Validation in Anwendung und Beispielen - Naomi Feil - E-Book

Validation in Anwendung und Beispielen E-Book

Naomi Feil

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Beschreibung

Das Praxisbuch zur Validation in der 7.Auflage mit neuen Fallgeschichten aus verschiedenen Ländern! Naomi Feils Validationsmethode hat sich im Umgang mit desorientierten alten Menschen bewährt. Denn Validation lässt die innere Erlebniswelt des verwirrten alten Menschen gelten. Empathie und Anerkennung gehören dabei zur Grundhaltung der Pflegenden. Wie die Validation mit Hilfe verbaler und nonverbaler Kommunikationstechniken gelingen kann, zeigt das vorliegende Praxisbuch in zahlreichen Beispielen und Anwendungen. Eine Pflichtlektüre für alle, die verwirrte alte Menschen umsorgen und pflegen!

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Seitenzahl: 470

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Reinhardts Gerontologische Reihe Band 17

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

„The Validation Breakthrough. Simple Techniques for Communicating with People with ,Alzheimer’s-Type Dementia‘“

© 1993 Naomi Feil

Health Professions Press, Baltimore Toronto London Sydney

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinrich Hoffer und Eva Valente;Ergänzungen für die 6. und 7. Auflage übersetzt von Elisabeth Brock.

Die Erstauflage dieses Buches erschien im Verlag Altern & Kultur unter dem Titel „Ausbruch in die Menschenwürde“. Ab der 2. Auflage: ­Aktualisierungen und Überarbeitungen von Vicki de Klerk-Rubin

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

  ISBN 978-3-497-02962-4 (Print)

  ISBN 978-3-497-61326-7 (PDF-E-Book)

  ISBN 978-3-497-61327-4 (EPUB)

  ISSN 0939-558X

  8., aktualisierte Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzu­lässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv: © Ocskay Mark / stock.adobe.com

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Ich widme dieses Buch meiner Freundin und Lektorin Lita Kohn, ohne die es nie geschrieben worden wäre. Ihr Rat, ihr Enthusiasmus und ihr ehrliches Suchen nach allem, was dem Leben Bedeutung verleiht, waren eine Hilfe für mich, meinen späten Jahren gelassen entgegenzublicken.

Inhalt

Vorwort von Vicki de Klerk-Rubin

Einleitung

Teil I Über die Alzheimersche Krankheit und die Anwendung von Validation

1.  Altern, Entwicklung und die Alzheimersche Krankheit

Über mein Lernen

Isidor Rose

Eine Theorie der Lebensentwicklung und das Bedürfnis nach Validation

Wer sind die sehr Alten und was ist Demenz?

Die sehr Alten, Demenz und menschliche Grundbedürfnisse

Die Macht der Empathie von Cinzia Siviero

2.  Das Konzept und die Techniken von Validation

Was ist Validation?

Die Prinzipien der Validation

Die Techniken der Validation

Mit Spiegeln Kontakt herstellen von Vicki de Klerk-Rubin

3.  Über Validation mit Personen, die gut kommunizieren und meistens orientiert sind (Phase 1)

Frances, die immer andere beschuldigt

George, der Einzelgänger

Jenny, die Gärtnerin

June, die Beschuldigerin

Wie man die Lebenszeichen dieser Personen deutet

Maßnahmen, die den Zustand dieser Personen nur verschlechtern

Validationstechniken für die Kommunikation mit diesen Personen

Frau Hara, ein besonderer Fall von Fumie Inatani

4.  Über den Einsatz von Validation bei Menschen, die kommunizieren und meist in ihrer eigenen Realität leben(Phase 2)

Martha, die Gebärende

Wie man die Lebenszeichen dieser Personen richtig erkennt

Maßnahmen, die den Zustand dieser Personen nur verschlechtern

Validationstechniken für die Kommunikation mit diesen Personen

5.  Über den Einsatz von Validation bei Personen, die noch kommunizieren und meist in sich gekehrt sind (Phase 3)

Marvin, der Klopfer

Wie man die Lebenszeichen dieser Personen richtig erkennt

Maßnahmen, die den Zustand dieser Personen nur verschlechtern

Validationstechniken für die Kommunikation mit diesen Personen

Verhalten und Kommunikation sind eins von Rita Altman

6.  Über den Einsatz von Validation bei Personen, die in sich zurückgezogen sind (Phase 4)

Nora, die Bewegungslose

Wie man die Lebenszeichen dieser Personen richtig erkennt

Validationstechniken für die Kommunikation mit diesen Personen

Validation mit sensitiver Massage und fokussierter Berührung kombinieren von Ann Catlin

7.  Die Anwendung von Validation bei Personen, die an früh einsetzender Alzheimer-Krankheit leiden

Richard, der Laller

Wie man die Lebenszeichen von Personen erkennt, die an der früh einsetzenden Alzheimerschen Krankheit leiden

Maßnahmen, die den Zustand von Personen, die an der früh einsetzenden Alzheimerschen Krankheit leiden, nur verschlechtern

Validationstechniken für die Kommunikation mit Personen, die an der früh einsetzenden Alzheimerschen Krankheit leiden

Luigia, eine pflegende Ehefrau: Meine erste Erfahrung mit Validation von Luigia Crippa

8.  Wem hilft Validation?

Vorteile und Verbesserungen, die Validation bei desorientierten sehr alten Menschen ermöglichen kann

Die Vorteile von Validation für professionelles Pflegepersonal

Die Vorteile von Validation für pflegende Familien

Validation wirkt! von Rita D’Alfonso

9.  Die Unterschiede zwischen Validation und anderen Therapieformen, die bei verwirrten Hochbetagten angewendet werden

Reminiszenz oder Erinnerungsarbeit

Lebensrückschau

Realitätsorientierung

Remotivation

Verhaltenstraining

Ablenkung und Umlenkung

Therapeutische Lügen sind herablassend

Millie lässt sich nicht reinlegen

Erinnerungsgruppe oder Validationsgruppe? Was ist der Unterschied?

Raus mit dir!

Psychotherapie

Meine Begegnung mit Frau Buchmann von Christiane Grünenwald

Teil II Validation in der Praxis

10. Über Kommunikation mit Personen, die meistens orientiert sind

Ellen, die Raffgierige

Lucy, die Spuckerin

Sadie, die Märtyrerin

Peg, die Ängstliche

Stewart, der sich dauernd über alles beschwert

11. Über Kommunikation mit Personen, die meist in ihrer eigenen Realität leben

David, der Grapscher

Margaret, die Mutter

Harry, der Schläger

Validation zu Hause: Karl, der Blitzer

Die Angst lindern von Cinzia Siviero

12. Über Kommunikation mit Personen, die meist in sich gekehrt sind

Isobel, die Poetin

Mary, die auf und ab geht

Verwirrt und weise von Heidrun Tegeler

13. Über Kommunikation mit meist orientierten bzw. in der eigenen Realität lebenden Menschen, die zu Hause wohnen

Der Hausmeister, der Polizist, die Rettungsleute und Thomas Konig

Der Briefträger, der Verkäufer, der Friseur und Millie Stonewall

Der Doktor, die ehrenamtliche Helferin von „Essen auf Rädern“ und Samuel Goode

Anne, 56 Jahre, und ihre Mutter, 82 Jahre

Teil III Gruppenvalidation

14. Wie man eine Validationsgruppe aufbaut

Der Wert einer Validationsgruppe

Wem nützt Gruppenvalidation?

Die Rolle der Validationsgruppenleiter

Die Rolle der Co-Leiter

Aufbau einer Validationsgruppe

Ein Validationsgruppentreffen leiten

Beispiel einer Validationsgruppe

Anhang

Oft gestellte Fragen zur Validation

Erklärung der Fachworte

Literatur

Über Naomi Feil und Vicki de Klerk-Rubin

Ausbildung in Validation

Vorwort von Vicki de Klerk-Rubin

Validation ist eine Methode der Kommunikation mit desorientierten sehr alten Menschen. Sie wurde von Naomi Feil entwickelt, erstmals 1967 in dem Artikel Group Therapy in a Home for the Aged (Feil 1967) formuliert und 1982 in der ersten Ausgabe von Validation Breakthrough: The Feil Method erneut veröffentlicht. Validation wurde weltweit angenommen, beginnend in Europa mit ersten Workshops 1989 in Österreich und in den Niederlanden, dann verbreitete sie sich weltweit über alle vier Kontinente, bis sie 2003 auch Japan erreichte. Feils Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt, u. a. ins Französische, Niederländische, Deutsche, Italienische, Japanische, Finnische, Dänische und Schwedische. Trotz ihrer Popularität wurde die Validationsmethode aus verschiedenen Gründen auch kritisiert. Diese Kritik war hilfreich für die Entwicklung neuer Ideen, sie trug zu Klärungen und Anpassungen bei und hat die Ausbildung in der Validationsmethode und ihre Praxis vertieft.

