Unzweifelhaft der Beste - Scott Bradfield - E-Book

Unzweifelhaft der Beste E-Book

Scott Bradfield

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Beschreibung

In Bradfields Erzählungen erweist sich der American Way of Life einmal mehr als Sackgasse. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jagen alle den Schäumen ihrer Wünsche nach. Unbeirrbar durch Moral oder sonstiges soziales Regelwerk folgen die Anti-Helden ihrer eigenen Logik, wähnen sich fast am Ziel, bis die grelle Seifenblase ihrer Illusion mit einem leisen Plopp zerplatzt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Scott Bradfield

Unzweifelhaft der Beste

Short Stories

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Anne McDermid und [...]Daddys Liebling The DarlingDer andere The Other ManDazzle DazzleNäher bei dir Closer to YouUnzweifelhaft der Beste Unmistakably the FinestDas geheime Leben der Häuser The Secret Life of HousesDer Papagei und die Katze The Parakeet and the CatDas hätte sie sich denken können Didn't She KnowDer Windkasten The Wind BoxDer Traum vom Wolf The Dream of the WolfGrüsse von der Erde Greetings from Earth

Für Anne McDermid und Brian Moore

Daddys Liebling

Hinterher lag Dolores auf dem Bett, wie vor den Kopf geschlagen, benommen von der Macht der Dinge, der Macht jenes gewaltigen, geheimnisvollen Universums der Kraft, das sich leise um ihren Körper zusammenballte wie eine Hand. Dolores, dachte sie. Von lateinisch dolor, der Schmerz. Und dann auch noch Starr. Dolores Starr. Vor Schmerzen starr. Aber sie fühlte sich eigentlich nicht verwundet, eher verblüfft, erschöpft, als sei es nur ein Kampf in einem Traum gewesen, aus dem sie eben erwache, in einem anderen, fernen Zimmer voller Stille, Stille, die aufging wie ein Fesselballon mit seinen hübschen weißen Feldern. Normalerweise ging Dad um diese Zeit schon zurück in die Küche und trank wieder, doch manchmal holte er auch seine Pistole aus dem Kleiderschrank und fuchtelte eine Weile damit herum. »Vielleicht haben wir ja beide heute eine Kleinigkeit gelernt, hm, Prinzessin? Fräulein Schönheitskönigin?« Dad zielte mit seiner Walther P-38 auf den Frisierspiegel, die rotkarierten Vorhänge, Dolores’ Kruzifix auf dem Tisch. »Und peng!« sagte Dad. »Und peng und peng und peng! Das ist es, was die meisten Leute im Leben lernen, Fräulein Hach-was-sind-die-Jungs-verrückt-nach-mir. Ein Loch in die Stirn oder ein schöner dicker Stein auf den Schädel. Peng, bumm. Das ist so ziemlich das einzige, was es in dieser verfluchten Welt zu lernen gibt.« Dads Pistole war sehr, sehr schwer, sehr solide, sie füllte die ganze Wohnung mit ihrem Gewicht, ihrer Präsenz. Dolores nahm die Waffe gern in die Hand; das ganze Universum der Kraft schien ein wenig auf Distanz zu gehen, wenn Dolores sie aus dem Schrank holte, und ihr war, als hätte sie dann mehr Luft zum Atmen. Am besten gefiel ihr das Abrupte des Knalls, die Art, wie Dad sie ansah wie jemand ganz und gar Fremden, den er noch nie gesehen hatte. Dann, ganz langsam, legte Dad den Kopf auf den Küchentisch, und Dolores schob seine Jim-Beam-Flasche beiseite. Dads Hirnmasse und Blut ruinierten das karierte Tischtuch, das Dolores erst in jenem Sommer im K-Mart gekauft hatte, vollkommen, und Mrs. Morris von oben stieß dreimal ihren polierten Mahagonistock auf den Boden. Mrs. Morris war siebenundachtzig Jahre alt und wohnte allein. Sie lebte von ihrer Rente und konnte schlecht laufen. Mrs. Morris hatte vier Kinder großgezogen, und schon mehr als einmal hatte sie Dolores vorgehalten, daß sie sich ab und zu ein paar Stunden ungestörten Schlafes nun wirklich verdient habe.

Sie ging nach San Francisco, schwindelte bei der Altersangabe und bekam eine Stellung bei einer Telefon-Marktforschungsfirma. Sie saß an einem langen Resopaltisch voller überquellender Aschenbecher, und alle hatten winzige Kopfhörer-Mikrofon-Kombinationen auf, mit denen sie aussahen wie die Crew eines drittklassigen Raumschiffs. »Haben Sie in den letzten zehn Jahren einen Collegeabschluß gemacht?« fragte Dolores die Leute. »Haben Sie schon einmal Grußkarten von Hallmark gekauft? Haben Sie Kinder? Haustiere? Hausangestellte? Haben Sie in den letzten Tagen die Fernsehreklame für die neuen Wheatley-Weizenflocken gesehen? Sind Sie schon einmal in Vermont gewesen?« Sie fühlte sich jetzt richtig erwachsen, mit ihrem eigenen Ein-Zimmer-Apartment an der Fulton Street, einem Sparpaß für den Stadtbus, einem Bankkonto bei der California Federal und sogar einer Kreditkarte mit Geheimnummer dazu. Sie fand Gefallen an Virginia Slims, Piña Coladas und an Daniel, dem Koordinator ihrer Arbeitsgruppe. Daniel war siebenunddreißig und wohnte in Brisbane. »Der untere Bauchbereich, da wird man am ersten schlaff. Von der Taille abwärts. Deshalb laufe oder schwimme ich jeden Morgen. Deshalb mache ich jeden Abend fünfzig Liegestütze.« Daniel hatte einen gut trainierten Bauch, ein 67er Karmann-Ghia-Cabrio und ein ganzes Regal voller Bücher. Dolores las Steinbecks Früchte des Zorns, Durrells Alexandria-Quartett und Tolstois Tod des Iwan Iljitsch, während Daniel joggte. Rastlos joggte er die Halbinsel auf und ab, über den San Bruno Mountain, rund um den Candlestick Park. Dolores war ganz begeistert von den Büchern; für sie war das wie Erwachsensein. Beides war irgendwie glatt und nicht ganz wirklich. Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen, wie die Uniform der katholischen Mädchenschule, die sie als kleines Kind getragen hatte, karierter Tweedrock und roter Wollpullover. Das war gewesen, bevor Oma gestorben war und Dad angefangen hatte zu trinken.

