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Wilhelm J. Krefting

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Beschreibung

Dieser Sammelband enthält die ersten beiden Thriller der erfolgreichen Reihe um den Düsseldorfer LKA-Ermittler Alexander Hoorn: KINDSMÖRDER und MOORMÄDCHEN. Buchbeschreibung „Kindsmörder“: 1999: Ein schlimmes Verbrechen erschüttert Helvern am Niederrhein: An einem schönen Maitag verschwindet die elfjährige Corinna Kammler spurlos. Die Bewohner des Dorfes halten zusammen und machen sich umgehend auf die Suche nach dem Mädchen. Ihre Bemühungen sind umsonst, denn zwei Tage später findet die Polizei Corinnas verbrannte Leiche in einem Waldstück bei Euskirchen. Corinnas Mörder wird nie gefasst. Gegenwart: 20 Jahre später schwebt das Verbrechen noch immer wie ein Schatten über Helvern. Das gegenseitige Misstrauen und die Gewissheit, dass der Mörder nach wie vor mitten im Dorf wohnen könnte, haben die Stimmung über Jahrzehnte vergiftet. Als das LKA Düsseldorf den alten Fall mit einer DNA-Reihenuntersuchung wieder aufrollt, ereignen sich erneut schreckliche Dinge: Ein Mann wird ermordet, ein Bauer entrinnt beim Brand seines Hofes nur knapp dem Tod und eine junge Frau wird entführt. LKA-Ermittler Alexander Hoorn setzt die Puzzleteile zusammen und glaubt fest daran, das Rätsel um den Mord an Corinna Kammler nach über 20 Jahren endlich lösen zu können. Leider hat er die Rechnung ohne den Mörder des Mädchens gemacht… Buchbeschreibung „Moormädchen“: Die Leiche einer jungen, aufstrebenden Pianistin wird an einem kalten Morgen in Münsters Aasee gefunden. Die Hände des Mädchens wurden professionell amputiert. Der von den Ereignissen seiner Vergangenheit zusehends mitgenommene LKA-Ermittler Alexander Hoorn findet in dem Fall eine willkommene Abwechslung. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Münster werden im Wald Kopf und Hände einer weiteren jungen Frau entdeckt. Alexander ergründet nach und nach das Geheimnis der verstümmelten Mädchen und er findet Hinweise darauf, dass sehr bald noch mehr Morde folgen werden. Unter zunehmendem Druck nimmt der Mörder derweil weitere Opfer ins Visier und verfolgt seinen bestialischen Plan mit wachsender Brutalität. Alexander läuft die Zeit davon, die Mädchen auf der Todesliste zu finden und sie vor ihrem Peiniger zu retten…

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Wilhelm J. Krefting

Unvergänglich

Zwei Thriller in einem Band: „Kindsmörder“ und „Moormädchen“

Covergestaltung: 187designzLektorat: Sybille WeingrillCopyright: W.J. KreftingMit Dank an alle, die zu diesem Werk beigetragen haben.

Inhaltsverzeichnis

Kindsmörder

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Moormädchen

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Impressum

„Kindsmörder“ und „Moormädchen“ sind die ersten beiden Bände der erfolgreichen Alexander-Hoorn-Reihe.

Buchbeschreibung „Kindsmörder“:

1999: Ein schlimmes Verbrechen erschüttert Helvern am Niederrhein: An einem schönen Maitag verschwindet die elfjährige Corinna Kammler spurlos. Die Bewohner des Dorfes halten zusammen und machen sich umgehend auf die Suche nach dem Mädchen. Ihre Bemühungen sind umsonst, denn zwei Tage später findet die Polizei Corinnas verbrannte Leiche in einem Waldstück bei Euskirchen. Corinnas Mörder wird nie gefasst.

Gegenwart: 20 Jahre später schwebt das Verbrechen noch immer wie ein Schatten über Helvern. Das gegenseitige Misstrauen und die Gewissheit, dass der Mörder nach wie vor mitten im Dorf wohnen könnte, haben die Stimmung über Jahrzehnte vergiftet. Als das LKA Düsseldorf den alten Fall mit einer DNA-Reihenuntersuchung wieder aufrollt, ereignen sich erneut schreckliche Dinge: Ein Mann wird ermordet, ein Bauer entrinnt beim Brand seines Hofes nur knapp dem Tod und eine junge Frau wird entführt. LKA-Ermittler Alexander Hoorn setzt die Puzzleteile zusammen und glaubt fest daran, das Rätsel um den Mord an Corinna Kammler nach über 20 Jahren endlich lösen zu können. Leider hat er die Rechnung ohne den Mörder des Mädchens gemacht…

Buchbeschreibung „Moormädchen“:

Er will nur dein Bestes. Und er nimmt es sich. Stück für Stück.

Die Leiche einer jungen, aufstrebenden Pianistin wird an einem kalten Morgen in Münsters Aasee gefunden. Die Hände des Mädchens wurden professionell amputiert.

Der von den Ereignissen seiner Vergangenheit zusehends mitgenommene LKA-Ermittler Alexander Hoorn findet in dem Fall eine willkommene Abwechslung. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Münster werden im Wald Kopf und Hände einer weiteren jungen Frau entdeckt.

Alexander ergründet nach und nach das Geheimnis der verstümmelten Mädchen und er findet Hinweise darauf, dass sehr bald noch mehr Morde folgen werden.

Unter zunehmendem Druck nimmt der Mörder derweil weitere Opfer ins Visier und verfolgt seinen bestialischen Plan mit wachsender Brutalität. Alexander läuft die Zeit davon, die Mädchen auf der Todesliste zu finden und sie vor ihrem Peiniger zu retten…

Der Autor

Wilhelm J. Krefting lebt und arbeitet in Münster. Nach dem Abitur studierte er Politikwissenschaften und Journalistik und lebte einige Zeit in Australien, wo er für verschiedene deutsche und australische Zeitungen arbeitete.

Schreiben ist seine große Leidenschaft, und Krefting liebt es, seine vielfältigen Erlebnisse in spannende Geschichte zu gießen. Seine schriftstellerische Karriere begann der Autor 2013. Im Jahr 2016 veröffentlichte er mit „Aschekinder“ seinen ersten Tolino Nr. 1 eBook-Bestseller.

Kindsmörder

Kapitel 1

Mai 1999, in der Nähe von Euskirchen

Laut brüllend jagte der Wagen durch die schwarze Nacht. Vom Lenkrad aus betrachtet schien die lange Motorhaube die schnell aufeinanderfolgenden Striche der Fahrbahnmarkierung wie ein unersättliches Tier zu verschlingen.

Wie weit musste er fahren? Wie schnell durfte er sein, um nicht von der Polizei angehalten zu werden? Bei der Vorstellung wurde ihm schlecht. Er nahm den Fuß vom Gas und augenblicklich verwandelte sich das Brüllen des Achtzylindermotors in ein angenehmes Schnurren. Warum hetzen? Ich habe doch Zeit bis Sonnenaufgang, dachte er. Es war gerade erst 22 Uhr.

War es das alles wert gewesen? Würde er ab jetzt weiterleben können wie vorher?

Er ließ eine Stunde auf der monotonen Landstraße verstreichen, bis er entschied, weit genug gefahren zu sein. Eine Abzweigung tauchte in der Dunkelheit auf. Zu plötzlich und zu fest trat er auf die Bremse, quietschend und schlingernd kam der schwere Wagen mitten auf der Straße zum Stehen. Ein paar leere Flaschen rollten von der Rückbank hinunter in den Fußraum und im Kofferraum rumpelte es laut. Er riss an der Gangschaltung, setzte ein Stück zurück und lenkte das Auto auf den Feldweg. Mit jedem Meter, den er auf der löchrigen Piste zurücklegte, verschwand das ohnehin schon spärliche Licht noch ein bisschen mehr. Er entfernte sich von der Zivilisation.

Ein Waldstück tat sich vor ihm auf.

„Das ist perfekt“, flüsterte er, „perfekt, perfekt, perfekt.“

Hochgewachsene Buchen markierten die Einfahrt, und er passierte die düsteren Giganten in dem Wissen, von jetzt an vollends auf das Licht seiner Scheinwerfer angewiesen zu sein. Ihm war mulmig. Aber er hatte wenigstens Gewissheit, dass sich um diese Zeit wohl niemand mehr im unheimlichen Wald herumtrieb, der ihn hätte sehen können.

Wo konnte er sich am besten seiner Fracht entledigen? Hier nicht, nur noch ein kleines Stück weiter. Hinter einem Stapel dicker Baumstämme stoppte er den Wagen. Tief atmete er durch. Den Motor ließ er laufen, im Notfall musste er schnell die Flucht ergreifen.

Das Quietschen der Kofferraum-Klappe hallte durch den Wald. Da lag sie. Eingewickelt in die alte Wolldecke. Behutsam hob er das Bündel aus dem Kofferraum und legte es auf den mit Laub bedeckten Waldboden. Er schlug die Wolldecke auf und zog sie unter dem nackten Körper hervor. Wie schön sie auch hier aussah. Nackt und reglos. Es hatte fast etwas Magisches, etwas Ursprüngliches. Eine nackte Frau im Wald. Das war doch nur natürlich. Der Körper des Mädchens war so bleich, dass er selbst in dieser Dunkelheit, abseits der Autoscheinwerfer, zu leuchten schien. Ihre Augen hatte er geschlossen. Von ihr angestarrt zu werden, hätte er nicht ertragen können. Er gönnte sich einen letzten, langen Moment, um sich an ihrem schönen Körper zu erfreuen. Wie leid es ihm tat. Was für eine Verschwendung es doch war, sie jetzt zu vernichten. Aber er hatte nun mal keine Wahl. Mit zittrigen Händen zog er ein Cutter-Messer aus seiner Hosentasche und schnitt eine lange Haarsträhne ab. Er hielt sie an seine Nase und roch ausgiebig daran. Er musste sich regelrecht zur Besinnung rufen, um die Wolldecke wieder zurück in den Kofferraum zu bringen und weiterzumachen. Mit einem Kanister in der Hand kehrte er zurück. Der Geruch des Benzins stach in seiner Nase. Die Flüssigkeit, die er gleichmäßig auf ihr verteilte, ließ ihren Körper glänzen und noch heller erscheinen. Sie war wie ein Engel. Aber ein gefallener Engel, auf den jetzt die Verdammnis wartete. Und er würde sie ihr zuführen.