Die erste und vielleicht tiefgreifendste Veränderung bestand wohl darin, Validation nicht mehr Therapie, sondern Methode zu nennen. In den USA wird das Wort Therapie für beides, für Behandlungen und Methoden verwendet, während es in Europa enger definiert wird, sich nur auf medizinische Heilkunst bezieht und in manchen Fällen sogar gesetzlich geschützt ist. Diese Anforderungen aus dem europäischen Raum an die Terminologie der Validation boten die Gelegenheit, die Rolle der Validation in der gerontopsychiatrischen Pflege und Versorgung zu überdenken und ihre Ziele und Ergebnisse genauer zu definieren. Mittlerweile versteht man Validation als einen Prozess, der Vertrauen und Nähe braucht, um zu wachsen. Validationsanwenderinnen oder -anwender (VA) beginnen zu validieren, indem sie eine sichere Umgebung für die aufzubauende Beziehung schaffen. Das bedeutet, eine nicht wertende Haltung einzunehmen, um Vertrauen herzustellen, und die persönliche Realität des alten Menschen zu explorieren. Damit wird der empathische Austausch von Gefühlen möglich und die betreffende Person ermutigt, sich verbal oder nonverbal mitzuteilen. Indem wir der Person helfen, unterdrückte Emotionen auszudrücken, und sie bei der Aufarbeitung bislang unerledigt gebliebener Aufgaben aus früheren Lebensphasen „begleiten“, gewinnt sie ein Stück Selbstachtung zurück und empfindet emotionale Erleichterung. Eines der Ergebnisse von Validation ist, dass emotionaler Stress abgebaut wird, der oft der Grund für Verhaltensweisen ist, die sowohl für den Klienten oder die Klientin selbst als auch für die Betreuungskräfte belastend sind.

In der vorhergehenden Ausgabe dieses Buchs (2010) und in der zweiten überarbeiteten Ausgabe des ersten Buchs von Naomi Feil (Validation: The Feil Method; dt. Feil/de Klerk-Rubin 2010) wurde der Begriff Demenz und deren verschiedene Formen im Kontext von Validation neu gefasst und aktualisiert, um dem Wissenszuwachs über das Syndrom gerecht zu werden. Dieser Prozess erforderte intensives Nachdenken darüber, welche Personengruppe für Validation geeignet ist und wie sie definiert wird. Feil verwendet den Begriff desorientierte sehr alte Menschen (disoriented old-old), um Personen zu beschreiben, die üblicherweise als von spät einsetzender Alzheimer-Krankheit betroffen gelten. Sie greift den medizinischen Begriff auf, wählt jedoch bewusst eine sozialpsychologische Perspektive, um den Blick der Pflegenden zu verändern und auf eine empathischere Haltung zu richten. Sie hat es damit geschafft, die Gestalt der Pflege für diese Personengruppe positiv zu verändern.

Dass Maslows Theorie der menschlichen Grundbedürfnisse in der Validationstheorie zunehmend Raum einnimmt, ist das Ergebnis praktischer Erfahrungen. Anfangs reduzierte Feil die Anzahl menschlicher Grundbedürfnisse auf drei: Liebe, Identität und das Bedürfnis, Gefühle auszudrücken. Während diese Kategorisierung das Erlernen von Validation erleichterte, verkomplizierte sie die praktische Arbeit der VAs: Sie konnten die stark vereinfachte Theorie nicht auf die komplexen Gefühlswelten ihrer realen Klientel übertragen. Durch die Anerkennung der Tatsache, dass individuelle Verhaltensweisen verschiedene Erklärungen haben können, konnte die Methode der Validation realitätsnäher und leichter zugänglich gemacht werden.

Kritik an Feils Verwendung der Begriffe und Gedanken von Freud hat dazu geführt, dass wir inzwischen besser verstehen, wie desorientierte alte Menschen Symbole benutzen. Auch die wachsende Zahl der anekdotischen, von VAs zusammengetragenen Fallbeispiele hat zu die-ser Entwicklung beigetragen. In diesem Bereich ist die Validations-theo­rie nicht verändert, sondern erweitert worden. Die erste Definition von Symbolen war missverständlich und nicht spezifisch genug, um für alle Symbole zu gelten, denen wir bei der Arbeit mit sehr alten desorientierten Menschen begegnen. Die aktuelle Definition umfasst Personen, Objekte und in manchen Fällen auch sich wiederholende Bewegungen, die Personen und Objekte aus der individuellen Lebensgeschichte repräsentieren, aber auch Konzepte wie Identität, Liebe und Sicherheit.

Feil hat immer gesagt: „Zuerst kam die Methode, dann die Theorie.“ Die Kritik an der Validation konzentrierte sich häufig entweder auf ihre fehlende wissenschaftliche Basis oder auf ihre Vermischung von Teilen anderer Theorien. Auch in diesen Punkten hat die Überarbeitung ihrer beiden Publikationen zur Klärung der Prinzipien, Werte und theoretischen Grundlagen geführt und zur Vereinheitlichung der in der Validationsausbildung verwendeten Terminologie beigetragen. Arbeiten, die Feil beeinflussten, werden als theoretische Basis ausgewiesen; etwa wenn sie Erik Erikson zitiert mit: „Jedes Lebensalter hat eine ganz bestimmte Aufgabe, die wir in der dafür vorgesehenen Zeit erfüllen müssen. Eine nicht abgeschlossene Lebensaufgabe meldet sich später erneut.“ Auch C. G. Jung gehört zu Feils Inspirationsquellen: „Unterdrückte Emotionen werden intensiver.“ Auf diesen theoretischen Annahmen beruhen die Validationsprinzipien. Die Prinzipien der Validation sind die konkreten Ausführungen der theoretischen Annahmen; sie sind die theoretische Perspektive hinter der Validationspraxis; sie sind anwendungsbezogen und lassen sich an den Klientinnen und Klienten beobachten. Zum Beispiel: „Sehr alte desorientierte Menschen befinden sich im letzten Stadium ihres Lebens und versuchen nun, am Ende ihres Lebens, unerledigte Lebensaufgaben, Krisen oder andere Angelegenheiten zu lösen“ und „schmerzhafte Gefühle werden schwächer, wenn sie ausgedrückt, gehört, akzeptiert und von einer vertrauenswürdigen Person validiert werden“. Die Valida­tionstheorie nennt nun die essentiellen Werte, um das Handeln und Verhalten der Fachkraft – die sogenannte validierende Haltung – zu beschreiben: die Person nicht bewerten oder verurteilen, jeden Menschen individuell explorieren, alle emotionalen Äußerungen akzeptieren und empathisch sein (die Gefühle mit dem anderen teilen).

Validation als Methode ist nicht unveränderlich. Sie entwickelt sich im Laufe der Zeit weiter, indem sie auf aktuelle Studien, Kritik und Erfahrungen aus der Praxis reagiert. Im Jahr 2019 setzte sich unser Team der lehrenden Validations-Master mit den Anmerkungen zu den Bezeichnungen für die vier Phasen der Aufarbeitung auseinander: „Mangelhafte Orientierung ist zu negativ.“ „Vegetieren klingt unmenschlich.“ „Die Begriffe werden als Label verwendet.“

Nach eingehender Diskussion haben wir beschlossen, die Bezeichnungen so zu ändern, dass sie mehr beschreibend und weniger wertend sind. Wir haben uns darauf konzentriert, wie Menschen miteinander kommunizieren, darauf, dass der Grad der Orientierung die Tagesform wiedergibt, und auf charakteristische Verhaltensweisen, die die Bedürfnisse und Gefühle des Einzelnen in den Mittelpunkt stellen.

Wir hoffen, dass diese grundlegende Überarbeitung dazu beiträgt, dass alle, die Validation lernen, ältere Menschen nicht mit einem Etikett versehen, sondern sich stattdessen darauf konzentrieren, mit ihnen zu kommunizieren und Beziehungen aufzubauen.

Validation ist eine „Sprache“, die alle Menschen in allen Ländern und Kulturen verstehen. Um diesen Punkt zu unterstreichen, enthält diese neueste Ausgabe eine Sammlung von Fallgeschichten, u. a. aus Deutschland, Italien und Japan, die Validationsanwenderinnen autorisierter Validationsorganisationen zusammengetragen haben. Jede dieser Geschichten offenbart die universelle Macht der Validation, wenn es darum geht, mit einem alten desorientierten und verwirrten Menschen in Beziehung zu treten. Sie sind vielen Kapiteln angefügt und ergänzen die zahlreichen Beispiele im Text. Fachkräfte können sie nutzen, um ihr Wissen zu mehren und ihre eigene Anwendung der Validationsmethode zu verfeinern.

Das Jahr 1963 war die Geburtsstunde der Validation; seither hat sie sich entwickelt, ist reifer und komplexer geworden. Sie hat sich den Kritiken gestellt, mit Selbstreflexion reagiert und sich in vielen Fällen zum Besseren verändert. Die Veränderung geschah langsam und sehr durchdacht. An diesem Veränderungsprozess haben weltweit zahlreiche Menschen mitgewirkt, sachkundige, hochqualifizierte gerontopsychiatrische Fachkräfte, die tagtäglich desorientierte alte Menschen pflegen und versorgen. Schließlich sind sie es, die Hochbetagten, für die wir uns engagieren.

Einleitung

Florence Trew (1872 – 1963): „Ich bin gestorben.“

Ich schreibe dieses Buch für Florence Trew, die lange Jahre in einem Pflegeheim lebte, und für die vielen Millionen sehr alter Menschen wie sie. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, im Dezember 1940, war sie 68 Jahre alt, und ich war 8.