Bücher veränderten die Leute, fand sie. Deshalb war Daniel anders. Deshalb kam Dolores sich jeden Tag anders vor, je nachdem, was sie gerade las. Es schien ihr, daß sich mit jedem Buch irgendwie ihre ganze Körperchemie veränderte. Sie malte sich aus, wie glücklich sie mit Daniel und seinen Büchern werden würde, doch dann kam der Tag, an dem er sie schlug. Sie war gerade in der Küche beim Abwasch. Er schlug sie, weil er angerufen hatte, und sie war nicht zu Hause gewesen. Er schlug sie, als sie nur versuchen wollte, es ihm zu erklären. Er schlug sie, weil er sah, wie andere Männer sie ansahen und wie sie die Blicke erwiderte. Er schlug sie, weil jener Teil von ihr, mit dem sie die anderen wahrnahm, nicht ihm gehörte. Er schlug sie, weil er genauso war wie Dad, und sie war dumm gewesen, daß sie das nicht begriffen hatte; er hatte die Bücher in seinem Regal nie gelesen. Sein Gesicht war rot und verschwitzt gewesen, er hatte mit seinen Freunden auf dem Sportplatz getrunken, und als er ein Vierteljahr später in seinem Nike-Achselshirt und den grünen Nylon-Jogginghosen dampfend vor salzigem Schweiß zur Hintertür hereingepoltert kam und Dolores ihm seinen großen, kühlen Protein-Shake reichte, da war er sicher, daß sie den ganzen Vorfall längst vergessen hatte, daß all das in weiter Ferne lag. Halb verdurstet, wie er war, goß er das Glas in einem einzigen großen Schluck herunter, und der Adamsapfel hüpfte dabei. Der Protein-Shake bestand aus roher Vollmilch, zwei befruchteten Eiern, zweihundert Gramm flüssigem Protein, Weizenkeimen, einem Vitamin-B-Komplex mit Vitamin B 12 und drei großen Eßlöffeln Rohrfrei. Es brachte ihn allerdings nicht sofort um. Er stürzte zu Boden, schlug mit den Fäusten, es gurgelte tief in Brust und Hals (fast wie ein verstopfter Abfluß, fand Dolores), und er riß das Telefon vom Tischchen, daß es nur noch leise piepte. Mund und Augen waren hell und trocken, und er spuckte einen harten grünen Ball aus, der vom blöde starrenden Schirm des Sony Visionstar zurückgeworfen wurde. In ihrer Panik stürzte Dolores ins Badezimmer und wühlte nach Rasierklingen, in die Küche, um ein scharfes Messer zu holen, doch sie fand nichts außer Sicherheitsrasierern und Plastikbesteck. Am Ende schlug sie ihm zweimal mit seinem Bowlingpokal aus Elfenbein- und Messingimitat auf den Hinterkopf, Landesmeister in der Einzelliga, Frühjahr 1982. In seiner Brieftasche waren fast dreihundert Dollar in bar und mehrere Kredit- und Kundenkarten. Sie fuhr seinen Karmann-Ghia den Highway 5 hinunter nach Los Angeles, und am Abend las sie im Motel 6 in Van Nuys Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Das Bildnis des Dorian Gray gefiel ihr sehr.

Mit allen Karten, die nicht auf Daniel persönlich ausgestellt waren, hob sie soviel Bargeld ab, wie sie bekommen konnte, und eröffnete damit ein Girokonto mit variablem Zins bei der Sears-Kundenbank. Sie legte sich ein Apartment in Fairfax zu, einen Bürojob bei TRW und einen »New Look« von Franklin and Schaeffer in West L.A. Männer fragten sie oft nach ihrer Telefonnummer und machten ihr Komplimente; Männer führten sie zu teuren Abendessen aus, in Nachtclubs, zu Sportveranstaltungen. In ihrem Schrank stapelten sich nach und nach die Erinnerungsstücke an Spiele der Dodgers, Raiders, Kings und Angels. Männer waren einfach. Sie lächelten, lachten, boten ihre Dienste an, übernahmen die Rechnung. Sie waren dankbar für die kleinste Aufmerksamkeit. Dolores hatte immer eine 380er Beretta-Automatik in der Handtasche. Sie mochte Männer, aber das hieß noch lange nicht, daß sie dafür ein Risiko einging.

Doch irgendwie war sie nicht ganz zufrieden mit dem Leben. Etwas Wichtiges schien zu fehlen; vielleicht gab es im Leben sogar Dinge, von denen sie überhaupt nichts wußte. Dinge, die sie gar nicht zur Kenntnis nahm. Und sie wollte doch glücklich sein. »Wahrscheinlich, weil ich nie die High School zu Ende gemacht habe«, sagte sie zu ihrem Arbeitskollegen Michael. Michael saß mit ihr in der Personalabteilung und berechnete die Sozialabgaben. »Wahrscheinlich hab ich mir nie überlegt, wer ich wirklich sein wollte, und, na ja, vielleicht hab ich ja einen wertvollen Teil von mir einfach verschwendet. Wahrscheinlich habe ich nie Selbstwertgefühl entwickeln können, weil meine Mutter mich verlassen hat, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sicher, ich gehe dauernd mit Männern aus, aber keiner will mich um meinetwillen.«

Auf Michaels Vorschlag schrieb sie sich für Abendkurse am Los Angeles City College ein. Jeden Dienstag- und Donnerstagabend nach der Arbeit hörte sie Vorlesungen über psychische Verirrungen und die Anatomie des menschlichen Körpers. Dr. Peters, der Anatomiedozent, sah genau aus wie Dad, bevor er zu trinken begann. Von ihm erfuhr sie alles über Schlagadern, Rückenmark, Hirnhaut, Gallenblasen. Der ganze Körper war im Grunde nichts als eine riesige Blase, die bei der kleinsten Beschädigung zerplatzen konnte; es machte sie nervös, daß sie zweimal die Woche ihre eigene physiochemische Verletzlichkeit vor Augen geführt bekam. Infektionen, Blutungen, Nierenversagen, Metastasen, Schlaganfall. Polio, Ekzeme, Muskelschwund, Hirntod. Freitags kam noch der praktische Unterricht im Labor dazu, wo sie große Katzen sezierte und Lymphsystem, Nerven und Muskeln freilegte. Dolores war froh, wenn sie zu Dr. Deakin in ihren anderen Kurs gehen konnte, wo sie versuchte, die toten Katzen mit ihren weit aufgerissenen Mäulern und den Geruch des Formaldehyds zu vergessen. Dr. Deakin war noch recht jung. Er trug ausgewaschene, doch gebügelte Levi’s mit weißen, schmal geschnittenen Hemden und Strickkrawatten. Von Zeit zu Zeit hielt er in seinen eindringlichen sokratischen Monologen inne und machte bedeutungsschwere Pausen. »Was heißt es denn nun eigentlich … dieses Wort ›abnorm‹? Und woher wissen wir … wann es wirklich angebracht ist?« Er hatte einen dicken Walroß-Schnurrbart, und wenn er im Seminarraum auf und ab ging, blickte er hinauf zu den Leuchtstoffröhren, als sei er ganz gebannt von Botschaften, die nur er dort erkannte, wie ein Medium. »Denke ich denn nicht … ich bin doch normal? Und wenn Sie mir da widersprechen … halte ich denn da nicht Sie für die Abnormen? Hält denn nicht jeder … sich für ›normal‹?« Es dauerte nicht lange, bis Dolores sich in ihn verliebte. Das war ein Mann, der verstand, wie die Welt funktionierte. Er konnte, weit über sich hinaus, den anderen in die Augen blicken, in die Augen von Menschen, die verletzten, Anteil nahmen, liebten und weinten. »Ich weiß, wie wichtig das ist, was Sie uns in Ihrem Kurs vermitteln, ehrlich«, sagte sie zu ihm bei einem Truthahnsandwich auf Vollkornbrot mit Sojasprossen bei Blimpie’s an der Ecke. »Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge abnormer Menschen kennengelernt, und erst allmählich wird mir klar, daß sie eigentlich überhaupt nicht abnorm waren, sondern ganz normale Menschen.«

