Vegetarier essen meinem Essen das Essen weg - Dominic Boeer - E-Book

Vegetarier essen meinem Essen das Essen weg E-Book

Dominic Boeer

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Beschreibung

Fast-Food essen, Faulenzen, Trash-Fernsehen gucken – alle tun es, aber keiner gibt es gerne zu. Denn irgendwo steht immer ein Empörungsbeauftragter, der uns ein schlechtes Gewissen macht, weil wir am Wochenende schon wieder kein Tierheim gerettet, nebenbei einen Dreitausender bestiegen und eine Vernissage mit Benefizaktion besucht haben. Auch der gekaufte Geburtstagskuchen wird von ihnen missbilligend betrachtet und die Urlaubspläne sowieso. Aber keine Panik! Statt auf die schlechtgelaunten Tugendwächter zu hören, sollte man lieber unkorrekt das Leben genießen! Von Altglasrecycling bis Zumba tanzen verraten die Autoren in 55 unkorrekten Geschichten, wie man anständig unanständig ist.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deVollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014ISBN 978-3-492-96678-8© Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: Leremy / shutterstockDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

FÜR IMMER DANEBEN!

Es ist längst nicht mehr zu übersehen: Die Welt wird immer besser. Eine Frau ist Kanzlerin, jeder reduziert seinen ökologischen Fußabdruck, und Nervensägen heißen neuerdings »Wutbürger«. Ist die Welt vielleicht inzwischen so gut geworden, dass man sich noch so sehr anstrengen kann und trotzdem alles falsch macht? Egal, wie liebevoll man sich um seinen Hund kümmert – erzählt der Nachbar erst von seiner Initiative für verwahrloste spanische Streuner, fühlt man sich in etwa so, als konkurriere man mit einem verstaubten Dia-Vortrag gegen eine Stunt-Show mit Pyrotechnik. Es ist derselbe Nachbar, der missbilligend den Kopf schüttelt, als ich einen Kasten Bier in die Wohnung trage.

»Wissen Sie, wie schädlich Alkohol ist?«, fragt er, während er sein farbig sortiertes Altpapier fester an sich drückt.

Ganze 27 Minuten ertrage ich mit interessiertem Gesichtsausdruck seinen Vortrag und bin mir am Ende nicht sicher: Sollte ich vor lauter Schuldgefühlen am besten sofort mit der Schrotflinte im Schuppen verschwinden – oder geht mir der Tugendwächter einfach nur so auf die Nerven, dass ich froh sein kann, ihn bisher noch nie in meine Wohnung gelassen zu haben? Wieso auch? Ich habe nicht einmal biologisch-dynamisches Gebäck anzubieten!

»So«, sage ich, »muss um neun bei der Arbeit sein!«

Er habe es auch eilig, schließlich habe die Tochter von Yussuf geheiratet, so heiße sein Gemüsetürke, und er habe versprochen, auf ein Stück Baklava vorbeizukommen. Damit springt er in sein Hybridauto und ist weg.

Endlich am Arbeitsplatz angekommen, wird das Butterbrot aus der Folie gewickelt. Der »Lieblingskollege« meldet sich: »Oh, das ist ja wohl das Grausamste, was du der Umwelt antun kannst!« Dann grummelt er noch etwas wie »Wegwerfgesellschaft« und greift zu seiner Butterbrotdose, die so riecht, als hätte sie schon sein Großvater benutzt. Was für eine Ökobilanz! Das mögen gut 10000 Butterbrote gewesen sein, die in dieser Dose ihren sicheren, CO2-freien Weg zum Arbeitsplatz gefunden haben.

»Ist das Brot etwa mit Gluten?«, möchte er noch wissen.

»Nee, mit Pute, Käse und ’nem Tröpfchen Remoulade …«

Endlich Feierabend. Eigentlich möchte ich es mir nach einem langen Tag gemütlich machen und mich für den Rest des Abends tot stellen. Doch keine Chance. Der Superpapi aus der zweiten Etage steht im Hauseingang und berichtet ungefragt, dass er seine Kinder erst von der bilingualen Kita abgeholt und dann zum japanischen Ausdruckstanz gebracht habe.

Seine Kinder heißen so ähnlich wie Messerset und Balalaika. Mit dem Jungen spricht er nur spanisch; er selber kommt aus Bottrop, redet aber nicht gern darüber.

Noch bevor sich die rettende Fahrstuhltür schließen kann, erinnert er mich daran, dass das Künstler-Ehepaar von oben zum Barbecue, was früher noch Grillen hieß, auf die Dachterrasse geladen habe.