Aufgewachsen bin ich in einem Altersheim. Natürlich musste man mindestens 65 oder älter sein, um aufgenommen zu werden. Aber ich lebte dort, weil mein Vater, ein Psychologe, der Verwalter war. Meine Mutter war die erste diplomierte Sozialarbeiterin, die in einem Altersheim arbeitete, sie baute dort die Abteilung Soziale Dienste auf.

Frau Trew war meine beste Freundin im Heim. Trotzdem durfte ich sie nie beim Vornamen nennen. Immer blieb sie „Frau Trew“. Sie war groß, mit einer guten Figur, und balancierte ständig ihre Bifokal-Brille auf der langen, dünnen Nase. Wenn sie etwas unterstreichen wollte, dann hob und senkte sie ihren Kopf so heftig, dass die Gläser gefährlich ins Rutschen kamen und gerade noch an der Nasenspitze hingen. Frau Trew hat mir oft vorgelesen. Ich liebte ihre tiefe, aber klare und volltönende Stimme, die mich oft tröstete. Nur einmal habe ich erlebt, dass ihre Stimme zitterte, damals, als sie mir eine Stelle aus ihrem Tagebuch vorlas.

Sie hatte mich in Tränen aufgelöst auf dem rissigen Bürgersteig gefunden, der zum Heim führte. Die Schnallen meiner Rollschuhe hatten sich unrettbar ineinander verkeilt.

Florence Trew kniete sich zu mir nieder, um jedes Wort zu verstehen. Mein Bruder und ich hatten von unserer Mutter neue Rollschuhe bekommen. Seine Schuhe waren höchst elegant mit dem Wort „Roller-blitz“ verziert. Meine hießen, noch dazu in viel kleinerer Schrift, nur „Gleiter“. Ich erzählte also Frau Trew, dass meine Mutter den Bruder viel lieber hätte als mich. Meine Rollschuhe seien viel schäbiger als seine, deswegen könne er auch – weit voraus – elegant dahinsegeln, während ich armer Tolpatsch hilflos hinter ihm herrutsche.

Frau Trew verstand diese Ungerechtigkeit sofort. Um mir in meinem Schmerz beizustehen, griff sie nach ihrem Tagebuch, das sie in ihrer schwarzen, großen, glänzenden Handtasche immer bei sich trug. Sie fand die gesuchte Seite ohne hinzuschauen. Beim Berühren des Papiers erstarrte sie und schloss ganz fest ihre Augen.

Plötzlich riss sie die Augen weit auf – zwei blaue Fragezeichen. Wir starrten einander schweigend an, in geteiltem Leid.

Frau Trew las mir aus ihrem Tagebuch vor. Ihre geliebte melodische Stimme hatte sich zu einem düsteren, leblosen, einförmigen Misston verwandelt. Die Worte schienen wie von selbst aus dem Buch zu kommen, ganz ohne Frau Trews Seele.

10. Juni 1891

Liebes Tagebuch, meine Mutter hat sich nicht im Geringsten geändert. Sie hat mich heute wieder derart bloßgestellt, genau wie damals bei Fräulein Nelson in der dritten Klasse. Erinnerst du dich, Tagebuch? Es war ein Dienstag, Elternsprechtag. Gerade als die Glocke läutete, sprach sie mit Fräulein Nelson. Beim Sprechen zeigte Mutter mit dem Finger auf mich, sodass alle zu mir schauten. Ich kauerte mich auf meinem Stuhl zusammen und wollte am liebsten in den Erdboden versinken. In ihrer Speziallautstärke raunte sie: „Florence kann sich einfach nicht von dem dummen Spielzeughasen trennen. Deswegen hat sie keine Freunde.“ Dann beugte sie sich auch noch nieder zu Sally Quinn in der ersten Reihe. „Meine Liebe, würdest du dich gerne anfreunden mit jemandem, der überallhin einen hölzernen Spielzeughasen mitnimmt? Doch sicher nicht!“ Sally Quinn kicherte. Meine Mutter war befriedigt. Die ganze Klasse kicherte. Meine Mutter wandtesich wieder zu Fräulein Nelson: „Ich mache mir Sorgen umFlorence. Ich möchte einfach nicht, dass sie diesen blöden Hasen ihr ganzes Leben am Schoß hat.“ Sie kümmerte sich nicht mehr um die Lautstärke, baute sich vor mir auf und streckte ihre Hand nach Creaky aus. „Creaky gehört m-m-mir“, sagte ich. Aus Liebe zu ihm begann ich zu stottern. Ich hielt seine Schnur noch fester und ließ ihn unter der Schulbank verschwinden. Papi hatte ihn für mich gemacht zu meinem dritten Geburtstag, kurz bevor er unsverließ. Creakys lange, weiße Ohren waren weich wie Samt.Sie zu be­rühren war ungeheuer beruhigend, fast als ob Papi noch da wäre. Er hatte auch die Schnur um Creakys Hals gebunden, damit ich ihn hinter mir herziehen konnte. Dabei ließen seine Verbindungsstücke ein wunderba­res Rattern und Knattern hören, sodass ich immer wusste, er war ­hinter mir. ­Meine Mutter riss ihn mir mit so viel Kraft aus der Hand, dass ein Fuß abbrach. Sie marschierte nach vorne und warf Creaky in Fräulein Nelsons Papierkorb aus Metall. Es knallte und dröhnte. Ich stürzte vor zu seiner Rettung, als Fräulein Nelson den Papierkorb mit Creaky hinaustrug.

Frau Trew schloss das Tagebuch und ihre Augen. Ich nahm ihre Hand.

„Und was ist dann passiert?“ flüsterte ich.

„Ich bin gestorben“, gab sie mir zur Antwort.

1950 verabschiedete ich mich von meiner Freundin. Sie blieb im Heim und ich ging nach New York, um Sozialarbeit und Psychologie an der Columbia Universität zu studieren. Um 1956 herum begann ich mit alten Menschen in New Yorker Gemeindezentren zu arbeiten. 1963 ging ich zurück nach Cleveland, um zu unterrichten, meinen Studienabschluss zu machen und mit den verwirrten Bewohnern des Heims zu arbeiten, in dem ich aufgewachsen war.

Im Sommer 1963 war es heiß und schwül. Im Aufenthaltsraum der Sonderstation für verwirrte Heimbewohner standen die Fenster weit offen. „Hilfe! Helft mir!“ Flehende Stimmen kamen von überall. Niemand blieb stehen, um zu schauen. Niemand achtete auf das, was sie riefen. Der Aufenthaltsraum war von der Sonne hell erleuchtet, wie von einem Scheinwerfer angestrahlt ragten Köpfe über zusammengesunkene Körper in geriatrischen Rollstühlen. Sie waren in den Sesseln festgebunden. Einige saßen aufrecht, starrten ins Leere.

Meine Aufmerksamkeit wurde hingezogen zu einem der Sessel, in dem sich ein formloses weißes Bündel befand. Es war eine ausgetrocknete Frau, ihre Arme so dünn und weiß, dass die blauen Adern ein Spitzenmuster zu sein schienen. Wie in einer Mausefalle saß die winzigkleine Frau in dem schweren Sessel, eingezwängt zwischen dem riesigen Rückenpolster hinter ihr und dem hölzernen Tablett vor ihr. Mechanisch schlug sie auf das Tablett, durch das sie ihrer Freiheit beraubt war.

„Kri. Kri. Kri.“ krächzte sie mit tiefer rauher Stimme. Der Tonfall war gespenstisch. Ihre Hände liebkosten einen unsichtbaren Gegenstand, streichelten etwas, das nur sie sehen konnte. Über den knochigen Schultern fiel ihr Kopf hin und her. Lose Strähnen dünnen weißen Haares hingen in die blauen Augen. Das Hauskleid, das sie trug, zeigte Spuren eines rosafarbenen Blumenmusters, nach viel zu vielen Waschgängen verblichen, ihre Hausschuhe waren zerrissen. Sie griff nach meinem Handgelenk, als ob sie es nie mehr loslassen wollte. Ich besah mir ihre langen Finger, die abgebrochenen Fingernägel, die unzähligen Leberflecken auf ihrem Unterarm. Knotige Venenstränge führten von jedem Fingerknöchel zu ihrem dünnen Handgelenk. Zufällig sah ich auf ihr Namensschild.

„Florence Trew“. Konnte das dieselbe Florence Trew sein? Mit meinem inneren Auge sah ich Frau Trew vor mir. Vor 20 Jahren war sie 65 gewesen. Bei unserem letzten Zusammentreffen hatten wir ein altes Volkslied gesungen, so laut, dass andere Bewohner im Vorbeigehen miss­billigend die Köpfe schüttelten. Danach waren wir 10 Kilometer zu Fuß ins Kino am Euclid Boulevard gegangen. Als Heimbewohner durften wir gratis hinein. Wir teilten uns eine Portion Popcorn und starrten sehnsüchtig auf Flash Gordon. Wir waren ein Team. Gemeinsam hatten wir 30 Cents pro Tag verdient, indem wir schmierige Gummistücke aus Autoreifen geholt hatten, um unseren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen zu leisten. Wir zwei hatten sogar den Preis für die besten „Gummipflücker“ gewonnen. Frau Trew hatte die Medaille voll Stolz an ihre Tür gehängt.