Mit dem brennenden Streichholz in der Hand stand er zögernd vor ihr und rang mit sich. Soll ich es wirklich fallen lassen?, wiederholte er immer wieder in seinem Kopf. Die Flamme brannte hinunter bis zu seinen Fingerkuppen. Als er den brennenden Schmerz fühlte, ließ er das Hölzchen fallen. Augenblicklich überdeckten die Flammen den Körper des Mädchens von den Füßen bis zum Kopf. Das Feuer erhellte die gesamte Umgebung und spiegelte sich in den weit aufgerissenen Augen des Mannes. Es glich den Flammen der Hölle, die sich ihr nächstes Opfer holte. Dabei war er es doch, der in die Hölle gehörte. Was hatte er nur getan?

Kapitel 2

Mai 1999, Helvern am Niederrhein

„Wo bleibt Corinna eigentlich? So lange war sie doch noch nie mit Balu raus.“ Andreas Jansen nahm die Fernbedienung vom Sofatisch und schaltete ins erste Programm. „Ich habe keine Ahnung, außerdem ist morgen doch Schule, sie muss ja irgendwann auch ins Bett“, ergänzte seine Frau Birgit.

„Wenn sie nach der Tagesschau immer noch nicht zurück ist, rufen wir ihre Eltern an, vielleicht hat sie ja mit dem Hund einen Abstecher zu ihnen gemacht.“

Wenige Minuten später hörte das Ehepaar Geräusche an der Haustür, erst ein Winseln, dann ein Jaulen, das schließlich in Kratzen überging.

„Oh, sie sind wieder da, endlich. Heute hat sie sich die fünf Mark fürs Gassigehen mehr als verdient.“ Andreas sprang vom Sofa auf und eilte zur Haustür. Er öffnete und blickte in zwei treue Hundeaugen, die einem hechelnden und mit dem Schwanz wedelnden Labrador gehörten.

„Hallo, Balu, was ist los? Und wo hast du Corinna gelassen?“ Andreas streichelte den Hund und suchte dabei mit seinem Blick den Vorgarten ab. Von Corinna gab es keine Spur zu sehen. Balu zwängte sich an Andreas vorbei in den Flur, als er sein Frauchen aus dem Wohnzimmer kommen sah. Bellend sprang er sie an.

„Was ist denn los mit dir, kleiner Stinker?“ Birgit kraulte Balu beruhigend den Hals. „Ist Corinna gar nicht da?“, wandte sie sich an ihren Mann.

„Bis jetzt habe ich sie nicht gesehen.“ Andreas ging bis vorn zur Straße und schaute sich dort um. Ratlos kam er ein paar Augenblicke später zurück ins Haus.

„Vielleicht ist sie wirklich schon wieder zu Hause“, vermutete Birgit.

„Sie würde doch niemals den Hund allein über die Straße nach Hause rennen lassen. Außerdem hat er noch die Leine um den Hals.“ „Na ja, wenn ich mir vorstelle, wie ich in dem Alter war … Da begegnet man zufällig dem Jungen, den man toll findet, und schwups, ist der Hund vergessen.“

Andreas schaute seine Frau an. „Die Kleine ist elf Jahre alt. Nein, wir rufen bei ihren Eltern an. Dann wissen wir wenigstens, ob sie wieder zu Hause ist.“

Keine halbe Stunde später befand sich der gesamte Ort in Aufruhr. Corinna war auch nicht zu Hause angekommen und ihre Eltern, Anne und Stefan, hatten die Nachbarn um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter gebeten. In einem 2000-Einwohner-Dorf, in dem überdies jeder jeden kennt, hatte sich die Nachricht vom Verschwinden Corinnas schnell herumgesprochen. Am späten Abend war ganz Helvern auf den Beinen, um das Mädchen zu finden. Ein mit unzähligen Taschenlampen bestückter Pulk hatte sich in der hereinbrechenden Dämmerung über das ganze Gemeindegebiet und die angrenzenden Außenbereiche verteilt. Wer einen Hund besaß, hatte ihn als Spürhund mitgebracht. Einige der Jäger im Ort nahmen sogar, übertriebenermaßen, mit ihren Flinten an der Suchaktion teil. Das starke Gemeinschaftsgefühl, das Menschen in Gruppen mit überschaubarer Größe in der Not noch enger zusammenschweißt, war an jeder Ecke Helverns zu spüren. Es schien fast so, als wäre eine Großfamilie aufgebrochen, um ihre verloren gegangene Tochter wiederzufinden.

Für Corinnas Eltern war das nur ein schwacher Trost.

„Hatten Sie heute oder in den vergangenen Tagen Streit mit Ihrer Tochter? Vielleicht ist sie ja weggelaufen.“ Olaf Teubner, der lokale Polizeibeamte in Helvern, versuchte so einfühlsam wie möglich mit den Kammlers umzugehen. Die beiden hockten im Wohnzimmer und wirkten völlig aufgelöst im Angesicht ihrer über ihren Köpfen zusammenbrechenden Welt. „Nein, es war alles in Ordnung. Außerdem würde Corinna niemals ausbüxen. Da ist sie einfach nicht der Typ für. Sie bekommt ja schon Heimweh bei einer zweitägigen Klassenfahrt“, schluchzte Anne.

„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, da muss etwas Schlimmes passiert sein. Wollen Sie nicht lieber Verstärkung rufen und eine Suchaktion mit noch mehr Polizisten starten?“, fragte Stefan.

„Ich habe bereits weitere Polizeikräfte angefordert. Die Kollegen von der Kriminalpolizei sind schon informiert und unterwegs. Eine Hundertschaft rückt sogar aus Düsseldorf an. Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin überzeugt, dass Corinna spätestens morgen früh wieder mit Ihnen frühstücken wird. Wir sind hier immerhin noch in Helvern und nicht in der Großstadt, hier kommen keine Kinder zu Schaden. Hat sie eine beste Freundin?“

„Ja, Verena. Verena Eilers“, antwortete Anne.

„Haben Sie sie schon angerufen?“

„Selbstverständlich. Die beiden waren heute Nachmittag zwar unterwegs, sind dann aber irgendwann getrennte Wege gegangen.“

„Verstehe“, murmelte Teubner. Als Dorfpolizist schien er mit der Situation überfordert. Wann hatte er in seiner Laufbahn schon mal mit einem Vermisstenfall zu tun?

„Wie dem auch sei, wir tun alles in unserer Macht Stehende“, beruhigte der Polizist abermals. „Hoffentlich ist das genug, Herr Teubner, hoffentlich ist das genug.“ Stefan blickte Teubner eindringlich in die Augen.

Teubner stand auf und machte ein paar Schritte in Richtung Haustür. „Ich werde bald zurück sein. Bitte achten Sie auf das Telefon. Und noch mal: Versuchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“

Teubner atmete tief durch, als Stefan Kammler die Haustür hinter ihm schloss. Er sehnte sich die Kollegen vom LKA als Unterstützung herbei, sie wären der Familie bestimmt eine größere Hilfe als er.

Es war bereits stockfinster, als die fünf Polizei-Busse der Hundertschaft aus Düsseldorf auf dem Marktplatz im Zentrum Helverns stoppten. Die schweren Stiefel der knapp 100 Beamten klockten auf dem Kopfsteinpflaster. Die Truppe stellte sich vor dem Brunnen in der Mitte des Marktplatzes auf, neben dem eine einsame Laterne ihr schummriges Licht verstrahlte. Ein dunkelhaariger Mann, etwa 45 Jahre alt, stellte sich unter die Laterne, damit seine Truppe ihn gut sehen konnte. Sein Kollege Olaf Teubner hatte die Ankunft der Hundertschaft sehnsüchtig erwartet und schüttelte dem Mann die Hand.

„Gut, Leute. Einige von Ihnen kennen mich noch nicht, mein Name ist Kriminalkommissar Karl Meuthen. Die Situation ist klar. Wir sind auf der Suche nach der elfjährigen Corinna Kammler. Sie ist etwa einen Meter fünfzig groß und hat schulterlanges, dunkelblondes Haar. Das Mädchen gilt seit dem frühen Abend als vermisst. Sie wurde das letzte Mal gesehen, als sie den Hund einer befreundeten Familie zum Spazierengehen abgeholt hat. Sie werden in den kommenden Stunden das Gelände um die Stadt nach Spuren absuchen, während ich mit dem Kollegen hier ein paar Befragungen durchführen werde.“ Teubner faltete einen Lageplan von Helvern auseinander und hielt ihn in die Höhe. „Der Ort ist fast vollständig von landwirtschaftlichen Grünflächen umgeben, nur hier oben im Nordosten gibt es ein größeres Waldstück. Corinna hat damals mit ihren Freunden dort oft gespielt. Ich habe ein paar Karten ausgedruckt.“ Teubner verteilte die Blätter an die Hundertschaft, die sich in Gruppen einteilte und kurz drauf abmarschierte. Meuthen und Teubner setzten sich ebenfalls in Bewegung, um ihre Befragung zu starten, als sie unweit des Marktplatzes auf ein halbes Dutzend mit Jagdgewehren bewaffnete Männer in Tarnfleckanzügen stieß. Als die Männer die Uniformen sahen, stoppten sie abrupt.