Wenn die Kinder im Bett seien, also gegen halb elf.

Da muss ich wohl hin, denn es wird gar nicht gern gesehen, wenn man sich grundlos von der Gruppe absondert.

Zu meiner Überraschung gibt es neben einer Unmenge an Couscous und Bio-Hirsebällchen sogar Essbares, also Fleisch, auf dieser Terrassenparty.

Unter eifrigem Nicken in die Runde betont der Gastgeber, dass er aus moralischen Gründen eigentlich komplett auf Fleisch verzichte. Aber in diesem speziellen Fall kenne er den Bauern und könne uns versichern, dass dieses Rind ein absolut erfülltes Leben gehabt habe.

Da er aber auch ein Fan von »bewusstem« Essen ist, war für jeden nur ein Würstchen da.

Also haue ich mir das Würstchen »bewusst« hinter die Kiemen und stelle schon nach fünf Minuten fest, dass ich doch lieber »viel« als »bewusst« gegessen hätte.

Ich lerne einiges an einem solchen Abend:

Dass französische Filme besser sind.

Dass es DEN Islam nicht gibt, aber DEN Banker und DEN Manager hingegen schon.

Dass Schulnoten für Kinder komplett sinnlos sind.

Dass man eigentlich nur ARTE, niemals aber RTL schauen darf.

Dass diese simplen Amerikaner keine Kultur besitzen.

Die Stimmung droht zu kippen, als ich frage, ob denn Plastikspielzeug wirklich so schlecht sei für Kinder.

Noch bevor Superpapi zu einer ausführlichen Antwort ausholen kann, melden sich glücklicherweise Messerset und Balalaika via Babyfon.

Mit den Worten »Ich mache mir ein bisschen Sorgen, die beiden hatten heute Morgen sehr harten Stuhl« verlässt er tief beunruhigt die Runde.

Gegen Mitternacht gibt einem die heimische Couch-Fernseher-Kombination endlich das ersehnte, wohlig warme Gefühl, nichts mehr falsch machen zu können. Er könnte nun eigentlich vorbei sein, der alltägliche Kampf um die moralische Deutungshoheit. Wären da nicht die Talkshows.

Mit wöchentlich rund 120 Talk-Formaten, also ungefähr 7200 Minuten Sendezeit, geht die politisch korrekte Terrassenparty auf dem Bildschirm weiter. Stellen wir uns mal vor, was man an einem beliebigen Fernsehabend so zu sehen bekommt:

Peter Scholl-Latour erklärt, worüber er gerne mit sich selbst in der Sendung reden würde, er ruft irgendwas mit »USA«, »Israel«, »Säbelrasseln«.

Das Publikum tobt.

Weitergezappt.

Veronica Ferres berichtet von ihrer harten Kindheit »zwischen Kartoffel- und Kohlendreck« und darüber, wie oft sie als junge Frau wegen ihrer Körpergröße von 1,78 gehänselt wurde.

Dann sagt sie Sätze wie »Wir müssen mit der Förderung unserer Kinder viel früher anfangen!«.

Das Publikum tobt.

Weitergezappt.

Norbert Blüm ist bis auf die Kante seines Stuhles vorgerückt, schaut andächtig auf seine ausgebreiteten Arme und skandiert: »Einmal Opelaner, immer Opelaner!«

Das Publikum tobt.

Weitergezappt.

Richard David Precht erklärt uns, warum wir keine Egoisten sein sollten.

Das Publikum tobt.

Weitergezappt.

Sahra Wagenknecht schreit: »Gerechtigkeit!«.

Das Publikum tobt.

Weitergezappt.

Eine blonde Frau im grünen Jackett fordert »ein Ende dieses verdammten Krieges« – und noch bevor das Publikum toben kann, wird der Fernseher ausgemacht.

Nach der bewussten Wurst habe ich immer noch Hunger, also ab ins Auto und zum nächsten McDonald’s.

Im grellen Neonlicht, das einem stets den typischen McDonald’s-Wasserleichen-Look verpasst, passiert dann das Schlimmste, was einem nur zustoßen kann, wenn man den Burger bereits aus dem dünnen Papier geschält hat und in beiden Händen hält, um herzhaft reinzubeißen. Ich frage mich: Ist das Brötchen etwa mit Gluten?

Wie vom Blitz getroffen, lasse ich meinen Burger zurück ins dünne Papier fallen.

Ich atme schneller, fühle mich krank, infiziert.

Woher kommt es nur, dieses grausame Gefühl, nicht zu genügen, mit allem, was Spaß macht, gegen irgendein ungeschriebenes Sittenwächtergesetz zu verstoßen?