Die Erinnerung schnürte mir die Kehle zu. Ich beugte mich hinunter und sah ihr in die Augen. „Denken Sie noch an unsere Medaille? Unseren Beitrag zum Krieg? Erinnern Sie sich an das ,Gummipflücken‘?“ Sie horchte auf, sah mir fest in die Augen, ließ mich mit ihrem Blick nicht mehr los. Sie flüsterte meinen Kosenamen: „Mimi, Mimi, hol mich aus diesem Sessel!“

„Sie können sie nicht losbinden“, warnte mich die Stationsgehilfin.

„Vorige Woche hat sie versucht abzuhauen und ist dreimal gefallen.

Wenn Sie sie losbinden und sie stürzt wieder, sind Sie ­verantwortlich.“

„Was ist geschehen?“ Ich beugte mich ganz dicht über Frau Trew, fragte sie im Flüsterton.

„Sie haben ihn weggeworfen. Sag ihnen, sie sollen ihn zurückgeben, Mimi. Bitte.“ Frau Trews Stimme hatte den weichen Klang von früher. Ihre blauen Augen waren klar. Der Griff, mit dem sie meine Hände hielt, war fest.

„Wen?“ fragte ich. „Wen haben sie Ihnen weggenommen?“

„Creaky. Sie hat ihn in den Abfallkorb geworfen.“ Frau Trew zeigte auf die Schwester.

„Das ist die Schwester, Frau Trew, und nicht Ihre Mutter.“

Frau Trew schüttelte den Kopf und war enttäuscht von mir. Sie drehte sich weg, schaltete mich gleichsam aus, starrte ins Nichts und jammerte leise „Kri. Kri. Kri“.

Ich blieb beharrlich. „Frau Trew, haben Sie einen Schlaganfall ge­habt?“ Ich war unsicher, ob ihr Kurzzeitgedächtnis noch funktionierte. Sie starrte mich sprachlos an. Ihre Lippen formten Worte, aber ohne Ton. Resigniert und schlaff saß sie da, der Körper von den Gurten eingezwängt. „Ich bin gestorben“, seufzte sie.

Ich redete ihr zu. „Sie können nicht tot sein, Frau Trew. Sie sprechen ja mit mir!“

„Das bildest du dir nur ein, Liebes“, sagte Frau Trew traurig.

„Möchten Sie gerne sterben, Frau Trew?“ fragte ich weich.

„Ja.“ Die Antwort kam scharf und klar. „Creaky und ich sind Abfall, Müll. Müllauto. Autoreifen-Abfall. Gummipflücker-Abfall. Müllmüllmüll. Muhmuhmuh. Werft uns in die Mülltonne!“

Frau Trews Stimme erhob sich plötzlich zu einem schrillen durchdringenden Schrei. Sie schleuderte den imaginären Gegenstand zu Boden.

„Halt’s Maul, Frau!“ antwortete eine heisere Männerstimme.

„Maul halten!“ Jetzt war es ein ganzer Chor.

Frau Trew begann zu weinen und flüsterte zwischen ihren Schluchzern: „Armer Creaky, sie hat dir den Fuß ausgerissen. Deine weißen Ohren sind so weich. Hol mich raus aus diesem Sessel. Hilfe! Hilfe!“ Frau Trew begann wieder zu schreien.

Ich legte meinen Arm um Florence Trew.

Die heisere männliche Stimme klärte mich auf: „Die ist verrückt, Frau. Der kannst du nicht mehr helfen. Hilf mir! Mach mir diese Dinger auf!“ Der Hochbetagte zerrte an seinen Gurten, aber der weiße Stoff gab ­keinen Millimeter nach. In seiner Frustration überschrie er sogar noch Frau Trew. Der Aufenthaltsraum war erfüllt von kakophonischem Stimmengewirr: „Hilfe! Holt mich raus! Halt’s Maul! Hundesohn! Gebt ihnen Chloroform!“

Die Stationsgehilfin bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. Ihre schrille Stimme durchbrach das Gejammere. „Sie regen sie ja alle nur sinnlos auf. Wenn sie so anfangen, lassen sie sich nicht mehr aufhalten.“ Während sie das sagte, straffte sie mit einer geübten Handbewegung Frau Trews Gurte.

Frau Trew trat die Stationsgehilfin hart gegen das Schienbein. Dabei sprudelte sie heraus: „Gib mir meinen Creaky zurück, du Hündin. Ich hasse dich. Alle Kinder in dieser Klasse hassen dich.“

Ganz ruhig, voll Selbstbeherrschung und Geduld, befeuchtete die Stationsgehilfin ihre Lippen mit der Zunge. Mit einer Armbewegung umschloss sie die zusammengesunkenen Alten in ihren Geriatrie-Sesseln.

„Bitte regen Sie sie doch nicht auf, Naomi. Sie können ihnen nicht helfen. Ich arbeite seit fünf Jahren hier, ich weiß Bescheid.“

Ohne Frau Trew anzuschauen, schnappte sie den Sessel und karrte sie rasch den Gang hinunter, wobei sie auf die Rückenlehne einredete.

„Du solltest diese bösen Worte nicht in den Mund nehmen, Süße. Das weißt du doch. Eine Hündin“, erklärte sie geduldig, „ist ein weibliches Tier. Ich bin kein weibliches Tier, sondern Ihre Pflegerin, und ich mag Sie sehr. Es ist Zeit zum Schlafen, Schlafi-Schlafi machen. Alles ist in bester Ordnung, Liebling.“

Ihre Stimme, diesmal süßlich, verlor sich im Gang, bis sie ver­schwand.

Frau Trew hatte keine Möglichkeit mehr, ihren Kopf nach mir zu wenden. Florence Trew und ich hatten keine Möglichkeit, uns voneinander zu verabschieden. Sie starb noch in dieser Nacht.

Die nächsten 30 Jahre habe ich mit Menschen wie Florence Trew gearbeitet. Ich entwickelte die Validation, eine Methode, um mit ihnen zu kommunizieren. Diese sehr alten, verwirrten Menschen haben sie mich gelehrt. Gelernt habe ich aus ihren Lebensgeschichten, von ihren Familien, ihrem Betreuungspersonal und ihren Freunden. Ich habe aus Fehlern gelernt. Ich habe gelernt, dass sehr alte, verwirrte Menschen intuitive Weisheit haben, aus einer grundsätzlichen menschlichen Natur heraus, die uns allen zu eigen ist. Hinter ihrer Verwirrtheit liegt menschliches Wissen, das weit über alle geografischen oder religiösen Grenzen hinausgeht, über Zeit, Kultur oder ethnische Herkunft. Wenn die zeitliche oder örtliche Gegenwart verblasst, wenn der Beruf nicht mehr lebensbestimmend ist, gesellschaftliche und soziale Verpflichtungen ihre Bedeutung verloren haben, dann schimmert diese grundlegende menschliche Natur durch.

Die innere Natur hilft diesen sehr alten Menschen, ihre innere Weisheit zu finden. Wenn das Augenlicht nachlässt und die Außenwelt verschwimmt, blicken sehr alte Menschen nach innen. Sie gebrauchen ihr sehr lebendiges „inneres Auge“, um zu sehen. Personen aus der Vergangenheit werden real. Wenn das Kurzzeitgedächtnis versagt und die Zeit verschwimmt, beginnen sehr alte Menschen Lebenszeit nicht mehr in Minuten, sondern in Erinnerungen zu messen. Wenn die Hochbetagten ihre Sprache verlieren, dann ersetzen ähnliche Klänge, Rhythmen oder in der Kindheit gelernte Bewegungen die Worte. Um die Verluste der Gegenwart überleben zu können, holen die sehr Alten die Vergangenheit zu Hilfe. Durch sie finden sie Wissen und Weisheit.

Ich schreibe dieses Buch aus vier Gründen. Erstens schreibe ich, damit Söhne und Töchter, Schwestern und Ärzte, Nachbarn und Freunde die Validationsmethode anwenden lernen. Lernen, wie sie mitgehen können, Seite an Seite mit einem alten Menschen, in dieser endgültig letzten Lebensphase. Sie werden Empathie (Einfühlung) lernen. Sie werden den Verwirrten zuhören, mit ihnen sprechen lernen, anstatt sie festzugurten oder wie Kinder zu behandeln. Sie werden lernen, sie zu respektieren.

Zweitens schreibe ich, damit alle Pflegenden auch ein bißchen Freude in ihrer Arbeit mit sehr alten, verwirrten Menschen bekommen. Eine 50-jährige Tochter, die versteht, warum ihre Mutter jetzt die ­Reisetasche packen muss, um den längst verstorbenen Ehemann zu besuchen, kann eine Verbindung zu ihr knüpfen. Diese Tochter wird mehr über ihre Eltern erfahren.

Eine Pflegerin, die weiß, wie eine zusammengesunkene, sprachlose Person durch Berührung zu stimulieren ist, kann eine Erinnerung an Berührungen der Mutter wachrufen und die Augen der alten Frau aufleuchten lassen. Ihre Lippen formen ein Wort. Ihr Körper strafft sich. Die Pflegerin singt mit der alten Frau ein bekanntes Wiegenlied. Die alte Frau weiß zwar nicht, wie die Pflegerin heißt, aber sie liebt sie. Die Pflegerin empfindet Freude, weil sie geliebt wird und weil sie die alte Frau ein Stück weit wieder zum Leben erwecken kann. Die Interaktion dauert drei Minuten.