„Was soll das hier sein?“, fragte Meuthen. Die Männer schauten einander verunsichert an. Bis einer von ihnen das Wort ergriff, der Vorsitzende Wilfried Reilmann. „Wir sind der Hegering Helvern. Wir dachten uns, wir nutzen die Zeit, bis die Polizei eintrifft, und machen uns schon mal auf die Suche nach der kleinen Corinna. Hier hilft man sich, wo man nur kann, wissen Sie?“, antwortete Reilmann.

Karl Meuthen seufzte. Abgesehen davon, dass er eine natürliche Abneigung gegen Bürgerwehren, Nachbarschaftswachen und jede andere Art von nicht staatlich organisierter Gewaltausübung hegte, kochte er ob der Unfähigkeit, mit der die Truppe von Jägern vorging.

„Und da haben Sie sich direkt mal gedacht, dass Sie bei Ihrem kleinen Feldzug in den Wald gehen und vielleicht sogar noch ein bisschen rumballern können? Mit Sicherheit können Sie Spuren von Wildtieren erkennen. Aber wissen Sie auch, worauf es bei Entführungsopfern zu achten gilt?“, schimpfte Meuthen, der darauf verständnislos von den Jägern gemustert wurde.

„Besser, wir unternehmen was, als hier nur rumzusitzen und Däumchen zu drehen. Und wer sind Sie überhaupt?“, fragte Reilmann und baute sich wie ein Silberrücken, der sich zur Verteidigung seines Reviers bereit macht, vor Meuthen auf.

„Karl Meuthen, LKA Düsseldorf – und Ihre derzeit beste Hoffnung, das kleine Mädchen wiederzufinden.“ Meuthen wollte bewusst ein wenig dramatisch auftreten. Er kannte Männer wie Reilmann nur zu gut und verstand, dass Situationen wie diese häufig zu blindem Aktionismus führten. Meuthen starrte ihm unnachgiebig in die Augen, bis der Jäger schließlich nachgab und sich abwandte. Meuthen beschloss, die Wogen zu glätten.

„Hören Sie mir zu, wir schätzen Ihren Einsatz wirklich sehr, aber bitte, lassen Sie uns als Profis die Sache angehen. Wir wurden dafür ausgebildet, und wenn jemand die kleine Corinna finden kann, dann sind es wir. Ich sage es nicht gern, aber momentan behindern Sie nur unsere Ermittlungen. Bitte gehen Sie nach Hause, je eher wir hier weitermachen können, desto besser. Sollten wir Ihre Hilfe benötigen, verspreche ich Ihnen, dass wir Bescheid geben. “

Die Jäger schauten einander verunsichert an und murmelten undeutliche Sachen vor sich hin. Einige äußerten vereinzelt Protest, schließlich wollten sie sich in ihrem Dorf nichts befehlen lassen. Als Teubner als ihr Polizist Meuthen den Rücken stärkte und ebenfalls sagte, dass die Männer nach Hause gehen sollten, fügten sie sich und trotteten davon. Meuthen schaute ihnen zufrieden hinterher.

„Gut, Herr Teubner, dann machen wir uns also an die Arbeit.“

Es war schon lange wieder hell, als Karl Meuthen und Olaf Teubner an der Haustür der Kammlers klingelten. Anne Kammler öffnete. Ihre roten Augen hatten Ränder, sie bat die Männer herein. Anne und Stefan waren die Nacht über von einem Polizeipsychologen betreut worden, zwei weitere Kollegen hatten das Telefon mit einer Fangschaltung bewacht.

„Guten Morgen. Hat sich jemand gemeldet?“, erkundigte sich Meuthen bei ihnen.

„Bisher nicht. Habt Ihr etwas gefunden?“ „Nein, auch nicht, aber wir bleiben dran.“

Anne Kammler begann zu weinen, auch wenn sie sich fühlte, als ob sie während der Nacht jede Träne schon vergossen hätte. Stefan nahm sie in den Arm. „Sie werden sie finden, irgendwo muss sie doch sein!“, rief Stefan. Dem Polizeipsychologen gelang es umgehend, ihn wieder zu beruhigen.

Karl Meuthen arbeitete nun schon über zwei Jahrzehnte für das Landeskriminalamt. Kindesentführungen waren seiner Meinung nach das Schlimmste, was es gab, und trotz all seiner Erfahrung hatte selbst er jedes Mal aufs Neue mit den Bildern zu kämpfen, die sich ihm bei solchen Fällen boten. Selbst dann, wenn sie sich nur in seinem Kopf abspielten. Auch die Eltern der entführten Kinder taten ihm unbeschreiblich leid, und irgendwie war es bei den Kammlers heftiger als sonst. Normalerweise ließ er sich nicht zu irgendwelchen Versprechen hinreißen, doch diesmal war alles anders.

„Wir werden Corinna lebendig finden, Herr Kammler, ich gebe Ihnen mein Wort.“

Kapitel 3

Mai 1999, zwei Tage nach dem Verschwinden von Corinna Kammler, in der Nähe von Euskirchen

„Mein Gott, was ist denn heute mit dir los, Spotty?“ Heikes Dalmatiner zerrte fest an der Leine, und sie hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. „Hey, komm zurück, Spotty!“ Heike glitt die Leine aus der Hand, und der Hund sprintete zwischen den Bäumen entlang, bis er in einiger Entfernung neben einem Stapel dicker Baumstämme stehen blieb. Heike hastete dem Dalmatiner hinterher und achtete genau darauf, wo ihre Füße den mit Wurzeln durchzogenen Waldboden berührten, um nicht zu stolpern. Sie hatte sich schon mal ein Bein in einer ähnlichen Situation gebrochen und hatte keine Lust, das noch mal mitzumachen. Durch das Gestrüpp am Waldrand konnte sie Spottys Körper nicht erkennen, nur der schwarz gepunktete Schwanz ragte in die Höhe. „Jetzt komm zurück, los!“, befahl Heike ihrem Haustier, doch Spotty fand etwas anderes wohl gerade spannender als die Kommandos seines Frauchens. In der Hundeschule hatten sie Heike prophezeit, dass der junge Hund wohl einige Zeit brauchen würde, bis er gehorchte. Nur wie viele Stunden Training würde das noch kosten?

„Spotty, ich hab dir doch gesagt, dass …“ Heike drang durch das Gebüsch zu ihrem Hund. Sie stockte. Was hatte das Tier da entdeckt? Heike atmete durch die Nase ein. Sie kannte einen ähnlichen Geruch vom Grillen, ja, es roch nach gebratenem Fleisch. Aber wieso neben einer Straße mitten im Wald? Einen Augenblick später zuckte sie zusammen. Ein undefinierbarer, schwarzverkrusteter Ast lag vor ihr. Spotty stand rechts neben ihr und wedelte mit dem Schwanz. Blankes Entsetzen überkam sie, als sie es realisierte: Der verkrustete Ast war ein Bein. Was da vor ihr lag, war eine verkohlte Leiche. Nur noch das Gesicht war halbwegs gut zu erkennen und ließ darauf schließen, dass es sich um ein totes Mädchen handelte. Spotty schlabberte der Toten mit seiner feuchten Zunge über die Stirn. Heike wurde übel, und sie merkte, wie ihr langsam das Frühstück hochkam. Sie wandte sich ab und übergab sich ins Gebüsch.

„Spotty, aus! Komm weg da!“, schrie sie angewidert. Sie wischte sich mit der linken Hand den Mund ab und riss mit der rechten den Dalmatiner am Halsband fort. „Scheiße, was mache ich jetzt?“, sagte sie sich immer wieder und musste mehrmals schlucken. Den brennenden Geschmack von Magensäure, der bis weit in ihre Speiseröhre hinunter ragte, spülte sie mit Wasser aus ihrer Trinkflasche hinunter. Etwas abseits von der Leiche setzte sie sich auf einen Stein. Es dauerte Minuten, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie musste die Polizei benachrichtigen. Leider gab es weit und breit keine Telefonzelle. Aus diesem Grund hatte sie sich ja den Wald hier zum Laufen ausgesucht, um möglichst weit weg von allen anderen zu sein. Heike machte sich auf den Weg zu einem Bauernhof, der rund einen Kilometer entfernt lag.

Eine halbe Stunde später war das gesamte Waldstück abgesperrt. Überall wimmelte es von Einsatzkräften, die nach Spuren suchten und dabei waren, den Fundort der Leiche vor Schaulustigen abzuschirmen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis Kriminalkommissar Karl Meuthen aus Düsseldorf eintraf. Zwei Streifenpolizisten ließen ihn unter dem Absperrband hindurch. Schon von Weitem sah er, wo die Leiche liegen musste. Drei Kollegen von der kriminaltechnischen Untersuchung knieten in ihren weißen Schutzanzügen neben einem Stapel von Baumstämmen, eine vierte Kollegin machte Fotos und ein fünfter steckte Laub vom Fundort in eine Plastiktüte. Meuthen ließ die fünf ungestört ihre Arbeit machen und hielt sich dezent im Hintergrund auf, während sie Proben von der Leiche und der unmittelbaren Umgebung nahmen und alles säuberlich dokumentierten. Beim Näherkommen erhaschte Meuthen ab und zu zwischen den weißen Schutzanzügen einen Blick auf den entsetzlich zugerichteten Leichnam. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Schließlich gab die Spurensicherung die Leiche frei und Meuthen näherte sich vorsichtig. Der Geruch gebratenen Fleisches war unerträglich. Es war allerdings nicht der Duft selbst, sondern die Tatsache, dass er von einem Menschen ausging. Schlimmer war allerdings der Anblick des Mädchens im ringsum verkohlten Gras. Meuthen starrte auf die Leiche, die zusammengekrümmt zu seinen Füßen lag. Das Gesicht war noch gut zu erkennen. Es war Corinna Kammler. Den Fotos nach zu urteilen, die Corinnas Eltern ihm zur Verfügung gestellt hatte, bestand kein Zweifel. Er unterdrückte die aufkommende Übelkeit. Wer tut einem Mädchen so etwas an?Was soll ich jetzt den Eltern sagen? Ich habe es Ihnen doch versprochen, ging ihm durch den Kopf.

