Utopien für Realisten - Rutger Bregman - E-Book + Hörbuch

Utopien für Realisten Hörbuch

Rutger Bregman

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Beschreibung

Was sind heute die großen Ideen? Historischer Fortschritt basierte fast immer auf utopischen Ideen: Noch vor 100 Jahren hätte niemand für möglich gehalten, dass die Sklaverei abgeschafft oder die Demokratie wirklich existieren würde. Doch wie begegnen wir den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, des Familienlebens, des gesamten globalen Gefüges? Der niederländische Vordenker Rutger Bregman sagt: «Das wahre Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.» Wir müssen es wagen, das Unmögliche zu denken, denn nur so finden wir Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Bregman macht deutlich, warum das bedingungslose Grundeinkommen eine echte Option ist und inwiefern die 15-Stunden-Woche eine Antwort auf die Digitalisierung der Arbeit sein kann. «Alternativlos» ist für Bregman keine Option, sogar die Armut kann abgeschafft werden, wie er am Beispiel einer kanadischen Stadt zeigt. Bregmans Visionen sind inspirierend, seine Energie ist mitreißend; er zeigt: Utopien können schneller Realität werden, als wir denken. «Rutger Bregman rüttelt uns wach.» The Times

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Zeit:7 Std. 1 min

Sprecher:Stefan Lehnen

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Rutger Bregman

Utopien für Realisten

Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen

 

 

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

 

Über dieses Buch

Was sind heute die großen Ideen? Historischer Fortschritt basierte fast immer auf utopischen Ideen: Noch vor 100 Jahren hätte niemand für möglich gehalten, dass die Sklaverei abgeschafft oder die Demokratie wirklich existieren würde.

Doch wie begegnen wir den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, des Familienlebens, des gesamten globalen Gefüges?

Der niederländische Vordenker Rutger Bregman sagt: «Das wahre Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.»

Wir müssen es wagen, das Unmögliche zu denken, denn nur so finden wir Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Bregman macht deutlich, warum das bedingungslose Grundeinkommen eine echte Option ist und inwiefern die 15-Stunden-Woche eine Antwort auf die Digitalisierung der Arbeit sein kann. «Alternativlos» ist für Bregman keine Option, sogar die Armut kann abgeschafft werden, wie er am Beispiel einer kanadischen Stadt zeigt. Bregmans Visionen sind inspirierend, seine Energie ist mitreißend; er zeigt: Utopien können schneller Realität werden, als wir denken.

«Rutger Bregman rüttelt uns wach.» The Times

Vita

Rutger Bregman, geboren 1988 in den Niederlanden, ist Historiker und Journalist und einer der prominentesten jungen Denker Europas. Bregman wurde bereits zweimal für den renommierten European Press Prize nominiert. Er schreibt für die «Washington Post» und die «BBC» sowie für niederländische Medien.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2017

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Utopia for Realists» Copyright © 2016 by Rutger Bregman

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00114-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

Oscar Wilde (1854–1900)

1. Die Rückkehr der Utopie

Beginnen wir mit einer kleinen Geschichtsstunde:

Früher war alles schlechter.

Während etwa 99 Prozent der Menschheitsgeschichte waren 99 Prozent der Menschen arm, hungrig, schmutzig und krank. Sie lebten in Furcht, waren dumm und hässlich. Noch im 17. Jahrhundert beschrieb der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–62) das Dasein als ein Tal der Tränen und erklärte: «Die Größe des Menschen liegt darin, dass ihm sein Elend bewusst ist.» Sein englischer Zeitgenosse Thomas Hobbes (1588–1679) betrachtete das menschliche Leben als «einsam, kümmerlich, roh und kurz».

In den letzten zweihundert Jahren hat sich all das geändert. In einem Bruchteil der Zeit, die unsere Spezies mittlerweile auf diesem Planeten lebt, sind Milliarden Menschen plötzlich wohlhabend, gut genährt, sauber, sicher, gebildet, gesund – und einige sind sogar schön. Lebten im Jahr 1820 noch 84 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, so war dieser Anteil bis 1981 auf 44 Prozent gesunken, und knapp vier Jahrzehnte später liegt er unter 10 Prozent.[1]

Setzt sich dieser Trend fort, so wird die extreme Armut, die uns seit Beginn der Menschheitsgeschichte begleitet, bald vollkommen ausgerottet sein. Selbst jene, die gemessen am allgemeinen Wohlstand als arm einzustufen sind, werden in einem in der Geschichte beispiellosen Überfluss leben. In den Niederlanden, meinem Heimatland, hat ein Obdachloser dank Sozialhilfe heute mehr Geld zur Verfügung als der niederländische Durchschnittsbürger im Jahr 1950 – und viermal mehr als die Niederländer im Goldenen Zeitalter, als das Land noch die sieben Weltmeere beherrschte.[2]

Jahrhundertelang stand die Zeit praktisch still. Selbstverständlich geschah genug, um die Geschichtsbücher zu füllen, aber die Lebensverhältnisse der Menschen verbesserten sich nicht nennenswert. Hätte man einen italienischen Bauern im Jahr 1300 in eine Zeitmaschine gesetzt und ihn 1870 wieder in der Toskana aussteigen lassen, so hätte er kaum eine Veränderung bemerkt.

Historiker schätzen, dass das durchschnittliche Jahreseinkommen in Italien um das Jahr 1300 kaufkraftbereinigt bei etwa 1600 Dollar lag. Rund sechshundert Jahre später – nach Kolumbus, Galileo und Newton, nach der wissenschaftlichen Revolution, der Reformation und der Aufklärung, nach der Erfindung des Schießpulvers, des Buchdrucks und der Dampfmaschine – waren es … immer noch 1600 Dollar.[3] Die Zivilisation hatte in diesen sechshundert Jahren einen Entwicklungssprung gemacht – aber das Einkommen des Durchschnittsitalieners hatte sich praktisch nicht verändert.

Erst um das Jahr 1880, also zu der Zeit, als Alexander Graham Bell das Telefon erfand, Thomas Edison seine Glühbirne patentieren ließ, Carl Benz an seinem ersten Automobil bastelte und Josephine Cochrane über ein Gerät nachdachte, das der vielleicht brillanteste Einfall aller Zeiten war – die Spülmaschine –, wurde unser italienischer Bauer vom Strom des Fortschritts erfasst. Und was für ein wilder Ritt ihm bevorstand. In den letzten zwei Jahrhunderten sind sowohl die Weltbevölkerung als auch ihr Wohlstand rasant gewachsen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mittlerweile zehnmal so hoch wie im Jahr 1850. Der durchschnittliche Italiener ist heute fünfzehnmal so reich wie im Jahr 1880. Und die Weltwirtschaft? Ihr Umfang ist 250-mal größer als vor der industriellen Revolution – als noch fast alle Menschen überall auf der Erde arm, hungrig, schmutzig, furchterfüllt, dumm, krank und hässlich waren.

