit das Ergebnis eigener Betroffenheit – als Lernende in einem System, das ich als heillos unterbesetzt und daher häufig wenig menschenfreundlich erlebte. Der stationäre Einsatz von Netzbetten berührte und politisierte mich. Gleichzeitig wurde mein Interesse für Alternativen zur stationären Psychiatrie wie Windhorse oder Soteria geweckt. Vom Untersuchungsausschuss erhoffte ich mir eine ehrliche Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf psychiatrischen Stationen hierzulande – und vielleicht sogar ein echtes Umdenken!

Ich wurde damals auf zweifache Art und Weise enttäuscht. Einerseits war das Ergebnis des Ausschusses ein eher mageres; zaghafte Personalaufstockungen da und dort, echte strukturelle Veränderungen fanden nicht statt. Andererseits scheiterte ich auch mit meinem Bestreben, dem Thema eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen. Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass »Gespräche über die Psyche« medial nur dann ankommen, wenn sie einen gewissen Rahmen nicht verlassen. Ja, auch Journalistinnen und Journalisten spüren offensichtlich gesellschaftliche Tabus. Ich kann nur vermuten, dass manche Aspekte psychischer Gesundheit auch für uns Schreibende zu bedrohlich, zu nahe dran am Eingemachten sind, als dass wir uns ihnen angemessen widmen könnten. Überall dort, wo Differenzierung nötig wäre oder Psychotherapie, Psychologie und Politik eigentlich zusammen gedacht werden müssten, wird es zudem eng mit Nischen für Schreibende. Ich wollte es trotzdem versuchen und kontaktierte als erste Interviewpartnerin 2014 Verena Kast.

Mein Anspruch war es, die bedeutende »Gefühlslehrerin« gegen den Strich zu fragen. Aus Vorträgen wusste ich, dass Verena Kast Gefühle ganz wunderbar erklären kann. Was ich wollte, war jedoch, dass sie mir auch über den eng gesteckten Rahmen der Psychotherapie und Psychologie hinaus Auskunft gebe über ihre Meinung zu gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Themen. Verena Kast reagierte darauf spontan mit »Widerstand«. Es kostete mich einigen Mut, hartnäckig an meinen Fragen dranzubleiben. Was Kast im Gespräch dann über gesellschaftliche Polarisierung und den Umgang mit dem Fremden sagte, könnte heute nicht aktueller sein. Dass sich mein Ansatz gelohnt hatte, zeigte mir auch die spontane Rückmeldung meiner Interviewpartnerin am Ende unseres einstündigen Gesprächs im Wiener Café Central: »Ich wollte eigentlich schon vor einer halben Stunde gegangen sein, aber das war ja ganz amüsant mit Ihnen.«

Ich möchte Sie an dieser Stelle einladen, in den hier abgedruckten Gesprächen in mir wesentlich erscheinende Themen an der Schnittstelle von Psychologie beziehungsweise Psychotherapie und Politik, Wirtschaft sowie einigen anderen Disziplinen einzutauchen. Zwar stehen zu Beginn Gespräche, die sich mit den »Kernthemen« der Psychotherapie – Gefühle, Emotionskompetenz sowie Beziehungen – befassen, der Horizont weitet sich jedoch von Gespräch zu Gespräch. So wie sich auch mein Horizont seit dem ersten Gespräch mit Verena Kast immer mehr weiten durfte. Nicht selten führte ein Austausch direkt zum nächsten. Eine offene Frage wurde der Anlass für das nächste Gespräch.

Wie Uni-Rektor Alfred Pritz bemerkt, wissen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen »Unglaubliches« über die Menschen. Ich gebe ihm recht. Und ich denke, dass sich der Einsatz ihrer Fähigkeiten daher nicht auf die Behandlung einzelner Personen im engen Setting einer Psychotherapie beschränken muss. Im Gegenteil: Das Wissen über Gefühle, Bewusstseinszustände und neurowissenschaftliche Zusammenhänge ist eines, das gesellschaftlich noch viel zu wenig ernst genommen wird. Warum sollen etwa nicht bereits Volksschulkinder im Rahmen eines Psychoedukationsunterrichts wesentliche Elemente der Selbsterkenntnis und des Lebens in Beziehungen erlernen können, wie Heinz-Peter Röhr im Gespräch vorschlägt? Gerade jetzt, wo unsere westlichen Demokratien zusehends durch Spaltungsprozesse in Gefahr geraten, heißt es früh ansetzen – dort, wo sich das menschliche Bewusstsein formt und Entwicklung (noch) möglich ist.