Meuthen wusste mit dem schrecklichen Bild, das sich ihm bot, nicht viel anzufangen. Für ihn offensichtlich erkennbar war lediglich, dass die Leiche angezündet worden war. Den Rest würde der Gerichtsmediziner klären müssen, der glücklicherweise ein paar Minuten später eintraf.

„Das ist gar nicht leicht zu finden. Hier in der Einöde. Ich hab die Einfahrt nur dank der ganzen Streifenwagen gefunden“, entschuldigte sich Dr. Jaeger, der, wie Meuthen, aus Düsseldorf angereist war.

„Was haben wir denn hier?“ Jaeger kniete sich neben die Leiche und verschaffte sich einen ersten Überblick. Er schien dabei völlig unbeeindruckt von dem Zustand, in dem sich das tote Mädchen befand. Meuthen führte das darauf zurück, dass man als Pathologe mit der Zeit und den ganzen Leichen, denen man tagtäglich ausgesetzt war, wohl abstumpfte. Er selbst hatte dagegen erst ein Mal zuvor einen verbrannten Menschen gesehen.

„Es ist ungewöhnlich, dass der Kopf nicht mit verbrannt ist“, bemerkte Jaeger.

„Das habe ich auch gedacht.“

Jaeger kramte ein Diktiergerät aus seinem dunkelbraunen Arztkoffer, drückte die Aufnahme-Taste und räusperte sich in das Mikrofon. „Es handelt sich um ein junges Mädchen, nicht älter als zwölf Jahre, würde ich schätzen. Knapp über dem Schlüsselbein ist das Gewebe noch weitgehend intakt. Das spricht dafür, dass hier ein Brandbeschleuniger zum Einsatz kam. Vielleicht Benzin. Der Täter hat den Körper der Leiche mutmaßlich damit übergossen und den Kopf ausgelassen.“ Jaeger holte einen dünnen Edelstahl-Stab aus seinem Koffer und sondierte damit vorsichtig einige der verbrannten Stellen.

„Warum ist die Leiche so zusammengekrümmt?“, fragte Meuthen.

Jaeger war so vertieft in seine Arbeit, dass er erst nach mehreren Sekunden antwortete. Insgesamt machte er auf Meuthen den Eindruck eines Mannes, zu dem man schwer durchdringen konnte, was er aber nicht weiter schlimm fand, solange er gute Arbeit leistete. „Durch die Hitze beim Verbrennen kommt es im Körper zu Muskelkontraktionen, die Gliedmaßen werden in eine Art Embryonalstellung zusammengezogen. Der Fachbegriff dafür ist pugilistische Stellung. Das leitet sich von dem lateinischen Wort für Boxer ab, weil es aussieht wie die Haltung eines Boxers.“

Jaeger schaute sich den linken Arm der Leiche genauer an. Von den freigelegten Knochen von Speiche und Elle hingen ein paar Gewebefetzen herab. Das Feuer hatte die Knochen zu dunklem Bernstein verfärbt. Nahe dem Ellenbogen waren sie schwarz und von der Hitze rissig geworden.

Jaeger zeigte auf das Handgelenk. „Sehen Sie das? Das sind die Reste eines Lederarmbands.“ Meuthen schaute genauer hin und erkannte das dünne Band.

„Das ist das verschwundene Mädchen, nach dem Sie suchen, richtig? Corinna Kammler“, fragte Jaeger und deutete auf den Kopf.

„Höchstwahrscheinlich ist sie das, ja. Sie wurde am Mittwochabend das letzte Mal lebendig gesehen. Seit wann liegt sie hier ungefähr?“

Jaeger schaute sich Corinnas weitgehend unversehrten Kopf noch einmal genauer an und drückte einige Male auf ihre Wange. „Anhand der Leichenflecken würde ich sagen, dass es knapp 36 Stunden sind. Sehen Sie das? In diesem Zeitraum kann man die Flecken noch zumindest teilweise unter kräftigem Fingerdruck wegdrücken.“

„36 Stunden also. Dann hat er die Leiche schon kurz nach der Entführung vergewaltigt und verbrannt“, murmelte Meuthen.

„Ob er sie vergewaltigt hat, kann ich Ihnen erst nach einer eingehenden Untersuchung in Düsseldorf sagen“, sagte Jaeger.

Meuthen nickte bedächtig. Er hatte ein bisschen Angst vor dem, was als Nächstes kommen würde. „Gut. Ich sage den Eltern Bescheid, dass sie ihre Tochter identifizieren sollen. Dann können Sie heute Nachmittag starten.“

In den vergangenen beiden Tagen waren Anne und Stefan Kammler durch die Hölle gegangen. Jedes Mal, wenn das Telefon oder die Schelle an der Haustür klingelten, hatten sie den Schreck ihres Lebens bekommen. War es der Entführer? War es die Polizei, die ihnen mitteilte, sie hätten ihre Tochter oder zumindest Hinweise auf ihren Verbleib gefunden? Auch als Kriminalkommissar Meuthen diesmal die Türklingel betätigte, durchfuhr die Eltern ein Schock. Sie öffneten ihm die Tür und konnten sofort an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass etwas anders war als in den Tagen zuvor. Anne ahnte bereits, weshalb Meuthen vor der Tür stand, und brach zusammen. Nur der schnellen Reaktion ihres Mannes war es zu verdanken, dass sie nicht auf den Boden stürzte. Umgehend eilte Meuthen Stefan zu Hilfe und die Männer trugen Anne auf die Wohnzimmercouch. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder zu sich kam.

„Sie haben Corinna gefunden, nicht wahr? Sie ist tot, stimmts?“, fragte Anne seltsam gefasst.

„Ja, es tut mir sehr leid. Ihre Leiche lag an einem Waldweg in der Nähe von Euskirchen.“

Lange Momente des Schweigens vergingen.

„Ich habe es geahnt, die ganze Zeit über“, begann Anne schließlich. „Musste sie leiden?“

„Wir gehen nicht davon aus.“ Meuthen sparte sich die Details zum Zustand, in dem Corinnas Leiche gefunden wurde, für diesen Moment. „Ihre Tochter soll heute Nachmittag in der Gerichtsmedizin in Düsseldorf untersucht werden.“

Stefan Kammler überkam plötzlich ein Wutausbruch. „Das könnt ihr, ja? Die Leiche meiner Tochter untersuchen. Dann, wenn es zu spät ist, seid ihr unschlagbar! Sie hatten doch versprochen, dass Sie sie finden werden.“

Meuthen ließ die Schimpftirade auf sich einprasseln. Jetzt dagegen anzureden, hatte keinen Zweck. Außerdem gelang es Anne, ihn schnell wieder zu beruhigen. Das war das erste Mal, dass Meuthen Corinnas Vater weinen sah.

„Wir werden selbstverständlich mit Ihnen nach Düsseldorf kommen“, versprach Anne, die jetzt die Rolle des starken Partners in ihrer Ehe eingenommen hatte.

Anne und Stefan mochten die Großstadt nicht besonders gern, weshalb sie sich für ein Leben auf dem Land entschieden hatten. Sie liebten die Übersichtlichkeit. Dementsprechend schwer fiel es ihnen, sich auf dem weitläufigen Gelände des Universitätsklinikums Düsseldorf zurechtzufinden, das für sich vermutlich schon so groß war wie der Ortskern von Helvern. Als sie endlich durchgeschwitzt das Institut für Rechtsmedizin gefunden hatten, wurden sie von Karl Meuthen empfangen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgten sie dem Kriminalkommissar, der eine Tür am Ende eines langen, mit Linoleum ausgelegten Flurs ansteuerte. Hinter der Tür verbarg sich ein mit weißen Fliesen verkleideter Raum, in dessen Mitte eine Bahre stand. Ein Mann, dem Namensschild an seinem weißen Kittel hieß er Dr. Rolf Jaeger, stand mit einem weitere Weißkittel ohne Namen neben der Bahre, auf der Corinna unter einem grünen Tuch lag. Anne wäre am liebsten wieder in den Flur gerannt, doch sie blieb stark. Die Eltern traten an die Bahre heran und Dr. Jaeger zog das Tuch zurück. Kommissar Meuthen hatte ihn gebeten, nur den Bereich bis zum Hals zu zeigen, um den Eltern den Anblick des verbrannten Körpers zu ersparen. Sie mussten schon genug leiden. Der Kopf genügte Anne und Stefan, um Gewissheit zu erlangen, dass ihre Tochter da vor ihnen lag. Die beiden begannen zu weinen. Obwohl Dr. Jaeger es geschafft hatte, den beiden zumindest nicht den verbrannten Körper zumuten zu müssen, hatten sich einige Wunden in Corinnas Gesicht leider nicht verbergen lassen. Kleinere Wildtiere aus dem Wald hatten sich an mehreren Stellen am Fleisch über den Wangenknochen gütlich getan. Meuthen gab den Eltern ausreichend Zeit, sich innerlich von ihrer Tochter zu verabschieden. Schließlich signalisierte er Dr. Jaeger ein Zeichen, Corinnas Gesicht wieder zu bedecken.

„Finden Sie den Kerl, der meiner Tochter das angetan hat“, zischte Stefan Kammler und starrte mit leerem Blick weiter auf die Bahre. „Finden Sie ihn, bevor ich Ihnen zuvorkomme. Wenn ich ihn in die Finger kriege, kann ich für nichts garantieren.“

„Bitte unternehmen Sie nichts Dummes, vor allem rate ich Ihnen von Selbstjustiz ab. Ich verspreche Ihnen, dass wir ihn finden.“ Meuthen pokerte hoch. Er hoffte, sein Versprechen nicht ein zweites Mal brechen zu müssen.