Dr. Deakin hatte eine makellose zweistöckige Wohnung in Los Feliz, mit üppig von der Decke hängenden Farnen und glitzernden Glastüren, und Dolores schnitt ihm mit einem großen stählernen Tranchiermesser aus seiner ebenso makellosen Küche im spanischen Stil die Kehle durch. Er war durch und durch sanft und höflich gewesen. Sie war nicht wütend gewesen, nicht einmal irritiert. Aber irgendwie schien es mittlerweile etwas an den Männern zu geben, was es einfach verlangte. Etwas in ihren Augen. Im Grunde so etwas wie einen verführerischen Blick. Das Blut spritzte überallhin, und an jenem Abend nahm Dolores sich fest vor, nie wieder ein Messer zu benutzen. Sie investierte vorsorglich in ein paar Handfeuerwaffen. Eine 38er Special, eine 9-mm-Parabellum. Kompakte Remington-Patronen in ordentlichen Pappschachteln. Sie wurde Mitglied in der National Rifle Association. Sie abonnierte eine Waffenzeitschrift.

 

Männer waren einfach, aber mit Frauen war es schwieriger. Frauen kamen Dolores viel fremdartiger vor als die Männer. Ihre Blicke machten klick-klick wie die Verschlüsse einer Kamera, ihre Zungen stachen vorwurfsvoll nach ihr. Sie mochten es nicht, wenn sie mit ihren Männern ein Wort wechselte, und offenbar waren alle Männer der Welt ihre Männer. Frauen hatten Geheimnisse und widmeten gern Männern im Verborgenen ihre besondere Aufmerksamkeit. Eigentlich konnte Dolores Frauen nicht ausstehen, obwohl sie hoffte, daß sich das, wenn sie erst einmal reifer wurde, geben würde. Frauen waren Rächerinnen im großen Stil, sie schwangen scharfe Klingen, hielten ihre Rituale in Höhlen tief unter der Erde ab, die erfüllt waren von beißendem Weihrauch und dem Klang schriller Stimmen. Dolores hatte nie eine Mutter gehabt, deshalb wußte sie über nichts Bescheid. Frauen lebten in einer geheimen Welt aus Ritualen, Gewalt und Erlösung, von der Dolores kaum eine Ahnung hatte.

»Du weißt doch, daß man in L.A. vorsichtig sein muß, nicht wahr, Di?« sagte Michael, der ihr immer Kaffee in Styroporbechern, Süßigkeiten und Kekse brachte. »Du liest die Zeitung, oder? Frauen, die allein leben, müssen in dieser Stadt vorsichtig sein, verstehst du? Sonst werden sie umgebracht. Die Stadt hier, die ist voll mit Psychopathen, Dolores. Neulich habe ich noch gelesen, daß es einen Club von Mördern gibt, die zusammen draußen in der Wüste wohnen. Die Frauen kommen in die Bars und sprechen Männer an. Sie fahren mit den Männern in die Wüste, und da fällt die ganze Bande über sie her und bringt sie um. Angefangen hat es als Indianerkult, aber jetzt machen auch die Weißen mit. Sogar die weißen Frauen. Einem haben sie bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, bevor sie ihn umbrachten. Hast du heute abend was vor, Di? Möchtest du ins Kino gehen? Oder essen?«

Sie aßen in einem Thai-Restaurant und sahen sich dann John Wayne in Red River und Rio Bravo an. Dolores mochte besonders Angie Dickinson, die in Rio Bravo eine der Nebenrollen spielte, bevor sie später mit der Fernsehserie Make-up und Pistolen groß herauskam. Angie Dickinson wußte, daß eine Frau feminin und sexy wirken und sich trotzdem nichts gefallen lassen konnte. Michael saß neben ihr, regte sich nicht und nahm nicht einmal ihre Hand; sie konnte die flackernden Filmbilder in seinen braunen Augen sehen. Das Kino hieß Vista und lag an der Ecke Sunset und Hollywood Boulevard. Es war voller skurriler Schatten, hatte ausgebleichte, fleckige Samtvorhänge, hohe Balkone, die längst nicht mehr benutzt wurden, und gewaltige Statuen im ägyptischen Stil, es sah aus wie ein Filmfestival des Mittleren Reiches. »Früher war das hier ein Schwulenkino«, hatte Michael ihr erklärt, als sie sich ihre Plätze suchten. Er rutschte verlegen auf seinem Sitz hin und her. »Man riecht sie bis heute, diese verfluchten Schwuchteln.«

Sie kauften an einem Stand nebenan Eiscreme und fuhren in Richtung Griffith Park. Michael war still, und Dolores spürte, wie sich in ihr ein harter, kalter Druck aufbaute, dicht wie die Schwerkraft.

»Woran denkst du?« fragte Michael.

Von Zeit zu Zeit kamen sie vorbei an dubiosen Männergestalten, die sich in den Schatten duckten. Meist trugen die Männer Lederjacken; sie hatten dunkle Haut und flinke dunkle Finger.

»Ich weiß nicht. Woran denkst du denn?«

Dolores öffnete die Handtasche auf ihrem Schoß. Mit der rechten Hand durchwühlte sie das Durcheinander von Scheckbüchern, zusammengeknäulten Papiertaschentüchern, willkürlich hineingesteckten Kosmetika und einem eselsohrigen Taschenbuch, James M. Cains Mildred Pierce, und sie spürte das tief unten verborgene, stets gleichbleibende Gewicht, noch bevor sie gefunden hatte, was sie suchte. Es war immer dasselbe, dachte sie. Die Männer, die einen wirklich liebten, waren in ihrem Inneren irgendwie leer. Manchmal wollte man diese Leere ausfüllen, bevor sie sich in einem selbst breitmachte. Sie fuhren zu einem abseits gelegenen Parkplatz in einem Wäldchen mit weit überhängenden Jacarandas. Über den Wipfeln summten die Hochspannungsleitungen.