Nach Mitternacht gibt es nur eine Person, die mir jetzt noch helfen könnte. Ich greife, immer noch laut atmend, zu meinem Telefon.

»Hey Dominic! Immer noch wach?«

»Samira, du musst mir helfen …«

»Erzähl, was ist passiert?«

»Ich sitze gerade bei McDonald’s, habe einen Big Mac in der Hand und kann plötzlich nicht mehr reinbeißen. Der ganze Müll, der Treibhauseffekt, die toten Tiere, die Arbeitsbedingungen … es geht einfach nicht mehr.«

»Ich weiß.«

»Und als ich eben bei meinen Nachbarn einen Witz über den Dalai Lama machen wollte, da haben mich alle so böse angesehen …«

»Ich weiß.«

»Und im Fernsehen hat der Hannes Jaenicke eben erzählt …«

»Ich weiß.«

»Und wenn mein Nachbar erfährt, dass ich mein Buntglas manchmal ins Weißglas werfe …«

»Ich weiß.«

»Ist es wirklich schon so schlimm?«

»Schlimmer!«

Es ist längst nicht mehr zu übersehen: Die Konsens-Lawine hat uns still und heimlich überrollt und nahezu jeden Winkel unseres Lebens besetzt. Wir haben den Mut, anzuecken, in die Vitrine gestellt und tragen unsere Übermoral wie eine zweite Haut. Es gibt eben kaum einen einfacheren Weg, Bewunderung, Schulterklopfen und Applaus zu ernten, als mit nachgeplapperten Wohlfühlthesen.

Wenn wir unsere Lust am Diskurs und unseren Mut zur Konfrontation komplett aufgeben, werden wir zu Menschen, die alles richtig machen, immer recht haben – und vor lauter Gutmenschentum absolut spaßfrei sind.

Mit diesem Buch wollen wir deshalb Mut zum Fehltritt machen und von den schönsten Fettnäpfchen und Moralverfehlungen erzählen, mit denen man sich das Leben schöner machen kann. Und wir wollen verraten, warum wir unseren Mitmenschen einen großen Gefallen tun, wenn wir endlich damit aufhören, so gut sein zu wollen. Denn es ist eine Kunst, anständig unanständig zu sein!

»ALSO, WIR BACKEN JA IMMER SELBST!«

Glücklicherweise ist man doch nicht der einzige Vater, der seinen Dreijährigen auf die Kita-Weihnachtsfeier begleitet. Der Papa von Robin-Malou, Geschlecht unbekannt, ist schon da und stellt sein Fahrrad mit angebauter Frontkabine direkt vor dem Kindergarten ab. Während Vater und Kind im Fahrradhelm-Partnerlook auf uns zu stapfen, bin ich erleichtert, den Jeep um die Ecke geparkt zu haben. Die Fahrradhelme euphorisch an seinen Multifunktions-Gürtel schnallend, sagt er: »Mensch, was haben wir uns auf diese Feier gefreut!«

»Ja, wir auch!«, lüge ich für meinen Sohn gleich mit.

Aufgeregte Mütter stürzen mit ihren Sprösslingen an uns vorbei durch den Eingang und schnaufen panisch Sätze wie: »Wieso machen denn die Zebras den Stuhlkreis heute bei den Pinguinen?«

Dann mal auf in den Kampf, denke ich und hole meinen Beitrag fürs Buffet aus der Tasche, als Vater will man ja schließlich auch Vorbild sein.

»Was haben Sie denn da?« Der Mann mit den Fahrradhelmen zieht mich am Ärmel und hält mich vehement davon ab, meine Kekspackung auf den Tisch zu legen.

Für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich statt der Kekse versehentlich eine 25mm-Tokarev in die Hand genommen habe. Doch sein starrer Blick und der schnelle Atem verraten mir: Robin-Malous Vater meint es ernst.

»Pack sofort das Ding weg!«

»Das hier?« Mein Blick fällt auf die traurige Packung Kekse mit dem roten Preisschild.

»Ja, Mann! Sind Sie denn komplett übergeschnappt? Wenn Sie unbedingt wollen, dass Ihr Sohn«, er zeigt auf mein bislang völlig unbescholtenes Kind, »bis zu seinem sechsten Lebensjahr keine Freunde mehr haben wird, dann gehen Sie jetzt mit diesem Zeug auf der Stelle nach Hause!«

»Aber es hieß, man solle was mitbringen …«

»Aber doch keine un-selbstgebackenen, gekauften, in Plastik verpackten Kekse! Sie haben gar nichts begriffen, oder?«

Immer wieder klacken die Fahrradhelme an seinem Gürtel aneinander, als er sich umdreht und kopfschüttelnd mit dem oder der kleinen Robin-Malou zur Garderobe stapft.

