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Aileen, 27-jährige Berlinerin und gelernte Köchin, hat sich einen Traum erfüllt: Gemeinsam mit ihrer besten Freundin, der Konditorin Pami, hat sie ein Cateringunternehmen für vegetarische und vegane Backwaren gegründet. Beide Frauen gehen zusammen durch dick und dünn, dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Aileen ist introvertiert und zurückhaltend und stammt aus verkorksten Verhältnissen. Die Schönheit Pami ist dagegen lebensbejahend und offen, sie versteht sich gut mit ihren warmherzigen Eltern und hat eine süße kleine Tochter namens Lina. Um die Neunjährige, die ohne Vater aufwächst, kümmert sich auch Aileen sehr liebevoll. Denn sie weiß selbst, wie es ist, ohne Vater zu sein. Eines Tages erhält Aileen einen mysteriösen Brief. Sie kann es kaum fassen, als sie dort liest, dass ein gewisser Frederick Leins ihren Erzeuger sucht. Stimmt es etwa gar nicht, dass ihr Vater in den Wirren der deutschen Wiedervereinigung ums Leben gekommen ist? Und dann soll es da auch noch eine Großmutter väterlicherseits geben? Entschlossen begibt sich Aileen auf die Suche und findet bald heraus, dass ihre Oma in Steglitz lebt. Durch einen glücklichen Zufall kann sie in deren Haus als Köchin anfangen und ihr näherkommen. Doch wo ist ihr Vater? Frederick Leins ist ihr bei der Recherche behilflich, und Aileen lernt den auf den ersten Blick so biederen Rechtsgehilfen von einer ganz anderen Seite kennen … Claudi Feldhaus überrascht mit einem spritzig-jugendlichen Roman, der durch seinen frechen und doch gefühlvollen Erzählton überzeugt und den Leser zu einer Reise durch das bunte Berlin einlädt. Eine unterhaltsame Lektüre, die auch voller Lebensweisheit ist – und nebenbei einige der besten veganen Rezepte aus der Küche von Aileen und Pami verrät.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Claudi Feldhaus
Vegane Waffeln
Ein bissiger Berlin-Roman
Jaron Verlag
Originalausgabe
1. Auflage 2017
© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Carsten Tiemessen, Düsseldorf
Satz: Prill Partners | producing, Barcelona
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-95552-230-8
Für Cleo, Sieglinde und Annemarie
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Ach!«, stieß ich aus, wie immer, wenn ich nicht …
Das erste Mal war ich Pami …
Die restliche Woche verlief im üblichen Chaos ….
Am folgenden Sonntag pellte ich mich schon um …
Drei Tage später stapelte ich gerade Rührschüsseln …
Am Freitagmorgen lieferten wir eine riesige …
Samstag, der 3. Oktober. Mit einem großen Korb …
Am folgenden Montag machte ich Inventur …
Am nächsten Morgen kam Pami rüber und half …
Erst als ich mit Lina wieder auf der Straße stand …
Am darauffolgenden Tag stand ich um sechs statt …
Kaum hatte mir Frau Doktor am nächsten Morgen …
Pami brachte mich am nächsten Morgen wieder …
Pami tat ihren Dienst als beste Freundin …
Als ich am Montagmorgen in die Haderslebener …
Am Dienstag brachte ich eine Pappe in DIN-A1-Format …
Erst am Freitagmorgen rang ich mich dazu durch …
Am Montag lag das Foto von Ron …
Die Woche verging wie im Fluge, und am Freitag …
Frederick wartete im Restaurant »Soy« in Mitte auf …
Aber ich muss dich warnen …«, begann Frederick …
Silke empfing mich am Montagmorgen …
Pami und ich fuhren am Samstagnachmittag mit …
Frederick rief am Mittwoch an …
Fünfzig Pfannkuchen, Zwiebelsuppe und vegane …
Die Fahrt von Marzahn nach Steglitz dauerte …
Auch am folgenden Montag hielt mein Hochgefühl …
Tags darauf musste ich mich stark zusammenreißen …
Gute Reise!, schrieb ich Frederick zwei Tage später …
In der Weihnachtswoche stand nur wenig Arbeit …
Berlin war es gewohnt, zwischen die Fronten zu geraten …
Karina und Silke waren Neujahr nach dem Ausschlafen …
In den nächsten Tagen klingelte mein Telefon des Öfteren …
Mit zitternden Knien steckte ich den Kopf durch …
Es klingelte. …
Vegane Kochideen von Aili & Pami
Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen
Ach!«, stieß ich aus, wie immer, wenn ich nicht »So ein Scheiß!« sagen wollte.
Die Stiege Mehl war meinem Griff entfleucht und rutschte soeben von der Anrichte. Im nächsten Moment bedeckte der schwere weiße Staub den Küchenboden sowie meine nackten Beine und Oberarme. Da klingelte es an der Tür.
Ungerührt saß meine Patentochter Paulina am Arbeitstisch und malte mit ihren Wachsstiften die neueste Kreation ihrer Mutter ab. Sie störte sich in ihrer angeborenen Ruhe nicht an meinem Gezeter, nicht an dem Mehlstaub, der bis auf ihr karamellbraunes Gesicht gespritzt war, und auch nicht am zweiten Klingeln.
»Lina, gehst du bitte mal?«, stöhnte ich. »Ist bestimmt Pami, die ihren Schlüssel nicht findet.«
Die Neunjährige hüpfte wortlos vom Stuhl und tappte barfuß durch das Mehl, trug es durch den Flur bis an die Tür und nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab. »›V-Vegane W-W-Waffeln‹?«, meldete sie sich. Das war der Name des Unternehmens von Pami und mir.
Ich stellte erfreut fest, dass nur die Hälfte der Mehltüten aufgebrochen war, sodass wir noch genügend Zutaten für die Lieferung am folgenden Tag hatten.
Als Lina zurück in die Küche kam, erklärte sie: »Aili, e-es ist für d-dich! Ein M-Mann!« Sie betonte dies mit einem anklagenden Blick, als verfüge sie über Hintergrundinformationen über das andere Geschlecht, die mir in meinen 27 Lebensjahren verborgen geblieben waren. Dann verfiel sie wieder in eine Arschruhe, setzte sich schweigend an den Küchentisch und zeichnete weiter das Foto von der Couscoustorte mit Kokosmilchsahne, das ich mit meinem Schlaufon aufgenommen hatte, für unsere Flyer ab.
