Untote leben länger - Philip Mirowski - E-Book

Untote leben länger E-Book

Philip Mirowski

4,6

Beschreibung

"Jahrhundertkrise", "Bankencrash", "Systemkollaps" – Markige Worte wurden bemüht, um die Wirtschaftskrise zu beschreiben, die in den letzten Jahren zum Bankrott ganzer Länder geführt hat und den Euro an den Rand des Abgrunds trieb. Markige Worte, die nach grundlegenden Änderungen schreien. Doch als wäre nichts geschehen, geht alles weiter wie bisher: Die neoliberale Wirtschaft beginnt erneut heißzulaufen, Staatsinvestitionen sind weiter verpönt und schon sieht man wieder die ersten Spekulationsblasen wachsen. Angesichts dieser aberwitzigen Beharrungskräfte verfolgt Philip Mirowski das neoliberale Projekt bis zu seinen Anfängen zurück und zeigt, wie es gelingen konnte, der Welt eine ökonomische Theorie nach starren mathematischen Gesetzen überzustülpen, die sich als stählernes Mantra festgesetzt hat. Seine tiefgreifende, bissig und anschaulich geschriebene Untersuchung, die Intellectual History, Kulturkritik und die Aufdeckung des Einflusses mächtiger Interessenverbände umfasst, zeigt zudem, dass sich der Neoliberalismus mittlerweile zu einer Kultur verdichtet hat, die alle Bereiche unseres Lebens bestimmt und auch unser Denken fest im Griff hat. Die Krise der Wirtschaft entpuppt sich so auch als intellektuelle Krise.

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Philip Mirowski

Untote leben länger

Philip Mirowski

UNTOTE LEBEN LÄNGER

Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist

Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz

Matthes & Seitz Berlin

Den Neoliberalen in allen Parteien

Inhalt

1

Alptraum auf Alptraum

Die Krise, die kaum etwas änderte

2

Die Schock-Block-Strategie

Neoliberalismus als Denkkollektiv und politisches Programm

3

Alltäglicher Neoliberalismus

4

Kauderwelsch und Konfusion

Die dürftige Reaktion der Ökonomenzunft auf die Krise

5

Der Schock des Neuen

Haben neoklassische Ökonomen aus der Krise irgendetwas gelernt?

6

Einblicke in das neoliberale Drehbuch

Anmerkungen

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

1

Alptraum auf Alptraum

Die Krise, die kaum etwas änderte

Zweitklassige Horrorfilme folgen häufig einer klassischen Dramaturgie: Der Protagonist blickt dem Untergang ins Auge, erwacht auf dem Höhepunkt der Katastrophe jedoch plötzlich in einer anderen Welt, die zunächst normal scheint, sich aber schließlich als ein zweiter, noch entsetzlicherer Alptraum entpuppt.1 Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2007 ist in der Realität etwas ganz Ähnliches geschehen. Zunächst wurde man entsetzt Zeuge, wie infolge des Crashs die Immobilienpreise abstürzten, die verbliebene Industriebeschäftigung einbrach, sich ganze Stadtviertel in ausgebombte Ruinen verwandelten und Renten und Ersparnisse in Luft auflösten; die Hoffnung auf ein besseres Leben für unsere Kinder schwand dahin, Nachbarn deckten sich mit Schusswaffen ein, und mancher meinte, anstatt des Bankrotts nahe das Jüngste Gericht. Es war ein verstörendes Intermezzo, in dem die Statistiken über die Große Depression in den Dreißigern an Nietzsches Wiederkehr des Immergleichen denken ließen.

Spulen wir vor ins Jahr 2011. Ob zu Recht oder Unrecht, es regte sich gerade die Hoffnung auf den Beginn eines Umschwungs. In den großen Zeitungen hieß es, die Wirtschaftswissenschaft habe versagt und unsere klügsten Köpfe würden die Lehrmeinungen, die die Welt auf Abwege geführt hatten, gründlich überdenken. Doch gegen Jahresende dämmerte den meisten, dass die naheliegende Annahme, wir könnten uns aus dem Alptraum befreien und aus den Fehlern der Ära des neoliberalen Irrwitzes lernen, nur einer weiteren tückischen Sinnestäuschung geschuldet war. Ein dunkler Schlummer legte sich über das Land. Nicht nur dass sich das Bewusstsein der Krise wieder verflüchtigt hatte, ohne dass es irgendeinen ernsthaften Versuch zur Korrektur der Fehler gegeben hätte, die die Wirtschaft beinahe zum Stillstand gebracht hatten – seltsamerweise war die Rechte aus den Tumulten obendrein stärker, unverfrorener und mit einer noch größeren Raffgier und Glaubensfestigkeit als vor dem Crash hervorgegangen.