Die Menschheit steht heute angesichts von Corona und der Klimakrise vor Herausforderungen, die kaum zu stemmen sind. Psychotherapeutisches Wissen hat die Kraft, die wesentlichen Schritte zu erkennen – für ein besseres Leben in jeder Hinsicht: mit einem vertieften Verständnis für die Welt, die Umwelt, die Mitmenschen. Gemeint ist eine Form der Psychotherapie, wie sie Sigmund Freud mit der Psychoanalyse sicherlich immer im Auge hatte: ein Instrument für Welterkenntnis und Kulturverstehen. Angelika Grubner mahnt den eigenen Berufsstand, mehr Machtbewusstsein zu entwickeln und kritisch zu hinterfragen, wo Psychotherapeutinnen und -therapeuten vielleicht zum heimlichen »Helferlein« neoliberaler Optimierungsbestrebungen werden. Hier täte die Psychotherapie selbst also gut daran, sich von anderen Denkweisen inspirieren zu lassen, um nicht gleichsam zur Stütze eines oft krankmachenden Systems zu werden.

In diesem Buch sind Frauen nicht nur »mitgemeint«. Sie sind explizit angesprochen, vor allem da im Bereich der Psychotherapie und Psychologie die bedeutende Mehrheit Frauen sind. Dass sich dies nicht sprachlich durch Gendern widerspiegelt, ist allein der Tatsache geschuldet, dass die Gespräche allesamt in Printmedien erschienen sind, die diesbezüglich eigene Vorgaben haben. Die Texte wurden in dieser ersten Druckvariante belassen – wohl wissend, dass hier ein Aspekt zu kurz kommt. Ich bitte die Leserinnen und Leser hierfür um Verständnis.

VERENA KAST

Gefühle sind unsere Orientierung

Die Schweizer Tiefenpsychologin Verena Kast ist die große »Gefühlslehrerin« im deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus. Ihre mehr als fünfzig Bücher zu Freude, Angst, Wut et cetera sind Klassiker der psychologischen Literatur. Im Gespräch berichtet sie nicht nur über ihre »Lieblingsgefühle«, sondern auch darüber, wie es um unsere Akzeptanz des Fremden bestellt ist – und warum Schnelligkeit eine Gefahr für die Seele ist.

Frau Kast, in Ihren Büchern erklären Sie Ihren Lesern ihre Gefühle. Mir fällt, auf, dass Sie sich dabei besonders oft mit zwei Emotionen befassen: der Freude und dem Ärger – warum?

VERENA KAST: Angefangen habe ich eigentlich mit der Trauer. Und ich habe mich auch sehr intensiv mit der Angst beschäftigt. Aber sie haben schon recht, dass diese beiden Emotionen, Freude und Ärger, im zwischenmenschlichen Zusammensein eine besondere Rolle spielen. Im Kontakt mit anderen kommt man nicht darum herum, mit seinem Ärger umgehen zu lernen. Und Freude finde ich deshalb so wichtig, da sie eine komplett unterschätzte Emotion ist. Wir Menschen freuen uns eigentlich viel zu wenig, zumindest wir Erwachsenen. Kinder können das meistens noch recht gut, sie strahlen einen oft so richtig herzlich an.