Ich wischte mir die kupferrot gefärbten Haare aus dem Gesicht, verschmierte dabei Mehl über meine Stirn und ging an die Wohnungstür. Dort blickte ich in das überraschte Antlitz eines Anzugträgers.
»Aileen Vastner?«, fragte der junge Mann verunsichert und bemühte sich sichtlich, nicht auf meine dicken Schenkel in den Shorts zu starren.
»Und mit wem hab ich das Vergnügen?«, entgegnete ich höflich lächelnd.
»Leins mein Name. Ich habe die Aufgabe, Ihnen dies hier persönlich zu übergeben.«
Er wollte mir einen schneeweißen Umschlag reichen, schreckte angesichts meiner schwitzigen, mehligen Hände aber kurz zurück.
Im nächsten Moment öffnete sich der Fahrstuhl, und Pami schob ihren runden Knackpopo heraus. Sie war voll beladen mit leeren Paletten von dem kleinen Brunch bei der Tierrechtsorganisation PETA, den sie am Morgen betreut hatte. Das Schlüsselbund baumelte an ihrem Finger. Als sie uns in der offenen Tür stehen sah, strahlte sie noch ein bisschen mehr. Talentiert darin, überall das Positive zu sehen, freute sie sich vermutlich, dass sie sich nicht mit dem Türschloss abzumühen brauchte. Es kam sogar noch besser: Der Anzug tragende Postbote sprang ihr entgegen, und sie drückte ihm die Einkäufe in die Hände, ehe er sein Hilfsangebot ausgesprochen hatte.
»Unten im Auto ist noch mehr!« Sie grinste ihn an.
»Ich sag dir doch, nimm unser Vehikel!« Damit meinte ich den alten Kinderwagen von Lina, den ich eigens für den kurzen Weg zwischen unserer Backstube und dem Auto umgebaut hatte. Aber das war meiner besten Freundin und Geschäftspartnerin wohl zu albern.
»Nein, das ist mir zu dumm!«, erklärte sie, dirigierte den Mann in unsere chaotische Küche und zeigte ihr strahlendes Lächeln. Schon war er bereit, auch die restlichen Utensilien nach oben zu tragen.
Lina und ich rollten mit den Augen, sagten aber nichts.
Als die Arbeit getan war, redete sich Pami heraus. »Ich würde Sie ja gerne auf einen Kaffee und ein Teilchen einladen, aber wie Sie sehen, ist die Wohnung ein heilloses Chaos!« Mit einem kurzen Blick strafte sie mich für den mehligen Boden in der Küche und für das Büro, das ich letzte Nacht nicht, wie versprochen, in Ordnung gebracht hatte, sodass ich ihr schlussendlich die Tour vermasselt hatte.
Unsere Geschäftsräume, das heißt die Backstube und das Büro, befanden sich in meiner Wohnung, in der ich seit zwanzig Jahren lebte. Ich hatte den Mietvertrag von meiner seligen Oma Susi übernommen, deshalb konnte ich mir eine Vierraumwohnung leisten.
»Ich möchte Sie auch nicht länger belästigen«, erklärte der Typ freundlich. »Ich habe Frau Vastner ihren Brief überbracht, meine Aufgabe ist damit erledigt.«
Der Brief – wo hatte ich den eigentlich hingetan? Ach ja, in den Flur zu der anderen Post. Ich widmete mich wieder dem Teig.
»Frau Vastner …«, sagte er dann, und ich blickte von der Rührschüssel mit Kokosmilch auf. »Wenn Sie diesbezüglich Fragen haben, lassen Sie es mich wissen!«
»Okay«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen.
»Per Mail oder Telefon. Sie finden meine Kontaktdaten in dem Schreiben …«
»Ja, ist gut«, sagte ich, dachte aber: Mann, siehst du nicht, dass ich gerade keinen Kopf dafür habe?
Er stand noch einen Moment da, wohl unschlüssig, ob er meine mit veganen Backmitteln übersäte Hand schütteln sollte, die ich ihm nun hinhielt.
»Auch abends …«, setzte er nach.
»Erst mal muss ich den Brief lesen, dann rufe ich Sie an«, versicherte ich und lächelte, trotz meiner Eichhörnchenzähne, so schön ich konnte.
Er nickte und verschwand endlich.
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, warf Pami die langen Hosen und die Bluse von sich. »Meine Fresse! Warum hast du den Ofen jetzt schon angeheizt?«
Obwohl alle Fenster und Türen geöffnet waren und ich sogar die Verglasung der Loggia zur Seite geschoben hatte, stand die Luft in der Küche. Draußen herrschten noch immer um die achtzehn Grad – für Ende September ein Traum. Nur leichter Wind pfiff durch die Häuserschluchten des Wohngebiets Springpfuhl. Aber die Temperaturen waren nichts im Vergleich zum Juli und August, als vierzig Grad im Schatten geherrscht und wir beim Backen regelmäßig in unserer eigenen Suppe gekocht hatten.
Ich hatte mich schon gewundert, warum Pami ihre schicken Kleider vom Brunch anbehalten hatte. Auch wenn mir der Typ gefallen hätte, ich hätte es keine fünf Minuten in der eleganten schwarzen Stoffhose und der schwarzen Bluse mit unserem orange-rosa Emblem ausgehalten. »Wusste ja nicht, dass Madamse noch zu flirten hat.« Ich warf die Zutaten für unseren Klassiker, vegane Waffeln, in die automatische Rührschüssel und schaltete sie ein.
Über den Krach hinweg rief Pami: »Da hatte ich keine Chance, der steht auf Vanilla, my Dear!«
Für den kommenden Tag waren fünfzig Waffeln für eine Geburtstagsrunde, dreißig herzhafte Cupcakes für ein Meeting eines Immobilienunternehmens und einmal das große Kindergeburtstagsset, das diverse süße Torten und Muffins, Schlagsahne und Karamellbonbons beinhaltete, bestellt worden. Das bedeutete, die Arbeit hielt sich für heute in Grenzen. Aber dann fiel mir ein, dass wir die neue Kreation »Pamis Pustekuchen« in Miniform herstellen und zu Werbezwecken der Lieferung beifügen wollten.