Schaubild 1: Zwei Jahrhunderte verblüffenden Fortschritts

Mit diesem Diagramm muss man sich ein wenig auseinandersetzen. Jeder Kreis steht für ein Land. Je größer der Kreis, desto größer die Bevölkerung. In der unteren Hälfte sehen wir die Situation der verschiedenen Länder im Jahr 1800, die obere Hälfte gibt Aufschluss über ihre Situation im Jahr 2012. Die Lebenserwartung war im Jahr 1800 sogar in den reichsten Ländern (zum Beispiel in den Niederlanden und den Vereinigten Staaten) noch geringer, als sie im Jahr 2012 im Land mit der schlechtesten Gesundheitslage war (Sierra Leone). Mit anderen Worten: Im Jahr 1800 waren alle Länder gemessen an Wohlstand und Gesundheit arm, und heute steht sogar Subsahara-Afrika besser da als die reichsten Länder im Jahr 1800 – und das, obwohl sich die Einkommen im Kongo in den letzten zweihundert Jahren kaum verändert haben. Tatsächlich stoßen immer mehr Länder ins «Land des Überflusses» vor (rechts oben im Schaubild), wo das Durchschnittseinkommen heute über 20000 USD und die Lebenserwartung über 75 Jahren liegt.

– Quelle: Gapminder.org

Die mittelalterliche Utopie

Die Welt der Vergangenheit war zweifellos ein rauer Ort. Da lag es nahe, dass die Menschen von einer besseren Welt träumten.

Eine besonders plastische Ausprägung dieses Traums war das Schlaraffenland, das Land, in dem Milch und Honig flossen. Um dorthin zu gelangen, musste man sich durch drei Meilen Reispudding essen, aber die Mühe war es wert, denn wer das Schlaraffenland erreicht hatte, fand sich an einem Ort wieder, wo die Flüsse statt Wasser Wein führten, gebratene Gänse durch die Luft flogen, Pfannkuchen an Bäumen wuchsen und heiße Pasteten vom Himmel regneten. Bauern, Handwerker, Geistliche – sie alle waren gleich und faulenzten gemeinsam in der Sonne.

Im Schlaraffenland, dem Land des Überflusses, gab es nie Streit. Die Menschen hatten nichts anderes zu tun, als zu feiern, zu tanzen, zu trinken und sich sexuell miteinander zu vergnügen.

«In der mittelalterlichen Vorstellungswelt käme das heutige Westeuropa einem echten Schlaraffenland ziemlich nahe», erklärt der niederländische Historiker Herman Pleij. «Wir haben rund um die Uhr Zugang zu Fast Food, wir haben Heizungen, freie Liebe, ein Alterseinkommen ohne Arbeit und Schönheitschirurgie zur Verlängerung unserer Jugend.»[4] Mittlerweile leiden weltweit mehr Menschen unter Fettleibigkeit als unter Hunger.[5] In Westeuropa ist die Mordrate im Durchschnitt heute vierzigmal niedriger als im Mittelalter, und wer im richtigen Land geboren wird, kann sich auf ein beeindruckendes soziales Sicherheitsnetz verlassen.[6]

Vielleicht ist das auch unser größtes Problem: Der alte Traum vom Land des Überflusses hat seinen Reiz verloren. Natürlich hätten wir nichts gegen ein wenig mehr Konsum und ein wenig mehr Sicherheit, aber dafür müssten wir noch ein wenig mehr Umweltverschmutzung, Fettleibigkeit und staatliche Überwachung in Kauf nehmen. Für den mittelalterlichen Träumer war das Land des Überflusses eine paradiesische Vorstellung, die ihm «eine Flucht aus dem irdischen Leid» ermöglichte, wie es Herman Pleij ausdrückt. Aber hätte man dem italienischen Bauern im Jahr 1300 eine Welt wie unsere gezeigt, so wäre sie ihm zweifellos als Schlaraffenland erschienen.

Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der biblische Prophezeiungen wahr werden. Was für die mittelalterlichen Menschen noch ein Wunder gewesen wäre, ist heute alltäglich: Die Blinden werden sehend gemacht, Gelähmte können wieder gehen, Tote kehren zurück ins Leben. Nehmen wir beispielsweise Argus II, ein Gehirnimplantat, welches das Sehvermögen von Menschen mit einer genetisch bedingten Sehbehinderung teilweise wiederherstellt. Oder die Rewalk-Roboterbeine, mit denen Querschnittgelähmte wieder gehen können. Oder den Rheobatrachus, eine 1983 ausgestorbene Froschgattung, die von australischen Wissenschaftlern mit Hilfe gespeicherter DNA wieder zum Leben erweckt worden ist. Der Tasmanische Tiger ist das nächste Tier auf der Wunschliste dieser Forscher, deren Arbeit Teil des umfassenderen «Lazarus-Projekts» ist (benannt nach dem neutestamentlichen Lazarus, den Jesus von den Toten auferweckte).

Inzwischen verwandelt sich Science-Fiction in reale Wissenschaft. Die ersten fahrerlosen Autos rollen bereits auf den Straßen. 3-D-Drucker spucken ganze embryonale Zellstrukturen aus, und Menschen, denen ein Chip ins Gehirn eingesetzt wurde, steuern mit ihren Gedanken Roboterarme. Der Preis von Solarstrom ist seit 1980 um 99 Prozent gesunken. Das ist kein Tippfehler. Wenn wir Glück haben, werden 3-D-Drucker und Sonnenkollektoren Karl Marx’ Idealvorstellung – alle Produktionsmittel werden von der Masse gesteuert – in eine Realität verwandeln, ohne dass dazu eine blutige Revolution nötig wäre.

Lange Zeit hatte nur eine kleine Elite im reichen Westen Zutritt zum Land des Überflusses, aber mittlerweile steht es dem Großteil der Menschheit offen. Seit sich China für den Kapitalismus geöffnet hat, sind 700 Millionen Chinesen aus extremer Armut befreit worden.[7] Auch Afrika schüttelt den Ruf eines wirtschaftlich verwüsteten Kontinents ab und beherbergt mittlerweile sechs der zehn wachstumsstärksten Volkswirtschaften der Welt.[8] Im Jahr 2013 besaßen sechs Milliarden Menschen ein Mobiltelefon. (Zum Vergleich: Nur 4,5 Milliarden hatten eine Toilette im Haus.)[9] Und zwischen 1994 und 2014 stieg der Anteil der Menschen, die Zugang zum Internet hatten, weltweit von 0,4 auf 40,4 Prozent.[10]

Auch was die Gesundheit anbelangt – dies war das vielleicht schönste Versprechen der Utopie vom Land des Überflusses –, hat der Fortschritt die wildesten Träume unserer Vorfahren übertroffen. Während sich die Einwohner der reichen Länder damit zufriedengeben müssen, dass ihre durchschnittliche Lebenserwartung jede Woche um ein weiteres Wochenende steigt, dürfen sich Afrikaner jede Woche über vier zusätzliche Tage freuen.[11] Zwischen 1990 und 2012 stieg die Lebenserwartung weltweit von 64 auf 70 Jahre[12] – mehr als doppelt so viel wie im Jahr 1900.