Ich habe mich vor unserem Gespräch ein bisschen in den Gassen umgeschaut: Die Touristen strahlen, die Einheimischen strahlen überhaupt nicht. Die Wiener machen Gesichter, als ob sie einen fast auffressen wollten! Natürlich lange nicht alle, aber doch so einige, oder? Dabei gibt es mittlerweile neurowissenschaftliche Forschungen, die belegen, dass wir das Bindungshormon beziehungsweise den Neurotransmitter Oxytocin ausschütten, wenn wir von einem anderen Menschen freundlich angeschaut werden. Ein freundlicher Blick heißt eigentlich immer: Ich nehme dich wahr. Das ist eine Wertschätzung, die einem ein gutes Gefühl gibt. Früher dachte man, dass die Oxytocin-Ausschüttung nur mit Geburt oder Sex zu tun hat. Heute weiß man, dass es dabei auch wesentlich ums Streicheln und um Freundlichkeit geht. Man hat außerdem festgestellt, dass Oxytocin bewirkt, dass wir friedlicher werden und weniger Stress haben.

Jedes Mal, wenn ich beim Kiosk vorbeigehe, lachen mir aber mindestens zwanzig »glückliche« Frauen auf Titelblättern von Magazinen entgegen. Das passt doch gar nicht zu dem, wie Sie die Wiener beschreiben …

Da sprechen Sie ein ganz großes Problem an, das wir heute mit der Freude haben. Sie taucht nämlich an vielen Orten auf, an denen sie eigentlich gar nicht vorhanden ist. Heutzutage muss man gut aufgestellt und immer gut drauf sein, was so viel bedeutet wie: Ich freue mich ständig. Dabei ist das oft emotional überhaupt nicht gedeckt. Ich treffe durchaus freudige Menschen, aber viele benutzen das einfach wie ein Vokabel, eine Worthülse. Im Sport sieht man den Gebrauch dieser Worthülse besonders gut. Jeder Fußballer, der vor einem Spiel interviewt wird, verkündet groß: Ich freue mich unheimlich auf das Match.

Aber kommen wir zurück zur echten Freude. In der Freude sind wir einverstanden mit uns, mit den anderen, dem Leben, der Welt. Wir haben mehr bekommen als erwartet. Freude ist die Emotion, die auch Solidarität bewirkt. Wenn wir uns miteinander freuen, können wir miteinander etwas bewirken. In solchen Momenten verbrüdern und verschwestern wir uns ganz leicht. In der Freude sind wir auch noch nicht so neidisch, das kommt erst hinterher.

Sie haben einmal den Satz geschrieben »Wir könnten es doch alle so viel leichter miteinander haben …«. Würde der zum eben Angesprochenen passen? Beziehungsweise führt der Weg in Richtung einer solidarischen Gesellschaft demnach über die Freude?

Dieser Satz gefällt mir auch noch immer sehr gut. (lacht) Den habe ich darauf bezogen, dass wir Menschen einander immer wieder den Selbstwert kaputtmachen. Wir müssten wirklich dringend lernen, freundlicher miteinander umzugehen. In der Freude schauen wir einander freundlich an. Sartre hat in » Das Sein und das Nichts« eine ganz wunderbare Geschichte des Angeblickt-Werdens verfasst. Er beschreibt darin den beschämenden Blick der Großeltern, der immer im Raum ist, sogar wenn diese nicht anwesend sind. Unter diesem Blick zerbröselt man. Ist das nicht auch der Blick, den wir einander oft zuwerfen: Du solltest dich eigentlich schämen. Das zerbröselt den Selbstwert und tötet die Freude. Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat jedoch eine Antwort auf Sartre geschrieben: Ja, das stimmt, aber die Mitmenschen haben nicht nur diesen kritischen, zerstörerischen Blick, sondern eben auch den freundlichen Blick. Dessen sollten wir uns im Alltag mehr bewusst sein.

Wie sieht in diesem Zusammenhang der gesellschaftliche Auftrag der Psychotherapie aus?

Wenn Sie so fragen, heben Sie viel zu sehr auf die gesellschaftliche Ebene ab. Man muss sich schon klar darüber sein, dass jede Form der Tiefenpsychologie zuerst einmal auf den einzelnen Menschen abzielt. Uns Tiefenpsychologen wurde jahrelang der Vorwurf gemacht, wir hätten die Welt nicht verändert, aber wer von uns ist schon in der Politik!?