Lina hatte ihr Bild inzwischen fertiggestellt, und ich musste das Büro so weit aufräumen, dass ich an den Scanner und auf einen Sitzplatz kam, damit ich neue Flyer erstellen konnte. Während Pami backte wie eine Wahnsinnige, saß Lina auf dem Boden und machte brav ihre Hausaufgaben. Später half sie beim Verzieren der Torten und sang mit ihrer Mutter laut auf Portugiesisch. Derweil saß ich, noch immer mehlig, am Rechner. Immerhin hatte ich mir die Hände gewaschen – Teigreste waren so schwer von der Tastatur zu kriegen. Ich erstellte einen neuen Flyer, A6-Format. Nicht ohne Stolz tippte ich unter die Beschreibung unseres neuesten Kuchens die Worte:
»Vegane Waffeln«
Süße und herzhafte Backwaren mit Biss
außergewöhnliche vegetarische/vegane
Kreationen Lieferung in Berlin und Umgebung
Inhaberinnen: Aileen Vastner & Pamela Crusq
Erst seit ein paar Wochen kamen mir beim Lesen des Namens unseres Unternehmens nicht mehr die Tränen. Ich stellte den Text immer viermal auf ein Blatt Papier aus, druckte das Ganze aus und schnitt es zurecht.
Zurück in der Küche, verstauten wir die fertigen Waren und stellten die cremigen Produkte in den großen Kühlschrank im Vorratslager. Früher war die Küche winzig gewesen, sechs Quadratmeter mit typischer DDR-Durchreiche zum geräumigen Wohnzimmer. Als wir uns alle Genehmigungen eingeholt hatten, um meine Wohnung in eine Bäckerei mit Lagerräumen zu verwandeln, ließen wir die Wände einreißen und vergrößerten die Küche auf 28 Quadratmeter. Zwei lange Arbeitstische säumten die Wände, daneben hohe Schränke und Regale voller Förmchen, Teigrollen, Spritzbeutel und Tüllen, eben mit allem, was das Bäckerherz höherschlagen ließ. Ein klassischer Ofen mit vier Herdplatten, den ich noch von Oma Susi übernommen hatte, stand an der Wand zum Versorgungsschacht. Dort befand er sich seit 1995, als Oma das einzige Mal die Küche hatte renovieren lassen. Sie war im selben Jahr in dieses Haus an der Allee der Kosmonauten eingezogen, in dem es gebaut worden war: 1979.
Zwischen dem alten Ofen und einem neueren Exemplar mit Ceranfeld, das uns Pamis Vater günstig besorgt hatte, stand die Spüle. In Ermangelung eines Geschirrspülers wuschen wir alle Töpfe und Formen in dem viel zu kleinen Becken ab. Dahinter lag das kleine Bad mit Wanne und Waschmaschine. Die Kühlschränke befanden sich einen Raum weiter. Dieser war dank seiner Ausrichtung nach Norden immer etwas kühler, deshalb bewahrten wir dort auch die Dosen, Milchkartons, Früchte und alles andere Verderbliche auf.
Im Sommer 2014 hatten wir unser kleines Unternehmen gegründet und nun, ein Jahr später, machten wir uns langsam einen Namen. Vornehmlich beauftragten uns Prenzlberg-Muttis, F-Hainer Start-up-Unternehmen und ab und an auch PETA. Viele Kunden fühlten sich geil dabei, einer alleinerziehenden schwarzen Bäckerin und ihrer hässlichen weißen Freundin eine Chance zu geben. Und dann überraschte sie die Tatsache, wie verdammt lecker unsere Backwaren waren. Pami verstand es, ihre Konditorausbildung und nicht zuletzt ihr angeborenes Talent für den Backofenzauber mit dem Hipster-Wunsch nach Fairtrade und veganem Essen zu vereinen. Die meisten, die ansonsten nur Dinkelstangen und Fruchtschnitten knabberten, erlebten einen Geschmacksorgasmus, wenn sie in unsere Cupcakes, Torten oder Waffeln bissen. Ich war bei uns die Frau fürs Feine: Buchhaltung, Rechnungslegung, Bestellung, Marketing, zumeist lieferte ich auch aus.
»Hey, es ist j-ja sch-schon vier!«, rief Lina plötzlich, und wir wussten, was das hieß.
Das Kind wollte zum Wing Tsun. Die kleine Kampfsportschule lag nur zwei Tramstationen von meiner Wohnung entfernt. Also setzten wir Lina davor ab. Einmal unterwegs, nutzten Pami und ich die Gelegenheit und fuhren ins Dong Xuan Center. Wir kauften stiegenweise Kokosmilch und Mangos in Dosen und ließen uns danach auf der stylischen Terrasse des »Việt Phồ« nieder, um endlich mal wieder über Pamis Dates zu quatschen. Vor ihrem Kind unterließen wir das. Ich erfuhr alles über Kusstechniken, geschickte Finger und Zungen sowie die Regeln zum Bezahlen des romantischen Dinners und zum Anrufen am nächsten Tag.
»Wer räumt die Ware ein, wer darf in den Erwachsenenkurs?«, fragte ich schließlich, um das Gespräch wieder in seriöse Bahnen zu lenken.
»Schnick, Schnack, Schnuck, drei Runden!« Pami grinste und ballte ihre filigrane Hand zur Faust.
Da ich wusste, dass sie sich meistens für den Stein entschied, gewann ich und durfte zur Wing-Tsun-Stunde, die nach dem Kurs für Kinder stattfand.
Kaum hatten wir uns erhoben, warf Pami dem Typen am Nachbartisch einen Blick zu. Als er mitbekam, dass wir uns zum Gehen wandten, schaute er von seinem Buch auf und sah Pami direkt an. Sie schenkte ihm ein galant-cooles Lächeln, er zog interessiert eine Braue und einen Mundwinkel hoch. Dann schaukelte Pami ihren Prachtpo an ihm vorbei, ohne sich umzusehen. Sie konnte das einfach – Kerle angrinsen, flirten und so. Sie hatte es manchmal sogar drauf, die Typen anzusprechen. Ich zog die Schultern zusammen und wuselte hinter ihr her, blieb also in meiner Rolle.