Immer weniger Menschen leiden unter Hunger. Zwar können wir in unserem Land des Überflusses keine gebratenen Gänse aus der Luft fangen, aber die Zahl der Menschen, die unter Mangelernährung leiden, ist seit 1990 um mehr als ein Drittel gesunken. Der Anteil der Weltbevölkerung, der mit weniger als 2000 Kalorien am Tag auskommen muss, sank zwischen 1965 und 2005 von 51 Prozent auf nur noch 3 Prozent.[13] Mehr als 2,1 Milliarden Menschen erhielten zwischen 1990 und 2012 Zugang zu sauberem Trinkwasser. Im selben Zeitraum sank die Zahl der Kinder mit Wachstumsstörungen um ein Drittel, die Kindersterblichkeit schrumpfte um unglaubliche 41 Prozent, und die Müttersterblichkeit konnte um die Hälfte verringert werden.

Und was ist mit Krankheiten? Der schlimmste Massenmörder der Geschichte existiert nicht mehr: Die gefürchteten Pocken wurden vollkommen ausgerottet. Die Kinderlähmung ist weitgehend aus unserer Welt verschwunden, die Opferzahl war im Jahr 2013 um 99 Prozent geringer als noch im Jahr 1988. Mehr und mehr Kinder werden gegen einst weitverbreitete Krankheiten geimpft. So ist beispielsweise die weltweite Impfquote bei Masern von 16 Prozent im Jahr 1980 auf 85 Prozent in der Gegenwart gestiegen, und die Zahl der Todesopfer konnte zwischen 2000 und 2014 um mehr als drei Viertel verringert werden. Die Zahl der durch Tuberkulose verursachten Todesfälle ist seit 1990 um fast die Hälfte gesunken. Seit 2000 ist die Zahl der Malariatoten um ein Viertel gesunken, das Gleiche gilt für Aids seit 2005.

Einige Zahlen scheinen fast zu schön, um wahr zu sein. Beispielsweise starb noch vor fünfzig Jahren jedes fünfte Kind vor dem fünften Geburtstag. Heute trifft dieses Schicksal nur noch eines von zwanzig Kindern. Im Jahr 1836 starb der reichste Mann der Welt, ein gewisser Nathan Meyer Rothschild, an einer Krankheit, die heute mit Antibiotika geheilt würde. In den letzten Jahrzehnten haben spottbillige Impfstoffe gegen Masern, Tetanus, Keuchhusten, Diphtherie und Polio jedes Jahr mehr Menschenleben gerettet, als im 20. Jahrhundert durch einen völligen Weltfrieden möglich gewesen wäre.[14]

Offenkundig gibt es noch viele Krankheiten, die wir nicht besiegt haben – an erster Stelle steht der Krebs –, aber auch an dieser Front machen wir Fortschritte. Im Jahr 2013 feierte die angesehene Zeitschrift Science eine Entdeckung, die sie als bedeutsamsten wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres bezeichnete: Forscher hatten eine Technik entwickelt, die es erlaubt, das Immunsystem für den Kampf gegen Tumore zu rüsten. Im selben Jahr gelang es erstmals, menschliche Stammzellen zu klonen, ein Erfolg, der die Tür zur Behandlung mitochondrialer Krankheiten einschließlich einer Form von Diabetes aufstieß.

Einige Wissenschaftler sind sogar überzeugt, dass der erste Mensch, der tausend Jahre alt werden könnte, bereits geboren ist.[15]

Schaubild 2: Der Triumph der Impfstoffe

– Quelle: Weltgesundheitsorganisation

Gleichzeitig werden wir immer klüger. Im Jahr 1962 erhielten 41 Prozent der Kinder keine Schulbildung, heute sind es noch 10 Prozent.[16] In den meisten Ländern steigt der durchschnittliche Intelligenzquotient alle zehn Jahre um drei bis fünf Punkte, was vor allem einer besseren Ernährung und Bildung zu verdanken ist. Vielleicht erklärt das auch, warum die Menschheit heute sehr viel zivilisierter ist als früher: Das vergangene Jahrzehnt war das friedlichste in der Geschichte der Menschheit. Nach Angabe des Friedensforschungsinstituts in Oslo ist die Zahl der Kriegstoten seit 1946 um 90 Prozent gesunken. Morde, Raubüberfälle und andere Formen der Kriminalität nehmen ebenfalls ab.

Schaubild 3: Der Krieg ist auf dem Rückzug

– Quelle: Friedensforschungsinstitut Oslo

«In der reichen Welt werden Verbrechen immer seltener», berichtete der Economist vor nicht allzu langer Zeit. «Es gibt weiterhin Kriminelle, aber ihre Zahl schrumpft, und ihr Durchschnittsalter steigt.»[17]

Ein freudloses Paradies

Wir leben also im Land des Überflusses.

Wir führen ein gutes Leben, das nahezu jedermann Wohlstand, Sicherheit und Gesundheit beschert. Nur eines fehlt uns: ein Grund, am Morgen aus dem Bett zu steigen. Denn im Paradies gibt es kaum noch etwas zu verbessern. Bereits im Jahr 1989 erklärte der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama, wir lebten in einer Ära, in der sich das Leben nur noch um «wirtschaftliche Berechnungen, die endlose Lösung technischer Probleme, den Umgang mit Umweltproblemen und die Befriedigung anspruchsvoller Konsumbedürfnisse» drehe.[18]

Unser visionäres Denken ist auf Fragen wie die folgenden beschränkt: Wie können wir unsere Kaufkraft um einen weiteren Prozentpunkt erhöhen, unsere Kohlenstoffemissionen ein wenig verringern und vielleicht noch das eine oder andere neue brauchbare Gerät entwickeln? Wir leben in einer Ära des Wohlstands und des Überflusses, aber es ist eine freudlose Ära. Nach Ansicht von Fukuyama sind Kunst und Philosophie auf dem Rückzug; geblieben sei uns nur die «Verwaltung des Museums der Menschheitsgeschichte».