Drittens schreibe ich für all diejenigen von uns, die ein hohes und glückliches Alter erreichen wollen. Wenn wir uns in verwirrte Personen einzufühlen lernen, dann fangen wir auch an, die Ursachen hinter der Verwirrtheit zu verstehen. Wir können lernen, was dazugehört, um erfolgreich zu altern. Wir können Einsicht in unsere eigenen „Durchhänger“ gewinnen. Wir können lernen, unsere eigenen ungelösten Lebens­aufgaben zu erkennen. Wir können daran arbeiten, diese Aufgaben jetzt zu lösen – bevor wir das hohe Alter erreicht haben. Wir können uns ein ganzes Repertoire an Verhaltensweisen zulegen, um mit Verlusten fertig zu werden. Wenn wir mit Angst machenden Gefühlen rechtzeitig umgehen lernen, dann wird uns das Alter nicht mit einem Rucksack voll Schmutzwäsche überrumpeln können. Wir müssen uns vorbereiten, solange unsere Sprache, unsere Logik und unsere sozialen Kontrollen noch intakt sind und wir fähig sind, uns zu verändern.

Viertens und zu guter Letzt schreibe ich auch für die jüngeren Generationen, die einmal die Pflege übernehmen müssen und werden. Im Jahr 2000 wird es in Amerika zehn Millionen Menschen über 80 geben. Wir wollen, dass diejenigen, die uns betreuen werden, uns verstehen, anstatt uns auszugrenzen. Wenn einmal unsere Kontrollen nachlassen, wenn wir unsere Wunden entblößen, wenn unsere Gefühle genauso inkontinent werden wie unsere Blasen, dann wollen wir nicht medikamentös ruhig­gestellt werden. Wir wollen nicht als „alte Missetäter“ etikettiert werden. Wenn lange unterdrückter Zorn plötzlich ausbricht – in der Endphase unseres Lebens statt in der Pubertät – dann wollen wir Eure Einfühlung.

Florence Trew hat ihre Gefühle ihr Leben lang unter Kontrolle gehalten. Sie unterdrückte ihre Wut auf ihre Mutter. Erst als sie weit über 80 war – nachdem sie die physische Kontrolle verloren hatte, nach dem Verlust von Ehemann, Haus, Tochter, Gesichtssinn, Kurzzeitgedächtnis und Mobilität, holte sie diese schmerzhafte Erinnerung wieder hervor. Wieder und wieder schrie sie im Aufenthaltsraum des Pflegeheimes ihre Mutter an. Die Pflegerin erschien ihr nur als Schemen, weil Florence Trews Sehnerv beschädigt war. Mit ihrem „inneren Auge“ konnte sie hingegen klar sehen. Sie nahm die unklaren Umrisse der Pflegerin, um sich die Mutter vor Augen zu rufen. Und sie verwandelte die verschwommenen Figuren in ihren Rollstühlen in Kinder der dritten Schulklasse, die hinter ihren Pulten sitzen.

Frau Trew hatte die letzte Phase ihres Lebens erreicht. Ihre letzte Aufgabe: reinen Tisch zu machen vor dem Sterben. Sie kehrte in die Vergangenheit zurück, um alte Verletzungen aufzuarbeiten. Die 8-jährige Florence hat nie geschrien: „Mutter, ich bin gestorben an dem Tag, als du Creaky in den Mülleimer geworfen hast.“ Sie hat 80 Jahre lang gewartet. Sie hat zu lange gewartet.

Teil I

Über die Alzheimersche Krankheit und die Anwendung von Validation

 

Teil I beinhaltet neun Kapitel. Im ersten Kapitel beschreibe ich den herkömmlichen Vorgang des Alterns und menschlicher Entwicklung und benenne die maßgeblichen sozialen und psychischen Bedürfnisse der Hochbetagten.

In Kapitel 2 wird das Konzept der Validation vorgestellt, und ich beschreibe die charakteristischen Phasen, die die Hochbetagten durch­leben, wenn sie die letzten Anstrengungen unternehmen – ich nenne diesen Abschnitt die Aufarbeitungs(Verarbeitungs-)phase des Lebens.

Des Weiteren stelle ich die Validationstechniken vor, die dazu beitragen, die Würde der jeweiligen Person in jeder Phase aufrechtzuerhalten.

Die Kapitel 3, 4, 5 und 6 bieten lebendige Darstellungen von Personen in fortschreitenden Phasen der Aufarbeitung:

•Phase 1: Personen in dieser Phase kommunizieren gut; sind meistens orientiert:

Sie verleugnen, konfabulieren, halten energisch und ängstlich an dem fest, was sie noch nicht verloren haben.

•Phase 2: Personen in dieser Phase kommunizieren; leben meist in ihrer eigenen Realität:

Gefühle und Bedürfnisse werden ungefiltert geäußert.

•Phase 3: Personen in dieser Phase kommunizieren noch; sind meist in sich gekehrt:

Der Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen erfolgt vorwiegend über Bewegungen und Laute.

•Phase 4: Personen in dieser Phase kommunizieren kaum; sind in sich zurückgezogen:

Sie ziehen sich mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen in ihr Inne-res zurück.

Diese Kapitel schildern die physischen und psychischen Merkmale, die für jede dieser Phasen typisch sind. Sie zeigen auch, wie Validation so­wohl den desorientierten Hochbetagten hilft als auch den Personen, die sie pflegen.

Kapitel 7 behandelt den besonderen Fall von früh einsetzender Alzheimer-Krankheit, der so genannten Alzheimer-Demenz, die noch vor dem Alter von 70 einsetzt. Validation ist deutlich weniger wirksam bei Personen dieses Alters als bei solchen, die zwischen 80 und 90 des­orientiert werden. Anders als bei verwirrten Hochbetagten verfallen Personen mit früh einsetzender Alzheimer-Krankheit trotz Validation. Trotzdem kommt es zumindest für die Pflegenden durch Validation zu Erleichterungen in der Arbeit mit den früh Erkrankten, wenn auch nur kurzfristig.

Kapitel 8 betrachtet einige der Untersuchungen, die über die Auswirkungen von Validation auf desorientierte Hochbetagte, professionelles und halbprofessionelles Pflegepersonal sowie Angehörige gemacht wur-den. Wie dieses Kapitel zeigt, gab es wiederholt positive Auswirkungen auf alle drei Gruppen.

Das neunte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit den Unterschieden zwischen Validation und sieben anderen Methoden, die oft bei desorien­tierten Hochbetagten angewendet werden. Dies sind:

•Realitätsorientierung

•Verhaltenstraining

•Psychotherapie

•Ablenkung/Diversion

•Lebensrückschau

•Erinnerungsarbeit/Reminiszenz

1.  Altern, Entwicklung und die Alzheimersche Krankheit

Über mein Lernen

Isidor Rose: „Du hast mich mit Worten kastriert.“

Als wir uns kennenlernten, war Isidor Rose ein großer, knochiger, gutaussehender Mann. Er bewegte sich zielgerichtet und war auch noch in Zeit und Raum orientiert, aber nicht glücklich bei dieser Orientierung. Er war in Phase 1. Isidor steckte voll emotionaler Verletzungen aus der Vergangenheit, er litt unter den Gefühlen, denen er sich in der Vergangenheit nicht gestellt hatte. 1963 wusste ich noch nichts über die letzten Kämpfe, die ich später die Aufarbeitungsphase nannte, und beurteilte Isidor Rose nach den üblichen Verhaltensnormen für Alte, die nicht das Problem einer unerledigten Lebensaufgabe hatten. Ich verstand ihn und all die Leute, die so waren wie er, falsch.

1963 also fand ich Isidor Rose, als er gerade verzweifelt versuchte, lose Enden zu verknüpfen. Noch bevor wir einander vorgestellt wurden, flüs­terte er mir zu, dass seine Schwester Helen Geld spare, indem sie ihm nicht genug zu essen gebe. Seine Schwester erstaunte mich durch ihr Mitgefühl für diesen verbitterten alten Mann. Nach seinem Tod versuchten Helen und ich gemeinsam, Isidor zu verstehen. Wir begannen mit seiner Krankengeschichte. Der Abschlussbericht spiegelt sein trauriges Dasein:

Persönliche Habe: ein schwarzer Anzug, drei Hemden, ein Pyjama, ein Paar Shorts, ein Rasierapparat, ein Paar Schuhe

Ersparnisse: keine

Finanzielle Verhältnisse: monatliche Pension für Veteranen

Medizinische Diagnose: Hirnschlag, halbseitig links gelähmt; Pagetsche Krankheit der Knochen; Osteochondrom am linken Schienbein; 1955: Hodenentzündung; 1963: Prostata-Operation.

Psychologische Diagnose: chronisch-organisches Hirnsyndrom; ­Typus senile Demenz.

Totenschein: Isidor Rose starb am 1. 6. 1973 um 11.45 Uhr morgens. Zeit zwischen Todeseintritt und endgültigem Tod ca. 5 min.

Todesursache: Atemstillstand.