Vor fünfzehn Jahren besuchten meine Freundin und ich zum ersten Mal eine Kung-Fu-Schule und wurden in einem Schnupperkurs auf Wing Tsun aufmerksam. Mittlerweile beherrschten wir die Sportart ganz passabel. Pami war von Beginn an gut darin. Das lag vermutlich erstens daran, dass sie als schwarzes Mädchen, umgeben von Faschos, einen größeren Ansporn hatte, Selbstverteidigung zu beherrschen, und zweitens daran, dass ihr alles zu liegen schien. Insofern konnte sie es verschmerzen, dass sie mich an diesem Tag mit der Sporttasche in der Meeraner Straße absetzte, ihr Kind einlud und zu mir nach Hause fuhr, um die Einkäufe auszuladen.
Pami und ich teilten uns die Sportsachen, die allzeit im Auto bereitlagen. Obenrum war ich recht schlank, von meinem kleinen Bauch einmal abgesehen. Ihr Körper war kurviger und aufregender als meiner, deswegen schlabberte das Oberteil an mir. Aber die Shorts passten leidlich, denn meine Hüften und Schenkel waren fast so fett, wie Pamis Körperschwerpunkt prall und weiblich war. Wir trugen die gleiche Schuhgröße, und Pami war nur wenige Zentimeter kleiner als ich mit meinen 1,74 Metern.
Nach dem Warmmachen übten wir ein paar Befreiungsgriffe, erst Hiebe, dann Tritte, und schließlich knüppelten wir mit unseren Fäusten auf Schutzkissen ein, die der Partner festhielt. Ein paarmal boxte mein Gegenüber so kräftig gegen das Kissen, dass es hochsprang und er mich am Kinn traf. Doch die Angst, getroffen zu werden, verlor man ziemlich fix. Danach folgte das Cool-down, ruhige, dem Atem angepasste Bewegungen. Der eigene Schweiß kühlte die erhitzte Haut und die geschundenen Körperstellen. Ich kam runter, entspannte mich und spürte das wohlige Vibrieren meiner Muskeln und Gelenke.
Nach dem Wing-Tsun-Training, als die anderen Kursteilnehmer noch in eine Bar zogen, steuerte ich die Tram an und bestieg an der Kreuzung Rhinstraße/Allee der Kosmonauten die M 8. Zwar waren es nur drei Stationen bis zum Helene-Weigel-Platz, aber es war bereits nach zwanzig Uhr, und ich war zu müde, um den Weg an der großen Straße entlangzulaufen. Ich stolperte etwas, als die Bahn anfuhr, und plumpste dann auf einen Sitz. Vor mir sah ein Typ von seinem Buch auf. Männer, die in der Öffentlichkeit Bücher lasen, hatten was. Der im Café hatte mir auch schon gefallen. Während ich da so saß, betrachtete ich den Typen heimlich und stellte – spätestens, als ich unwillkürlich meinen missgebildeten linken Daumen versteckte – fest, dass ich ihn hübsch fand. Ich fragte mich, ob ich etwas Flirttechnisches machen sollte.
Die Tram hielt am S-Bahnhof Springpfuhl, und wie so oft stieg eine ganze Horde Menschen ein. Als sich jemand neben den Typen setzte, blickte er auf und sah mir direkt in die Augen. Sofort starrte ich auf meine Knie. Die Bahn fuhr kurz darauf weiter, und er hatte seinen Blick natürlich wieder in sein Buch gerichtet. Ich drückte den Stoppknopf, was er offenbar registrierte. Als ich mich erhob, sah er mich erneut an. Er guckte irgendwie interessiert. Wie sollte ich jetzt reagieren? Lächeln, nicken, grüßen? Ihn ermutigen? Ihm zeigen, dass ich auf ihn stand? Ich war tatsächlich drauf und dran, Pamis galant-cooles Lächeln auszuprobieren, aber dann fiel mir ein, dass diese Idee albern war. Also heftete ich meinen Blick an meine Schuhspitzen, während ich mich an den anderen Passagieren vorbei zur Tür kämpfte, und stieg aus.
Ich war keine Frau, die Typen in der Bahn anlächelte und in ein Gespräch verwickelte. Ich gehörte eher der Sorte an, die brav nach Hause ging, sich eine Schale Schokoeis reinschaufelte, die Wäsche machte und dann unter der Dusche masturbierte.
Mein Abendprogramm wurde auch an diesem Tag nicht gestört, denn Pami und Lina waren nach dem Einräumen der Einkäufe gleich nach Hause gegangen. Sie wohnten nur zwei Straßen weiter in einer süßen Zweiraumwohnung ohne Balkon. Ich stellte die Waschmaschine an und nahm den letzten Löffel Eis, als mein Schlaufon piepte. Es war eine Nachricht von Pami: Kannst Du Lina am Sa nehmen? Ich hab ein Date. *freu*
Natürlich, antwortete ich und fügte mich in meine Rolle.
Das erste Mal war ich Pami bei unserer Einschulung begegnet. Damals hatte ich mit Oma Susi und meiner Mutter Bea schon am Springpfuhl gewohnt. Ich musste ein komisches Rüschending tragen und bekam die rosa Schultüte, obwohl ich die silberne gewollt hatte. Susi hatte mir zwei doofe Zöpfe geflochten und mir erklärt, dass ich wenigstens an zwei Tagen meines Lebens hübsch auszusehen hätte: auf meiner Einschulung und auf meiner Hochzeit. Die Erinnerung an Erstere verdarb mir auf ewig die Lust auf Letztere. Meine schwarzen Lackschuhe hatten geklackert und gedrückt, und dann hatten mich Bea und Susi allein im Klassenzimmer bei der Frau Lehrerin und 29 anderen Kindern gelassen. Ich wollte sterben vor Angst.
Frau Lehrerin begrüßte uns lächelnd. »So, und nun wollen wir uns kennenlernen!« Sie ging zu dem ersten Platz, um nachzusehen, wer laut Namensschild dort sitzen sollte.
Wir standen zusammengepfercht an der Wand und klammerten uns an unsere Zuckertüten. Ich blickte ängstlich in den Raum, mein Herz klopfte, das Blut rauschte in meinen Ohren, und die doofen Zöpfe ziepten. Frau Lehrerin las den ersten Namen vor, und ein Junge löste sich aus unserem Schwarm und setzte sich an den Platz, an dem seine Bücher zu einem netten kleinen Stapel aufgebaut waren.
»Til, erzähl uns doch etwas von dir!«, bat die Lehrerin.
Fröhlich sagte er uns, wo er wohnte, was sein Leibgericht war und dass er einen Wellensittich hatte.