Oscar Wilde erklärte, sobald wir das Land des Überflusses erreicht hätten, müssten wir unseren Blick auf den Horizont richten und erneut die Segel setzen: «Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.» Aber der Horizont bleibt leer. Das Land des Überflusses ist in Nebel gehüllt. Just in dem Moment, in dem wir uns der historischen Aufgabe hätten stellen sollen, diese reiche, sichere und gesunde Welt mit Sinn zu erfüllen, beerdigten wir stattdessen die Utopie. Und wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzen könnten, weil wir uns keine bessere Welt als die vorstellen können, in der wir heute leben. Tatsächlich glauben die meisten Menschen in den reichen Ländern, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen.[19]

Das wahre Problem unserer Zeit, das Problem meiner Generation, ist nicht, dass es uns nicht gutginge oder dass es uns in Zukunft schlechtergehen könnte.

Nein, das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.

Die Blaupause

In diesem Buch geht es nicht um Vorhersagen der Zukunft.

Stattdessen versuche ich, die Tür zur Zukunft aufzustoßen. Utopien verraten stets mehr über die Zeit, in der sie entwickelt werden, als über das, was uns in der Zukunft erwartet. Das utopische Schlaraffenland zeigt uns deutlich, wie das Leben im Mittelalter war: schrecklich. Besser gesagt, diese Utopie verrät uns, dass fast alle Menschen fast überall und fast zu allen Zeiten ein entbehrungsreiches Leben führten. Schließlich kennt jede Kultur die Vorstellung von einem Land des Überflusses.[20]

Einfache Wünsche bringen einfache Utopien hervor. Der Hungernde träumt von einem üppigen Festmahl. Der Frierende träumt von einem knisternden Feuer. Der Gebrechliche träumt von ewiger Jugend. All diese Wünsche kommen in den alten Utopien zum Ausdruck, die entstanden, als das Leben noch gemein, roh und kurz war. «Die Erde brachte nichts Furchtbares hervor, keine Krankheiten», phantasierte der griechische Dichter Telekides im 5. vorchristlichen Jahrhundert. Was immer der Mensch brauche, werde einfach auftauchen: «In jedem Bach floss Wein … Die Fische kamen ins Haus geflogen, brieten sich selbst und legten sich auf den Tisch.»[21]

Aber bevor wir weitergehen, müssen wir zwischen zwei Formen des utopischen Denkens unterscheiden.[22] Die erste ist allgemein bekannt: die Utopie der Blaupause. Große Denker wie Karl Popper und Hannah Arendt und sogar eine ganze philosophische Schule, die Postmoderne, haben versucht, diese Art von Utopie zu Fall zu bringen. Es ist ihnen weitgehend gelungen: Sie hatten bisher das letzte Wort zur Blaupause des Paradieses.

Blaupausen beruhen nicht auf abstrakten Idealen, sondern auf unabänderlichen Regeln, die keine Abweichung erlauben. Ein gutes Beispiel ist Die Sonnenstadt (La cittá del sole, 1602) des italienischen Dichters und Philosophen Fra Tomaso Campanella. In seinem Utopia – oder eher: Dystopia – ist das Privateigentum verboten; alle Bürger sind verpflichtet, einander zu lieben, und Streitigkeiten werden mit dem Tod bestraft. Das Privatleben einschließlich der Fortpflanzung wird vom Staat kontrolliert: Kluge Menschen dürfen nur mit dummen Geschlechtsverkehr haben und fette nur mit mageren. Das Ziel ist, einen nützlichen Durchschnittstyp zu schaffen. Obendrein wird jede Person von einem dichten Netz von Spitzeln überwacht. Verstößt jemand gegen die Regeln, so wird der Übeltäter so lange bloßgestellt, bis er seine Verfehlung einsieht und sich bereitwillig von seinen Mitbürgern steinigen lässt.

Der heutige Leser findet in Campanellas Buch erschreckende Andeutungen von Faschismus, Stalinismus und Genozid.

Die Rückkehr der Utopie

Das utopische Denken kann jedoch noch einen anderen Weg einschlagen, einen Weg, der fast vergessen ist. Wenn die Blaupause ein hochauflösendes Foto ist, können wir die zweite Art von Utopie als grobe Skizze bezeichnen. Sie bietet keine Lösungen, sondern Wegweiser an. Anstatt uns in eine Zwangsjacke zu stecken, animiert sie uns zur Veränderung. Und sie trägt der Erkenntnis Rechnung, dass das Bessere der Feind des Guten ist, wie Voltaire erklärte. Ein amerikanischer Philosoph hat es so ausgedrückt: «Jeder ernsthafte utopische Denker wird vor der bloßen Vorstellung einer Blaupause zurückschrecken.»[23]

In diesem Geist schrieb der englische Philosoph Thomas More sein Buch über Utopia und prägte damit den Begriff. Seine Utopie war keine strikt anzuwendende Blaupause, sondern in erster Linie eine Anklageschrift gegen eine habgierige Aristokratie, die für sich immer größeren Luxus beanspruchte, während das gemeine Volk in tiefer Armut lebte.

More begriff, dass eine Utopie gefährlich ist, wenn sie zu ernst genommen wird. «Man muss imstande sein, leidenschaftlich zu glauben, gleichzeitig jedoch die Absurdität der eigenen Überzeugungen zu durchschauen und darüber zu lachen», erklärt der Philosoph und Utopieexperte Lyman Tower Sargent. Wie Humor und Satire stößt auch die Utopie die Fenster des Geistes auf. Und das ist unerlässlich. Je älter Menschen und Gesellschaften werden, desto mehr gewöhnen sie sich an den Status quo, in dem die Freiheit zum Gefängnis werden kann und die Wahrheit zur Lüge. Die heutige Überzeugung – oder, schlimmer, der Glaube –, es gebe nichts mehr, an das man glauben kann, macht uns blind für die Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten, die uns auch heute noch umgeben.

Einige Beispiele: Warum arbeiten wir heute härter als in den achtziger Jahren, obwohl wir reicher sind als je zuvor? Warum leben immer noch Millionen Menschen in Armut, obwohl wir reich genug sind, um der Armut ein für alle Mal ein Ende zu machen? Und warum hängen mehr als 60 Prozent unseres Einkommens davon ab, in welchem Land wir geboren wurden?[24]

Utopien liefern keine fertigen Antworten, geschweige denn endgültige Lösungen. Aber sie werfen die richtigen Fragen auf.