»Es ist nicht leicht, allein in einer Stadt wie L.A. zu leben«, hob Michael wieder an. »Ich meine, für Leute wie mich gilt das natürlich nicht. Ich bin ja ein sehr selbständiger Mensch und finde mich genau richtig, wie ich bin. Ich bin sogar jemand, der ehrlich sagen kann: ›Ich mag mich‹, und das soll nicht egozentrisch klingen oder so. Ich meine nur, ich bin keiner von denen, denen dauernd jemand sagen muß, wer er überhaupt ist.« Michael griff unter den Fahrersitz. »Manche verstehen das nie.«

Michael zog seine 357er Magnum Desert Eagle im selben Moment hervor, in dem Dolores ihre 380er Beretta Modell 84 mit 13-Schuß-Magazin und beidseitigem Auslöser zückte. Im Abzug war ein zerknülltes Kleenex hängengeblieben; Dolores drückte es mit dem Daumen heraus, und es rollte ihr in den Schoß. Der Vollmond schien, doch die Scheibe des Mondes zeichnete sich nur schwach hinter dem Smogschleier ab.

Michael betrachtete Dolores’ Revolver, dann sah er ihr in die Augen. Der Blick wanderte zurück zum Revolver. Nach einer Weile fragte er: »Ist es nicht schwierig, dafür anständige Munition aufzutreiben?«

»Ich nehme Blue Dot«, antwortete Dolores. »Ich will ja den Lauf nicht unnötig belasten.«

 

Sie heirateten im Juli, kauften ein Häuschen im Valley und einen Airedale-Welpen namens Bud. »Bud, der hat jetzt eine echte Familie – zwei Leute, auf die er sich verlassen kann«, schwärmte Michael, verschickte stapelweise Bewerbungen und bekam eine Stelle bei Lockheed in Burbank. »Man muß an sich glauben, wenn man es in dieser Welt zu etwas bringen will. Meinst du nicht auch, Bud? Stimmt’s, alter Junge?« Michael kraulte dem Airedale-Terrier den krausen Kopf. Der Welpe jaulte einmal kurz auf.

»Vorsicht«, sagte Dolores. »Du tust ihm weh.«

Sie gingen überallhin zusammen und machten alles zusammen. Dienstagabends ein Selbstverwirklichungs-Workshop in Sherman Oaks, Samstagnachmittags Waffenkunde für Fortgeschrittene an der Polizeiakademie in Van Nuys. Sie bauten eine Alarmanlage ein, stellten im Blumengarten eine Hundehütte auf, und ihre gemeinsame Waffensammlung kam in Vitrinen im Arbeitszimmer. »Ich habe so viel Kraft«, verkündete Michael, »ich weiß gar nicht, wohin damit«, und beschloß, ein Gartenhaus zu bauen. »Das wird dann, als ob wir ein Sommerhäuschen hätten. Wir können den ganzen Sommer draußen sitzen und Eistee trinken.« Michael war ganz vernarrt in ihren Garten. »Einen Garten anlegen, das habe ich mir schon immer gewünscht«, sagte er, als er aus der Baumschule mit Ringelblumen, Stockrosen und Torfmoos zurückkehrte. »Da kann ich etwas aus der positiven Seite meiner Persönlichkeit machen, aus meinen lebensbejahenden Kräften. Wut bedeutet mir nichts mehr. Haß bedeutet mir nichts mehr. Es gibt auf der Welt schon viel zu viele schlechte Wellen, da muß ich nicht noch neue produzieren.« Er ließ die Terrasse mit Weinreben bewachsen und brachte hoch oben ein Flutlicht an, und oft arbeitete er allein noch bis spät in die Nacht in seinem Garten.

Derweil lag Dolores wach und malte sich die erregten und ein wenig empörten Versammlungen der Frauen aus. »Ich bin jetzt kein objekt- oder ich-orientierter Mensch mehr«, erklärte Dolores ihnen. »Ich bin jetzt ein zielorientierter Mensch.« Tief in ihren makellos gepflegten Höhlen murrten die Frauen; sie wollten es nicht hören; sie waren zu Tode gekränkt. »Ich weiß, ihr denkt, ich habe einfach nur einem Mann nachgegeben, aber das stimmt nicht. Michael ist nicht einfach nur ein Mann. Michael respektiert mich, mich als Menschen. Er respektiert mich, wie ich bin. Wenn ihr das Gefühl nicht kennt, dann könnt ihr überhaupt nicht verstehen, wie wunderbar man sich da fühlt, wie wichtig so ein Gefühl ist. Das kann man einfach nicht erklären.« Ein leichtes Vibrieren, ein Echo, Pulsschläge. Die Frauen tuschelten, teilten ihre Geheimnisse miteinander, die Herzen in den schwarzen Höhlen schlugen alle im gleichen Takt. Dolores traute ihnen nicht; sie wollte so weit fort von ihnen wie nur möglich. Eines Tages werden wir unsere eigene Blockhütte im Nordwesten haben, am Pazifik, mit eigener Stromversorgung. Wir haben gut trainierte Dobermänner, elektrische Zäune, Lebensmittelkonserven. Wir haben Kurzwellenfunk und ein ordentliches Waffenarsenal mit automatischen Karabinern und Luftabwehrraketen. Oft schlief sie ein, bevor Michael ins Bett kam, und wenn sie erwachte, hörte sie ihn schon, wie er wieder hinter dem Haus zugange war, wie er mit seinen Spaten, Schaufeln, Rechen den Boden bearbeitete, wie er Samen, Zwiebeln, eifrige kleine Stecklinge verteilte. »Ich dachte, wir legen gleich hier am Haus einen kleinen Gemüsegarten an«, erklärte Michael ihr. »Dann müssen wir uns keine Gedanken mehr wegen Pflanzenschutzmitteln machen.« Dolores stand mit Begeisterung am großen Wohnzimmerfenster und sah ihm bei der Arbeit zu. Michael hatte lange, helle Hände, die, wenn sie ein wenig schmutzig von der braunen Erde waren, aussahen wie prachtvolle antike Figurinen, gerade erst von Archäologen zutage gefördert. »Ich bin ein Mensch voller Energie«, verkündete er. »Ich schlafe nie viel.« Bud lag auf dem sonnenbeschienenen Gras und betrachtete ein Insekt, das über ihm schwirrte, sein kleiner Hundeleib gekrümmt wie der Abzug einer HK-P7. Am Wochenende saß Dolores in einem blaßgrünen Sonnenstuhl, trank große kühle Drinks und sog den Geruch der frisch umgegrabenen Erde ein. Alle paar Minuten blickte Michael von seiner Arbeit auf und lächelte ihr zu. Überall lagen seine Werkzeuge, oder sie standen an den Zaun gelehnt wie gute Freunde auf einer Gartenparty, genauso mit Erde beschmiert wie Michaels Hände. Es gibt auch Orte außerhalb der Welt der Männer und Frauen, ging Dolores durch den Kopf. Dort kann man in Sicherheit leben, wie ein Kind mit starken Eltern.