Kapitel 4

November 2020, Düsseldorf

Alle Straßenbahnen auf der Linie 709 hatten heute wegen eines Unfalls eine Verspätung. Als die Tram endlich in die Birkenstraße bog, war die Nasskälte bereits durch Alexanders für den Monat November eigentlich zu dünne Baumwolljacke gedrungen. Wie erwartet reichten die 15 Fahrtminuten von seiner Station in Flingern bis zur Völklinger Straße nicht aus, um sich aufzuwärmen. Glücklicherweise waren es von dort nur noch wenige Gehminuten bis zum Landeskriminalamt.

Schon von Weitem war der schlichte, elegante Neubau des LKA zu erkennen. Der helle, knapp 200 Meter messende Gebäudekomplex wurde durch lange Fensterzeilen aufgelockert und war nach Ansicht von Alexander eine schöne Bereicherung für Düsseldorfs Skyline. Er erinnerte sich daran, wie er sich 2010, als ganz junger Kriminalkommissaranwärter, gefreut hatte, direkt nach Fertigstellung dort einziehen zu dürfen.

In seinem Büro im zweiten Stock wurde er bereits ungeduldig erwartet.

„Guten Morgen, Alexander, der Chef hat eine spontane Besprechung einberufen, kommst du mit?“, sagte sein Büronachbar Thomas Harms.

„Darf ich vielleicht erst mal ankommen? Und was für eine Besprechung soll das sein? Hat er was angekündigt?“, fragte Alexander genervt. Er legte seine Jacke auf den Schreibtisch und folgte Harms in den Meetingraum am Ende des Flurs. Alle Stühle waren besetzt, neben dem Pult wartete sein Vorgesetzter Hans Arends neben einem älteren Mann. Arends begrüßte Alexander mit einem kurzen Nicken, das dieser mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte.

„Guten Morgen zusammen. Entschuldigung für die Spontaneität und danke, dass Sie trotzdem alle hier sind. Ich weiß, dass Sie alle viel zu tun haben, und will Sie nicht unnötig auf die Folter spannen, deshalb rede ich nicht lang um den heißen Brei herum und komme direkt zur Sache. Es geht um einen Mord, der 21 Jahre zurückliegt. Um den Fall Corinna Kammler. Einige von Ihnen werden sich erinnern, die Jüngeren von Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Deshalb gebe ich jetzt an den Herren hier neben mir ab.“

Arends trat ein paar Schritte zur Seite und überließ dem Unbekannten das Feld. Alexander glaubte, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben, nur wo?

„Vielen Dank. Guten Morgen auch noch mal von meiner Seite. Mein Name ist Karl Meuthen und ich bin ein Kollege von Ihnen. Besser gesagt, Ex-Kollege, da ich mich seit zwei Jahren im Ruhestand befinde. Ich habe damals von LKA-Seiten die Ermittlungen im Fall Corinna Kammler geleitet. Vorweg: Es handelt sich um einen Cold Case, wir haben den Mörder nie gefunden.“ Meuthen schaltete den Projektor an der Decke ein und startete eine Power-Point-Präsentation. Das erste Bild war das einer verkohlten Mädchen-Leiche neben einem Waldweg. Ein verstörtes Raunen ging durch den Besprechungsraum. „Das sind die sterblichen Überreste von Corinna Kammler. Sie war elf Jahre alt.“

Alexander begann zu rechnen. Als Corinna vor 21 Jahren ermordet wurde, war er fast genauso alt wie sie.

„Corinna kam von einem Spaziergang mit dem Nachbarhund in ihrem Heimatort Helvern nicht zurück. Das ist eine Gemeinde mit rund 2000 Einwohnern zwischen Düsseldorf und Mönchengladbach. Zwei Tage später hat eine Spaziergängerin sie in diesem Zustand in einem Wald bei Euskirchen gefunden.“ Meuthen deutete auf das Bild an der Leinwand. „Bei der Obduktion in der Rechtsmedizin hier in Düsseldorf stellte sich heraus, dass Corinna betäubt und vergewaltigt wurde. Die toxikologische Untersuchung hat ergeben, dass in ihrem Blut Reste des Betäubungsmittels Propofol nachzuweisen waren. Das ist ein kurz wirkendes intravenöses Narkosemittel zur Einleitung und Aufrechterhaltung einer Narkose bei Kindern. Man kann allerdings von einer Gnade sprechen, dass das Mädchen betäubt war, da der Täter sie nachher mit Benzin übergossen und verbrannt hat. Trotz größter Anstrengungen und Arbeit bis zur Erschöpfung war es uns nicht möglich, den Täter zu finden.“ Meuthen machte eine Pause. Alexander beobachtete ihn und bekam den Eindruck, als belaste ihn die Situation nach all den Jahren und trotz seiner Pensionierung immer noch. Als stünde ein gebrochener Mann da vorn, der versuchte, sein Scheitern vor der Welt und, vor allem, sich selbst zu rechtfertigen. Alexanders Chef, Hans Arends, ergriff wieder das Wort. „Vor ein paar Wochen haben wir uns dazu entschlossen, den Fall Corinna Kammler noch einmal aufzurollen, darüber möchten wir Sie heute in Kenntnis setzen.“

Gemurmel drang durch den Besprechungsraum. „Haben Sie bis hierher Fragen?“, erkundigte sich Arends.

„Wir haben eine Datenbank mit bis jetzt über 1000 Cold-Case-Fällen. Warum fangen wir ausgerechnet mit dem Fall Corinna Kammler an? Und warum erst jetzt?“, fragte eine junge Profilerin aus der ersten Reihe.

Arends hustete kurz und entschuldigte sich. „Vielen Dank, das ist eine gute Frage, die sicherlich mehrere von Ihnen interessiert. Dafür gibt es einige Gründe. Wir haben heute neue und erfolgversprechendere Möglichkeiten zur Analyse und Auswertung von DNA-Spuren, als es vor einigen Jahren noch der Fall war. Außerdem gab es kürzlich einige Gesetzesänderungen, die uns nun zugutekommen. Ich werde gleich etwas dazu sagen. Ausschlaggebend ist jedoch eine Studie des Kriminalamtes, die sich mit dem geografischen Verhalten fremder Täter bei sexuellen Gewaltdelikten befasst hat. Diese kommt zu dem Schluss, dass in 87 Prozent dieser Fälle der Täter im Umkreis von 15 Kilometern zur Wohnung des Opfers wohnt.“

„Außerdem kann ich nicht abstreiten, dass ich mich bei dem Kollegen sehr für den Fall Corinna Kammler stark gemacht habe“, ergänzte Meuthen. Für Alexander schloss sich ein Kreis. Meuthen hatte der Fall offenbar nie ganz losgelassen, warum sonst sollte man noch zwei Jahre nach seiner Pensionierung so ein großes Interesse haben, dass ein Cold Case wieder aufgerollt wird?

„Wie dem auch sei, wir werden nun mit einer DNA-Reihenuntersuchung fortfahren. Dazu haben wir Ende vergangener Woche alle rund 800 Männer, die zur Tatzeit zwischen 14 und 70 Jahre alt waren und in Helvern gewohnt haben, angeschrieben und aufgerufen, sich einem freiwilligen Speicheltest zu unterziehen. Die Anschreiben müssten inzwischen ihre Empfänger erreicht haben. Heute Nachmittag werden wir deshalb die Presse über unser Vorgehen informieren. Wir werden nach und nach mit entsprechenden Aufgaben auf Sie zukommen. Gibt es weitere Fragen?“ Niemand meldete sich und Aufbruchsstimmung breitete sich im Besprechungsraum aus.

„Herr Hoorn, kommen Sie bitte einmal zu uns nach vorn?“, rief Arends Alexander durch die laute Geräuschkulisse. Alexander wartete, bis alle Kolleginnen und Kollegen den Raum verlassen hatten. Arends und Meuthen begrüßten ihn freundlich, bevor der Chef zur Sache kam.

„Morgen startet die DNA-Reihenuntersuchung, ich möchte, dass Sie parallel in Helvern recherchieren“, erklärte Arends.

„Verstehe. Gibt es Ausgangspunkte von damals, an die ich anknüpfen kann?“, fragte Alexander. Bevor Meuthen antworten konnte, grätschte Arends dazwischen. „Wir wollen bewusst alte Zöpfe abschneiden und nicht noch mal Herrn Meuthen auf den Fall ansetzen. Ein anderer Blickwinkel ist manchmal sehr hilfreich. Ich hoffe, Sie nehmen das nicht persönlich. Außerdem sollen Sie Ihren Ruhestand genießen und Sie haben uns schon genug geholfen.“

„Keine Angst, ich nehme Ihnen das nicht übel. Ich halte mich weitestgehend aus den Ermittlungen raus. Sollten Sie mich bei irgendetwas zurate ziehen wollen, können Sie mich aber selbstverständlich jederzeit kontaktieren. Bis dahin habe ich hier eine Liste mit wichtigen Namen von damals. Vielleicht bekommen Sie von den Leuten noch die ein oder andere hilfreiche Information“, sagte Meuthen.

„Dann haben wir das ja geklärt. Hoorn, Sie fahren direkt morgen nach Helvern und bleiben am besten bis zum Ende der Untersuchung dort. Machen Sie sich ein Bild von der Ortschaft. Achten Sie auf die Menschen. Fahren Sie Ihre Antennen aus. Tun Sie so, als wäre Corinna erst gestern ermordet worden. Ach, wem sag ich das alles, Sie sind ja einer meiner besten Ermittler. Alle Akten zu dem Fall lasse ich in Ihr Büro bringen.“

Für einen Augenblick hatte Alexander sich gewundert, warum ausgerechnet er mit dem Fall betraut wurde. Jetzt wusste er, warum – und fühlte sich geschmeichelt. Arends hielt offensichtlich große Stücke auf ihn, auch wenn er es oft nicht zu zeigen wusste.