Aber hätte nicht gerade die Jung’sche Psychologie einige Konzepte zu bieten, die von großer gesellschaftlicher Relevanz sind? Ich denke da etwa an den »kollektiven Schatten«. So wie Individuen lieber wegschauen, wenn es um Eigenschaften geht, die sie nicht an sich schätzen, hat laut Jung auch jede Gesellschaft gewisse Themen, die sie unterdrückt beziehungsweise nicht hochkommen lässt. Allein dieses Wissen könnte doch zu Veränderung führen, oder verlange ich da zu viel?

Sie sind jung, Sie dürfen noch viel verlangen! (lacht) Aber ich gebe Ihnen im Grunde genommen recht: Wenn genug Menschen eine veränderte Einstellung haben, dann ist auch Bewegung möglich. Dazu brauchen wir eigentlich nur unseren Umgang mit Ärger zu betrachten. Die Tiefenpsychologie sagt: Wer sich ärgert, glaubt noch daran, dass man die Welt verändern kann. Ärger zeigt uns, dass Menschen über unsere Grenzen gehen, oder dass wir unsere Grenzen nicht erweitern dürfen. Andere Menschen dürfen uns aber weder in unserer Integrität angreifen noch an unserer Entwicklung hindern. Würde man allein dieses Wissen ernst nehmen, hätte das bereits gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Veränderung braucht also eine verärgerte Masse: Sind dann die »Wutbürger« die Zukunft der modernen Demokratien?

Es kommt darauf an, was die Wutbürger mit ihrer Wut machen. Wenn man diese Wut in Selbstwirksamkeit umwandeln kann, dann macht das durchaus Sinn. Manchmal bekommt man erst durch den Ärger die nötige Energie, um eine Sache anzugehen. Ich habe die Wutbürger bisher jedoch eher als große Kritiker erlebt, die einfach sagen: »Alles ist scheiße!« Aber wenn alles scheiße ist, verändert man auch nichts. Das rutscht so leicht ins Jammern ab, und dadurch fühlt man sich eigentlich nur selbst furchtbar schlecht. Das Ganze sollte schon an eine positive Vision gekoppelt sein, Dagegensein alleine reicht nicht aus!

Kehren wir noch einmal zurück zum gesellschaftlichen Schatten. Wer sind denn die Schattenträger unserer Zeit, also jene Personen, denen all das zugeschrieben wird, was wir als Gesellschaft ablehnen?

Bei uns in der Schweiz sind das ganz klar die Geflüchteten. Der gesellschaftliche Schatten fällt immer auf die Fremden und das Fremde. Das ist natürlich eine Beunruhigung, die man nachvollziehen kann. Ich glaube, es hat noch selten so eine Völkerwanderung gegeben wie heute. Deshalb hatten wir auch in der Schweiz diese furchtbare Abstimmung (Volksinitiative »Stopp der Überbevölkerung», 2014, Anm.), in der es meiner Meinung nach um teilweise unmenschliche Ideen ging. Eines kommt dabei ganz klar heraus: Wir sind die guten Schweizer, die Nachfolger von Wilhelm Tell, und die Geflüchteten sind die Schmarotzer, die uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen. So denkt zwar nicht die ganze Schweiz, aber es sind zu viele, die mittlerweile so denken. Das ganze Leid, das hinter den Geflüchteten steht, wird überhaupt nicht gesehen. Ich finde, wir behandeln sie gerade so, dass man sich nicht schämen muss.

Ich gehöre zur Gruppe der relativ fremdenfreundlichen Schweizer, und mir fällt auf, dass auch schon diese Gruppierung den Schatten abbekommt. Die fremdenfeindlichen Leute, die im Moment die Abstimmungen anleiern, sagen uns knallhart ins Gesicht: »Wir sind die richtigen Schweizer! Ihr seid die falschen Schweizer. Wir wollen die Schweiz bewahren, und ihr seid die Landesverräter!«

Was bedeutet in diesem Zusammenhang »Schattenakzeptanz«?