Und dann, eines Sonntags, als Michael im Gartencenter war, um neue Pflanzen zu holen, wühlte Bud in einer bunten Dahlienrabatte und legte den Fuß eines Postboten frei. Der Schuhriemen war offen; das schien etwas zu bedeuten, doch Dolores war zu durcheinander, um sich darum Gedanken zu machen. »Es war einfach unglaublich, wie allein ich mich fühlte«, sagte sie später zu Bud, wiegte den Hundeleib in den Armen und benetzte ihn mit ihren Tränen. »Alles, woran ich bei Michael glauben wollte, war in Wirklichkeit nur Lüge. Seine Aufrichtigkeit, seine Ehrlichkeit, seine Liebe – alles Lügen. Er hat sich nie etwas aus mir gemacht. Er hat nie sein Leben mit mir teilen wollen. Er hat immer nur in seiner eigenen geheimen Welt gelebt.« Im Keller hatte sie Kanister mit Formaldehyd entdeckt, Handschellen, Seile und riesige graue Tuchsäcke. »In diese Welt hat er mich nie hineinlassen wollen. Die wollte er immer ganz für sich.« Bud lag warm und reglos in ihren Armen. Draußen war es dunkel, und der Vollmond schimmerte schwach durch die Wolken. Dann legte Dolores Bud in die Grube, in Michaels Arme. Sie faltete Michaels Arme um ihn, damit er es warm hatte in der langen Dunkelheit. Michael trug den Bill-Blass-Anzug, den er auch zur Hochzeit angehabt hatte, einen Tweed-Zweireiher mit Weste. Dann, sanft und voller Trauer, verteilte Dolores die feuchte braune Erde über die beiden. Es war, als begrübe sie in dem kleinen Garten sich selbst; als lege sie ihren eigenen leblosen Leib in die tiefe, wispernde Welt der verschworenen Frauen. Die Frauen waren allerdings alles andere als glücklich damit. Keine dort unten mochte sie mehr. Sie wollten sie nicht bei sich haben. Nur Männer mochten Dolores. Männer und immer wieder Männer.

 

Sie zog die Vorhänge des Wohnzimmerfensters zu, und in den Nächten blieb sie nun allein. Die Einsamkeit war grenzenlos, sie brachte sie fast um den Verstand. Sie spürte, wie menschenleere schwarze Kontinente tief in ihrem Inneren wuchsen, zerklüftete, moosüberzogene Halbinseln, umgeben von einem Kranz öder Felsen und vom schimmernden grauen Wasser. An den langen Abenden saß sie am Fenster hinter vorgezogenen Vorhängen, reglos im Lichtkegel der Stehlampe wie ein Ausstellungsstück im anthropologischen Museum, spürte das starke, unerbittliche Verlangen des Erdbodens unter dem Garten, hörte die Laute der Gräber und der Toten. Sie warf keinen Blick mehr auf den Garten, er existierte nur noch in ihrer Phantasie. Michaels Gartengeräte standen, wo er sie stehengelassen hatte, rosteten vor sich hin, die Holzgriffe quollen und wurden rissig. Die Rabatten und der Gemüsegarten waren längst vom Unkraut überwuchert, der umgekippte Schubkarren dick mit Zement überkrustet. Und Michael lag natürlich darunter, erzählte weiter seine Lügen, belog sie wie ehedem Tag und Nacht. Selbst die geheimen Zeremonien der Frauen hörte sie nicht mehr. Sie hatten sich in tiefere Höhlen zurückgezogen, zu denen Dolores keinen Zutritt mehr hatte. Sie erteilten ihr eine kleine Lektion. Wenn sie die Hochnäsige spielen wollte, wenn sie unabhängig sein und allein zurechtkommen wollte, dann sollte sie eben sehen, was sie davon hatte. Dann war niemand da außer ihr selbst, niemand, für den sie auch nur die mindeste Verantwortung empfinden konnte. Das einzige, was sie jetzt noch hörte, war das Summen der Hochspannungsdrähte, sie hörte das Zirpen der Grillen und den dumpfen Herzschlag des Planeten, wie er unter den Fußböden ihres Häuschens pochte. Manchmal, besonders spätabends, wenn sie zuviel Marihuana und zu viele Zigaretten geraucht hatte, erschien Michael und versuchte sie in ihren düstersten, einsamsten Stunden zu trösten. Er saß auf dem beigefarbenen Sofa und tätschelte geistesabwesend den Kopf von Bud, der reglos in seinem Schoß lag. »Deine Persönlichkeit war einfach noch nicht gefestigt genug, du warst nicht selbständig genug, und deshalb konntest du mich nicht nehmen, wie ich war«, erklärte er ihr. »Wenn zwei Leute sich lieben, dann müssen sie Vertrauen zueinander haben, Di. Das solltest du eigentlich wissen.«

Dolores blickte ihm nie ins Gesicht. Sie sah statt dessen die Vorhänge an. Sie malte sich aus, wie glitzernde Spinnen ihre Netze zwischen dem Holz spannen, das Michael für sein Gartenhaus gekauft hatte und das nun vor sich hinschimmelte. »Ich glaube nicht, daß ich dir noch etwas zu sagen habe«, antwortete sie.

Manchmal setzte Michael sich dann in den zerschlissenen grauen Fernsehsessel, dessen Bezug Dolores an mehreren Stellen mit groben Stichen geflickt hatte; manchmal gab das Marihuana Dolores das Gefühl, daß sie sich vollkommen unter Kontrolle hatte, als ob sie mit ihrer Willenskraft Lunge, Herz und Blutkreislauf steuern könne. Sie konnte ihr Herz dazu bringen, daß es ein wenig langsamer schlug; sie konnte sauerstoffreicheres Blut anfordern oder sauerstoffärmeres. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie säße in einem anderen, weit entfernten Raum, den sie nur undeutlich erkennen konnte. Meist kehrten in diesen langen Wachträumen ihre Gedanken immer und immer wieder zu denselben Fragen zurück. Sie fragte sich, ob ihre Mutter wohl noch am Leben war. Würden wir uns erkennen, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegneten, fragte sie sich? Gibt es eine natürliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter, etwas, das in ihren Körpern steckt, oder wären wir zwei Fremde wie alle anderen auch? Vielleicht werden wir eines Tages die besten Freundinnen, aus reinem Zufall. Sie wird meine Naivität bezaubernd finden; sie wird mir alles über die Männer beibringen. Wir sehen uns zusammen Filme an und machen abwechselnd das Abendessen. Wir nehmen uns eine gemeinsame Wohnung, gehen in Nachtclubs, womöglich sogar tanzen. In Europa ist das ganz normal, wenn Frauen zusammen tanzen gehen, und sie müssen deshalb noch lange nicht lesbisch sein oder so.

