Venezianische Scharade - Donna Leon - E-Book

Venezianische Scharade E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Eigentlich wollte Brunetti mit seiner Familie in die Berge fahren. Doch dann wird vor Mestre die Leiche eines Mannes in Frauenkleidern gefunden. Ein Transvestit? Wird Streitigkeiten mit seinen Freiern gehabt haben ­ so die allgemeine Meinung, auch bei der Polizei. Brunetti schaut genauer hin und lernt bei seinen Ermittlungen, weniger schnell zu urteilen als die ach so ehrenwerten Normalbürger. "

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Seitenzahl: 376

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Donna Leon

Venezianische Scharade

Commissario Brunettis dritter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel der 1994 bei HarperCollins Publishers,

New York, erschienenen Originalausgabe:

›Dressed for Death‹

Copyright © 1994 Donna Leon

Die deutsche Erstausgabe erschien

1996 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Lucio Silla. Dramma per musica

in drei Akten von Giovanni di Gamerra

Neueinrichtung und Bearbeitung von

Bernhard Paumgartner

Bärenreiter, Kassel, o.J.

Umschlagfoto von José F. Poblete

Im Gedenken an Arleen Auger Eine erloschene Sonne

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22990 5 (29. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60062 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Ah forse adesso Sul morir mio delusa Priva d’ogni speranza e di consiglio Lagrime di dolor versa dal ciglio

Vielleicht beweint sie jetzt zur Stunde meinen Tod, ohne Spur einer Hoffnung, ganz ohne Zuspruch;

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

[7] 1

Der Schuh war rot, rot wie Londoner Telefonhäuschen oder New Yorker Feuerwehrautos, aber diese Vergleiche kamen dem Mann, der den Schuh als erster sah, nicht in den Sinn. Er dachte vielmehr an das Rot des Ferrari Testarossa auf dem Kalender im Umkleideraum der Fleischer, wo sich eine nackte Blondine auf dem Kühler räkelte und leidenschaftlich den linken Scheinwerfer zu vernaschen schien. Der Schuh war wie betrunken zur Seite geneigt, die Spitze dicht an einer der Öllachen, die wie ein nässender Ausschlag das Gelände hinter dem Schlachthof bedeckten. Er sah ihn da liegen, und natürlich dachte er auch an Blut.

Auf irgendeinem Weg war vor Jahren die Erlaubnis zum Bau des Schlachthofs erteilt worden, lange bevor Marghera zu einem führenden Industriezentrum Italiens aufblühte, (obgleich »aufblühte« hier vielleicht nicht ganz das passende Wort ist) und bevor die Ölraffinerien und Chemiefabriken sich auf dem sumpfigen Gelände breitmachten, gegenüber der Lagune von Venedig, Perle der Adria. Der flache Betonbau duckte sich blutrünstig hinter einen hohen Maschendrahtzaun. War dieser Zaun ganz zu Anfang errichtet worden, als man das Vieh noch durch die staubigen Straßen zum Schlachthof treiben konnte? War er ursprünglich dazu gedacht, die Tiere an der Flucht zu hindern, bis sie auf die Rampe geführt, getrieben, gepeitscht wurden, wo sie der Tod erwartete? Heute brachte man sie in Lastwagen, die rückwärts direkt an die mit einem [8] Gitter eingefaßten Rampen fuhren, und es gab kein Entweichen mehr. Menschen wollten diesem Gebäude sowieso nicht zu nahe kommen, so daß der Zaun kaum nötig war, um Unbefugte fernzuhalten. Vielleicht wurden darum seine Löcher auch nicht geflickt. Bisweilen schlüpften nachts streunende Hunde hindurch und heulten voll Verlangen nach dem, was sie dort witterten.