Schattenakzeptanz würde bedeuten, dass man überhaupt Schatten erkennen kann und weiß: Ich bin mir selber auch fremd. Ich habe ebenso Aspekte, die mir nicht gefallen an mir. Mit den Geflüchteten kommt ganz stark der Futterneid zum Vorschein. Da müsste man sich eigentlich sagen: Ich bin auch gierig. Und ich bin eigentlich nicht gewillt, etwas von meinem Gut abzugeben. Also alles, was ich »denen« zuschreibe – die sind unehrlich, die sind gierig, die erschleichen sich Dinge –, das müsste ich auch bei mir selbst annehmen. Eine geringe Schattenakzeptanz bedeutet, dass ich alles projiziere. Ich denke also, dass es um unsere gesellschaftliche Schattenakzeptanz nicht gut bestellt ist.

Rechte Parteien übernehmen oder schüren diese Projektionen – warum geht das so leicht? Warum sind wir so verführbar?

Das eigentliche Thema ist Angst: Ich fühle mich bedroht. Je mehr Angst wir haben, desto weniger können wir akzeptieren, dass wir auch Schattenseiten haben, denn das verunsichert uns. Angst und fehlende Übersichtlichkeit. Ich denke, dass wir bei ganz vielen Dingen und Sachverhalten heutzutage nicht mehr wissen, wie sie eigentlich funktionieren. Dazu kommt, dass bei vielen Menschen die Bindung an die Kirche nicht mehr klappt. Dadurch ergibt sich die Frage, was ist richtig und was ist falsch? Im Allgemeinen freut man sich ja über weniger Autoritätsgläubigkeit. Aber fehlende Autorität vermittelt Menschen, die nicht selbst zur Autorität werden können, eben auch große Unsicherheit. In dieser Situation tauchen die Rechtspopulisten auf und sagen ganz klar: Wahr ist wahr und falsch ist falsch! Diese Leute haben ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema, das jeder versteht. Und in der Verunsicherung denkt man dann vielleicht: Die wissen wenigstens noch etwas. Zusätzlich haben sie auch so markige Sprüche. Da braucht man nur an Blocher, diesen vielfachen Milliardär in der Schweiz, denken. (Christoph Blocher, Unternehmer und ehemals Präsident der Schweizerischen Volkspartei, Anm.) Genau der behauptet, er sei für den kleinen Mann da. Und das fressen die Menschen, das schlucken sie. Mir kommt der vor wie ein offensichtlich vermisster Übervater, den man nicht infrage stellt.

Wie können wir denn unser aller Ängste minimieren?

Sie dachten, die Psychologie hat vielleicht einen Weg! (lacht) Ich gebe Ihnen jetzt doch noch ein Rezept: Uns fehlen Gruppen, in denen man miteinander redet. Heute gibt es zum Beispiel keinen Stammtisch mehr. Aber gerade am Stammtisch hat man versucht, die Dinge miteinander zu klären. Die Ängste, die man teilt, werden so weniger. Wir müssen also wieder Räume schaffen, wo Menschen wirklich miteinander reden können. Aber durch die Schnelligkeit unserer Zeit passiert das leider zu wenig. Und es wäre wichtig, den Leuten klarzumachen: Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen. Die Zeitungen heute schreiben zwar recht gerne, wir hätten keine Orientierung, aber wir haben unsere Gefühle, und unsere Gefühle sind unsere Orientierung. Angst heißt: Pass auf, du bist in Gefahr; Freude heißt: Lehn dich zurück, es ist alles in Ordnung; Neid heißt: Hey, ich wär gern eine andere. Wenn wir unsere Gefühle finden und wahrnehmen, haben wir immer Orientierung.

Die Schnelligkeit kommt auch in Ihrem Buch »Seele braucht Zeit« zur Sprache. Ist Schnelligkeit zu einem neuen Wert geworden?