Keine Sekunde später wird mir klar: Der Mann hat recht! Unter seinem Fahrradhelm steckt ein Kopf, der verstanden hat, welche Gefahr von den un-selbstgebackenen, gekauften, in Plastik verpackten Angebots-Keksen ausgeht: »Seht her! Das ist doch der Kleine, bei dem die Eltern nicht mal selbst backen«, wird man sagen. Schnell heißt es dann: »Bei denen zu Hause wird, wenn überhaupt, mal ’ne Dose aufgemacht. Gekocht wird da nicht!« Und schwuppdiwupp steht das Jugendamt vor der Tür, und man wird sich öffentlich fragen, wieso »diese Rabeneltern« noch nicht gerichtlich verurteilt wurden. Wer wird den Sohnemann dann noch zu seinem Kindergeburtstag einladen?

Ich vergrabe die un-selbstgebackenen Beweisstücke unseres sozialen Abstiegs tief in meiner Manteltasche und stehe kurz darauf inmitten des biologisch korrekten Kinderparadieses – dort, wo grundlos geschrien und wahllos gegen Knie getreten wird. Willkommen in der Pinguin-Gruppe.

Hallo, Rania und Mama!

Hallo, Londrio und Mama!

Hallo, Shyla-Moon und Mama!

Hallo, Kim-Juna und Mama!

Nach einer kurzen Aufwärmphase fängt dann auch mein eigener Sohn endlich an zu singen: »Bauarbeiter«, singt er. Dann noch lauter: »Bob, der Meister!«

Irritiert schwingen aufwendig frisierte Köpfe synchron zu uns herum.

»Ach«, winke ich schmunzelnd ab, »das hat er sicher aus dem Fernsehen.«

Sofort wird es so still, dass das letzte Wort nachzuhallen scheint: »Fernsehen, Fernsehen, ernsehen, sehn, ehn …« Nach gefühlten zehn Minuten allgemeiner Schockstarre kommt sie endlich, die Frage, knallhart, direkt an mich, von vier Seiten: »Sie lassen Ihr Kind doch wohl nicht fernsehen!?«

Das ist Rekord. Obwohl zu Hause das hoch gesteckte Ziel »Nur nicht blamieren« ausgerufen wurde, bin ich bereits nach handgestoppten vier Minuten mit Karacho auf die mit Abstand größte Tretmine gesprungen.

»Ich frage noch einmal«, insistiert Basha-Malias Mama, »sieht Ihr Kind fern?«

Wer hätte gedacht, dass gerade die Frau, die einem vor zwei Tagen noch erzählt hat, der Name ihres Sohnes bedeute in mehreren Sprachen so viel wie »Harmonie« und »Frieden«, das Tribunal anführen würde?

Alles hängt jetzt davon ab, wie ich das Verhör überstehe und welche Antwort ich gebe. Die gesellschaftliche Stellung meines Sohnes muss gerettet werden!

»Vielleicht wollt ihr mir kurz zuhören und euch in den Stuhlkreis setzen«, versuche ich daher die Situation zu entschärfen, bevor die aufgekratzte Meute noch anfängt, mich mit Zimtsternen zu bewerfen. Es ist Zeit für ein Plädoyer, in dem ich mich als verantwortungsbewussten Vater darstelle! Auch wenn ich meinen Sohn vielleicht manchmal mit Industriekeksen vor den Fernseher setze, heißt das noch lange nicht, dass er gleich zum Methadonprogramm angemeldet werden muss.

Mutig erhebe ich mich von dem giftgrünen Kinderstuhl und trete erhabenen Schrittes in den hell erleuchteten Mittelpunkt des Stuhlkreises.

Noch bevor ich zum ersten Wort meiner Verteidigungsrede ansetzen kann, fällt mir mit viel Getöse eine funkelnde Plastikpackung mit un-selbstgebackenen Angebotskeksen aus der Manteltasche, direkt vor Shyla-Moons Mutter.

Einen Tag später sage ich die McDonald’s-Geburtstagsparty ab und schaue mich nach Wohnungen außerhalb Berlins um.

»IN MATHE WAR ICH IMMER SCHLECHT«

»Morgen könnte es laut werden«, sagt er fröhlich, während wir nebeneinander im Hausflur unsere Briefkästen leeren.

»Aha.«

Balalaika habe Geburtstag.