Rund um den Schlachthof war Ödland, als fürchteten selbst die Fabriken das Blut. Sie hielten Abstand von dem niedrigen Betonbau, ihre tödlichen Ausflüsse dagegen sickerten rückhaltlos in den Boden und kamen dem Schlachthof jedes Jahr näher. Schwarzer Schlamm blubberte zwischen dem Marschgras, und ein regenbogenfarbener Ölfilm bedeckte Pfützen, die nie verschwanden, wie trocken die Jahreszeit auch sein mochte. Die Natur hier draußen war vergiftet, doch das schreckte die Menschen weniger als das, was drinnen vorging.

Der Schuh, der rote Schuh lag umgekippt etwa hundert Meter von der Rückseite des Schlachthofs entfernt gleich hinter dem Zaun, links neben einem hohen Büschel Sumpfgras, das in den Giftstoffen um seine Wurzeln besonders gut zu gedeihen schien. Gegen halb zwölf an diesem heißen Montagmorgen im August stieß ein vierschrötiger Mann in blutgetränkter Lederschürze die Metalltür an der Rückseite des Schlachthauses auf und trat in die sengende Sonne. Er wurde von einer Welle feuchtheißer Luft, beißendem Gestank und lautem Geheul begleitet. In der Sonne spürte man kaum eine Abkühlung, aber wenigstens war der Gestank der Innereien hier weniger stechend, und der Lärm rührte nicht mehr von dem Brüllen und Kreischen her, das [9] den Raum hinter ihm erfüllte, sondern von dem einen Kilometer entfernten Verkehr, den die zum Ferragosto nach Venedig strömenden Touristenmassen verursachten.

Der Mann wischte seine blutige Hand an der Schürze ab, wobei er sich bückte, um einen trockenen Zipfel zu finden, griff dann in seine Hemdtasche und zog ein Päckchen Nazionali heraus. Mit einem Plastikfeuerzeug zündete er sich eine Zigarette an und sog gierig den Rauch ein, froh über den Geruch und den scharfen Geschmack des billigen Tabaks. Ein tiefes Geheul drang hinter ihm durch die Tür und trieb ihn Richtung Zaun, wo das kümmerliche Blätterdach einer Akazie, die sich zu etwa vier Meter Höhe hochgekämpft hatte, Schatten versprach.

Dort stand er, wandte dem Schlachthof den Rücken zu und betrachtete den Wald aus Schornsteinen bei Mestre. Aus einigen schossen Flammen, aus anderen quollen graugrüne Rauchschwaden. Eine leichte Brise, zu schwach, um sie auf der Haut zu fühlen, trieb die Wolken auf ihn zu. Er zog an seiner Zigarette und schaute auf den Boden zu seinen Füßen, wie immer hier in den Wiesen achtsam, wohin er trat. Er blickte nach unten und sah jenseits des Zaunes den umgekippten Schuh liegen.

Er war aus Stoff, dieser Schuh, nicht aus Leder. Seide? Satin? Bettino Cola kannte sich da nicht aus, aber er wußte, daß seine Frau ein ähnliches Paar Schuhe besaß und über hunderttausend Lire dafür bezahlt hatte. Er mußte fünfzig Schafe oder zwanzig Kälber schlachten, um so viel zu verdienen, und sie hatte dafür ein Paar Schuhe gekauft, die sie einmal getragen und dann im Schrank verstaut und nie mehr angesehen hatte.

[10] Nichts in dieser verfluchten Landschaft verdiente seine Aufmerksamkeit, also betrachtete er den Schuh, während er seine Zigarette rauchte. Er trat nach links und sah ihn sich aus einem anderen Blickwinkel an. Zwar lag er ganz dicht neben einer großen Öllache, aber offenbar auf einem trockenen Fleckchen. Cola trat noch einen Schritt nach links, wobei er sich der prallen Sonne aussetzte, und beäugte die Stelle um den Schuh herum auf der Suche nach dem Gegenstück. Im hohen Gras, unter einem niedrigen Strauch machte er etwas Längliches aus, das offenbar die Sohle des zweiten war und ebenfalls auf der Seite lag.