Dann las Frau Lehrerin Pamis Namen vor. Und noch ehe diese sich gesetzt hatte, rief sie mopsfidel: »Hallo, ich bin Pamela, ich mag Früchtekuchen und Brasilien. Ich kann richtig gut backen, und ich habe zwei kleine Brüder.«
Pami war das einzige schwarze Kind in unserer Klasse. Mehr als ihr Aussehen beeindruckte mich aber die Lautstärke ihrer Stimme. Pami wirkte schon damals auf mich nicht so, als würde sie eine Rolle spielen, um Unsicherheit zu verbergen. Ich fühlte mich sofort zu ihr hingezogen.
Als ich dann später an der Reihe war, bekam ich keinen Ton heraus und rührte mich auch nicht.
»Oh, du bist wohl ein bisschen schüchtern«, stellte Frau Lehrerin überflüssigerweise fest.
Ich spürte einen Stoß in meinen Rücken. Hinter mir stand ein rotblonder Junge, der zischte: »Geh doch endlich!«
Ich wusste in dem Moment schon, dass ich diesen Fatzke für immer hassen würde. Verängstigt huschte ich auf meinen Stuhl und versuchte, durch apathisches Starren auf die Tischplatte von mir abzulenken.
»Aileen«, fragte Frau Lehrerin, »möchtest du uns etwas über dich erzählen?«
Ich blieb stumm.
»Was ist denn dein Leibgericht?«
Ich stierte auf meinen Tisch und spürte, wie meine Ohren rot anliefen.
»Möchtest du deinen neuen Freunden nicht Gelegenheit geben, dich kennenzulernen?«
Doch, das wollte ich. Wie gerne wollte ich ihnen erzählen, dass ich mit meiner Oma und meiner Mutter Bea in einer großen Wohnung lebte, dass ich Waffeln liebte, lieber Hosen als Röcke trug, dass Bea es gerade wieder mal versaut hatte, wie sie es nannte, wir deswegen bei meiner Oma Susi eingezogen waren und ich das viel schöner fand, als in dem Haus von Rolf am Stadtrand zu leben. Dass ich viel lieber so rote Haare hätte wie Pippi Langstrumpf als dieses undefinierbare Gewächs auf meinem Kopf, das Susi mit dem Ausdruck Regenbogenhaarfarbe beschrieb, weil von Weißblond bis Dunkelbraun jede Farbe dabei war, wie in einem bunten Salat. Dass ich mich darauf freute, lesen zu lernen, weil ich glaubte, Susi werde es zu anstrengend, mir abends vorzulesen, und weil ich wusste, dass in der braunen Kiste oben auf dem Schlafzimmerschrank Liebesbriefe von meinem verstorbenen Vater lagen, den ich nie kennengelernt hatte.
Nun brannten Tränen in meinen Augen, denn aufgrund meiner Unfähigkeit zu sprechen, meinte ich, die einmalige Chance, Freunde zu gewinnen, zöge an mir vorbei.
»Aileen möchte jetzt nix erzählen, lassen Sie sie doch in Frieden!«, erklärte Pami plötzlich.
»Na gut, machen wir weiter!« Frau Lehrerin spurte und rief den fiesen Jungen auf – Ronny Strunke.
Der pflanzte sich neben mich und verkündete, er möge Düsenjets und Kartoffelpuffer und seinem Papa gehöre eine Baufirma. Während er redete, fixierte ich Pamis Hinterkopf, bis sie es merkte und sich lächelnd umdrehte. Meine Lippen formten ein Danke, und sie zwinkerte mir zu.
Eine Stunde später reihten wir uns in der Turnhalle vor den Eltern und dem Fotografen auf, als Pami unvermittelt meine Hand nahm.
»Möchtest du neben mir stehen?«, hatte sie gefragt.
Ich hatte mit offenem Mund genickt.
»Darf ich dich Aili nennen?«
»Bist du meine Freundin?«, hatte ich ungläubig geflüstert.
»Wenn du magst«, hatte Pami nur gesagt, gegrinst und schließlich nach vorne geblickt.
»Schau, wie du auf dem Bild strahlst, Kind!«, hatte Susi noch Jahre später jedes Mal gesagt, wenn sie das Einschulungsfoto hervorgekramt hatte. »Nie zuvor warst du so glücklich wie am Tag deiner Einschulung.«
Seit diesem Tag war Pami immer da. Wir hatten uns in der Schule irgendwann einfach nebeneinandergesetzt. Sie war in der Hofpause nicht von meiner Seite gewichen, obwohl sie auch bei den anderen Kindern beliebt war. Sie hätte so viele Optionen gehabt, aber aus mir unerfindlichen Gründen wollte sie mich als beste Freundin. Sie wohnte mit ihrer Familie ganz in unserer Nähe, wie ich bald herausfand. Ihr Vater war ein sehr großer, sanftmütiger Kerl, der selten mehr als zwei Sätze hintereinander sprach. Ihre Mutter war eine fröhliche, kurvige Frau, die backen und kochen konnte wie eine Weltmeisterin und das auch tat, um die Haushaltskasse aufzubessern. Zu ihren zwei kleinen Brüdern kam später noch eine kleine Schwester hinzu. Ständig waren Freunde oder Verwandte bei den Crusqs zu Besuch. Die Wohnung ähnelte einem Bienenstock: Das Radio dudelte unentwegt, es duftete nach Honiggebäck, und alle unterhielten sich.
Im Gegensatz dazu glich Susis Wohnung einem Meditationszimmer. Ich verstand erst viel später, dass Pami so gerne bei mir war, weil sie diese Ruhe genoss. Ich hingegen liebte das Leben in ihrem Zuhause, lernte automatisch ein bisschen Portugiesisch und erlebte eine offenkundig sehr glückliche Ehe. Meine Mutter sah, wie wohl ich mich bei Susi und in Pamis Familie fühlte. Und so kam sie auch nicht auf die Idee, mich dort herauszureißen, als sie ein Jahr nach meiner Einschulung zu einem neuen Mann namens Sigmund zog, bei dem sie fast zehn Jahre blieb.
Da ich seit meinem sechsten Lebensjahr mit meiner Oma Susi in ihrer Wohnung lebte, bekam die es später so gedeichselt, dass ich Hauptmieter wurde. Somit erbte ich die Preisbindung, während die Mieten um uns herum explodierten. Ich kümmerte mich um Susi und war bei ihr, als sie ihren letzten Atemzug tat. Da war ich 24. Und nach einer Ausbildung zur Köchin, zeitlich begrenzten Billiglohnverträgen und dem neunten Besuch auf dem Arbeitsamt hatten Pami, die Konditorin geworden war, und ich uns die Frage gestellt: »Krücken wir uns weiter für Fremde ab, oder schinden wir uns ab jetzt für uns selbst den Rücken wund?« Die Antwort hatte nahegelegen.