»Du verkriechst dich hier jeden Abend und rauchst Pot«, hielt Michael ihr vor, den schlaffen Hundeleib über die Knie gelegt wie ein Plaid. »Du tust dir jetzt schon so lange selber leid, das reicht für ein ganzes Leben. Ich finde, es wird Zeit, daß du mal selbst Verantwortung übernimmst, statt alles immer nur den Leuten in die Schuhe zu schieben, die du liebst.« Er griff zu der Dose Herco-Schießpulver, die auf dem Couchtisch stand. Die Flinte, gereinigt und geladen, lugte unter Dolores’ Sessel hervor. »So etwas läßt man nicht den ganzen Tag offen stehen«, tadelte er sie. »Das wird feucht.« Er drückte den Blechdeckel zu, mit einem kurzen, hohlen Klacken. »Außerdem solltest du ein Auge auf den Garten haben. Die Katzen scharren Mrs. Winslow wieder aus. Ich an deiner Stelle würde jetzt gleich nach draußen gehen und mich um Mrs. Winslow kümmern.«

Dolores nahm den halbgerauchten Joint aus dem Aschenbecher und entzündete ihn neu. Ein Samenkorn platzte, und eine glimmende Papierflocke löste sich und flog durchs Zimmer. Ohne auszuatmen, fragte Dolores: »Wer war Mrs. Winslow?« Ihre Augen begannen zu tränen.

Michael zuckte die Schultern. Buds Kopf pendelte in seinem Schoß hin und her, die Augen trocken und leer wie die einer fortgeworfenen Puppe. »Nur eine alte Frau«, sagte er. »Hat in der Bibliothek gearbeitet.«

 

Dann, eines Freitagabends im Spätsommer, kam Dolores vom Einkaufen zurück und fand mehrere Polizeiwagen und Ambulanzen vor dem Haus geparkt. Die hellroten und gelben Lichter wirbelten und pulsierten im dunstigen Zwielicht und wirkten irgendwie übertrieben, wie Warnlampen bei einem Picknick am Straßenrand. Dolores holte ihre Einkäufe aus dem Kofferraum, und ein uniformierter Polizeibeamter beobachtete sie dabei von der Haustür aus mit einer Art amtlicher Genugtuung. Mehrere Brotlaibe, ein Sack rote Delicious, destilliertes Wasser in großen klaren Plastikkanistern. Auch wenn sie allein lebte, hatte sie doch immer gern Vorräte im Haus; wenn sie überhaupt etwas aus dem Leben gelernt hatte, dann das: daß man nie wußte, was als nächstes geschehen würde. Sie war eigentlich nicht überrascht, nur ein wenig verlegen, als man sie des mehrfachen Mordes bezichtigte und sie dabei Tiefkühlgemüse unter dem einen und Nachos und Knabbergebäck unter dem anderen Arm hatte. Der Beamte, der sie verhaftete, Detective Rowlandson, war sehr freundlich. Er fragte, ob die Handschellen auch nicht drückten. Er kommandierte einen der Polizisten, die überall in dem kleinen Wohnzimmer herumstanden, zum Versorgen ihrer Tiefkühlkost ab. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und in dem roten, apokalyptischen Licht des Sonnenuntergangs sah sie mehrere Männer in weißer Arbeitskluft den Garten umgraben. Sie trugen Masken und Handschuhe wie Chirurgen, und die verwesenden Gestalten, die sie zutage förderten, wickelten sie in weiße Tücher, legten sie auf Bahren und trugen sie zu den weißen Ambulanzwagen, die geduldig mit offenen Türen warteten. Als Detective Rowlandson Dolores in seinem Eldorado den Hügel hinunterfuhr, standen überall die Nachbarn und gafften – Hausfrauen in zerschlissenen Morgenröcken, Kinder, an ihre Fahrräder gelehnt. »Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden«, erinnerte Detective Rowlandson sie und suchte im Radio nach einem Sender mit klassischer Musik. »Ich weiß«, sagte Dolores. »Das finde ich vollkommen in Ordnung.« Sie wandte sich zu dem jungen Beamten auf dem Rücksitz um, der ziellos aus dem Fenster blickte. Er sah ein wenig gelangweilt aus; vielleicht hatte er auch Heimweh. Auf der Wache verhörte Detective Rowlandson sie in seinem Privatbüro, mit laufendem Tonbandgerät und zwei weiteren uniformierten Beamten an der Tür. »Soll ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser oder sonst etwas bringen?« fragte er. »Ihre Kehle ist doch sicher ganz trocken.« Wie freundlich sie alle sind, dachte Dolores. Auch wenn sie gar nicht richtig wissen, was überhaupt los ist, geben Männer sich immer alle Mühe. Männer nehmen die fremde Welt der Frauen wirklich wichtig.

Sie kam in eine Einzelzelle, berühmt, wie sie nun war. »Daß ich stolz auf das bin, was ich getan habe, kann ich nicht sagen«, erklärte sie den Reportern, die sie in einem hellerleuchteten Raum bedrängten und Lichter blitzen und Tonbandgeräte surren ließen. Die Journalisten saßen allesamt auf der Vorderkante ihrer Klappstühle wie Leute, die im nächsten Moment zu einem Rennen lossprinten wollen. »Ich bin auch nicht dumm, denn in der Schule habe ich immer gut abgeschnitten, wenn ich mir einmal die Mühe gemacht habe mitzumachen, und Dr. Weinstein – das ist einer von den furchtbar netten Ärzten, die mich hier im Gefängnis behandeln – Dr. Weinstein sagt, ich habe einen sehr hohen Wert auf der Wechsler-Skala, mit der die Intelligenz von Erwachsenen gemessen wird. Die Schuld kann nur bei meiner Kindheit liegen, weil meine Mutter mich verlassen hat, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, und mein Vater mich geschlagen und mir Dinge angetan hat, bei denen ich jetzt hier nicht in die Einzelheiten gehen möchte. Aber natürlich kann ich nicht alles meinen Eltern anlasten, ich bin ja schließlich eine erwachsene Frau, die für sich selbst verantwortlich ist, und ich möchte Ihnen sagen, daß für all die Leichen, die Sie in meinem Garten gefunden haben, ich allein die Verantwortung übernehme« – was für ein wahres Blitzlichtgewitter sorgte –, »und natürlich auch für den so frühen und durch und durch sinnlosen Tod meines lieben Mannes Michael, und wenn ich auf den elektrischen Stuhl komme, dann habe ich es mit Sicherheit nicht besser verdient, denn Michael war der freundlichste und liebevollste Ehemann, den es je auf Erden gegeben hat, und er war der einzige Mensch, der jemals wirklich versucht hat, mich zu verstehen und für mich zu sorgen, und das vollkommen uneigennützig. Ich danke Ihnen.«