Als Alexander am späten Abend endlich in seiner Wohnung auf dem Sofa lag, brannten ihm die Augen. Nach der Besprechung hatte er den restlichen Tag mit dem Studium der Akten zum Fall Corinna Kammler verbracht. Jetzt tat ihm zwar der Kopf weh, doch dafür besaß er einen umfassenden Hintergrund und fühlte sich bestens vorbereitet für seinen Einsatz in Helvern. Ein Mädchen zu betäuben, vergewaltigen, umzubringen, mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen. Zu was für schreckliche Taten Menschen doch in der Lage waren. Das war ihm heute, wie so oft zuvor, durch den Kopf gegangen. Das änderte jedoch nichts daran, dass er seinen Beruf mit derselben Motivation ausübte wie noch zu Anfang seiner Karriere. Er arbeitete gern als LKA-Ermittler und Cold Cases aufzurollen hatte es ihm ganz besonders angetan. Es gab ihm Freude, zu sehen, dass Mord- und Vermisstenfälle auch nach Jahren noch aufgeklärt werden. Es verschaffte ihm Genugtuung, zu erleben, dass Täter, die sich bereits längst in Sicherheit gewähnt hatten, nach langer Zeit ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Und es verlieh ihm Hoffnung. Seine kleine Schwester Paula war vor 20 Jahren spurlos verschwunden. Bis zum heutigen Tag konnte er sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass sie tot sein sollte. Ihre Leiche wurde nie gefunden, und tief in seinem Innern glaubte Alexander daran, dass sie nur verschleppt worden und noch am Leben war. Vielleicht war sie von irgendeiner Schlepperbande nach Osteuropa gebracht worden. Bei jedem Fall achtete Alexander auf Hinweise. Vermutlich war das Verschwinden seiner Schwester sogar der Grund dafür, warum er überhaupt zur Polizei gegangen war. Ja, er konnte Menschen wie Karl Meuthen, die an einem Entführungsfall innerlich zerbrachen, immer besser verstehen.

Gegen Mitternacht waren Alexander längst die Augen zugefallen, als ihn ein Albtraum aus dem Schlaf riss. Seine Schwester hatte zu ihm gesprochen. Sie war in Flammen gehüllt und sie hatte ein vor Schmerz zu einer Fratze verzerrtes Gesicht: „Es ist deine Schuld, Alex!“ Dann zerfiel sie zu Asche.

Alexander benötigte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Eigentlich hatte er geplant, noch vor dem Schlafengehen die Tasche für seinen Aufenthalt in Helvern zu packen. Er entschied sich jedoch kurzerhand dafür, das auf morgen zu verschieben, und taumelte lieber ins Bett.

Kapitel 5

Die Gegend um Helvern war heute Morgen komplett im Nebel versunken und die Sichtweite lag bei unter zehn Metern. Als er die heutige Ausgabe der Rheinischen Post aus dem Briefkasten zog, fühlte er mit seinen Fingerspitzen, dass das Papier schon ganz feucht war und bei zu fester Handhabe zu zerreißen drohte. Ein Auto fuhr an seinem Haus vorbei. Skeptisch versuchte er zu erkennen, wer am Steuer saß, doch der Nebel war zu dicht. Langsam verschwanden die roten Rücklichter im Nebel und das Motorengeräusch verstummte hinter der grauen Wand. Zufrieden schloss er die Haustür hinter sich. In den vergangenen Jahren hatte er in ständig größer werdender unterschwelliger, fast schon paranoider Furcht gelebt. Er hatte Angst davor, dass eines Tages jemand bei ihm vor der Haustür stand und ihn mitnehmen würde.

Auf dem Küchentisch wartete ein heißer Kaffee auf ihn. Jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging, trank er eine Tasse, gönnte sich noch eine halbe Stunde Ruhe, rauchte ein bis zwei Zigaretten und blätterte die Zeitung durch. Heute war an Entspannung nicht zu denken. Er schlürfte an seiner Tasse, schlug den Lokalteil auf und blieb direkt an der ersten Überschrift hängen. Er verschluckte sich am heißen Kaffee, von dem einige Tropfen auf dem ohnehin bereits durchweichten Zeitungspapier landeten.

Mordfall Corinna Kammler – DNA-Reihenuntersuchung in Helvern

Helvern/Düsseldorf – Nach mehr als 21 Jahren kommt Bewegung in den Mordfall Corinna Kammler. Um Hinweise auf den Mörder des im Mai 1999 vergewaltigten und getöteten Mädchens zu bekommen, werden nun 800 Männer, die zur Tatzeit zwischen 14 und 70 Jahre alt waren und in Helvern gewohnt haben, aufgefordert, eine Speichelprobe abzugeben. Das hat das Landeskriminalamt Düsseldorf gestern auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Die betroffenen Männer seien bereits mit entsprechenden Anschreiben informiert worden, so Hans Arends, Leiter der zuständigen Mordkommission beim Landeskriminalamt. Bereits ab heute haben die Männer die Möglichkeit, eine Speichelprobe abzugeben. Das LKA baut dazu eine mobile Testeinheit auf dem Marktplatz auf.

Bereits vor 21 Jahren hatte die Polizei zur Aufklärung des Mordes an Corinna Kammler eine DNA-Reihenuntersuchung durchgeführt – ohne Erfolg. Warum jetzt derselbe Aufwand noch einmal betrieben wird, weiß Hans Arends: „Beim jetzigen Test dürfen die Ermittler aufgrund einer Gesetzesänderung auch Beinahe-Treffern nachgehen; etwa, wenn ein naher Verwandter der mutmaßliche Täter gewesen sein könnte. Dann würde die Speichelprobe eine sehr ähnliche DNA anzeigen, aber eben keinen 100-prozentigen Treffer. Das würde uns bei der Suche jedoch enorm weiterhelfen.“ Kritik daran, dass die neu aufgelegte Reihenuntersuchung enorme Summen an Steuergeldern verschluckt und dabei nicht einmal einen Erfolg garantieren kann, wies das Landeskriminalamt zurück. „Wir haben die Verpflichtung, auch lange zurückliegenden, nicht aufgeklärten Fällen, den sogenannten Cold Cases, nachzugehen, damit sich die Täter auch nach Jahren nicht in Sicherheit wiegen können. Das hat eine abschreckende Wirkung“, begründete ein Sprecher die Maßnahme.

Zitternd nahm er die Zeitung runter und stieß dabei die Tasse auf dem Tisch um. Er bemerkte nicht einmal, wie der heiße Kaffee auf den Boden tropfte. Hatte die Polizei tatsächlich die Ermittlungen wieder aufgenommen. Wirre Gedanken und Zahlenspiele rasten durch seinen Kopf. Nach 21 Jahren. Habe ich in mehr als zwei Jahrzehnten nicht schon genug gelitten? Wurde ich mit Jahren des Leids nicht schon mehr gestraft als mit jeder Haftstrafe? Was, wenn ich mich damals gestellt hätte? Hätte ich mich bei der Polizei gemeldet, wäre ich zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Mit einer lebenslangen Haftstrafe wäre ich wegen guter Führung nach 15 Jahren auf Bewährung entlassen worden. Dann wäre ich jetzt schon seit sechs Jahren wieder auf freiem Fuß. Sechs Jahre. Und wenn ich mich jetzt noch stelle? Dann wäre ich in 15 Jahren …. dann wäre mein Leben vorbei. Nein, das wird nicht passieren, ich werde mich nicht stellen. Ich werde nichts gestehen. Was auch passiert. Außerdem ist das doch längst nicht mehr wahr. Sie werden mich nicht finden. Ich werde kämpfen. Ohne Rücksicht. Bis zum bitteren Ende.

Kapitel 6

Je weiter Alexander sich auf der Autobahn 52 von Düsseldorf entfernte, desto dichter wurde der Nebel. Irgendwann hatte er völlig die Orientierung verloren und konnte nur noch die Nebelschlussleuchte des Wagens vor ihm erkennen. So fangen Horrorfilme an, dachte er. Angestrengt versuchte Alexander zu erahnen, was auf den blauen Schildern am Straßenrand und an den Brücken stehen könnte. Er hoffte, dass er die Ausfahrt noch nicht verpasst hatte. Erleichtert las er nach einer Weile den Schriftzug „Helvern“ und setzte den Blinker.

Auf der Landstraße lichtete sich der Nebel allmählich und das Ortsschild Helvern war schon von Weitem lesbar. Von oben musste es so aussehen, als läge der verschlafene Ort in einem Kessel, die Landschaft rund um Helvern war dagegen noch immer von Nebel verschleiert.

Das 2000-Einwohner-Dorf wirkte wie ausgestorben. Eine große Hauptstraße durchzog den Ort, von ihr führten mehrere Nebenstraßen ab. Die Hauptverkehrsader führte Alexander geradewegs auf einen zentralen, größeren Platz, auf dem laut einem dort aufgestellten Schild immer mittwochs von 9 bis 12 Uhr der Wochenmarkt stattfand. Alexander stellte seinen Passat auf einer Parkfläche beim Marktplatz ab. Neben dem Parkplatz befand sich ein großer runder Brunnen, der Helverns Mitte markierte. Er bestand aus einem wuchtigen Sandstein-Becken mit etwa sechs Metern im Durchmesser und einer Fontäne in der Mitte. Trotz der bereits fortgeschrittenen Jahreszeit befand sich immer noch Wasser darin, die Fontäne hatte offensichtlich bereits Winterpause.