»Ah.«

Zur Geburtstagsfeier würden sieben Kinder kommen. Oder, halt – Pause –, vielleicht neun.

Nein – Pause –, vielleicht noch zwei aus Messersets Gruppe und drei vom Portugiesischkurs.

Seine Augen sind zusammengekniffen, seine Finger zählen mühsam: »Das wären dann insgesamt …«

Wieder macht er eine Pause. In der Stille fällt mir ein Prospekt zu Boden.

Ich hebe ihn auf, komme wieder hoch, wir schauen uns an, und er sagt laut und deutlich den Satz, auf den ich schon gewartet habe.

»Ach, in Mathe war ich immer schlecht!«

Dabei hat er so viel Stolz in der Stimme, wie jemand, der im alten Rom den Einzug der Gladiatoren ankündigt.

Sein strahlendes Gesicht beweist, dass er genau weiß, wie viel Renommee ihm dieses »Outing« einbringt.

In Mathe schlecht gewesen zu sein ist ein scheinbarer Makel, der sich, noch während er geäußert wird, in eine der gängigsten Formen der modernen Selbstbeweihräucherung verwandelt.

Die Botschaft ist schließlich eindeutig: Er war als Fünftklässler schon die coolste Sau unter der Sonne.

Das stupide Aneinanderreihen von kalten Zahlen war seine Sache nicht. Vielmehr war er damals schon ein Anpacker, ein Macher.

Während sich andere auf dem Pausenhof regelmäßig an ihrer Vanillemilch verschluckten, hat er sich lässig eine Selbstgedrehte angesteckt.

Wer eine Eins in Mathe hatte, wurde bekanntermaßen bis zum Abitur von Mutti eingekleidet, Typen wie er hingegen waren bekannt für ihre rebellischen Frisurenwechsel und hatten bereits mit zwölf zuverlässigen Bartwuchs.

Er kam nicht zu spät zum Unterricht, weil er noch einen Termin beim Kieferorthopäden hatte, sondern weil er der Einzige war, der den Jetta seines Kumpels ordentlich einparken konnte.

Er war nicht nur Torschützenkönig, sondern konnte auch noch tanzen wie Magic Mike, singen wie Elvis Presley und war mit seinen Witzen der Star jeder Party.

Er bekam natürlich auch immer die heißesten Frauen ab.

Denn jeder weiß, dass Jungen, die in Mathe gut waren, zwangsläufig auch bei den Mädchen landeten, die in Mathe gut waren.

Und vor mir steht jemand, dessen »Ich war in Mathe immer schlecht« mit so viel Kraft vorgetragen wurde, dass jedem in diesem Berliner Treppenhaus sofort klar sein musste, dass dieser Mann bereits mit dreizehn seinen ersten grandiosen Sex hatte. Höchstwahrscheinlich mit der Mathelehrerin.

Das Gefühl, im Sportunterricht als Letzter in die Mannschaft gewählt zu werden, ist ihm vollkommen fremd. Schließlich war er der Spielführer, ein echter Leader, der Typen wie mich noch nach der dramatisch übergewichtigen Nicki als Letzten in die Mannschaft wählte.

Oft folgt auf die Mathe-Loser-Prahlerei der Zusatz: »Sprachen waren eher mein Ding.«

Aber ein Blick auf die Post in seinen Händen verrät mir, dass Party-Papa von oben das längst nicht mehr nötig hat: haufenweise exotische Postkarten von Freunden in aller Welt.

Menschen, die gut in Mathe waren, bekommen Rechnungen, Ikea-Kataloge, Sparpläne und Briefe, auf denen in Leuchtschrift steht: Sie sind ein Gewinner!

Verständlicherweise ist es meinem Gegenüber besonders wichtig zu betonen, dass er in Mathe nicht »meistens« oder »hin und wieder«, sondern »immer« schlecht war.

»Immer«, um nun wirklich gar keinen Zweifel daran zuzulassen, dass es keinen Tag gegeben hat, an dem er versehentlich uncool genug war, um in Mathe gut sein zu können.

Die Welt braucht eben keine ewig ihre Brille putzenden Textaufgaben-Fetischisten, sondern Kerle wie ihn.

Oder wünscht man sich einen Mathe-Einser, wenn man nach einem Unfall hilflos im brennenden Auto festklemmt?

Oder gibt es auf dieser Welt auch nur ein einziges Kind, das jemals auf die Idee käme, damit anzugeben, dass sein Vater früher in Mathe eine Eins hatte?

Oder ist in der U-Bahn jemals ein Held mutig mit den Worten »Lass die Frau los, ich hatte eine Eins in Mathe« eingeschritten?