Er ließ seine Zigarette fallen, trat sie auf dem weichen Boden aus und ging ein paar Meter am Zaun entlang, bis zu einem großen Loch, durch das er gebückt hindurchkroch, wobei er sorgsam die rostigen Stacheln mied, die ihn umgaben. Er richtete sich auf und ging zu dem Schuh zurück, der jetzt kein einzelner mehr und darum möglicherweise bergenswert war.

»Roba da puttana«, murmelte er vor sich hin, als er den Absatz des ersten Schuhs sah, der höher war als die Zigarettenpackung in seiner Tasche; nur eine Hure würde so etwas tragen. Er bückte sich und hob den einen Schuh auf, sorgsam darauf bedacht, die Außenseite nicht anzufassen. Wie er gehofft hatte, war die Fläche sauber, also nicht mit der Ölpfütze in Berührung gekommen. Er trat ein paar Schritte nach rechts und griff nach dem Absatz des zweiten Schuhs, aber der schien in einem Grasbüschel festzuhängen. Bettino Cola ließ sich auf ein Knie nieder, auch hier vorsichtig darauf achtend, wo er es hinsetzte, und zog einmal kräftig. Der Schuh löste sich, doch als Cola sah, daß [11]

[12] 2

Die Polizei rückte zwanzig Minuten später in zwei blau-weißen Limousinen der Squadra Mobile aus Mestre an. Inzwischen hatten sich hinter dem Schlachthof viele der Männer versammelt, in die Sonne gelockt von diesem Blutvergießen anderer Art. Cola war völlig entnervt zurückgelaufen, nachdem er den Fuß und das dazugehörige Bein gesehen hatte, war ins Büro des Meisters gestürzt und hatte ihm berichtet, hinter dem Zaun liege eine tote Frau.

Cola war ein guter Arbeiter, ein ernsthafter Mensch, darum hatte der Meister ihm geglaubt und unverzüglich die Polizei verständigt, ohne nachzusehen, ob sein Untergebener die Wahrheit sagte. Aber andere hatten Cola hereinstürzen sehen und liefen herbei, um zu erfahren, was los war. Der Meister raunzte sie an, sie sollten an ihre Arbeit gehen; die Kühlwagen warteten an den Laderampen, und sie hätten keine Zeit, den ganzen Tag hier herumzustehen und sich das Maul über eine Hure zu zerreißen, der man die Kehle durchgeschnitten habe.

Er meinte das natürlich nicht wörtlich, denn Cola hatte ihm nur von dem Schuh und dem Fuß erzählt, aber die Wiesen zwischen den Fabriken waren für die Arbeiter ein bekanntes Revier – ebenso wie für die Frauen, die in diesen Wiesen ihrem Gewerbe nachgingen. Wenn die sich dort hatte umbringen lassen, dann gehörte sie wahrscheinlich zu diesen grell geschminkten Wracks, die sich spätnachmittags an die Straße zwischen dem Industriegebiet und [13] Mestre stellten. Schichtwechsel, Zeit für die Arbeiter, nach Hause zu gehen, aber warum nicht ein kurzer Halt an der Straße und ein paar Schritte zu einer im Gras ausgebreiteten Decke? Es ging schnell, sie erwarteten nichts von einem, außer zehntausend Lire, und es waren inzwischen immer häufiger Blondinen aus Osteuropa, die so arm waren, daß sie einem nicht irgendwelchen Schutz vorschreiben konnten wie die italienischen Mädchen an der Via Cappuccina. Und überhaupt, seit wann schrieb die Hure denn dem Mann vor, was er zu tun hatte und was zu lassen? Genau das hatte sie wahrscheinlich versucht, sie war handgreiflich geworden, und der Mann eben auch. Nun, es gab genug andere, und jeden Monat kamen neue über die Grenze.