Alexander war viel zu früh dran, doch mit dem nebligen Wetter hatte er kein Risiko eingehen wollen. Die Kollegen mit der mobilen Testeinheit würden erst in einer halben Stunde anrücken. So lange blieb er im warmen Auto und vertrieb sich die Zeit, indem er das langsam erwachende Helvern beobachtete. Die Bäckerei in Helvern auf der anderen Seite des Marktplatzes war bereits hell erleuchtet. Zwischendurch liefen die ersten Leute hinein und kamen mit Papiertüten wieder raus. Ein Pärchen ging mit seinem Hund spazieren. Ein Rentner auf seinem Fahrrad hielt mitten auf dem Marktplatz ein, um neugierig zu schauen, wer denn schon so früh am Morgen mit einem Düsseldorfer Kennzeichen hier parkte. Alexander fühlte sich beobachtet. Kurz darauf fuhr der Rentner weiter. Das Leben war so, wie man es sich in einem Dorf am linken Niederrhein vorstellte.

Alexander bekam Hunger, und kurzerhand beschloss er, sich ein Brötchen vom Bäcker zu holen.

„Guten Morgen?“ Die Frau hinter der Theke begrüßte den fremden Kunden mit einem skeptischen Blick und einem fragenden Tonfall. Sie sind nicht von hier, schrie ihm ihr Verhalten förmlich ins Gesicht.

„Guten Morgen. Eine Käsebrötchen, bitte.“

Die Frau drehte sich zum Regal, den Blick immer auf den Mann auf der anderen Seite der Theke gerichtet. Als ob sie Angst hätte, Alexander könnte ihr ein Messer in den Rücken rammen.

„Sie sind neu hier, nicht wahr?“, fragte sie und warf das Käsebrötchen in eine Papiertüte.

„Ich muss hier nur arbeiten. LKA Düsseldorf.“

Man könnte förmlich hören, wie der Frau ein Stein vom Herzen fiel. „Ach, Sie sind wegen der Geschichte in der Zeitung hier.“ Sie deutete auf ein Exemplar der Rheinischen Post auf der Theke. „Mit dem Gentest. Hoffentlich finden Sie das Schwein. Seit heute Morgen gibt es in ganz Helvern wieder nur ein Gesprächsthema. Noch einmal dasselbe Theater wie vor 20 Jahren stehen wir nicht durch, das sage ich Ihnen.“

Die Frau war offensichtlich in Redelaune, Alexander hatte allerdings keine Lust auf solche Diskussionen am frühen Morgen. „Machen Sie sich keine Gedanken, wir tun unser Bestes. Schönen Tag.“ Mit einem pikierten Unterton verabschiedete die Frau ihren Kunden vom LKA.

Während Alexander sein Käsebrötchen aß, rückten die Kollegen an. Das mobile Labor glich einem Schadstoffmobil und parkte neben dem Brunnen in der Mitte des Marktplatzes. Die Männer, die zum DNA-Test aufgerufen worden waren, dürften ihn wohl schwerlich übersehen. Die Ausrede, dass die Teststation schwer zu finden war, schied also schon mal aus. Alexander war überhaupt gespannt, wie viele Männer sich wohl weigern würden, eine Speichelprobe abzugeben oder gar inzwischen unbekannt verzogen waren. In 21 Jahren konnte eine Menge passieren, wie auch schon frühere Reihenuntersuchungen gezeigt hatten.

„Guten Morgen, wie sieht es bei euch aus?“, begrüßte Alexander den Leiter des mobilen Labors, Lucas Möller.

„Wir sind bereit, um 8 Uhr starten wir mit den Tests. Bis jetzt ist ja noch nicht so viel los.“ Möller schaute einmal über den Marktplatz.

„Das liegt am Wetter. Die Leute haben keine Lust, sich hier in der Schlange den Tod zu holen, aber die kommen schon, keine Sorge. Ich beginne derweil mal mit der Befragung und komme später noch mal vorbei.“

Im Auto drehte Alexander die Standheizung auf die höchste Stufe. Anhand der Akten von damals und mit den Informationen von Karl Meuthen hatte er eine Liste mit Leuten erstellt, denen er einen Besuch abstatten würde. Mit Corinnas Eltern würde er beginnen. Dann hatte er den aus emotionaler Hinsicht schwierigsten Teil schon mal hinter sich gebracht und konnte sich in Ruhe auf alle anderen einlassen.

Während Alexander zu den Kammlers fuhr, vergegenwärtigte er sich im Kopf noch einmal die Struktur der Fragen, die er sich zurechtgelegt hatte. Das war bei Cold Cases, die schon so lange zurücklagen, besonders wichtig, um falsche Erinnerungen nach Möglichkeit auszuschließen. Die Wissenschaft wusste inzwischen, dass das Gedächtnis formbar ist, sodass etwa eine anfänglich unsichere Identifizierung von Tätern bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Zeuge vor Gericht oder in Anhörungen vor dem Prozess aussagt, im Kopf zur Gewissheit werden konnte. Dadurch beruhten mehr als 70 Prozent der Justizirrtümer auf falschen Angaben von Augenzeugen, zumal diese in vielen Strafprozessen entscheidende Indizien darstellten.

Der Steingarten vor dem Haus der Kammlers erschien in der trüben Novemberstimmung noch trostloser, als er ohnehin schon war. Ein kleines Bäumchen in der Mitte stellte das einzige Stück Natur dar, hatte aber leider bereits alle Blätter verloren.

Anne Kammler öffnete die Tür. Alexander wusste aus den Akten, dass sie 51 Jahre alt war. Wegen ihrer vielen Falten und der traurigen, müden Augen wirkte sie aber bedeutend älter. Alexander stellte sich vor.

„Ach ja, die Polizei. Wir haben in der Zeitung gelesen, dass Sie wieder aktiv werden.“ Anne zog die Nase hoch.

„Darf ich vielleicht hereinkommen? Ich möchte Ihnen und Ihrem Mann noch ein paar Fragen stellen, falls er da ist.“

„Ja, ist er. Er hat sich heute Morgen krankgemeldet. Er hat sich furchtbar aufgeregt, das wird er Ihnen gleich bestimmt mitteilen.“

Anne führte Alexander durch den Flur ins Wohnzimmer. Stefan lag dort auf dem Sofa. Obwohl er im selben Alter war wie seine Frau, schien auch er vorgealtert zu sein.

„Stefan, die Polizei ist da“, sagte Anne. Mühsam drehte Stefan seinen Kopf. Als er Alexander sah, quälte er sich vom Sofa auf, stürmte in den Flur und kehrte mit einem Briefumschlag in der Hand zurück.

„Soll das eigentlich Ihr Ernst sein?“ Stefan wedelte mit dem Umschlag vor Alexanders Nase herum. „Hier steht, dass ich in den nächsten Tagen eine DNA-Probe abgeben soll. Glauben Sie, ich hätte meiner Tochter etwas angetan? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Halten Sie mich für den Mörder von Corinna?“ Stefans Gesicht färbte sich tiefrot und er atmete schnell.

„Herr Kammler, bitte beruhigen Sie sich. Das ist eine reine Routinemaßnahme. Damit wir Ihre DNA von vornherein ausschließen können, wenn wir die Tests mit den gespeicherten Ergebnissen in der Datenbank vergleichen.“ Nach Alexander Erklärung gelang es Anne relativ schnell, ihren Mann wieder zu beruhigen. Die beiden setzten sich zurück aufs Sofa, und Alexander hatte einen Augenblick Gelegenheit, mit schnellem Blick das Wohnzimmer zu scannen. Der Raum machte einen unterkühlten Eindruck. Das einzige bisschen Wärme wurde von dem Foto auf einem Regal verstrahlt, das Anne und Stefan Kammler zusammen mit ihrer Tochter zeigte.

Davon abgesehen war die angespannte Stimmung im Wohnzimmer förmlich mit den Händen greifbar.

„Sie versuchen also noch einmal, den Mörder unserer Tochter zu finden“, bemerkte Stefan.

„Das ist richtig.“

„Und was machen Sie jetzt besser als damals?“

„Wir haben heutzutage neue Analysemethoden und rechtliche Grundlagen, auf denen wir die Ergebnissuche ausweiten können. Das lässt uns wieder hoffen, Hinweise auf den Täter zu finden.“

Stefan schüttelte langsam den Kopf. „Es ist schön, dass Sie wieder Hoffnung haben. Aber die haben meine Frau und ich schon lange verloren. Wissen Sie, Ihr Kollege, dieser Meuthen, hat uns zweimal bitter enttäuscht. Wir haben ganz einfach keinen Glauben mehr. Keinen Glauben an das Gute. Keinen Glauben an einen Gott. Und auch nicht an den Staat. Also bitte verschonen Sie uns mit Hoffnung. Unsere Tochter ist tot. Wenn Sie etwas tun können, um ihren Mörder zu finden, dann tun Sie es. Aber versprechen Sie uns nichts mehr.“

Alexander konnte nur zu gut nachvollziehen, wie die Kammlers sich fühlten. Er war der Ansicht, dass es an der Zeit war, eine Brücke zu dem Ehepaar zu bauen.

„Bevor Sie jetzt denken, vor Ihnen sitzt noch ein blöder Ermittler, der nicht im Ansatz versteht, wie Sie sich fühlen, möchte ich Ihnen eines mitteilen: Ich habe meine Schwester verloren, als sie so alt war wie Ihre Tochter Corinna damals. Ich sollte damals auf sie aufpassen und jede Nacht plagen mich Schuldgefühle und ich stelle mir immer dieselben Fragen. Was wäre gewesen, wenn ich sie nicht aus den Augen gelassen hätte? Hätte ich Sie retten können? Ist sie vielleicht noch am Leben? Bis heute hat man nämlich keine Leiche gefunden. Wenn man Ihrer Situation also etwas abgewinnen kann, ist es die Gewissheit, dass sie tot ist. Auch wenn das makaber klingt.“

Alexanders Ansprache erzielte den gewünschten Effekt. Die Kammlers gaben Alexander Auskunft, und ihre Antworten stimmten dabei erfreulicherweise weitgehend mit ihren Aussagen überein, die in den Akten von 1999 festgehalten worden waren. Leider konnte Alexander keine neuen Erkenntnisse gewinnen, doch immerhin schien das Eis zwischen ihnen gebrochen.