 

Dolores’ Einzelzelle lag im Hochsicherheits-Frauengefängnis in Lancaster. Sie hatte eine Toilette, ein Waschbecken sowie Handtuch, Seife und Zahnbürste, alles genau nach Vorschrift. Sie hatte eine khakigrüne Bettdecke und kratzige Laken. Jeden Nachmittag kam sie allein auf den Gefängnishof an die frische Luft. Sie schritt in aller Ruhe das weiße Basketballfeld ab. Sie machte Kniebeugen und Liegestütze, und von Zeit zu Zeit hielt sie dabei inne und blickte hinauf in den strahlenden kalifornischen Himmel. Das Wachpersonal bestand durchweg aus Frauen. Wenn sie einmal andere Insassen sah, waren es immer Frauen. Alle hatten sie grobe, verhärmte Gesichter. Manchmal hörte Dolores ganz am anderen Ende des Ganges eine junge Frau weinen. Sie schien noch sehr jung zu sein, fast noch ein Kind.

Dolores trat nun in ihre Russische-Roman-Phase ein. Sie las Verbrechen und Strafe, Anna Karenina, Krieg und Frieden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Dolores im Frieden mit sich und ihrem innersten Ich. Als ob ich bisher nie eine Chance gehabt hätte zu verstehen, wie es ist, wenn ich wirklich ganz auf mich gestellt bin, schrieb sie auf ihren weißen Schreibblock, der jeden Abend von einer Aufseherin inspiziert wurde. Vielleicht hätte ich, wenn ich nur einmal die Chance gehabt hätte, mich wirklich kennenzulernen, ohne daß immer Leute um mich waren, die wollten, daß ich jemand ganz anderes war, als ich in Wirklichkeit war, all diese lieben Menschen niemals umgebracht. Sie überlegte, ob sie ihre Autobiographie schreiben sollte. Sie hätte sie Falsche Liebe genannt. Stundenlang war in ihrer Zelle kein einziger Laut zu hören. Dolores kam kaum noch mit Menschen zusammen. Sie fühlte sich solider, kompakter, realer. Es war, als ob ihr ganzer Leib sich mit Sand füllte. Zeitungen und Zeitschriften rührte sie nicht an. Sie war eine ruhige Einsiedlerin, die niemandem zur Last fiel und allein in ihrem tiefen Verlies lebte. Sie dachte über die großen Fragen des Lebens nach. Manche Sachen kann man einfach nicht erklären, vertraute sie ihrem Schreibblock an. Und manchmal ist man auch einfach viel besser dran, wenn man sie nicht erklärt.

»Jetzt bist du dran, mein Schatz«, sagte Michael und nahm sich eine Selleriestange von ihrem Abendessenstablett. »Wie man so schön sagt: Klappe zu, Affe tot.«

»Wir werden sehen«, sagte Dolores. Sie hatte einen schwachen Hoffnungsschimmer, und diese Hoffnung erfüllte sie mit einer unaussprechlichen Traurigkeit.

Ein paar Tage darauf verliebte Dr. Weinstein sich in sie, und sie wußte, daß es mit all dem Frieden, den sie nun endlich gefunden hatte, wieder vorbei sein würde. »Liebe Güte, die Höhlenmenschen haben doch keine Bilder an die Wände gemalt, weil sie es hübsch haben wollten«, verkündete Dr. Weinstein bei einem seiner Besuche und wollte seine Verliebtheit nicht eingestehen, so als ob er anders sei als andere Männer. »Der Neanderthalus australopithecus hat doch seine Toten nicht begraben, weil er Mitleid mit ihnen hatte oder sonst so ein Scheiß. Was glauben Sie denn, wieviel Mitleid Sie von so einem Neanderthalus australopithecus zu erwarten hätten? Nicht gerade viel, das können Sie mir glauben. Nicht gerade viel.« Er zeigte ihr ein Bild des Neandertalers in einem dicken Anthropologiebuch aus der Gefängnisbibliothek. »Sehen Sie den da? Sehen Sie die Zähne, die Stirn? Was meinen Sie, warum hat der Bilder an die Wand gemalt? Aus dem gleichen Grunde, aus dem er die frisch aus dem Leibe gerissenen Herzen seiner Gegner gefressen hat. Er hat die Seele, die Stärke der anderen in sich aufgenommen. Angehörige, wilde Tiere, Feinde. Sonne und Mond, den ganzen Scheiß.«

Er hatte ein schwarzes Lederköfferchen. Er trug einen dunklen Anzug und eine Sonnenbrille. Anfangs kam er nur alle paar Wochen und ließ sie Fragebögen ausfüllen, Aufsätze schreiben und Bilder analysieren. Die Bilder zeigten Männer, Frauen und Kinder im Familienkreis. Dann kam er jeden Nachmittag, gleich nachdem eine Angestellte die Essenstabletts mit einem klappernden Aluminiumwagen abgeholt hatte. Manchmal redete er stundenlang, und Dolores saß dabei auf ihrer Pritsche, die Hände zwischen den Knien gefaltet, den leeren Blick fest auf den Betonfußboden geheftet, den sie noch am Morgen geschrubbt hatte.

»Genau das tun wir Tag für Tag«, erklärte ihr Dr. Weinstein. Mit der linken Hand hielt er seinen Aktenkoffer im Schoß, mit der rechten machte er unbestimmte Gesten in der kalten, leeren Luft. »Wir eignen uns die Seelen und Kräfte anderer an. Nur daß die meisten es schaffen, ohne daß sie die anderen dazu umbringen müssen, Schätzchen. Wissen Sie eigentlich, was ich da sage, Di? Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Di nenne, oder? Sie haben das bei Ihrem Wechsler-Test als liebsten Rufnamen angegeben.« Er bot ihr Zigaretten an, und sie rauchte, inhalierte den beißenden, sich kräuselnden Rauch und sah zu, wie er sich am Boden absetzte wie Morgennebel über einem Sumpf. »Liebe und Aggression, das ist in der Gesellschaft der Menschen ein und dasselbe. Beides dieselben biochemischen Rädchen und Hebel. Man liebt oder haßt jemanden und möchte ihn in Stücke reißen. Man will die anderen in ihre Bestandteile zerpflücken und sie auffressen. Man will sie verschlingen, damit sie eins mit einem werden, ein Festmahl der Vernichtung. Und dann gehören sie ganz uns, stimmt’s, Schätzchen? Dann bestimmen wir, wo es langgeht. Ein reiner Trieb, biochemisch vorprogrammiert. Doch wir in unserer Gesellschaft, wir lernen solche Triebe beherrschen, wir setzen Ersatzhandlungen an ihre Stelle. Wir lernen, uns statt der Tat mit symbolischen Gesten zu begnügen. Anders gesagt, Di, man tut es nicht. Was man lernt, das ist sozusagen so zu tun, als ob man es nicht tut. In Wirklichkeit tut man es aber doch, nur insgeheim, nur in Gedanken. Aber Sie, Schätzchen, Sie wissen nicht, wie man das macht. Sie glauben, es gibt nichts außer Ihrem Verstand und der Welt draußen, Sie glauben, die Welt draußen sei der einzige Raum, in dem Ihr Verstand handeln muß. Sie müssen lernen, sich andere Räume zu schaffen. Sie müssen für Ihre Triebe Ersatzbefriedigungen finden, Sie müssen bestimmte Rituale für Ihre Psyche finden, Di, für Ihre schwer gestörte und wirklich soziopathische Psyche – so muß ich sie nennen. Ausgesprochen soziopathisch. Ein Mensch lernt bestimmte Dinge – wenn er anständig erzogen wird. Aber Sie haben ja keine anständige Kindheit gehabt. Sie müssen wir noch einmal ganz von vorn erziehen, stimmt’s? Verstehen Sie, was das bedeutet, Di? Wir müssen mit Ihrer Erziehung ganz von vorn beginnen.«