Die restliche Woche verlief im üblichen Chaos. Morgens kam Pami vorbei und half mir, die Waren in den Transporter zu laden. Eine fuhr aus, die andere machte die Buchhaltung und bereitete die Backstube vor. Gegen ein Uhr kam Lina aus der Schule, machte ihre Hausaufgaben und traf sich dann meistens mit ihren Spielkameraden, während Pami und ich buken, kreierten, kochten und hinterher abwuschen.
Samstagnachmittags stand stets ein Anstandsbesuch zu Kaffee und Kuchen bei Pamis Eltern an, auch diese Woche. Wir bereiteten also die Waren für die noch spärlichen Sonntagsbestellungen vor, sammelten Lina am Spielplatz ein und gingen über den Helene-Weigel-Platz zur Nummer dreizehn. Familie Crusq wohnte nun seit siebzehn Jahren in diesem riesigen Hochhaus. Die Aussicht über Berlin war ihr ganzer Stolz.
Lucrecia, Pamis Mutter, öffnete die Tür. Sie trug ihr dunkelblaues Lieblingskleid, das ihre Kurven nahezu magisch umfloss. Vier Kindern hatte sie das Leben geschenkt, und mit jedem waren ihre Hüften und ihr Busen etwas praller geworden. Ich stellte mir vor, dass sie vor der Schwangerschaft mit Pami ähnlich schlank gewesen war wie diese vor Linas Geburt. Lucrecia hatte ihr Haar zu einem dicken Zopf gebunden, der lustig hüpfte, als sie sich auf Lina stürzte. Die paar Brocken Portugiesisch, die ich seit meiner Kindheit aufgeschnappt hatte, reichten aus, um zu verstehen, was die Crusqs redeten, wenn sie stritten und nicht wollten, dass ich mitbekam, worum es ging. Und wenn Lucrecia ihr einziges Enkelkind herzte und besang, dann verstand ich das auch.
Pamis Vater Rhys kam mit einem Stapel Tassen aus der Küche, besah mit seinen gütigen Augen das Geschehen und verlangte von seiner Frau, sie solle etwas von Lina übrig lassen. Die lachte und wandte sich Pami zu, ehe sie mich um keinen Deut weniger herzlich umarmte. Manchmal nannte sie mich ihre minha filha branca, dachte aber wohl, ich verstand nicht, dass es so viel wie »meine weiße Tochter von einer anderen Mutter« bedeutete. Und ich behielt mein wohliges Herzklopfen, das ich bei diesen Worten verspürte, für mich.
Der große Kaffeetisch war gedeckt, und Pamis jüngere Brüder und ihre kleine Schwester hatten sich um ihn versammelt. Wie üblich steuerten wir Gebäck zum Kaffeetisch bei, und wie üblich wurde an ihm herumkritisiert. Heute fand Rhys die Mandelstangen zu weich, Lucrecia die Küchlein zu trocken, und es wurde darüber diskutiert, was wir hätten anders machen müssen.
Als das Gespräch zu den Erlebnissen der vergangenen Woche überging, verfiel Rhys wie immer in Schweigen. Es war keine unangenehme Stille, er erzählte einfach ungern von sich, lauschte dafür aber umso gebannter Pamis Ausführungen über den Alltag – über Kunden, Sonderwünsche, volle Straßen, Supermärkte und Angebote für Kokosmilch in Dosen. Lucrecia stand ihr mit Rat und Tat zur Seite, ihre Brüder stichelten etwas gegen ihre große, selbstständige Schwester, und ich unterhielt mich mit der kleinen Schwester über die Schule. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt geworden und fand Jungs doof.
»Halt diesen Zustand fest, solange du kannst!« Ich lachte. »Es macht alles sehr viel einfacher.«
Wie so oft durfte ich nach dem Essen nicht beim Abwasch helfen, sondern ging mit Rhys auf den Balkon, um zu rauchen. Er setzte sich mühsam auf den Plastikstuhl und streckte sein lahmes Bein aus.
Rhys war fast zwei Meter groß und arbeitete die ganze Woche auf dem Bau, dementsprechend ramponiert war sein Rücken. Seit ein paar Jahren ging er etwas krumm. Nur wenn Lucrecia traurig war, schien er seine Flügel auszubreiten, um ihr darunter Schutz zu gewähren. Vor zehn Jahren wäre er bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen. Ein Rettungssanitäter hatte ihn ins Leben zurückgeholt, ihm bei der Herzdruckmassage aber zwei Rippen gebrochen. Überdies war ein Stück Metall in seinem Bein stecken geblieben, das dann im Krankenhaus entfernt worden war. Seitdem hatte er chronische Schmerzen. Nachdem er sich wieder erholt hatte, hatte er dennoch darauf beharrt, seine Familie mit seinem Job als Bauarbeiter durchzubringen. Lucrecia arbeitete in einem Secondhandladen, als Übersetzerin und seit Rhys’ Unfall ehrenamtlich für das Deutsche Rote Kreuz. Pamis älterer Bruder war Kfz-Mechaniker, der jüngere machte eine Ausbildung zum Drogisten. Der Löwenanteil des Startguthabens für unser Unternehmen kam von den Crusqs.
Wie immer redeten Rhys und ich in den paar Minuten auf dem Balkon über unser Lieblingsthema: Pami.
»Isst sie auch gut? Ist sie glücklich?«, fragte er.
»Sie isst viel gesünder als ich, und sie ist gerade verliebt.«
»Schön, das ist gut! Kennst du den jungen Mann?«
»Ich habe ihn ein paarmal getroffen. Ich glaube, er ist sehr nett.«
»Pamela mit einem Netten?«
Ich lachte und zog an meiner Zigarette, bevor ich erwiderte: »Wär doch mal was!«
»Verdient er sein eigenes Geld?«
»Wenig, aber ja. Er ist etwas jünger als wir.«
»Wie lange geht das schon?«
»Seit einem Monat, und sie telefonieren fast jeden Tag. Scheint was Ernstes zu werden. Aber Pami hält sich wie immer alles offen.«
»Mag Lina ihn denn?«
»Sie hat ihn erst einmal getroffen. Sie ist aber ganz angetan von ihm, glaube ich.«
»Wer ist Linas Vater?«, fragte Rhys unvermittelt.