Die Zerschlagung des «großen Narrativs»

Heute werden wir leider geweckt, bevor wir überhaupt beginnen können zu träumen. Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass sich Träume leicht in Albträume verwandeln: Utopien sind ein Nährboden für Zwietracht, Gewalt und sogar Völkermord. Utopien werden schließlich zu Dystopien – tatsächlich ist eine Utopie eine Dystopie. Ein weiteres Klischee lautet: «Der menschliche Fortschritt ist ein Mythos.» Und dennoch ist es uns gelungen, eine Welt zu errichten, die der mittelalterlichen Vorstellung des Paradieses gleichkommt.

Es stimmt, die Geschichte ist voller furchtbarer Beispiele dafür, was geschehen kann, wenn Utopien verwirklicht werden – Faschismus, Kommunismus, Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite verurteilen wir nicht automatisch ein ganzes Glaubensbekenntnis, weil religiöse Fanatiker zur Gewalt aufrufen. Wir lehnen die großen Religionen nicht grundsätzlich ab, obwohl sie allesamt fanatische Sekten hervorgebracht haben. Warum also den Utopismus in Bausch und Bogen ablehnen? Sollen wir tatsächlich aufhören, von einer besseren Welt zu träumen?

Natürlich nicht. Aber genau das geschieht. Optimismus und Pessimismus sind mittlerweile Synonyme für ein ausreichendes Maß oder einen Mangel an Verbrauchervertrauen. Radikale Ideen für eine andere Welt sind beinahe buchstäblich undenkbar geworden. Wir haben unsere Erwartungen bezüglich dessen, was wir als Gesellschaft erreichen können, deutlich zurückgeschraubt. Nun stehen wir vor der kalten, harten Wahrheit, dass uns ohne Utopie nur die Technokratie bleibt. Die Politik ist zu bloßer Problemlösung verkommen. Die Wähler wechseln von einer Partei zur anderen, aber das tun sie nicht, weil die Parteien sehr unterschiedlich wären, sondern einfach, weil es kaum noch möglich ist, ihre Programme voneinander zu unterscheiden; was die Rechte heute von der Linken unterscheidet, sind ein oder zwei Prozentpunkte bei der Einkommensteuer.[25]

Wir sehen es am Journalismus, der die Politik als ein Spiel darstellt, in dem es nicht um Ideale, sondern um Karrieren geht. Wir sehen es in der akademischen Welt, wo jedermann zu beschäftigt mit dem Schreiben ist, um zu lesen, und wo niemand Zeit für Debatten hat, weil alle zu viel mit ihren Publikationen zu tun haben. Die Universität des 21. Jahrhunderts ähnelt einer Fabrik, und dasselbe gilt für unsere Krankenhäuser, Schulen und Rundfunkanstalten. Es geht darum, Zielvorgaben zu erfüllen: das Wirtschaftswachstum, die Einschaltquote, die Zahl der Publikationen. Langsam, aber sicher wird Qualität durch Quantität ersetzt.

Angetrieben wird der Prozess von einer Kraft, die manchmal als «Liberalismus» bezeichnet wird, einer Ideologie, die beinahe ihres gesamten Gehalts beraubt wurde. Heute geht es nur noch darum, «man selbst zu sein» und «sein Ding zu machen». Die Freiheit mag unser höchstes Ideal sein, aber es ist eine leere Freiheit. Unsere Furcht vor jeglichen moralischen Urteilen hat dazu geführt, dass die Moralität in der öffentlichen Debatte tabu ist. Schließlich sollte die Öffentlichkeit «neutral» sein – obwohl sie gleichzeitig paternalistischer ist als je zuvor. An jeder Straßenecke werden wir aufgefordert, zu schlemmen, zu trinken, Kredite aufzunehmen, zu kaufen, zu schuften, uns alles abzuverlangen und zu betrügen. Was auch immer wir uns selbst über unsere Meinungsfreiheit einreden, unsere Wertvorstellungen haben eine verdächtige Ähnlichkeit mit denen der Unternehmen, die sich die beste Werbezeit leisten können.[26] Hätte eine politische Partei oder eine religiöse Sekte auch nur einen Bruchteil des Einflusses der Werbeindustrie auf uns und unsere Kinder, so wären wir längst auf den Barrikaden. Aber da es der Markt ist, bleiben wir «neutral».[27]

Der Politik bleibt nichts anderes zu tun, als das alltägliche Leben zusammenzuflicken. Wer nicht in die Schablone des zahmen, zufriedenen Bürgers passt, den biegen die Mächtigen rasch zurecht. Die Mittel der Wahl: Kontrolle, Überwachung und Repression.

Unterdessen hat der Wohlfahrtsstaat sein Augenmerk von den Ursachen unserer Unzufriedenheit abgewandt, um sich auf die Symptome zu konzentrieren. Wir gehen zum Arzt, wenn wir krank sind, zum Therapeuten, wenn wir traurig sind, zum Diätspezialisten, wenn wir übergewichtig sind. Wir gehen ins Gefängnis, wenn wir verurteilt werden, und zum Berufsberater, wenn wir unseren Arbeitsplatz verlieren. All diese Dienste kosten ungeheuer viel Geld, ohne dass sie großen Nutzen hätten. In den USA, wo die Gesundheitskosten höher sind als in jedem anderen Land der Welt, sinkt die Lebenserwartung vieler Menschen.

Der Markt und die kommerziellen Interessen können sich währenddessen vollkommen frei entfalten. Die Lebensmittelindustrie versorgt uns mit billigem Abfall, der reichlich Salz, Zucker und Fett enthält, und bereitet uns auf den Weg zum Arzt und zum Ernährungsberater vor. Der technologische Fortschritt macht immer mehr Arbeitsplätze überflüssig und schickt uns zurück zum Berufsberater. Die Werbung ermutigt uns, Geld, das wir nicht haben, für Dinge auszugeben, die wir nicht brauchen, um damit Leute zu beeindrucken, die wir nicht leiden können.[28] Anschließend können wir zum Therapeuten gehen, um uns auszuweinen.

Das ist die Dystopie, in der wir heute leben.

Die verhätschelte Generation

Damit will ich nicht sagen, wir hätten es nicht gut. Ich kann nicht oft genug betonen, dass es uns sehr gutgeht. Wenn die heutige Jugend unter etwas leidet, dann darunter, dass sie übermäßig verhätschelt wird. Die Psychologin Jean Twenge von der San Diego State University hat die Einstellungen junger Erwachsener studiert und festgestellt, dass Jugendliche heute eine sehr viel bessere Meinung von sich haben als in den achtziger Jahren. Sie sind überzeugt, dass sie klüger, verantwortungsbewusster und attraktiver sind als jede andere Generation.