Ja, und ich finde, es gibt noch zwei nennenswerte neue Werte: Konformität und Effektivität. Ich habe an der Universität St. Gallen eine Vorlesung über Emotionen für Volkswirte gehalten. Am ersten Tag fing ich mit der Angst an, worauf mir die Studierenden ganz klar antworteten: Nein, wir haben keine Angst. Dann ging ich weiter zum Neid. Darauf sagten sie: Neid haben die anderen. Und als am dritten Tag die Freude drangekommen wäre, hieß es: »Würden Sie bitte nochmals von vorne anfangen, wir haben jetzt festgestellt, dass wir doch Angst haben.« Und dann kam meistens die Idee ins Spiel, dass es viel spannender wäre, wenn man mit diesen Emotionen leben würde. Man wäre dann viel lebendiger! Aber ist man dann noch so erfolgreich? Und ist man dann noch so schnell? Darauf musste ich sagen: Nein, das ist man nicht. Sobald wir an irgendetwas emotional beteiligt sind, sind wir zufriedener und fühlen uns lebendiger, aber wir denken in Fantasien, und wir entwickeln eigene Vorstellungen et cetera. Dieses »Zack da fängt es an« und »Zack da hört es auf« geht dann nicht mehr. In dem Moment kam bei vielen Hörern das ungute Gefühl auf, keine Karriere mehr machen zu können.

Auch auf mein Buch »Seele braucht Zeit« kamen besonders viele Reaktionen von jungen Leuten, die meinten: Ja, genau so, wie Sie es beschreiben, empfinden wir es. Aber wenn wir das, was Sie vorschlagen, so umsetzen würden, könnten wir dann noch Karriere machen? Und diese Generation will Karriere machen. Und zwar möglichst ohne allzu viele Verluste.

Die eigenen Gefühle für den Erfolg komplett auszublenden, klingt aber doch furchtbar beziehungsweise wie der direkte Weg in die Depression …

Ja, das stimmt. Ich sehe manchmal so unglaublich brave Studierende, die sich nur fragen: Was brauche ich jetzt für den Bachelor? Und das machen sie dann genauso brav. Die sind eigentlich alle depressiv strukturiert. Das heißt, sie denken: Sag mir, was du von mir willst, und ich mach’s so gut wie möglich. Mein eigenes Befinden stelle ich hintan. Die Frage: Hätte ich vielleicht andere Sehnsüchte? kommt überhaupt nicht mehr auf. Diese Studenten verludern weniger als frühere Generationen, aber eine innere Entwicklung findet so nicht statt. Das hat mit der wahnsinnigen Ökonomisierung und Materialisierung unserer Gesellschaft zu tun. Es ist sicher die Frage, was einmal aus denen wird, denn im Moment sind sie nicht kreativ. Zur Kreativität gehört auch eine gewisse Sicherheit.

Spielt denn die Ökonomisierung auch in den Bereich der Psychotherapie hinein?

Natürlich. Kognitive Verhaltenstherapeuten würden zum Beispiel sagen: Unser Ziel ist es, die Menschen möglichst schnell wieder hochzukriegen: Eine Depression, also bitte, fünfunddreißig Stunden – und mehr nicht! Es gibt Bereiche, in denen die kognitive Verhaltenstherapie hilft, aber immer dort, wo man reifen muss, steht sie an, weil Reifen einfach Zeit braucht. Es kamen schon Menschen zu mir, die ihre Ängste bereits wegtherapiert hatten und zu mir sagten: Jetzt möchte ich aber wissen, warum ich Angst hatte und was ich tun kann, damit das in Zukunft nicht wieder passiert. Das ist schon etwas sehr Gutes. Außerdem ist es auch so, dass die kognitiven Verhaltenstherapeuten immer mehr Methoden von uns übernehmen. Und so wahnsinnig schnell sind sie auch nicht mehr.

Ich denke, es gäbe mittlerweile eine Menge an berufstätigen Menschen, die sich dieser Ökonomisierung gerne entziehen würden und etwa nur mehr zwanzig Stunden arbeiten wollen, um mehr Zeit für andere Lebensbereiche wie die Familie oder freiwilliges Engagement zu haben. Derartige Vorstöße einzelner Politiker, etwa hin zu einer Familienteilzeit, werden jedoch immer schnell vom Tisch gewischt. Was halten Sie davon?