»Das darf ich dir immer noch nicht sagen, Rhys«, antwortete ich.
Nicht einmal die kleine Lina kannte den Namen ihres Vaters.
Am Abend hatte Pami mal wieder ein Date. Seit Lina auf der Welt war, hatte Pami die eine oder andere kürzere Beziehung und einige Affären gehabt. Derzeit war sie aber Single und konzentrierte sich wie ich ganz auf unser Unternehmen. Doch ab und an gönnte sie sich etwas Spaß, wie sie es nannte.
Gegen achtzehn Uhr gingen Pami, Lina und ich in meine Wohnung. Mutter und Tochter übten noch ein paar Verteidigungsgriffe auf dem Boden des Lagerraums, der früher das Wohnzimmer gewesen war, während ich Linas Bett vorbereitete. Denn wenn ihre Mutter unterwegs war, übernachtete sie stets bei mir.
Mein Zimmer war das einzige, das noch als Wohnraum verwendet wurde. Ich besaß ein französisches Bett, einen Kleiderschrank und ein Sofa – mehr brauchte ich an Möbeln nicht. Neben meinem Schlafzimmer befand sich das Büro, in dem wir auch das Verpackungsmaterial und die Schachteln für die Lieferungen aufbewahrten. Es war dort meist ziemlich unordentlich. Doch wie sagte Einstein? Wenn ein aufgeräumter Schreibtisch für einen aufgeräumten Verstand spricht, wofür spricht dann ein leerer Schreibtisch?
Dunkles, pflegeleichtes Linoleum lag in der ganzen Wohnung aus, außer in meinem Zimmer – dort hatte ich mir einen flauschigen Teppich gegönnt. Da wir jeden Tag buken, roch die Wohnung immer nach Keksen und kühlte auch im Winter nicht schnell aus.
Ich zog für Lina einen frischen Bezug auf das Kissen und suchte eine leichte Decke heraus. Mutter und Tochter hatten ihre Kabbeleien beendet, drückten sich fest zum Abschied und wünschten sich eine gute Nacht.
»Worauf hast du Lust?«, fragte ich die Kleine, als es um eine Abendbeschäftigung ging.
»DVD und P-Popcorn!«
Ich schmierte auch noch ein paar Schnitten, verzierte sie mit Gurken und Möhrchen und kochte eine große Kanne Früchtetee. Wir nahmen alles mit zu dem kleinen Sofa in meinem Schlafzimmer, ich legte ihren Lieblingsfilm Merida in den Laptop, und dann lümmelten wir fröhlich vor uns hin. Lina verschlang mehr von den belegten Broten als ich. Sie hatte die Verzierung mit »Du k-kannst es ni-nich’ lassen, was?« kommentiert. Zuerst dachte ich, sie mochte sie nicht, doch an Appetit mangelte es dem Kind nicht. Schon bei den Crusqs hatte sie ordentlich reingehauen, nun labte sie sich am Popcorn und den Häppchen.
Als der Film zu Ende war, bekam ich eine Standortmitteilung von Pami, was zugleich eine Bestätigung war, dass alles gut verlief. Der Typ hatte sie ins Hotel Kastanienhof in Prenzlauer Berg eingeladen. Sofort schrillten meine Alarmglocken. Warum ging er mit ihr nicht zu sich? Hatte er etwas zu verbergen, eine feste Freundin und fünf uneheliche Kinder, die zu Hause auf ihn warteten, zum Beispiel? Ich zwang mich zur Ruhe. Gewiss wohnte er in einer WG und wollte Pami und sich die nötige Privatsphäre gönnen. Ach ja, es musste schön sein, so begehrt zu werden!
Lina kam im Schlafanzug und mit geputzten Zähnen aus dem Bad und fragte schüchtern: »Du, A-Aili, d-darf ich n-n-n-nicht lieber b-bei dir schlafen?«
»Wenn du möchtest. Aber ich dachte, du kommst jetzt in das Alter, wo das uncool wird«, antwortete ich mit einem Lächeln.
»Ich s-s-sag d-dir, w-wenn es u-uncool wird!«, erwiderte Lina trotz des Stotterns gekonnt schnippisch und nahm sich ihr Bettzeug von der Lehne des Sofas, um es neben meines zu legen. Dann kletterte sie hinterher.
»Ich muss noch mal ins Büro, ich komme später kuscheln!«, sagte ich und hob den Laptop hoch.
»W-Warte! B-bleibst du ein bisschen u-und erzählst mir ’n-ne G-Gutenachtgeschichte?«
Oh, dachte ich, es wird wohl wirklich noch dauern, bis meine Gesellschaft uncool wird. Ich setzte den Laptop wieder ab, löschte das Licht, schlüpfte zu Lina ins Bett und strich ihr über die Stirn. Aus dem Büro schien die Schreibtischlampe schwach bis zu uns, ansonsten lag der Raum im Düstern. Lina legte ihren Kopf auf meine Brust und ich den Arm um ihren zierlichen Körper. Wie zerbrechlich sie mir in dem Moment vorkam! Ganz anders, als wenn ich sie dabei beobachtete, wie sie den Sprungkick übte oder ohne Probleme die große Kletterspinne am Bürgerpark Marzahn erklomm.
Wir schwiegen eine Weile, ehe ich sie leise in die Dunkelheit hinein fragte: »Welche Geschichte denn?«
»Die von dem Narzissten und der Prinzessin.«
Ich glaube, ihr selbst war nicht aufgefallen, dass sie nicht gestottert hatte. Ich schluckte unmerklich, das Kind sollte meine Beklemmung nicht mitbekommen.