Twenge erklärt: «Jedem Kind, das dieser Generation angehört, wurde gesagt, es sei etwas ganz Besonderes und könne alles erreichen, was es sich vornehme.»[29] Wir sind mit Narzissmus gefüttert worden, aber wenn wir in die große weite Welt der unbegrenzten Möglichkeiten entlassen werden, stürzen mehr und mehr von uns ab. Es stellt sich heraus, dass die Welt ein kalter und rauer Ort ist, an dem der Wettbewerb tobt und Arbeitslosigkeit droht. Sie ist kein Disneyland, in dem alle Träume wahr werden, sondern der Schauplatz eines erbarmungslosen Wettlaufs, in dem wir nur uns selbst die Schuld geben können, wenn wir uns nicht durchsetzen.

Es überrascht nicht, dass sich hinter dem Narzissmus eine große Unsicherheit verbirgt. Twenge hat auch entdeckt, dass wir alle in den letzten Jahrzehnten sehr viel ängstlicher geworden sind. Sie verglich 269 Studien aus den Jahren 1952 bis 1993 und gelangte zu dem Schluss, dass das durchschnittliche nordamerikanische Kind Anfang der neunziger Jahre unter größerer Angst litt als Psychiatriepatienten Anfang der fünfziger Jahre.[30] Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist die Depression mittlerweile das größte gesundheitliche Problem bei Kindern und wird bis 2030 weltweit der wichtigste Krankheitsgrund sein.[31]

Es ist ein Teufelskreis. Nie zuvor waren so viele junge Erwachsene in psychiatrischer Behandlung wie heute. Nie zuvor erlitten derart viele Menschen schon zu Beginn ihrer Karriere ein Burnout. Wir schlucken mehr Antidepressiva als je zuvor. Wir geben dem Einzelnen die Schuld an kollektiven Problemen wie Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit und Depression: Wenn der Erfolg von uns selbst abhängt, dann gilt das Gleiche für das Scheitern. Du hast deinen Job verloren? Du hättest härter arbeiten sollen. Du bist krank? Du hättest dir einen gesunden Lebensstil aneignen sollen. Du bist unglücklich? Schluck eine Tablette.

In den fünfziger Jahren waren nur 12 Prozent der jungen Erwachsenen der Meinung, sie seien «ein ganz besonderer Mensch». Heute glauben das 80 Prozent.[32] Dabei werden wir einander in Wahrheit immer ähnlicher: Wir lesen alle dieselben Bestseller, schauen uns dieselben Kinohits an und tragen die gleichen Turnschuhe. Unsere Großeltern hielten sich an Regeln, die von Familie, Kirche und Gesellschaft vorgegeben wurden, aber wir werden von Medien, Marketing und einem paternalistischen Staat in ein Korsett gesteckt. Doch obwohl wir einander immer ähnlicher werden, liegt die Zeit der großen Kollektive längst hinter uns. Den Kirchen und Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon, und die traditionelle Unterscheidung zwischen rechts und links hat ihren Sinn weitgehend verloren. Es geht uns nur noch darum, «Probleme zu lösen», so als könnte die Politik Managementberatern übertragen werden.

In der Tat gibt es einige Leute, die versuchen, den alten Glauben an den Fortschritt wiederzubeleben. Ist es ein Wunder, dass der kulturelle Archetyp meiner Generation der Nerd ist, dessen Apps und Gadgets die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum symbolisieren? «Die klügsten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie man die Leute dazu bewegen kann, Werbebuttons anzuklicken», beklagt sich ein früheres Mathegenie auf Facebook.[33]

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es war der Kapitalismus, der das Tor zum Land des Überflusses aufstieß, aber der Kapitalismus kann nicht die einzige Grundlage dieses Landes sein. Der Fortschritt wird mittlerweile mit wirtschaftlichem Wohlstand gleichgesetzt, aber im 21. Jahrhundert werden wir andere Wege finden müssen, um unsere Lebensqualität zu verbessern. Und nachdem die jungen Menschen im Westen mehrheitlich in einer Zeit der apolitischen Technokratie aufgewachsen sind, müssen wir uns auf die Politik zurückbesinnen, um ein neues Utopia zu entwickeln.

In diesem Sinn betrachte ich unsere Unzufriedenheit als ermutigend, denn wer unzufrieden ist, ist nicht gleichgültig. Die verbreitete Nostalgie, die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es in Wahrheit nie gab, ist ein Hinweis darauf, dass wir immer noch Ideale haben – auch wenn wir sie lebendig begraben haben.

Wirklicher Fortschritt beginnt mit etwas, das keine Wissensökonomie erzeugen kann: mit einem Verständnis dessen, was es bedeutet, gut zu leben. Wir müssen tun, was große Denker wie John Stuart Mill, Bertrand Russell und John Maynard Keynes vor langer Zeit verlangten: Wir müssen «dem Zweck höheren Wert beimessen als den Mitteln und dem Guten den Vorzug vor dem Nützlichen geben».[34] Wir müssen unseren Blick in die Zukunft richten. Wir müssen aufhören, unsere Unzufriedenheit in Umfragen und der Litanei schlechter Nachrichten in den Medien zu konsumieren. Wir müssen Alternativen in Betracht ziehen und neue Kollektive bilden. Wir müssen einen Zeitgeist abschütteln, der uns einschränkt, und erkennen, dass wir gemeinsame Ideale haben.

Vielleicht werden wir dann auch imstande sein, uns von der Nabelschau zu lösen und die Welt zu betrachten. Dann werden wir sehen, dass der gute alte Fortschritt weiter voranschreitet. Wir werden begreifen, dass wir in einer großartigen Zeit leben, einer Zeit, in der Hunger und Krieg auf dem Rückzug sind und Wohlstand und Lebenserwartung steigen. Aber wir werden auch sehen, wie viel wir – die reichsten 10, 5 oder 1 Prozent – noch zu tun haben.

Die Blaupause

Wenden wir uns wieder dem utopischen Denken zu.

Wir brauchen einen neuen Leitstern, eine neue Karte der Welt, auf der wir wieder einen fernen, unentdeckten Kontinent eintragen können, einen Kontinent namens Utopia. Damit meine ich keinen starren Plan von der Art, die uns die utopistischen Fanatiker mit ihren Theokratien oder Fünfjahresplänen aufzuzwingen versuchen – sie unterwerfen lediglich reale Menschen ihren Fieberträumen. Halten wir uns Folgendes vor Augen: Das Wort utopia bedeutet sowohl «guter Ort» als auch «Nichtort». Was wir brauchen, sind alternative Horizonte, die unsere Phantasie anregen. Und ich meine tatsächlich Horizonte im Plural, denn schließlich sind einander widersprechende Utopien das Herzblut der Demokratie.