Helen sprach dann mit mir über Isidors früheres Leben. „Er wollte so sehr geliebt werden“, sagte sie mir. Ihre Stimme klang hohl, tiefe Ringe unter den Augen ließen ihr Gesicht verschwollen und gespenstisch aussehen. „Er wollte jemand sein. Unser Vater hat ihn nie geliebt. Er bestrafte ihn immer, indem er ihn auf dem Dachboden einsperrte. Noch heute höre ich in meinen Träumen Vater schreien: ,Du bist zu nichts nutze, Isidor. Du wirst es nie zu etwas bringen!‘ Isidor schrie nie zurück. Ich sah ihn nie weinen.“

„Wissen Sie, Isidor wurde zur falschen Zeit geboren. Unsere Eltern konnten sich einfach ein zweites Kind nicht leisten. Sie waren damals gerade aus Russland nach Amerika gekommen und besaßen nicht einen Penny. Meine Mutter arbeitete in einer Fabrik als Näherin und sie versteckte mich unter der Nähmaschine. Damals war ich zwei Jahre alt. Als der Chef mich entdeckte, feuerte er sie, und dabei war sie schon mit Isidor schwanger.“

Helen Wallace sprach schnell, ihre Worte überstürzten sich, breiteten ihr Leben vor mir aus.

„Ich weiß, dass Isidor nicht an der Scheidung von seiner Frau schuld war. Sie behauptete immer, dass er impotent wäre. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher als ein Kind. Isidor wartete auf den Tag, an dem er für seinen Sohn eine Saisonkarte fürs Baseball würde kaufen können. Vater nahm Isidor nie irgendwohin mit, nicht einmal zu einem Ballspiel. Als seine Frau Isidor verließ, zog er zu uns ins Haus. Er half uns, die Hypothek abzubezahlen. Wissen Sie, ein erfolgreicher Rechtsanwalt war er nie. Als er den Ephraim-Gross-Fall verlor, seinen einzigen großen Fall, gab er auf. Er sagte, der Richter habe etwas gegen ihn, wozu sollte er es noch einmal versuchen? Danach konnte er kaum noch seinen Lebensunterhalt verdienen. Armer Kerl! Jeden Tag ging er den Hügel hinauf zu seinem Anwaltsbüro an der Ecke Buckeye- und 116. Straße. Weiß der Himmel, was er da den ganzen Tag tat. Dann stürzte er eines Tages. Der Arzt sagte, er hätte eine Knochenkrank-heit. Er strengte sich so an, trotzdem zu gehen. Als er dann die Kellertreppe hinunterfiel, gab er mir die Schuld. Er behauptete, ich gäbe ihm nicht genug zu essen. Verrückt! Außerdem wollte er seine Sozialver­sicherungsschecks nicht mehr unterschreiben, er sagte, wir würden sie stehlen. Zu der Zeit rief ich dann Sie, fast 11 Jahre ist es jetzt her. Mein Gott! Ich kann gar nicht glauben, dass es schon so lange her ist.“

Zusammen betrachteten wir dann Isidors trauriges, späteres Leben. Wir gingen zurück bis ins Jahr 1962, als er in die Tagesheimpflege kam.

Im Rückblick erschienen mir die Auszüge aus seiner Krankengeschichte wie eine Aufzählung verpasster Gelegenheiten.

März ’62: Isidor Rose, 73, kommt ins Tagesheim. Der Klient ist leicht verwirrt, meistens kontinent. Er behauptet, seine Schwester stehle ihm Geld. Das Personal wird angewiesen, Realitätsorientierung mit ihm durchzuführen.

Mai ’62: Klient beschuldigt den Leiter des Pflegeheims, ihn zu miss­­­handeln, und behauptet, er sperre ihn auf dem Dachboden ein. Erscheint aufgeregt und beschimpft zornig das Personal. Das Personal versichert, dass niemand ihn verletzen wolle. Realitätsorientierung scheint bei dem Klienten nicht zu greifen.

April ’63: Klient unterzieht sich Prostata-Operation; obwohl die Operation erfolgreich verläuft, beschuldigt er den Chirurgen, ihn kas­triert zu haben; wirkt nach der Operation noch verwirrter und beschimpft das Personal noch mehr.

Mai ’63: Klient wird von Psychiater untersucht, Diagnose: Persönlichkeitsspaltung mit Wahnvorstellungen; senile Demenz mit chronisch-organischem Hirnsyndrom;

Verhaltenstraining empfohlen, um mit unerwünschtem Verhalten besser umgehen zu können; Tagespflegepersonal wird angewiesen, den Klienten zu ignorieren, wenn er aggressiv wird.

August ’63: Verhaltenstraining greift nicht, Klient wird körperlich aggressiv, wenn er ignoriert wird; Tagespflegepersonal nicht länger in der Lage, mit ihm umzugehen.

März ’69: Klient wird in Pflegeheim übernommen; fast immer inkontinent; Klient gibt dem Pfleger daran die Schuld.

April ’69: Klient wird von Sozialarbeiter besucht: kein Kontakt möglich; Klient dreht den Kopf weg, kritzelt gewohnheitsmäßig (Klient war Rechtsanwalt) auf Notizblock, den er immer bei sich trägt, wenn der Sozialarbeiter versucht, Einsicht in sein Verhalten zu bekommen.

Oktober ’70: Klient weigert sich zu sprechen, hält Augen geschlossen; Handschrift zeigt starke Verschlechterung.

März ’71: Klient während der Wachzeit im Rollstuhl festgebunden; verstärktes Auftreten von sich wiederholenden Bewegungen; Klient wird mit dem Löffel gefüttert.

November ’71: Psychiater verschreibt Medikamente, um die sich wiederholenden Bewegungen besser unter Kontrolle halten zu können; Klient spricht nicht, scheint sich seiner Umgebung überhaupt nicht mehr bewusst zu sein.

Dezember ’71: Klient in die Intensivstation verlegt, wo er gefüttert, gewindelt und bewegt wird.

Januar ’73: Heute beende ich meine Aufzeichnungen über Isidor Rose. Klient verstorben.

Ich habe zehn Jahre gebraucht, um zu verstehen, was mit Isidor Rose geschah. Nie habe ich versucht, mich in ihn hineinzuversetzen, auch nicht in die unzähligen sehr alten Menschen, mit denen ich von 1963 bis 1973 gearbeitet habe, die genauso waren wie er. Ich habe sie nach Kriterien beurteilt, die auf jüngere Personen zutrafen; auf Personen, die eben nicht die körperlichen und sozialen Verluste des hohen Alters hinnehmen mussten, Menschen, die sich ihren Gefühlen immer gestellt haben, die also nicht erst jetzt, knapp vor ihrem Tod, nie ausgelebte Gefühle äußern müssen, damit sie in Frieden sterben können.

Isidor Roses Sehkraft und Hörvermögen waren stark beeinträchtigt. Er litt unter seiner schwachen Blase und den geschädigten Hirnzellen und konnte im hohen Alter seinen Zorn nicht mehr länger ­zurückhalten. Er war nicht mehr fähig, „auf die Vernunft“ zu hören oder auf meine Realität einzugehen. Er hatte keine Veranlassung mehr, sich zu beruhi­gen und sein Verhalten zu ändern. Er musste schreien, um seinen aufge­stauten Zorn endlich loszuwerden. Er hatte seine eigene Wirklichkeit.

Mit seinem „inneren Auge“ versetzte er sich zurück in sein Anwalts­büro, um den Richter zu bestrafen, der gegen ihn entschieden hatte bei seinem einzigen großen Fall. Er wollte sich selbst bestärken, um seinem Vater ins Gesicht zu schreien: „Ich bin ein guter Mensch! Du warst ungerecht! Du hast mich mit Worten kastriert! Ich habe meinen Wert!“

Damals wollte ich Isidor Rose und andere 80- bis 90-jährige meinen Standards anpassen, ich wollte, dass sie sich nach meiner Auffassung von Wirklichkeit richteten, einer Wirklichkeit, die ich ja meinem damaligen Alter gemäß sah. Ich wusste noch nicht, dass die sehr Alten völlig anderen Schwierigkeiten gegenüberstehen. Erst der Tod von Isidor Rose lehrte mich, alten Leuten zuzuhören, die in ihre Vergangenheit zurückgehen müssen, um sie in Ordnung zu bringen.

Ich hörte Isidor Rose nie zu. Erst als er starb, wurde mir klar, dass ich mir sein Leben hätte anschauen müssen, um zu erfahren, wie er mit seinen Problemen umging, wie er seine Gefühle ausdrückte, wie er seine Verluste ertrug, wie er sich durchbrachte. Isidor Rose stellte die Vergangenheit wieder her, um sich selbst zu heilen. Sein Verhalten war nicht pathologisch, sondern altersgemäß. Er brauchte Einfühlung. Seine Lebensgeschichte liefert uns die Erklärungen für seine „Verwirrtheit“. Er hörte seinen Vater mit seinem „inneren Ohr“. Er sah den Richter mit seinem „inneren Auge“. Er benutzte die lebendigen Erinnerungen, um seine Vergangenheit noch einmal zu leben, um darin etwas in Ordnung zu bringen, damit er sich im Alter nichts vorzuwerfen habe. Er hat sich durchs Leben geschleppt, seinen Ärger für sich behalten und immer den anderen die Schuld gegeben, wenn das Leben ihm übel mitspielte. Erst im hohen Alter hat er seinen Zorn zugelassen. Mit 14 war er still, mit 84 konnte er endlich sagen, wie sehr er damals verletzt worden war. Er wollte geliebt werden, er bettelte um Anerkennung, aber es war zu spät. Eine wahre Lawine von körperlichen Verfallserscheinungen verstärkte noch sein Gefühl von Wertlosigkeit. Trotz der Schläge, die er erleiden musste, wäre aus ihm kein „lebender Toter“ geworden, wenn ich ihm nur zugehört hätte. Er hätte mit mir in Verbindung treten können, bis er starb. Isidor Rose machte mir klar, dass sehr alte Menschen ihre unterdrückten Gefühle, die sie bis ins hohe Alter wie schweres Gepäck mit sich herumschleppen, abladen müssen, bevor sie sterben. Sie kommen in den letzten Abschnitt des Lebens: in den Abschnitt der Aufarbeitung. In dieser Phase versuchen die Hochbetagten, all die losen Gefühlsenden ihres Lebens zu verknüpfen, bevor sie sterben. Jetzt, in diesem sehr hohen Alter, nehmen sie sich die Aufgaben vor, die sie schon Jahre früher hätten erledigen sollen.