Die zweite Stunde hatte gerade angefangen und der Pausenhof der Katharinengrundschule war menschenleer. Durch die Fenster der Klassenzimmer sah Alexander, wie Hunderte neugierige Kinderaugen ihn auf seinem Weg zur Eingangstür verfolgten. Es kam ja auch nicht oft vor, dass ein fremder Erwachsener über den Schulhof lief. Als Corinna starb, waren die alle noch nicht auf der Welt, ging es Alexander spontan durch den Kopf.

Im etwas altbacken aussehenden Sekretariat, in dem es nach verstaubtem Teppich roch, wurde er von der Sekretärin freundlich empfangen. Gefällig setzte sie auf Bitten des LKA-Ermittlers ihren wuchtigen Körper in Bewegung und holte Lehrer Clemens Wesseling aus der laufenden Unterrichtsstunde. Früher hätte Alexander brav gewartet, bis die Unterrichtsstunde vorbei gewesen wäre. Mittlerweile hatte er sich jedoch ein dickes Fell angeeignet. Außerdem würde die Befragung des Lehrers nicht allzu lange dauern.

Verunsichert betrat Clemens Wesseling das Sekretariat. Alexander bemerkte sofort die Irritation des Lehrers. „Guten Tag und Entschuldigung, dass ich Sie so überfalle. Ich habe nur ein paar Fragen an Sie. Wir haben den Fall Corinna Kammler noch einmal aufgerollt, Sie waren damals ihr Lehrer?“

„Das stimmt. Gehen wir doch kurz in den Besprechungsraum, da haben wir mehr Ruhe.“ Alexander folgte dem Lehrer in das Zimmer neben dem Sekretariat, auf dessen Tür in schwarzen Buchstaben Direktor stand.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Direktor sind?“, begann Alexander.

„Bin ich auch nicht. Die Schule hat derzeit keinen Schulleiter. Es gibt niemanden mehr, der das machen möchte. So haben wir wenigstens einen zusätzlichen Raum“, antwortete Wesseling zynisch.

„Wie auch immer. Sie waren damals bis zur vierten Klasse Corinnas Klassenlehrer.“

„Richtig, aber als sie ermordet wurde, war sie bereits auf dem Gymnasium.“

„Es gab noch einen weiteren Kontaktpunkt: Sie waren damals Trainer im Trampolin-Turnverein, dem auch Corinna angehörte. Das ging bis über die Grundschule hinaus.“

Wesseling überlegte eine Sekunde, bevor er antwortete: „Ach ja.“ Er bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, was Alexander nicht verborgen blieb. „Was war Corinna denn so für ein Mädchen? Sie müssten sie doch, neben ihren Eltern, mit am besten kennen. Es geht mir darum, ein Bild von ihr zu bekommen, wissen Sie? Ich möchte nicht, dass Corinna einfach nur ein Fall ist, der 21 Jahre zurückliegt.“

„Na ja, sie war eher von der schüchternen Sorte. Trotzdem war sie ziemlich aufgeweckt und leicht für neue Sachen zu begeistern. Das hat sie am Ende des Tages sehr zutraulich gemacht. Also mich hat es nicht gewundert, dass sie zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist.“

„Wie kommen Sie denn darauf, dass sie freiwillig zu jemandem ins Auto gestiegen ist?“

„Ist das nicht naheliegend?“

„Wenn Sie meinen. Allerdings hatte sie einen Hund dabei. Ich glaube nicht, dass Corinna mit dem Tier zu einem Fremden ins Auto gestiegen wäre. Sie hat den Gassi-Job laut Aussage ihrer Eltern sehr ernst genommen, und sie wusste, dass dem Nachbarhund beim Autofahren immer schlecht wurde. Anders sieht es natürlich aus, wenn eine Autoritätsperson, die sie kannte, befohlen hätte, einzusteigen.“ Ein unangenehmes Schweigen füllte den Raum.

„Ich bin jedenfalls nach wie vor der Ansicht, dass einer der Pendler Corinna vergewaltigt und umgebracht hat. Hier ziehen viele Holländer durch, wissen Sie? Das liegt an der Nähe zur Grenze. Außerdem gab es zur damaligen Zeit einige Baustellen hier in Helvern, auf denen holländische Maurer gearbeitet haben.“

„Ich hoffe nicht, dass Sie etwas gegen Holländer haben, ich bin selbst ein halber“, sagte Alexander.

„Keineswegs. Aber wenn hier ein Ausländer durchfährt und denkt, nichts zu befürchten zu haben, weil er auf der Durchreise ist und man ihn niemals finden würde, dann kann er doch schon mal auf die Idee kommen, sich hier an einem Kind zu vergreifen“, führte Wesseling aus.

„Wir gehen jeder Spur nach, versprochen.“ Einerseits war Alexander dankbar für die Theorien und Sichtweisen der Zeugen aus Corinnas Umfeld. Andererseits wurde es irgendwann anstrengend, wenn man immer wieder auf dieselben Meinungen stieß. In den Aussagen in den alten Akten war wiederholt von gelben, niederländischen Nummernschildern die Rede. Jede einzelne Spur ins Nachbarland hatte am Ende jedoch ins Leere geführt. „Gab es eine beste Freundin von Corinna in der Klasse? Oder jemanden, mit dem sie sehr viel Zeit verbrachte?“

„Ja, Verena Eilers. Ich erinnere mich gut, dass der Mord an Corinna das Mädchen damals schwer mitgenommen hat. Sie hat sich danach nicht einmal mehr getraut, mit jemand Fremdem zu reden. Das hat die Arbeit der Polizei besonders schwierig gemacht. Weil sie es schließlich nicht mehr ausgehalten hat, ist sie einige Monate nach dem Vorfall mit ihrem Vater von hier weggezogen. Wohin, das weiß ich leider nicht genau. Ich glaube aber, irgendwo in den Norden.“

Just als Alexander das Schulgebäude verließ, schellte die Klingel zur großen Pause. Zügig überquerte er den Schulhof, um nicht von einer Horde wilder Schüler überrannt zu werden, die bereits mit großem Geschrei auf ihn zustürmten. Geschafft. Erleichtert schloss er die Tür seines Passats hinter sich.

Alexander ließ das Gespräch mit Clemens Wesseling Revue passieren. Bei der Unterhaltung hatte der Lehrer sich während mehrerer Stellen auffällig verhalten. Außerdem war er unnötig nervös und hatte ein wenig zu forsch mit einem holländischen Pendler einen möglichen Mörder vorgeschlagen. Vielleicht, um von seiner Rolle in dem Geflecht aus Verdächtigen abzulenken? Alexander wollte Wesseling nichts unterstellen, doch er kannte die Statistiken nur zu gut: Bei sexuellem Missbrauch waren den Opfern rund 75% der Täter gut bekannt. Etwa 20 Prozent der Täter aus dieser Gruppe waren die Lehrer der Opfer. Wenn es so war, würde die DNA-Untersuchung, an der auch Wesseling teilnehmen musste, Klarheit bringen. Alexander beschloss, fürs Erste mit seiner Befragung fortzufahren.

Kapitel 7

Mai 1999

„Mama? Darf ich die anlassen?“ Corinna baute sich in der Küche vor ihrer Mutter auf und zeigte auf die neue, kurze Jeans-Hose aus dem Einkaufszentrum in Mönchengladbach.

„Kind, es ist Anfang Mai und noch immer nicht warm genug für eine kurze Hose. Wir haben die für den Sommer gekauft. Ich will nicht, dass du dich erkältest“, entgegnete Anne auf die Frage ihrer Tochter.

„Och, bitte. Wir machen das so: Wenn mir zu kalt wird, komme ich sofort wieder rein und ziehe die lange Jeans an, was sagst du?“ Corinna schaute Anne mit ihrem breiten, überzeugenden Lächeln an.

„Aber nur, wenn du dann wirklich zurückkommst und die lange Hose anziehst. Und wenn du deine Hausaufgaben fertig hast.“

„Was denkst du denn von mir? Bis später.“ Anne schaute ihrer Tochter aus dem Küchenfenster hinterher. Manchmal befürchtete sie, in der Erziehung nicht streng genug zu sein. Vielleicht war das das größte Problem als Mutter eines Einzelkinds. Oder auch eines Vaters, denn Stefan trat gegenüber seiner Tochter nicht viel konsequenter auf. Doch am Ende machte Anne sich wenig Sorgen, Corinna würde ihren Weg schon gehen.

Wie die meisten Häuser in Helvern war auch das Haus der Familie Eilers selten abgeschlossen. Corinna stürmte durch die Haustür und rief im Flur lautstark nach ihrer besten Freundin. „Verena, kommst du runter? Wir haben eine Verabredung! Ich muss dir meine neue kurze Hose zeigen.“

Verena antwortete nicht. Stattdessen kam ihr Vater Paul aus dem Wohnzimmer. Er hatte offenbar gerade einen Mittagsschlaf gehalten und gähnte. Corinna hatte ihn schon immer etwas eigenartig gefunden. Nett, aber seltsam. Wenn sie allein mit ihm zusammen war, fühlte sie sich nie wohl. Das lag vielleicht an seinen sehr eigenartigen Sprüchen, die Corinna oft nicht verstand. Verena hatte sie selbstverständlich nichts davon erzählt, er war schließlich ihr Vater, und sie hatte Angst, das könnte zu Streit führen.

„Hallo“, sagte Paul.