Wie alle Utopien wird auch unsere klein anfangen. Die Fundamente dessen, was wir heute als Zivilisation bezeichnen, wurden vor langer Zeit von Träumern gelegt, die ihren eigenen Weg gingen. Der spanische Mönch Bartolomé de Las Casas (1484–1566) sprach sich für Gleichheit zwischen den Kolonisatoren und der einheimischen Bevölkerung Lateinamerikas aus und versuchte, eine Kolonie zu gründen, in der jedermann ein gutes Leben führen konnte. Der Fabrikbesitzer Robert Owen (1771–1858) setzte sich für die Emanzipation der englischen Arbeiter ein und betrieb erfolgreich eine Baumwollfabrik, in der er seinen Arbeitern einen fairen Lohn zahlte und die Prügelstrafe abschaffte. Und der britische Philosoph John Stuart Mill (1806–73) ging so weit zu erklären, Männer und Frauen hätten gleiche Fähigkeiten. (Möglicherweise hatte das etwas damit zu tun, dass seine Frau die Hälfte seiner Schriften verfasste.)

Eines steht fest: Ohne all die idealistischen Träumer, die es zu allen Zeiten gab, wären wir immer noch arm, hungrig, schmutzig, ängstlich, dumm, krank und hässlich. Ohne Utopie sind wir verloren. Nicht, dass die Gegenwart schlecht wäre, im Gegenteil. Aber es ist eine freudlose Gegenwart, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass die Zukunft besser sein wird. «Der Mensch braucht zu seinem Glück nicht nur diesen oder jenen Genuss, sondern Hoffnung, neue Unternehmungen und Veränderung», schrieb der britische Philosoph Bertrand Russell.[35] An anderer Stelle erklärte er: «Unser Ziel sollte nicht ein vollkommenes Utopia sein, sondern eine Welt, in der Phantasie und Hoffnung lebendig sind.»[36]

Reichtum ist besser als Armut, und sei es auch nur aus finanziellen Gründen.

Woody Allen (geb. 1935)

2. Warum wir jedermann Geld schenken sollten

London im Mai 2009. Es läuft ein Experiment. Die Versuchsteilnehmer: dreizehn Obdachlose. Diese Menschen kennen das Leben auf der Straße. Einige schlafen seit vierzig Jahren auf dem kalten Pflaster der Square Mile, des Finanzzentrums Europas. Rechnet man Polizeieinsätze, Gerichtskosten und Sozialdienste zusammen, so haben diese dreizehn Störenfriede geschätzte Kosten von mindestens 400000 Pfund (rund 450000 Euro) verursacht – und zwar in einem einzigen Jahr.[37]

Der Aderlass für Behörden und örtliche Hilfsorganisationen ist zu groß, als dass es ewig so weitergehen könnte. Also fällt die Londoner Hilfsorganisation Broadway eine radikale Entscheidung: Ab sofort erhalten die dreizehn altgedienten Herumtreiber eine VIP-Betreuung. Schluss mit täglichen Hilfsangeboten wie Lebensmittelmarken, Suppenküchen und Obdachlosenunterkünften. Stattdessen wird ein Hilfspaket geschnürt, das die Situation der Obdachlosen augenblicklich grundlegend ändern wird.

Von jetzt an werden die dreizehn Männer finanzielle Unterstützung erhalten, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist.

Genau gesagt, bekommt jeder von ihnen 3000 Pfund, die er nach seinem Gutdünken ausgegeben darf, ohne irgendeine Gegenleistung dafür erbringen zu müssen.[38] Wer möchte, kann sich an einen Berater wenden. Es gibt keine Auflagen, und es werden keine Fragen gestellt, über die sie stolpern könnten.[39]

Nur zu einem Punkt müssen sie sich äußern: Was denken Sie, was Sie brauchen?

Gärtnereikurse

«Ich hatte keine zu großen Erwartungen», erinnerte sich einer der Sozialarbeiter später.[40] Aber wie sich herausstellte, waren die Herumtreiber ausgesprochen bescheiden. Sie wünschten sich ein Handy, ein Wörterbuch, ein Hörgerät – jeder hatte eine ganz eigene Vorstellung davon, was er brauchte. Die meisten erwiesen sich als sehr sparsam. Nach einem Jahr hatten sie im Durchschnitt gerade einmal 800 Pfund ausgegeben.

Nehmen wir beispielsweise Simon, der seit zwanzig Jahren heroinsüchtig war. Das Geld veränderte sein Leben. Simon kam von der Droge los und begann eine Ausbildung zum Gärtner. «Aus irgendeinem Grund passte zum ersten Mal in meinem Leben alles zusammen», erklärte er später. «Ich habe begonnen, mich zu pflegen, ich wasche und rasiere mich. Ich denke darüber nach, nach Hause zurückzukehren. Ich habe zwei Kinder.»

Anderthalb Jahre nach Beginn des Experiments hatten sieben der dreizehn Obdachlosen wieder ein Dach über dem Kopf. Zwei weitere standen kurz davor, ihre eigene Wohnung zu beziehen. Alle dreizehn Männer hatten wichtige Schritte auf dem Weg zu Solvenz und persönlicher Weiterentwicklung getan. Sie nahmen an Ausbildungsmaßnahmen teil, lernten kochen, machten einen Entzug, besuchten ihre Familien und schmiedeten Zukunftspläne.

«Das persönliche Budget gibt ihnen Macht über ihr Schicksal», erklärte einer der Sozialarbeiter. «Sie haben wieder eine Wahl. Ich denke, es kann etwas bewirken.» Nachdem man jahrzehntelang vergeblich versucht hatte, diese Menschen zu drängen, zu versorgen, zu belangen, zu bestrafen und zu beschützen, war es schließlich gelungen, neun notorische Herumtreiber von der Straße zu holen. Die Kosten? Rund 50000 Pfund im Jahr einschließlich der Gehälter der Sozialarbeiter. Mit anderen Worten, das Projekt half nicht nur diesen dreizehn Menschen, sondern verringerte auch die Kosten für die Allgemeinheit deutlich.[41] Selbst der Economist gelangte zu dem Schluss, dass «die effizienteste Methode, Obdachlosen zu helfen, möglicherweise darin besteht, ihnen Geld in die Hand zu drücken».[42]

Harte Fakten

Arme können nicht mit Geld umgehen. Das scheint die vorherrschende Einschätzung zu sein, ja es ist fast ein Gemeinplatz. Schließlich wären sie kaum arm, wenn sie mit Geld umgehen könnten, nicht wahr? Wir nehmen an, dass sie es nicht für frisches Obst und Bücher, sondern für Fast Food und Erfrischungsgetränke ausgeben. Um ihnen zu «helfen», haben wir daher unzählige gut durchdachte Hilfsprogramme samt Formularen, Registrierungssystemen und einem Heer von Inspektoren entworfen. All diese Programme beruhen auf dem biblischen Grundsatz: «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.» (2. Thessalonicher 3,10) Seit einigen Jahren wird staatliche Unterstützung für hilfsbedürftige Bürger enger mit einer Beschäftigung verknüpft; die Empfänger von Sozialhilfe müssen sich um Stellen bewerben, an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen und «Freiwilligenarbeit» leisten. Es ist klar, warum Welfare durch Workfare ersetzt werden soll: Gibt man Menschen Geld, ohne dass sie dafür arbeiten müssen, so werden sie faul.