Die Streifenwagen hielten, und aus jedem stieg ein Uniformierter. Sie wollten zum Vordereingang des Gebäudes gehen, doch der Meister kam ihnen schon entgegen. Hinter ihm stand Cola, der sich als Mittelpunkt der ganzen Aufregung zwar wichtig vorkam, dem aber vom Anblick dieses Fußes noch ganz flau war.

»Haben Sie uns gerufen?« fragte der erste Polizist. Sein rundes Gesicht glänzte vor Schweiß, und er starrte den Meister durch dunkle Brillengläser an.

»Ja«, antwortete der. »Da hinten auf der Wiese liegt eine Tote.«

»Haben Sie sie entdeckt?«

»Nein«, sagte der Meister, »ich nicht.« Damit trat er zur Seite und bedeutete Cola vorzutreten. »Er hier.«

Auf ein Nicken des ersten Polizisten hin zog der Kollege aus dem zweiten Streifenwagen ein blaues Notizbuch [14] aus der Jackentasche, schlug es auf, schraubte die Kappe von seinem Stift und hielt ihn über dem Blatt zum Schreiben bereit.

»Name?« fragte der erste, den Blick hinter den dunklen Gläsern jetzt auf den Fleischer gerichtet.

»Cola, Bettino.«

»Anschrift?«

»Wozu soll das gut sein?« unterbrach der Meister. »Da drüben liegt eine Tote.«

Der erste Uniformierte wandte sich von Cola ab, senkte den Kopf und fixierte über den Rand seiner Sonnenbrille den Meister. »Die läuft uns nicht weg.« Dann wiederholte er, zu Cola gewandt: »Anschrift?«

»Castello 3453.«

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?« fragte er mit einer Kopfbewegung zu dem Gebäude hinter Cola.

»Fünfzehn Jahre.«

»Wann haben Sie heute angefangen?«

»Um halb acht. Wie immer.«

»Was hatten Sie auf der Wiese zu suchen?« Die Art, wie der eine die Fragen stellte und der andere die Antworten notierte, gab Cola das Gefühl, sie verdächtigten ihn.

»Ich bin rausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen.«

»Mitten im Hochsommer stellen Sie sich in die Sonne, um eine Zigarette zu rauchen?« fragte der erste Polizist, und es klang, als sei das Irrsinn. Oder eine Lüge.

»Ich hatte Pause«, antwortete Cola, der langsam ärgerlich wurde. »Da gehe ich immer raus. Wegen dem Gestank.« Das Wort holte die Polizisten in die Wirklichkeit [15] zurück. Sie sahen zu dem Gebäude hinüber, wobei der mit dem Notizbuch nicht verhindern konnte, daß seine Nasenflügel angeekelt bebten bei dem, was er roch.

»Wo liegt sie?«

»Gleich hinter dem Zaun. Unter ein paar Büschen, darum habe ich sie zuerst nicht gesehen.«

»Warum sind Sie dorthin gegangen?«

»Ich habe einen Schuh gesehen.«

»Wie bitte?«

»Ich sah einen Schuh, auf der Wiese, und dann den zweiten. Ich dachte, vielleicht sind sie noch gut, da bin ich durch den Zaun gekrochen. Ich dachte, meine Frau könnte sie vielleicht gebrauchen.« Das war eine Lüge; er hatte gedacht, er könnte sie verkaufen, aber das wollte er der Polizei nicht erzählen. Es war eine kleine Lüge und ganz harmlos, aber es war die erste von vielen Lügen, die der Polizei im Zusammenhang mit dem Schuh und der Person, die ihn trug, aufgetischt wurden.

»Und dann?« bohrte der erste Polizist nach, als Cola nichts weiter sagte.