Um es auf den Punkt zu bringen: Die einen werden von allen bewundert und respektiert, außer von ihrem Mathelehrer.

Die anderen werden von niemandem respektiert, außer von ihrem Mathelehrer, der im Übrigen selbiges Schicksal teilt.

Ich bekomme von ihm einen schwungvollen Klaps auf den Oberarm, wie er wirklich nur von einem kommen konnte, der in Mathe immer schlecht war.

Rasant dreht er sich um und hechtet fröhlich pfeifend, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch.

Logisch. Nur Mathe-Einser nehmen den Fahrstuhl.

»TIERE SIND DIE BESSEREN MENSCHEN«

Das Schicksal hat meiner Freundin Heike übel mitgespielt. Sie bekam zwei Kinder, blonde Zwillings-Mädchen, die obendrein die Frechheit besaßen, zuckersüß zu sein. Als wäre das nicht schlimm genug, bürdete ihr der Herrgott auch noch eine vergleichsweise schmerzfreie und komplikationslose Geburt auf.

»Weißt du, Samira, ich fühle seit der Geburt eine solche innere Leere!«, beklagte sie sich stets bei mir. Es bestand akuter Handlungsbedarf, die Leere ließ sich durch kein Kinderlachen und keine beruflichen Ziele füllen. Der einzige Ausweg: Sie musste sofort jemand Bedürftigen finden, dem sie helfen konnte, sonst würde sie bald selbst Hilfe brauchen.

Ihr war bewusst, dass die eigenen Kinder als Charity-Projekt ungeeignet waren. Dafür waren sie zu glücklich und fidel.

Heikes ganze Phantasie war gefordert, um eine Lösung zu finden, wie sie ihre leerlaufende Hilfsbereitschaft angemessen kanalisieren und vor allem präsentieren könnte. Die Lösung war bald gefunden: Tiere.

»Denn Tiere brauchen immer Hilfe und können uns so viel zurückgeben.« Heikes Lieblingsspruch, den sie meist geschickt am Ende einer Tischdiskussion platziert. Somit gehört ihr der Schlussapplaus.

»Tiere sind die besseren Menschen, weil Menschen nicht Menschen, sondern Monster sind.« Ein weiteres Zitat von ihr.

Behandle doch der Mensch die Tiere grundsätzlich schlecht, meint Heike und schämt sich regelmäßig für ihre eigene verkommene Art. Er verkennt ihr kognitives wie spirituelles Potenzial und will ihnen im Endeffekt sowieso nur an den Kragen gehen. Beziehungsweise an den Verdauungstrakt. Führt er doch nichts anderes im Schilde, als jene empfindsamen Lebewesen durch den Fleischwolf zu drehen und, getrieben durch barbarische Lust am Leid, den blutigen Brei ihrer geschundenen Leiber zurück in einen Wurstdarm zu pressen. »Das Ganze nennt sich dann Bratwurst. Und wir nennen es Esskultur«, pflegt Heike nach jeder ihrer sehr plastischen Schilderungen dieses Vorgangs provokant in den Raum zu stellen, dessen gewahr, von Seiten ihrer Zuhörer überbrandende Anerkennung zu ernten.

Tiere eignen sich als prestigeträchtiges Aufgabenfeld für Menschen in der Öffentlichkeit geradezu hervorragend, um im rechten Licht wahrgenommen zu werden. Außerdem können Tiere nicht fliehen, wenn man ihnen mit Nachdruck zu Hilfe kommt. Ein großer Vorteil gegenüber vermeintlich bedürftigen Menschen. Nicht zu vergessen: Tiere sind immer in Mode und nie out. Das macht sie Gott sei Dank zu einem zeitlosen Aushängeschild.

Um Publikum, das ihrer aufopfernden Hilfsbereitschaft applaudierend beiwohnt, muss sich Heike keine Sorgen machen, denn sie ist Schauspielerin.

Schauspieler sind in puncto Wohltätigkeit ein nicht zu unterschätzendes Humankapital, denn sie haben Zeit. Und Energie. Und sehen dabei erstaunlich gut aus. Weil es aber peinlich wäre, öffentlich zuzugeben, man helfe dem gestrandeten See-Elefanten unter anderem nur deshalb, weil man der Einzige ist, der Zeit und Geld dafür hat, stellt man das anders dar. Eleganter. Beifall erzeugend.

Heike beherrscht dieses Spiel virtuos.