Aber die Fakten zeigen etwas ganz anderes.

Sehen wir uns das Beispiel von Bernard Omondi an. Jahrelang verdiente er als Arbeiter in einem Steinbruch in einer verarmten Gegend im Westen Kenias zwei Dollar am Tag. Eines Morgens erhielt er eine eigenartige Textnachricht. «Als ich die Nachricht sah, machte ich einen Freudensprung», erzählt Bernard. Auf seinem Bankkonto waren gerade 500 Dollar deponiert worden. Das war fast ein Jahreseinkommen für ihn.

Mehrere Monate später besuchte ein Journalist der New York Times Bernards Dorf. Es war, als hätte die gesamte Bevölkerung in der Lotterie gewonnen: Das Dorf war mit Geld überhäuft worden. Aber niemand verprasste seinen Anteil. Stattdessen hatten die Leute begonnen, ihre Häuser zu reparieren und kleine Betriebe aufzubauen. Bernard kaufte sich eine neue Bajaj Boxer, ein Motorrad aus Indien, und verdiente zwischen sechs und neun Dollar am Tag als Taxifahrer. Sein Einkommen hatte sich also mehr als verdreifacht.

«So legen wir das Schicksal der Armen in ihre eigenen Hände», erklärt Michael Faye, der Gründer von GiveDirectly, jener Hilfsorganisation, die für den plötzlichen Geldsegen verantwortlich war. «Denn die Wahrheit ist, dass ich wenig darüber weiß, was die Armen wirklich brauchen.»[43] Weder gibt Faye den Menschen Fisch, noch lehrt er sie zu fischen. Er gibt ihnen Geld, weil sie am besten wissen, ob sie Fisch oder etwas anderes brauchen. Er ist überzeugt, dass die wahren Experten für die Bedürfnisse der Armen die Armen selbst sind. Auf meine Frage, warum es auf der Website von GiveDirectly kaum peppige Videos und Bilder gebe, erklärt Faye, dass er nicht zu sehr mit den Emotionen spielen wolle. «Unsere Fakten sind überzeugend genug.»

Er hat recht: Aus einer Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) geht hervor, dass die Direktzahlungen von GiveDirectly einen dauerhaften Einkommensanstieg bewirken – um durchschnittlich 38 Prozent –, das Wohneigentum und den Besitz von Nutztieren deutlich erhöhen – um 58 Prozent – und die Zahl der Tage, an denen die Kinder der begünstigten Familien hungern müssen, um 42 Prozent verringern. Darüber hinaus kommen 93 Prozent der Spendengelder direkt bei den Empfängern an.[44] Als Google erfuhr, wie erfolgreich das Programm von GiveDirectly war, spendete das Unternehmen umgehend 2,5 Millionen Dollar.[45]

Aber Bernard und die anderen Bewohner seines Dorfes sind nicht die Einzigen, die vom Glück verwöhnt worden sind. Im Jahr 2008 entschloss sich die Regierung Ugandas, 12000 Bürgern im Alter zwischen sechzehn und fünfunddreißig Jahren jeweils knapp vierhundert Dollar zukommen zu lassen. Die Zahlung war nicht an Bedingungen geknüpft; die Begünstigten mussten lediglich einen Geschäftsplan vorweisen. Fünf Jahre später lagen die verblüffenden Ergebnisse vor: Die Empfänger hatten das Geld in ihre Bildung und in Geschäftsvorhaben investiert und ihr Einkommen um fast 50 Prozent erhöht. Ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz waren um 60 Prozent gestiegen.[46]

In einem weiteren ugandischen Programm erhielten mehr als 1800 arme Frauen im Norden des Landes jeweils 150 Dollar. Auch dieses Programm war sehr erfolgreich: Die Einkommen der Frauen schossen um fast 100 Prozent in die Höhe. Jene Frauen, die von einem Betreuer unterstützt wurden – Kosten: 350 Dollar –, profitierten ein wenig mehr, aber die Berechnungen der Forscher ergaben, dass es sehr viel wirksamer gewesen wäre, das Geld für die Betreuer zu sparen und einfach für zusätzliche Zuschüsse zu verwenden.[47] Wie es im Studienbericht trocken heißt, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass «die Programme zur Armutsbekämpfung in Afrika und aller Welt vollkommen neu ausgerichtet werden sollten».[48]

Eine südliche Revolution

Studien aus aller Welt belegen: Geschenktes Geld funktioniert.

Es liegen bereits Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen auflagenfreien Zuschüssen und einer Verringerung von Kriminalität, Kindersterblichkeit, Mangelernährung, Teenagerschwangerschaften und Schulabwesenheit sowie einer Steigerung der schulischen Leistungen, des Wirtschaftswachstums und der Gleichberechtigung der Geschlechter gibt.[49] «Wenn Menschen arm sind, so liegt das vor allem daran, dass sie nicht genug Geld haben», bemerkt der Ökonom Charles Kenny, «und es sollte keine große Überraschung sein, dass man das Problem sehr gut bekämpfen kann, indem man den Armen Geld gibt.»[50]

In einem Buch mit dem Titel Just Give Money to the Poor (2010) beschreiben Wissenschaftler der Universität Manchester eine Vielzahl von Fällen, in denen auflagenfreie oder mit wenigen Bedingungen verknüpfte Direktzahlungen funktioniert haben. Dank solcher Geldgeschenke sank in Namibia der Anteil der Personen mit Mangelernährung deutlich von 42 auf 10 Prozent, das Gleiche galt für Schulabwesenheit – von 40 Prozent auf beinahe null – und Kriminalität, um 42 Prozent. In Malawi stieg der Anteil der Mädchen und Frauen, die eine Schule besuchten, unabhängig davon, ob das Geld an Bedingungen geknüpft war oder nicht, um 40 Prozent. Immer wieder ist zu beobachten, dass vor allem Kinder profitieren. Sie leiden weniger unter Hunger und Krankheiten, wachsen besser, erbringen bessere schulische Leistungen und werden seltener zu Kinderarbeit gezwungen.[51]