Ja, lassen Sie uns einmal Ihre Vision anschauen. Ich fände die zwanzig Stunden pro Woche sehr gut, denn alles auf der Welt wäre besser, wenn wir bessere Beziehungen hätten. Aber um bessere Beziehungen zu haben, bräuchten wir natürlich mehr Zeit füreinander. Es müsste außerdem klar sein, dass gute Beziehungen ein gesellschaftlicher Wert sind. Eine derartige Einstellung würde auch unsere Ängste minimieren. Wir hätten mehr gute Bindungsgefühle und würden uns geborgener fühlen. Damit sind wir auch wieder beim Oxytocin gelandet, das uns friedlicher macht. Mir würde ein Modell von zwanzig Stunden Lohnarbeit, zehn Stunden Beziehungsarbeit für Alte und darüber hinaus einfach so viel Arbeit, wie man für sich selber möchte, gut gefallen! Die Frage ist wohl, wie können wir das bezahlen? Ihr in Österreich scheint ja einen sehr starken Sozialstaat zu haben. Jetzt sind wir doch noch beim Politischen gelandet. (lacht)

EUGEN DREWERMANN

Gott möchte, dass wir uns selber finden

Der deutsche Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann trat als junger Mann aus der katholischen Kirche aus. Er ist bekannt für seine tiefenpsychologischen Auslegungen der Bibel sowie seine kritische Stellung zur Amtskirche. Im Gespräch erzählt er über Jesus als Therapeuten, das Verhältnis von Religion und Psychoanalyse – und warum er selbst weder Telefon noch Kühlschrank besitzt.

Herr Drewermann, wir telefonieren über ein Hotel, da Sie zu Hause kein Telefon haben; genauso wenig wie einen Kühlschrank oder ein Auto. Wie gelingt es Ihnen, Ihr Leben mit relativ wenigen technischen Annehmlichkeiten zu gestalten?

EUGEN DREWERMANN: Das gilt ja in allen Bereichen. Ich fahre mit der Bahn, aber ich muss kein Lokführer sein. Ich brauche keinen Garten, um mich an der Natur zu erfreuen. Ich kann im Fluss die Forellen beobachten und brauche kein Aquarium. Ich telefoniere vom Hotel aus, brauche aber selber kein Telefon. Ich kann die Dinge in Dienst nehmen, ohne dass ich Besitzansprüche darauf anmelde. Ich glaube, dass das Leben viel einfacher und unabhängiger wird, wenn man nicht auf alles die Hände legt, um es zu besitzen.

Welche Motivation steckt für Sie hinter dieser »Besitzlosigkeit«?

Zugegeben, Sie werden dadurch weniger erreichbar, haben aber innerlich viel mehr Ruhe, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die wichtig sind. Und das muss ich. Ich bin Schriftsteller und Psychotherapeut. In diesen Dingen kann ich nicht viele Störungen von außen brauchen. Seit vielen Jahren höre ich Menschen zu, wie wenn ich Romane lese. Das ist nicht trennbar voneinander. Besitzlosigkeit ist eine wunderbare Form, Zeit zu haben für Wahrnehmung, Mitgefühl, Engagement. Ich begreife nicht, warum ein gestresster CEO vierzehn Tage ins Kloster gehen muss und sich das Handy an der Pforte abnehmen lässt, damit er zu sich selber kommt. Ich sehe darin eine Aufgabe, die ständig vonnöten ist.

Haben Sie denn in Ihren Therapien erlebt, dass andere Menschen sich Ihre Lebensform zum Vorbild nehmen?

Es ist nicht einfach; viele Menschen hängen beruflich im digitalen Zeitalter in der ständigen Verfügbarkeit fest. Sie müssen von der Firma kontrollierbar sein; man muss wissen, wo sie sind, wie man sie abrufen kann. Sie sind ausgeliefert. Es ist ein Zwangszustand. Wenn das schon beruflich so gemacht wird – Freiheitsberaubung im Kapitalismus durch Totalverfügbarkeit über die Einzelnen –, dann wär’s zumindest ratsam, das privat nicht länger fortzusetzen. Dann kursieren aber Apps, die eine große Reichweite haben, wo Sie in einem Umkreis von Hunderten Leuten einsichtig sind, wo der private Raum zur Selbstverfügung total eingeengt wird durch die Erwartungen und Rücksichtnahmen, die angefordert werden. Da hilft es, wenn manche Menschen, die ohnehin bereits genug gestresst, angespannt, fahrig sind, lernen, manche Dinge abzuschalten. Sie sind dann eben nicht mehr erreichbar.