Sie spende ihre gesamte Freizeit voll und ganz den Tieren. Denn sie sei sich dessen bewusst, in ihrem Leben großes Glück gehabt zu haben. Dafür empfinde sie tiefe Dankbarkeit und Demut. Sie möchte einfach einen Teil dieses Glücks zurückgeben, und zwar den Schwächsten: den Tieren.

Insofern bleiben locker acht Monate arbeitsfreie Zeit übrig, um indonesischen Affen und andalusischen Straßenhunden so gründlich auf die Nerven zu gehen, dass alle beteiligten Lebensformen froh sind, wenn der ADHS-gepeinigte Mime endlich wieder für fünf Drehtage nach Cornwall zu melodramatischen Steilküstenspaziergängen ausgeflogen wird.

Heike ist zur allgemein anerkannten Rächerin der Entrechteten aufgestiegen. Sie ist quasi der Batman aller Tiere des blauen Planeten. Denn nicht nur national hat sie sich ihre Position erkämpft, sie operiert auch auf internationalem Terrain. Für ihre fast schon metaphysische Beziehung zu Tieren ist sie mittlerweile bekannter als für ihre eher hausbackene Schauspielkunst.

Heike unterhält an der Costa del Sol ein Hospiz für in die Jahre gekommene drogensüchtige, gehörgeschädigte, streunende Hunde ohne festen Wohnsitz.

An der Mittelmeerküste Spaniens hat sie einen Gnadenhof ins Leben gerufen, der langzeitarbeitslosen Pferden mit auffällig kleinen Geschlechtsorganen – die darunter ihr Leben lang zu leiden hatten – eine Heimat bietet. Sie spricht liebevoll von ihren Costa-Brava-Hengsten.

Auffällig ist, dass Heike keinerlei Dependenz nördlich des 53. Breitengrades unterhält. Ihre Hilfsbereitschaft konzentriert sich neben ihrer Heimatstadt Berlin hauptsächlich auf die Tropen, die Subtropen sowie den Mittelmeerraum. Unter Palmen scheinen Tiere besonders hilfsbedürftig zu sein.

Meine Freundschaft mit Heike begann übrigens als Unfall. Ich verpasste seither schlichtweg jede Gelegenheit, sie aufzukündigen. Denn Heike und ich haben nur eine sehr geringe Schnittmenge. Ich bin keine Vegetarierin, sie schon. Sie lebt für Tiere, ich dulde höchstens deren Existenz, sofern diese friedlich und unauffällig vonstattengeht. Sie braucht Applaus zum Leben, ich höchstens ein freundliches »Guten Tag«.

Der Unfall, der zu unserer einseitigen Freundschaft führte, wurde durch ihren 150 Bruttoregistertonnen schweren Leonberger provoziert. Ich lag auf einer Wiese im Stadtpark und arbeitete gerade ausgiebig an meiner Hautkrebs-Desensibilisierung unter der prallen Mittagssonne, als er wie ein herabstürzender Meteorit auf mir landete.

Heike konnte den »trottelig verspielten« Riesenhund nur mit hohem technischem Aufwand von mir trennen, so sehr hatte er sich in mich verliebt. Nach zwanzig Minuten unerbittlichen Kampfgetümmels zwischen Heike, ihrem geliebten Leonberger und vier herbeigeeilten stattlichen Rentnern, kam ihr ein potenzielles neues Spielgerät für den »kleinen Racker« in den Sinn. »Hundi, fang das Balli!«, schrie sie dem Tier begeistert zu, das dem gelben Ding erfreulicherweise mit einem Mal mehr Aufmerksamkeit schenkte als bleichen Großstädterinnen mit sichtbarem Hang zu Nahrungsmitteln von hoher Energiedichte, die sich in der Sonne grillten.

»Hundis« schlagartige Absenz gab mir die Chance, meine Einzelteile zu sortieren, jedoch beanspruchte das Verschwinden mehrerer zuvor sorgfältig abgelegter Kleidungsstücke meine Improvisationsfähigkeit stark, sodass ich Heikes Einladung auf »eine Chai Latte« versehentlich annahm.

»Das ist nur passiert, weil er gerochen hat, dass du Fleischkonsumentin bist«, erklärte Heike, als sie mir widerwillig half, zurück ins Leben zu finden. Spätestens bei der darauf folgenden Chai Latte hätte ich mir damals schon denken können, dass das nichts wird mit uns beiden.

»DIE DINGER SIND KÖSTLICH!«

Meistens ist es ja umgekehrt, aber an diesem Sonntagmorgen bin ich im Gegensatz zur Fernsehmoderatorin Andrea »Kiwi« Kiewel glänzend aufgelegt.