Dr. Weinstein gab zur Eröffnung des Prozesses sein Gutachten ab, und die Anklage wurde wegen Geistesgestörtheit fallengelassen. »Geistesgestört ist schon das richtige Wort, Di, das können Sie mir verdammt noch mal glauben«, erklärte er ihr auf der Fahrt zu einem einfachen Landesgefängnis, wohin sie nach der Verhandlung überführt wurde. Drei Tage darauf wurde Dolores in die staatliche Klinik für Psychiatrie in Reseda überwiesen, und drei Monate darauf kam sie in aller Stille in Dr. Weinsteins Privatklinik im Napa County. Es sah dort ganz anders aus als im Gefängnis, und es gefiel Dolores längst nicht so gut. Das Gelände war grün und rundum offen, und der Blick konnte bis zu den sanft geschwungenen Hügeln mit ihren Weingärten schweifen. Dolores bekam ein eigenes Zimmer, eigene Garderobe, ein eigenes Regal mit Büchern und einen eigenen Liegestuhl. Die Patienten waren durchweg sehr ruhig und ausgeglichen und sahen für Dolores’ Begriffe nicht im mindesten krank aus. Rachel, ein attraktiver Rotschopf um die vierzig, erklärte ihr: »Als mein Mann unser ganzes Geld von der Bank holte und sich mit seiner Sekretärin nach Buenos Aires absetzte, da wußte ich einfach nicht mehr, was ich tun sollte.« Rachel trug ein gepunktetes Baumwoll-Sommerkleid und las in der Cosmopolitan.

Dr. Weinstein sah es als seine ureigene Aufgabe an, Dolores von Grund auf neu zu erziehen. Er schrieb genau vor, was sie zu essen bekam. Lustlos strampelte sie ihre Zeit auf dem Trimmfahrrad ab, was für alle Sanatoriumsgäste zwingend vorgeschrieben war. Blutdruck, Speichelfluß, Stuhl und Urin wurden ständig kontrolliert; zwei mit Stipendien finanzierte Wissenschaftler von der Medizinischen Fakultät überwachten ihre Endorphine. Sie wurde vollgepumpt mit Megavitaminen und Zink; sie litt an Verdauungsstörungen. »Symbolische Verschiebung«, hämmerte Dr. Weinstein ihr jeden Morgen am Ende der »Kontakttherapie« ein, einer Besprechung in seinem Büro. »Die Nebennieren produzieren bestimmte Amine, die Wut hervorrufen. Es gibt gute und schlechte Wut, und Ihre Wut, Di, ist von der besonders schlimmen Sorte. Diese Amine werden dann konditioniert und modifiziert von der Vielzahl von Stoffen des endokrinen Systems, die für Ihren Geschlechtstrieb zuständig sind. Reproduktion ist etwas, worauf Ihr Körper rund um die Uhr eingestellt ist; Ihr Körper denkt ununterbrochen an die Fortpflanzung, Di.« Er nahm ihre Hand und machte ihr Komplimente für ihre langen, kräftigen Finger; dann pinselte er eine Vene mit Alkohol ein und stach eine Nadel hinein. »An der Stelle, an der Wut und Sexualität zusammenkommen, da müssen wir ansetzen«, erklärte er. »Wir wollen einen Trennungsstrich ziehen zwischen Willen und Tat, zwischen reiner Wut und spontanem Sex. Das ist nämlich der Trennungsstrich, der Ihnen verlorengegangen ist, meine Liebe. Wir werden ihn wieder einsetzen, und zwar gründlich.« Sie bekam die Injektion dreimal täglich, und Dr. Weinstein nahm sie nun mit zu dem, was er gern als »Feldstudien« bezeichnete. Sie fuhren ins Marin County und kauften einen neuen Volvo. Sie kauften Kleider, Gardinen, Bettzeug, Geschirr. Dolores hatte vorher nie sonderlich gern eingekauft, aber jetzt sehnte sie sich danach wie nach Kartoffelchips; es brachte sie fort von sich, sie konnte sich in der riesigen schnatternden Gemeinschaft der Frauen verlieren. Danach kehrte sie mit Dr. Weinstein zu seinem Privatbüro im Sanatorium zurück und sah sich Fernsehsendungen an; oft gingen sie zusammen ins Kino oder ins Theater. Er befand, daß sie nun reif sei, die Therapie unter Betreuung zu Hause fortzusetzen. Im August heirateten sie und zogen in ein wunderschönes, abgeschieden gelegenes zweistöckiges Landhaus in Sebastopol. Vormittags, wenn Dr. Weinstein ins Sanatorium fuhr, arbeitete Dolores im dortigen Kinderhort. Den Rest des Tages hatte sie Zeit zum Fernsehen. Bücher mochte sie nicht mehr. Dr. Weinsteins Buchclub-Auswahlbände blickten stumm von den hohen Mahagoniregalen herab wie zoologische Präparate in ihren Formaldehydgläsern.

 

Nach wie vor malte sie sich aus, wie sie ihn umbringen würde. Nicht mehr jeden Tag, aber doch immer wieder. An solchen Tagen spürte sie, wie sich ein fremdes, unbekanntes Gefühl in ihr breitmachte. Ihr Herz pochte, es kribbelte ihr in den Fingern. Sie war rot im Gesicht, ihr war heiß, und sie bekam entsetzliche Migräne. Noch nie war ihr das Pulsieren des Blutes in ihrem Körper so sehr zu Bewußtsein gekommen. »Du lernst, Di. Du lernst die Begrenzungen deines Körpers, deines Verstandes zu akzeptieren.« Dr. Weinstein saß in seinem dicken Polstersessel am blau züngelnden Gasfeuer des Kamins. Die neueste Ausgabe des American Journal of Psychiatric Medicine