Eine Theorie der Lebensentwicklung und das Bedürfnis nach Validation

Die Abschnitte der Lebensentwicklung

Viele Entwicklungspsychologen, besonders Erik Erikson (1963), gehen davon aus, dass in unterschiedlichen Lebensabschnitten jeweils eine bestimmte Lebensaufgabe vollendet werden müsse.

Im Säuglingsalter lernen wir, darauf zu vertrauen, dass unsere Mutter uns nie allein draußen in der Kälte lassen wird. Warm, sicher, an ihre Brust geschmiegt fühlen wir uns umsorgt, eins mit der Welt. Dann, völlig unvorhergesehen, trifft ein schneidendes Geräusch unsere Ohren. Das Telefon. Auf einmal sind wir allein, weg von unserer Mutter. In der Kindheit kennen wir nur die Gegenwart, jetzt. Wir merken nicht, dass die Zeit vergeht, wir merken nur, dass wir auf einmal allein sind. Wir sind hungrig, es ist kalt, wir zittern. Rot vor Zorn heulen wir. In dieser Situation stellen wir uns gerade unserer ersten Lebensaufgabe: Wir müssen darauf vertrauen, dass unsere Mutter wieder zurückkommt. Wir müssen auch glauben lernen, dass wir die Kälte überleben, den Hunger, den Zorn und die Angst. Unsere Mutter beweist uns immer wieder, dass sie zurückkommt. So lernt das Baby durch ständige Wiederholung: ich bin liebenswert. Mama wird mich nie verlassen. Ich kann warten. Ich werde die Kälte, den Hunger, den Zorn und die Angst überleben. Mama wird mich nie zurückstoßen.

Wenn aber das Kleinkind nie lernt, Vertrauen zu haben, trägt es als Kind eine immense Bürde. Im Kindergarten läuft das Kind, es stolpert, fällt und schreit: „Du hast mich mit Absicht hinfallen lassen!“ Dieses Kind lernt nicht, bei sich selbst den wahren Grund für seinen Sturz zu suchen, sondern sucht jemand anderen, dem es die Schuld geben kann. Dieses Kind wird schwierige Zeiten nicht durchstehen, es lernt nie, eigenverantwortlich zu denken. Es wird zum Ankläger. Anstatt darauf zu vertrauen, dass es harte Zeiten überleben und meistern kann, wird es die Gesellschaft verdächtigen, ihm Unrecht zu tun.

In der frühen Kindheit besteht unsere Lebensaufgabe darin, die Din­ge beherrschen zu lernen. Wir sind tief befriedigt, wenn es uns gelingt, bestimmte Regeln einzuhalten. „Mama, schau, was ich gemacht habe! Ich habe alles in den Topf gemacht! Schau doch, wie viel ich gemacht habe. Ich habe das Richtige am rechten Ort zur rechten Zeit gemacht. Papa! Schau schnell! Ich kann schon freihändig radfahren! Autsch! Ich bin über einen Stein gefallen.“ Das Kind, das schon als ganz kleines Kind gelernt hat zu fallen und deswegen nicht zu verzweifeln, wird zwar weinen, dann aber wird es einfach wieder aufstehen und weiterfahren. „Hallo, schau her, ich kann es!“ So ein Kind kann noch so oft ­hinfallen, zerbrechen wird es daran nie.

In der Zeit nach der frühen Kindheit und bevor wir in die Schule kommen, im Spielalter, entdecken wir die Welt spielerisch. Wir sind Cowboys, Prinzessinnen, Ärzte, Lehrer oder Feen – spielerisch schöpfen wir alle Möglichkeiten aus. Das Spiel wird zu einer Methode, Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken, Frustrationen zu verarbeiten oder neue Fertigkeiten auszuprobieren. Wir lernen Fahrrad fahren und probieren es dann freihändig. Wir bauen Zelte aus Decken; wir malen in Malbüchern herum, ohne auf die Linien zu achten.

In unserer Kindheit legen wir den Grundstein für die Fähigkeit zu vertrauen, die uns dann unser Leben lang begleitet und weiterhilft.

Aber wenn die Eltern uns immer wieder eintrichtern, dass wir perfekt sein müssen – nichts schmutzig machen, nichts verschütten, nicht hinfallen, nicht weinen, uns nicht weh tun, nichts vergessen – werden wir nie lernen (aus Fehlern wird man klug), Kontrolle über uns selbst zu erlangen, und damit haben wir noch ein Gewicht mehr auf unserem Rücken. Bis ins hohe Alter werden wir dann diese zwanghafte Selbstkontrolle mitschleppen. Wir werden Angst haben, unsere Gefühle einzu­gestehen. Wir halten uns immer ganz fest am Geländer. Wir passen immer schön auf unsere Sachen auf. Wir beginnen anzuhäufen, zu horten.

Sobald wir zur Schule gehen, entwickeln wir Spaß am Lernen und unsere eigene Arbeitsmoral. In unseren Lehrern sowie in historischen und fiktionalen Persönlichkeiten finden wir Vorbilder. Wir genießen es, zu arbeiten und unsere Noten zu verbessern.

Wenn uns unsere Eltern und Lehrer nie loben, oder – was noch schlimmer ist – immer kritisieren und nie zufrieden sind, fühlen wir uns immer unfähig. Nichts von dem, was wir tun, ist gut genug. In dieser Situation reagieren die meisten Kinder auf eine der folgenden zwei Arten: Entweder sie werden sehr ehrgeizig oder sie geben auf. Der ehrgeizige Mensch erreicht seine Ziele nie und muss daher sein Leben lang kämpfen. Wenn eine solche Person älter wird und die Kontrolle nachlässt, so kann er nicht mit diesem Verlust umgehen und wird auf frühere Bewältigungsstrategien zurückgreifen, um das Versagen schönzureden. Derjenige, der aufgibt, wird vielleicht lethargisch durchs Leben gehen und nie versuchen, die Erwartungen anderer zu erfüllen, weil er weiß, dass er nicht gut genug sein kann.

In der Adoleszenz ist es unsere Aufgabe, bisherige familiäre Bindungen zu lösen und zu rebellieren. Mit 15 kann aus der Mutter, die wir bisher geliebt haben, eine böse Hexe werden. Unser Vater wird zu einem Drachen, der feuerspeiend seine Macht demonstriert. Mit 15 müssen wir gegen unsere Eltern kämpfen, damit wir uns von ihnen trennen können, damit wir schließlich unseren eigenen Wert kennen. Wir kämpfen eigentlich um unsere eigene Identität. Wir bekämpfen die, die uns am nächsten stehen, und wir kämpfen, um herauszufinden, wer wir sind. Sind wir einzigartig? Was macht unsere Einzigartigkeit aus? In der frühen Kindheit haben wir gelernt, dass uns unsere Eltern lieben, auch wenn wir mit ihnen kämpfen. Wir können eine Rebellion ge-gen sie durchaus wagen. Aber wenn wir das Gefühl haben, dass uns die Eltern nicht bedingungslos lieben, dann ist eine Rebellion gegen sie riskant. Wenn wir nämlich in so einem Fall kämpfen und die Re-geln brechen, dann könnte es sein, dass Mama und Papa uns nicht mehr lieben. Wir wären dann ganz allein. Also kapitulieren wir. Dann sind wir wieder gut. Wir tun immer, was Mama und Papa von uns verlangen. Wer sind wir? Wir sind Mamas braves Mädchen. Wir sind die braven Schüler des Lehrers. Wir sind die gute Ehefrau des Mannes, die verlässliche Arbeitskraft des Chefs. Leider erfahren wir aber nicht, wer die Person ist, die in uns steckt, wenn wir von einer dieser austauschbaren Autoritätspersonen loskommen. Denn bisher hat die Außenwelt unsere Identität bestimmt. Aus lauter Angst, zurückgestoßen zu werden, schlagen wir uns auf ihre Seite, heißen wir ihre Ansichten gut, bejahen wir ihre Meinung. So lernen wir nie, wir selbst zu sein. Damit die anderen an uns Anteil nehmen, müssen wir für sie jemand sein. Ohne Familie, ohne Arbeit sind wir gar nichts. Auf diese Weise wird unser Rucksack immer schwerer, je älter wir werden. Wir werden zu Märtyrern.