»Es gab einmal eine tapfere Prinzessin. Sie war klug, witzig und treu, und alle hatten sie lieb. Doch das benachbarte Königreich war voller Dummköpfe, die immer blöde Fragen stellten, ohne die Antworten abzuwarten. Der Prinz dieses Landes war ebenso ein Dummkopf, geblendet durch jahrelange Reden, die seinen Hass auf das schürten, was er nicht kannte. Doch die beiden Königreiche hatten eines gemeinsam: Für ein paar Wochen im Jahr schickten sie ihre Kinder nicht in die Schule, sondern zu einer Arbeit in einem fernen Land, auf dass sie den Ernst des Lebens kennenlernten. Auch die Prinzessin und der Prinz waren davor nicht gefeit, und sie freuten sich schon darauf. Bald erfuhren sie jedoch, dass sie beide zur selben Arbeitsstätte geschickt wurden. Ihre dortige Betreuerin gab nichts auf die Eitelkeiten des Prinzen und die Befindlichkeiten der Prinzessin, sie zwang die beiden sich zu vertragen.« Ich lehnte mich vorsichtig, mit Linas Kopf auf meinem Dekolleté, in Richtung Nachtschrank, wo meine Tasse stand, nahm sie und trank einen Schluck Tee. Das Kind war völlig still und lauschte, wie die Flüssigkeit durch meine Kehle rann. »So arbeiteten sie denn stumm nebeneinanderher. Doch dabei ging so viel schief, dass sie notgedrungen miteinander reden und zusammenarbeiten mussten«, fuhr ich dann fort.
»H-Haben sie sich d-da scho-schon verliebt?«, unterbrach Lina mich.
»Vielleicht der Prinz, die Prinzessin war noch zu zornig.«
»W-Warum w-war sie zornig?«, fragte Lina und hielt den Atem an.
Ich wusste genau, dass sie viel mehr verstand, als sie vorgab. »Weil er ihr früher oft wehgetan hatte. Sie hatten immer viel Streit.«
»Aber s-s-sie h-hat es sich n-n-nich’ gefallen lassen!«
»Nein, das hat sie nicht. Sie hatte nie Bange, ihm die Nase zu brechen. Dreimal oder so. Seine Nase war schrecklich schief.«
»War er tr-trotzdem h-hübsch?«
»Leider ja, er war ein wahrer Schönling. Und bald lernte ihn die Prinzessin auch von einer anderen Seite kennen. Als er sie das erste Mal anlächelte, spürte sie, dass er sie ganz tief im Herzen eigentlich mochte.«
»Und dann?«, fragte Lina gespannt, obwohl sie die Geschichte schon so oft gehört hatte.
»Als beide wieder in die Schule gingen und in ihre eigenen Königreiche zurückgekehrt waren, verschwand das Lächeln des Prinzen. Er schien alles vergessen zu haben. Und doch merkte die Prinzessin, wie oft sie an ihn dachte. Sie litt ganz furchtbar und vertraute sich ihrer Freundin an, die aber reagierte böse. Sie hatte kein Verständnis für den Kummer der Prinzessin, denn sie war noch nie verliebt gewesen. Der Gedanke, dass ihre Prinzessin diesen dummen, bösen Prinzen liebte, schürte ihre Wut und bereitete ihr Angst. Sie sah sich umso mehr bemüßigt, die Prinzessin von ihm fernzuhalten und ihn zu beobachten. Doch dann bemerkte sie, dass er der Prinzessin ebenso verstohlene Blicke schenkte, dass sich etwas an ihm verändert hatte. Aber er verließ sein Königreich niemals.«
Lina atmete aufgeregt.
»Die Prinzessin hütete ihre Liebe wie ein Geheimnis, liebte und hasste den Prinzen gleichzeitig – und sich selbst auch, weil sie immerzu an ihn denken musste. Nie mehr vertraute sie sich ihrer Freundin oder irgendjemand anderem an, weil sie wusste, dass sie nur harte Worte ernten würde. Die Jahre vergingen, und als die Kinder die Schule verließen, hoffte die Prinzessin, endlich von dem Prinzen loszukommen, weil sie ihn von nun an nie wiedersehen würde. Beide würden in ihren Königreichen bleiben, und sie würde in einem anderen Land einen Prinzen finden, der sie verdiente, dachte sie sich. Doch eines Tages stand der Naziprinz plötzlich vor ihr.«
Das Wort Nazi war mir rausgerutscht. Ich hoffte, Lina würde denken, dass ich es nur mit dem Wort Narzisst verwechselt hätte. Aber natürlich war mir klar, dass sie keinesfalls so blöd sein konnte. Ich tat, als wäre nichts geschehen, und fuhr, ohne zu unterbrechen, fort.
»Sie hatte Todesangst, aber dann sah sie, dass er allein gekommen war. Er trug auch keine Rüstung. Er sagte ihr, wie sehr er sie liebe, wie schön er sie schon immer gefunden habe und wie leid ihm alles täte. Sie machte den Fehler, ihm auch zu gestehen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Dabei hätte sie wissen müssen, dass er nicht bereit war, sein Königreich zu verlassen. Doch sie war geblendet von ihrer Liebe und traf sich von da an heimlich mit ihm. Waren sie allein, so war alles anders. Er machte ihr Versprechungen, flüsterte ihr liebe Worte zu, und sie begehrte ihn, obwohl sie wusste, dass er nach ihrem Treffen wieder seine Rüstung anlegen würde, um ihresgleichen zu bekämpfen. Die Prinzessin war so verliebt – und so allein mit diesem Geheimnis. Irgendwann spürte sie, dass sie ein Kind des Prinzen unter ihrem Herzen trug. Nun konnte sie nicht anders, als panisch ihre Freundin anzurufen, die von allem zwar nichts wusste, aber dennoch ahnte, dass sich die Prinzessin verändert hatte. Sie ging zu der Prinzessin, und trotz ihrer Angst nahm sie sie in die Arme und tröstete sie. Nie wieder sagte sie ein böses Wort über die Liebe der Prinzessin für den dummen Prinzen. Immer wollte sie bei ihr sein und alles tun, damit ihr Herz genese. Die Prinzessin entschied, das Kind zu bekommen, und in dem Moment, als ihre Freundin ihr versprach, immer an ihrer Seite zu bleiben, verflog all ihre Angst. Sie entschied auch, dass sie den Prinzen nicht wiedersehen wollte. Er war so dumm. Er hatte weder sie noch das Kind verdient.«
»Aber es ist doch a-auch s-sein Kind«, sagte Lina.
»Es ist auch sein Kind, das stimmt.«
»Es ist u-ungerecht.«
»Das mag sein.«
»W-Weiß der Prinz v-von dem Kind?« Ich hörte Linas Herz schlagen.
»Nein«, antwortete ich, »aber die Prinzessin kam mit der Hilfe ihrer eigenen Untertanen, ihrer Mutter