Die ärgert sich nämlich im ZDF-Fernsehgarten live über eine Zuschauerin, deren strahlendes Urteil über konventionelles Nicht-Bio-Brot »super« ausfällt. Bevor die lässige Zuschauerin mit der Sonnenbrille die Chance hat zu fragen, ob sie noch mehr von dem köstlichen Discounter-Brot bekommen kann, brummt »Kiwi« mit ernstem Blick – ja, den hat sie auch – in die Kamera: »Trotzdem muss man immer aufpassen, dass man bloß kein billiges Brot kauft.«

Okay, der Erziehungsauftrag musste trotz des verpatzten Brot-Tests noch schnell erledigt werden, bevor die blonde Moderatorin in der grünen Jacke versucht, in gewohnter Hach-was-hab-ick-für-’ne-freche-Klappe-Manier weiterzumoderieren.

Aber sie ist sauer, verständlicherweise. Schließlich hätte man aus der Vergangenheit lernen müssen. Denn nur wenige Tage zuvor gab es auf demselben Sender die Sendung »WISO-Duell: Ist Bio besser?«.

Für den großen Geschmackstest dieses TV-Magazins beauftragte man Sternekoch Johann Lafer damit, ein reichhaltiges Buffet zweimal herzustellen. Einmal mit konventionellen Lebensmitteln und einmal ausschließlich mit Bio-Ware, aber eben optisch identisch. Nach einer Blindverkostung sollten 40 Gäste als Höhepunkt des Experiments darüber urteilen, welches Buffet ihnen besser geschmeckt hat.

Ergebnis: 26 zu 14 für das Nicht-Bio-Essen. Das war so natürlich nicht geplant!

Eine der erschrockenen Probandinnen wagte vor laufenden Kameras einen Erklärungsversuch und erinnerte daran, dass den Leuten eben grundsätzlich besser schmecke, was sie gewohnt seien.

Es ist also keineswegs so, dass Bio-Produkte uns nicht besser schmecken würden – unsere Geschmacksnerven sind nur einfach noch nicht so weit! Oder anders gesagt: Der Mensch ist einfach zu blöd, um zu schmecken, dass ihm Bio besser schmeckt.

Diese skrupellose McDonald’s-Mafia hat es doch tatsächlich geschafft, unseren Geschmack so verkümmern zu lassen, dass uns die kleinen, braunen, säuerlichen Äpfel aus Muttis Garten nicht mehr schmecken. Letztlich geht es unserem Geschmackssinn eben nicht anders als einem stinknormalen CSU-Wähler in Bayern:

Er weiß nicht, was wirklich gut für ihn ist.

Deshalb ist es notwendig, den gefährlich unvoreingenommenen Geschmackssinn unbezahlter Normalos, wenn es um echte Geschmacksfragen geht, lieber außen vor zu lassen. Wie wunderbar dies funktioniert, bewies der gleiche Fernsehsender mit der veganen Ausgabe von »Volle Kanne«: Der junge deutsch-türkische Lifestyle-Guru Attila Hildmann, der laut seinen Büchern »cholesterinbewusst, laktosefrei und klimafreundlich« kochen kann, möchte neben einem veganen Bio-Matcha-Tee-Frühstück für die Moderatorin Andrea Ballschuh live im Studio vegane Pralinen herstellen. Deren Freude darüber wirkt durchaus glaubhaft.

»So«, kommentiert er Fernsehkoch-like, »nun kippen wir den Bio-Fairtrade-Kakao dazu.« Ja, das hat er wirklich gesagt.

Im Laufe der Sendung beichtet Hildmann immer wieder die Verfehlungen seines vor-veganen Lebens: Er sei statt mit dem Fahrrad tatsächlich auch mal Auto gefahren und habe anstatt Agaven-Dicksaft mal echten Zucker zu sich genommen. Als er kopfschüttelnd darauf hinweist, dass ihm damals die Umwelt so egal gewesen sei, dass er sogar Lederschuhe getragen habe, braucht es kurzzeitig ein wenig Phantasie, um in Ballschuhs Gesicht echte Vorfreude auf die Pralinen ablesen zu können.

Als er die Zuschauer kurz darauf wissen lässt, dass er seine Nudeln nur noch aus Zucchini mache, fängt sich die kecke Andrea wieder und schüttelt euphorisiert ihr Ass aus dem Ärmel: »Gestern habe ich für meinen Mann und mich auch vegan gekocht und Nudeln aus Zucchini gemacht! Er wollte das erst nicht, war aber dann genauso begeistert wie ich!«

Ende der Leseprobe