»Dann bin ich hierher zurückgelaufen.«

»Nein, davor«, sagte der erste Polizist mit einem unmutigen Kopfschütteln. »Als Sie den Schuh gesehen haben. Als Sie die Frau gesehen haben. Was haben Sie da gemacht?«

Cola sprach rasch, in der Hoffnung, es dann bald hinter sich zu haben. »Ich habe den einen Schuh aufgehoben und sah den zweiten dort liegen. Er war unter dem Busch. Ich habe daran gezogen. Ich dachte, er hängt irgendwie fest. Da habe ich noch mal gezogen, und er ging ab.« Er schluckte [16] einmal, zweimal. »Er war an ihrem Fuß. Deshalb ist er erst nicht abgegangen.«

»Sind Sie lange dortgeblieben?«

Diesmal war es Cola, der hinter der Frage Irrsinn vermutete. »Nein, nein. Nein, ich bin zurückgelaufen und habe es Banditelli erzählt. Der hat dann bei Ihnen angerufen.«

Der Meister nickte bestätigend.

»Sind Sie da drüben herumgelaufen?« fragte der erste Polizist.

»Herumgelaufen?«

»Oder noch stehengeblieben? Haben Sie geraucht? Haben Sie in der Nähe etwas weggeworfen?«

Cola schüttelte energisch den Kopf.

Der zweite Uniformierte blätterte in seinem Notizbuch, der erste sagte: »Ich habe Sie etwas gefragt.«

»Nein. Nichts. Ich habe die Frau gesehen und den Schuh fallen lassen, und dann bin ich ins Schlachthaus gelaufen.«

»Haben Sie sie angefaßt?« wollte der erste wissen.

Cola sah ihn mit großen, erstaunten Augen an. »Sie ist doch tot. Natürlich habe ich sie nicht angefaßt.«

»Sie haben ihren Fuß angefaßt«, sagte der zweite Polizist mit einem Blick auf seine Notizen.

»Ich habe ihren Fuß nicht angefaßt«, entgegnete Cola, obwohl er nicht mehr sicher war. »Ich habe den Schuh angefaßt, und der ist dann vom Fuß abgegangen.« Er konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Warum sollte ich sie anfassen?«

Keiner der beiden Polizisten anwortete. Der erste drehte sich um und nickte dem zweiten zu, der sein Notizbuch zuklappte. »Also gut, zeigen Sie uns, wo sie liegt.«

[17] Cola stand wie angewurzelt und schüttelte langsam den Kopf. Die Sonne hatte das Blut auf seiner Schürze getrocknet, und Fliegen umsurrten ihn. Er sah die Polizisten nicht an. »Da hinten, gleich hinter dem großen Loch im Zaun.«

»Ich möchte, daß Sie uns zeigen, wo sie liegt«, sagte der erste Polizist.

»Das habe ich gerade getan«, blaffte Cola, und seine Stimme bekam dabei einen scharfen Unterton.

Die beiden Uniformierten wechselten einen Blick, dem zu entnehmen war, daß sie Colas Widerstreben bemerkenswert fanden und im Gedächtnis behalten würden. Aber sie sagten nichts, wandten sich von ihm und dem Meister ab und gingen um das Gebäude herum auf den Zaun zu.

Die Mittagssonne brannte auf die flachen Uniformmützen der beiden Polizisten, ihre Haare darunter waren naß, der Schweiß rann ihnen über den Nacken. Während sie das Loch im Zaun ansteuerten, hörten sie neben den Todesschreien, die noch immer aus dem Gebäude drangen, hinter sich menschliche Stimmen und drehten sich um. Am Hintereingang standen dicht zusammengedrängt fünf oder sechs Männer mit blutbefleckten Schürzen wie die von Cola. An solche Neugier gewöhnt, wandten sich die Polizisten wieder dem Zaun zu, bückten sich und krochen nacheinander durch das Loch, dann gingen sie weiter nach links, zu dem stacheligen Gebüsch hinter dem Zaun.

Ein paar Meter davor blieben die beiden stehen. Da sie wußten, was sie suchten, entdeckten sie rasch den Fuß [18] unter den tiefhängenden Zweigen. Beide Schuhe lagen direkt davor.