Im Jahr 2010 brach für die Linke eine traurige Ära der Verwirrung und Ratlosigkeit an. Es bedurfte außergewöhnlichen Stehvermögens, um angesichts des rasanten Wiederaufschwungs der Rechten unmittelbar nach der dramatischsten Weltwirtschaftskrise seit der Großen Depression nicht fassungslos nach Luft zu schnappen. »Missverhältnis« ist ein zu höflicher, »Widerspruch« ein zu altmodischer Begriff für den Gang der Ereignisse. In beinahe allen Ländern wurde Austerität die Losung der Stunde, und bei Unmut jeder Art – auch über die Austerität – wurde überall die Regierung verantwortlich gemacht. Im Namen der wirtschaftlichen Vernunft geriet die Arbeiterklasse von allen Seiten unter Beschuss, selbst von nominell »sozialistischen« Parteien, und die wenigen Versuche einer gewerkschaftlichen Gegenmobilisierung scheiterten. Linke Parteien, die sich noch wenige Jahre zuvor nach Dekaden eines neoliberalen Vormarschs endlich wieder im Aufwind wähnten, waren ratlos angesichts einer von Europa bis nach Nordamerika und Asien reichenden Dominanz neoliberalen Denkens und konservativer Parteien. Häufig wurden sie kurzerhand ungerührt abgewählt, weil sie mit Mühe versucht hatten, die schlimmsten Krisenfolgen einzudämmen. Den Finanzinstituten, die die Krise ausgelöst hatten und vom Staat gerettet worden waren, ging es dagegen gut, ja sie florierten wie vor der Krise, und mit offener Undankbarkeit finanzierten sie die wiedererstarkende Rechte – die beachtliche Erholung der Unternehmensgewinne bot die Gewähr dafür, dass konservative Denkfabriken nach der Krise eine aufwendige Verjüngungskur erhielten. Nationalistischprotofaschistische Bewegungen sprossen an Orten, wo man es nie vermutet hätte, aus dem Boden und vertraten Positionen, die keinen Funken Verstand mehr enthielten. Das Ganze ließ sich ohne Übertreibung als »Alptraum« bezeichnen; eitle Hoffnungen platzten.

Der Winter unseres Stussvergnügens

Ich erinnere mich noch, wie ich das erste Mal mit Schaudern realisierte, dass der geistige Dämmerzustand nach der Krise noch weit schlimmer werden könnte als während der Rezession selbst. Im April 2011 nahm ich am zweiten Treffen des Institute for New Economic Thinking (INET) in Bretton Woods, New Hampshire, teil.2 Es hätte vermutlich bessere Orte als die White Mountains gegeben, um den Zeitgeist nach der Krise einer Fiebermessung zu unterziehen und die politische Ökonomie in der Praxis zu beobachten, doch die kleinen Sünden der Wirtschaftswissenschaftler hatten mich schon lange fasziniert, und das erste INET-Treffen, 2010 an der Cambridge University abgehalten, schien mir ein gewisses Versprechen zu bergen – zum Beispiel als Protestierende in der Aula des King’s College die IWF-Platitüden von Dominique Strauss-Kahn unterbrachen oder als Lord Adair Turner mutig erklärte, wir bräuchten einen deutlich kleineren Finanzsektor. Doch die Folgeveranstaltung fiel nicht nur aus klimatischen Gründen wesentlich unerfreulicher und frostiger aus. Das alptraumhafte Szenario begann mit einer Parade von Figuren, die niemand guten Gewissens als Vertreter eines »neuen ökonomischen Denkens« bezeichnen könnte: Kenneth Rogoff, Larry Summers, Barry Eichengreen, Niall Ferguson und Gordon Brown. Adair Turner wurde wie im Vorjahr für eine Rede auf die Bühne zitiert, wartete aber nur mit trüben Gemeinplätzen über »Glücksstudien« und Rationalität auf. Das Spektrum ökonomischer Positionen hatte sich deutlich verengt, und das Programm richtete sich offensichtlich vor allem an Journalisten, Blogger und Leute, die sich für komplexe, unkonventionelle Gedanken gar nicht interessierten, sondern Stars aus der Nähe sehen wollten – es zeugte von dem ungesunden Drang nach einem Denken, das um jeden Preis mit offiziösem Gütesiegel beglaubigt sein und nach etwas klingen sollte.

Viele Teilnehmer gaben ihre Ratlosigkeit offen zu: Die Krise war vorbei, nur was war eigentlich schiefgelaufen? Dass die in westlichen Ländern beschlossenen »Rettungspakete« ein politisches Debakel darstellten, erkannten alle an, wobei nähere Ausführungen darüber sicherlich weniger Konsens gefunden hätten. Manche meinten, der akute Handlungsdruck auf Seiten der Federal Reserve, des britischen Schatzamtes, der Europäischen Zentralbank und anderer Institutionen habe eine notwendige Phase der Reflexion und Reform blockiert. Was die Veranstaltung jedoch zu einem Alptraum machte, war eine ansteckende Lähmung, die an ein Reh im Scheinwerferlicht erinnerte: Die Konferenzteilnehmer gefielen sich zwar in der Rolle von Kritikern der neoliberalen Dekadenz, hatten jenseits vorgetäuschten Expertenwissens aber keine festen Ansichten darüber, worin das für die Krise verantwortliche intellektuelle Versagen überhaupt bestand – offenbar verband sie bloß ein vages Unbehagen am Zustand der Wirtschaftswissenschaft. Doch es kam noch schlimmer: Während die Autoritäten schwankten, hatten sich die Darsteller aus dem Gruselkabinett der Rechten wieder aufgerichtet, den Staub von den Kleidern geklopft und zu neuer Stärke gefunden. Ökonomen wie Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart besaßen auf dem INET-Treffen die Unverfrorenheit, die jüngste Weltwirtschaftskrise als ganz normalen Konjunkturzyklus darzustellen: Von Skandalösem oder Beispiellosem könne keine Rede sein. So begannen die im American Enterprise Institute und Cato Institute ausgebrüteten Doktrinen wieder in den Bereich des Respektablen einzusickern. Die Konferenzteilnehmer versuchten sich unterdessen weiter zu lösen – nur von was? Von der neoklassischen Mikroökonomie, von der Theorie der rationalen Erwartungen, von der Effizienzmarkthypothese, von dem Coase-Theorem, von pseudokeynesianischer Makroökonomie, von dem Pareto-Optimum, von der Public-Choice-Theorie, vom Ende der Geschichte – also wovon jetzt genau? Wie sollte man wissen, ob etwas faul war oder nicht, wenn man nicht einmal sicher war, welche Theorie einem Orientierung bieten könnte?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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