Wer heute kein WhatsApp hat, ist oft nicht mehr ausreichend vernetzt. Wie kann es dennoch gelingen, ein Leben ähnlich dem Ihren zu führen?

Man müsste dringlich unterscheiden zwischen Dingen, die unvermeidbar sind, die von außen aufgezwungen werden, denen man aber auch nicht ausweichen kann, und Dingen, die uns persönlich betreffen. Das kann man unterscheiden. Schon die Stoiker im alten Griechenland versuchten herauszufinden, was geht mich wirklich an und was ist lediglich eine Notwendigkeit, mit der ich rechnen muss. Dieser Unterschied ist wichtig. Man identifiziert sich nicht mit der verordneten Entfremdung. Man erhält sich den Spielraum, selber zu sein und zu bleiben. Die Kinderei, die sich heute abspielt, indem die Außensteuerung, die Außenkontrolle, die Entmündigung, die Übernahme von Verantwortung durch staatliche Autoritäten bis ins Grenzenlose wächst, macht notwendig, dass sich das Individuum umso deutlicher abgrenzt von dem, was von außen an Zugriffen geplant und durchgesetzt wird.

Herr Drewermann, auch Sie haben sich in den letzten Jahren immer stärker abgegrenzt. Sie sind zunehmend politischer geworden, nehmen Kapitalismus, Raubbau an der Natur, Rüstungsausgaben et cetera stark in die Kritik. Wie könnte eine alternative Wirtschaftsform aussehen?

Wir sollten im Sinne Jesu begreifen, dass Geld kein Eigentum sein kann. Wir glauben, es verdient zu haben. Aber wenn wir durch Arbeit Geld verdienen können, so geschieht das aufgrund von Voraussetzungen, die wir gar nicht selbst schaffen konnten. Wir müssen relativ gesund sein, wir müssen eine Ausbildung genossen haben. Lauter Voraussetzungen, die sich durch winzige Veränderungen schon in der Kindheit hätten ändern können. Es gehört uns gar nichts. Das Geld, das wir haben, ist ein Geschenk, ein Durchlaufposten und im Grunde eine Verpflichtung, den Bedürftigen so viel davon abzugeben, wie für uns entbehrlich ist. Und das ist das allermeiste. Schon damit ist der Kapitalismus widerlegt.

Sie sind vor allem als Pazifist bekannt. Inwiefern hängt die Frage des Wirtschaftssystems mit jener von Krieg und Frieden zusammen?

Mit dem Kapitalismus ist aufs Engste die Frage von Krieg und Frieden verbunden. Ein Wirtschaftssystem, das sich überhaupt nur erhalten kann, wenn es immer schneller wächst, kann nicht anders, als die Umwelt zu zerstören, die ja nicht gleichzeitig mitwächst. Der Kapitalismus ist verbunden mit einer rigorosen Vernichtungswettbewerbsform im Umgang miteinander. Der Erfolg der einen ist der Untergang der anderen. Was wir haben, ist dem anderen weggenommen. Im Grunde folgt das Ganze einer Paternoster-Logik: Sie können nur emporkommen, indem andere hinunterfahren. Wie kann sich das ändern? Nur indem sich zeigt, dass das Wirtschaftssystem in der Form nicht haltbar ist.

Steuern wir auf eine Apokalypse zu?

Momentan gleicht der Kapitalismus tatsächlich einem Raketenauto ohne Bremsen, das mit Hunderten Stundenkilometern über die Autobahn rast. So ein Ding gehört aber nicht auf eine Autobahn, das würde niemals zugelassen. Der einzige Weg, es zu stoppen, ist wirklich der frontale Aufprall. Dann werden wir anders wirtschaften müssen: durch Teilen, durch Ausgleich, durch Gleichgewicht, durch Gerechtigkeit, durch Wertschätzung, im Austausch der Reichtümer, die wir miteinander einbringen können. Wir müssen