Im frühen Erwachsenenalter besteht unsere Aufgabe darin, jemand anderem nahezustehen. Wir suchen intime Nähe. Wir möchten gerne „Ich liebe dich“ flüstern. Wir wollen jemanden berühren ohne Angst, zurückgestoßen zu werden. Wenn wir uns über uns selbst bereits im Klaren sind, wenn unsere Identität aus uns selbst kommt, können wir es riskieren, verletzt zu werden. Wir können „Ich liebe dich“ sagen, weil wir darauf vertrauen können, dass wir überleben werden, wenn unsere Liebe abgewiesen wird. Wir können ruhig einmal fallen, denn wir werden nicht auseinanderfallen.

Wenn es uns allerdings nicht gelungen ist, unsere früheren Lebensaufgaben zu erfüllen, werden wir nicht so weit kommen, Intimität zu suchen. Wenn wir uns als kleine Kinder nie getraut haben, das Geländer loszulassen, wie können wir uns dann als Erwachsene trauen, die Stöße, die dieser Lebensabschnitt für uns bereithält, auszuhalten?

Terrorisiert von der frühkindlichen Angst, alleingelassen zu werden, hat uns als Kinder jedes Versagen in tödliche Verlegenheit gebracht; als Teenager hatten wir Angst, zurückgewiesen zu werden; das alles führte dazu, dass wir uns von den anderen fernhalten. Wir leben isoliert. Wir sind Einzelgänger geworden.

Im mittleren Alter ist es unsere Lebensaufgabe, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen, und mit Veränderungen umzugehen. Wir merken, dass aus unseren Fältchen Falten werden. Unser Haar wird dünn. Die Haut ist nicht mehr straff genug, sie hängt an uns wie ein zu großes Kleidungsstück. Tränensäcke und Fettpölsterchen sind kaum mehr zu verbergen. Wenn wir in den Spiegel schauen, sieht zwar alles beinahe so aus wie fünf Jahre zuvor, aber eben nur fast. Einige von uns haben einen schweren Schlag hinnehmen müssen – bei manchen waren es zu viele Verluste. Wir haben vielleicht unseren Partner verloren, vielleicht eine Brust, eine Niere oder unsere Arbeit. Aber wir konfrontieren uns damit. Wir trauern. Wir schauen in den Spiegel und akzeptieren die Tatsache, dass wir nicht ewig leben werden. Wir erweitern unser Lebensrepertoire. Wir lernen sozusagen neue Tasten auf der Klaviatur des Lebens. Wir entwickeln uns weiter. Der Partner stirbt – wir finden einen neuen engen Freund. Wir gehen in Pension, aber die Arbeit fehlt uns. Wir suchen uns eine Beschäftigung, z. B. als ehrenamtliche Helfer.

Wenn wir immer nur gehört haben, dass wir perfekt sein müssen, dass wir nie die Kontrolle verlieren dürfen, dann können wir unsere Gefühle nicht (mit-)teilen, wir schaffen es nicht, jemandem unser Herz auszuschütten. Ohne unsere Partner sind wir nichts. Ohne unsere Arbeit sind wir nichts. Um weiterzuleben, tun wir so, als würden diese Verluste uns gar nicht treffen. Wir wagen es nicht, neue Töne zu lernen. Immer wieder spielen wir auf den gleichen Tasten. Wir spielen immer noch die gleiche, ausgeleierte Rolle, die wir immer gespielt haben, auch wenn sie mittlerweile nicht mehr zu uns passt. Eine Witwe weigert sich, eine neue Beziehung einzugehen – niemand ist gut genug für sie. Ein Musik­liebhaber weigert sich, einen Hörapparat anzuschaffen – es sei einfach zu teuer, sagt er. Ein leitender Angestellter macht sich über eine Beschäftigung als freiwilliger Helfer lustig – seine Zeit ist kostbar. Wir stecken fest. Wir sind auf den nächsten Lebensabschnitt nicht vorbereitet. Wir klammern uns an ein Verhalten, aus dem wir eigentlich schon herausgewachsen sind.

Im Alter müssen wir dann Rechenschaft über das ablegen, was wir in unserem Leben getan haben. Jetzt sollen wir zurückschauen und he­rausfinden, was wir waren. Im Alter bereiten wir uns auch darauf vor zu sterben. Wir sind zufrieden mit dem, was wir im Leben erreicht haben. Wir sterben, aber wir haben Respekt vor uns selbst, obwohl wir Schwächen haben, Fehler und unerfüllte Träume.

Ich habe mir immer gewünscht, eine großartige Schauspielerin zu sein, aber die wurde ich nicht. Stattdessen habe ich meine schauspielerische Begabung dafür genützt, eine gute Lehrerin zu werden. Ich mag mich. Trotz meiner unerfüllten Träume, meiner Fehler, meiner Verluste bin ich froh, dass ich geboren bin. Ich respektiere mich. Ich habe In­tegrität. Ich kann Kompromisse schließen. Ich kann akzeptieren, was ich bin, was ich war und was ich nie geworden bin. Das Leben ist es wert, gelebt zu werden.

Wenn wir nicht akzeptieren können, wer wir sind, wenn wir nicht darauf vertrauen können, dass wir auch geliebt werden, wenn unser Augenlicht schwächer wird, unser Haar dünner und unser Erinnerungsvermögen nachlässt, dann stürzt uns das in Hoffnungslosigkeit. Wenn wir uns tief drinnen nicht so akzeptieren, wie wir sind, haben wir nichts, was wir den Verlusten entgegensetzen können, nichts, um sie auszugleichen, und wir werden verbittert und hoffnungslos.

Ignorierte Hoffnungslosigkeit arbeitet weiter in den Menschen, wird zur Depression. Eine Depression ist ein innerer Wendepunkt. Wut, Auflehnung, Scham, Schuld, Liebe – Gefühle, die ein Leben lang erfolgreich zurückgehalten werden, fangen an, uns zu vergiften. Mittlerweile ist unser Gefühls-Rucksack so schwer, dass wir ihn nicht mehr tragen können, und mittlerweile stehen wir auch schon an der Schwelle zum hohen Alter.

Jeder Lebensabschnitt hat eine zu ihm gehörige einzigartige Aufgabe. Wenn man sie übergeht, tauchen unerfüllte Lebensaufgaben später im Leben noch einmal auf. Die Aufgabe fordert unsere Beachtung. Sie gibt uns zu einem späteren Zeitpunkt eine zweite Chance. Sie ist sehr hartnäckig und verfolgt uns sogar bis ins hohe Alter. Wenn wir immer noch so tun, als würden wir sie nicht sehen, wird sie auf den Moment warten, wo sie die Bühne für sich allein hat. Sie wartet bis ins hohe Alter, wenn unsere Kontrollen nachlassen. Sie wartet, bis wir unsere feste Rolle auf dieser Bühne vergessen haben, dann tritt sie wieder in Erscheinung.

Das Bedürfnis nach Validation

Aufgrund meiner Erfahrungen mit Isidor Rose und vergleichbaren Fällen habe ich eine Methode entwickelt, die ich einfühlende Kommunikation nenne. Diese Methode hat hochbetagten Menschen geholfen, ihre Würde wieder zu erlangen, ihre Ängste zu vermindern und zu ver­hindern, dass sie in Phase 4 abgleiten. Meine Methode – Validation – hat tausende Pflegepersonen von Menschen wie Isidor Rose zur Kommunikation mit ihren Klienten befähigt und ihnen geholfen, einen „Burnout“ oder Depressionen zu vermeiden.

Von Isidor Rose lernte ich die allerwichtigste Charakteristik des sehr hohen Alters: Entwicklungsgeschichte und körperliche Veränderungsprozesse sind untrennbar miteinander verbunden. Ich muss den ganzen Menschen betrachten, nicht nur den Zustand seines Gehirns, um die Gründe für sein Verhalten zu begreifen. Verhalten orientiert sich in jedem Alter an der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung. Wir hören dem Teenager zu, wenn er seine Wut herauslässt, aber wir beurteilen ihn nicht nach unseren Verhaltensstandards. Wir wissen ja, wie es ist, wenn man mit 15 gegen jede Autorität ankämpft. Viel schwerer ist es, sich in sehr alte Menschen einzufühlen, die wichtige Lebens­aufgaben nicht erledigt haben und erst mit 90 rebellieren.

Ein sehr hohes Alter zu erreichen ist immer noch neu. Wir müssen uns zum ersten Mal in der Geschichte Gedanken machen, wie es ist, sehr alt zu werden, da die Medizin unsere Lebensspanne ausgedehnt hat. Pflegende erleben jetzt eine neue Generation von sehr Alten, die vor ihrem Tod in die Vergangenheit zurückkehren müssen, um sie aufzuarbeiten. Wir müssen das Zusammenwirken von körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen bedenken, die das Verhalten der sehr Alten beeinflussen. Ein dreijähriges Kind, das mit seinen Phantasiekameraden spricht, hat keine Halluzinationen. Es verwendet lediglich seine Phantasie, es tut so, als wäre es in einer ganz bestimmten Situation, es spielt Vater oder Mutter. Mit drei Jahren ist dieses Verhalten völlig altersgemäß. Mit 33 nennt man das Gleiche eine Halluzination. Mit 93 kann sich aber ein sehr alter Mensch adäquat verhalten, nämlich dann, wenn der- oder diejenige jemanden aus der Vergangenheit sieht. Wenn wir uns aber in Personen dieses Alters einfühlen wollen, müssen wir komplexe Webmuster im Zusammenhang von körperlichem Verfall und Entwicklungsbedürfnissen verstehen lernen.