Vorsichtig auftretend näherten sie sich ihm, um die bösartigen Öllachen zu vermeiden und eventuell vorhandene Fußabdrücke nicht zu zertrampeln. Neben den Schuhen ging der eine Polizist in die Hocke und bog das hüfthohe Gras zur Seite.

Die Leiche lag auf dem Rücken, die Außenseiten der Knöchel drückten in die Erde. Der Polizist beugte sich vor, teilte das Gras mit der Hand, und eine haarlose Wade kam zum Vorschein. Er nahm die Sonnenbrille ab, spähte angestrengt in den Schatten und verfolgte mit seinem Blick die langen, muskulösen Beine über knochige Knie bis zu dem spitzenbesetzten roten Schlüpfer unter dem knallroten Kleid, das übers Gesicht der Leiche gezogen war. Er starrte noch einen Augenblick länger hin.

»Cazzo!« rief er und ließ das Gras los.

»Was ist?« fragte der andere.

[19] 3

Normalerweise wäre die Nachricht, daß man in Marghera einen prostituto travestito mit eingeschlagenem Gesicht und Schädel gefunden hatte, eine Sensation gewesen, sogar für die abgebrühten Angehörigen der Questura in Venedig, und ganz besonders während des langen Ferragosto-Wochenendes, an dem die Kriminalität eher zurückging und es allenfalls so Langweiliges und Vorhersehbares gab wie Diebstähle und Einbrüche. Heute aber hätte es eines weit schauerlicheren Ereignisses bedurft, um die spektakuläre Neuigkeit auszustechen, die sich wie ein Lauffeuer durch die Korridore der Questura verbreitete: Maria Lucrezia Patta, die Frau des Vice-Questore Giuseppe Patta, hatte am Wochenende nach siebenundzwanzig Ehejahren ihren Mann verlassen, um in die Mailänder Wohnung von – und hier machte jeder Erzähler dieser explosiven Geschichte eine Pause, bevor er die Bombe platzen ließ – Tito Burrasca zu ziehen, dem Begründer und Hauptbetreiber von Italiens Pornofilmindustrie.

Die Nachricht hatte am Morgen taufrisch die Questura erreicht, verbreitet von einer Sekretärin im Ufficio Stranieri, deren Onkel in einer kleinen Wohnung über den Pattas wohnte und angeblich gerade in dem Augenblick an der Wohnungstür der Pattas vorbeigegangen war, als die Feindseligkeiten des Ehepaars in ihre Endphase traten. Patta, so der Onkel, hatte ein paarmal Burrascas Namen geschrien und gedroht, den Mann verhaften zu lassen, [20] sollte er es je wagen, Venedig zu betreten; Signora Patta hatte das Feuer erwidert, indem sie drohte, nicht nur bei Burrasca einzuziehen, sondern auch die Hauptrolle in seinem nächsten Film zu übernehmen. Der Onkel hatte sich über die Treppe nach oben zurückgezogen und die nächste halbe Stunde versucht, den Schlüssel in seine Wohnungstür zu bekommen, während sich unten die Pattas weiter mit Drohungen und Gegendrohungen bombardierten. Die Auseinandersetzung fand ihr Ende erst mit der Ankunft eines Wassertaxis am Ausgang der Calle und dem Abgang von Signora Patta, gefolgt von sechs Koffern, die der Taxifahrer hinter ihr die Treppen hinunterschleppte, sowie Pattas Verwünschungen, die dem Onkel durch den Schalltrichter des Treppenhauses zugetragen wurden.

Die Nachricht erreichte die Questura am Montag früh um acht; Patta folgte um elf. Um halb zwei kam das Telefonat über den Transvestiten, aber bis dahin waren die meisten schon zum Essen, bei dem sich einige Mitarbeiter der Questura in wilden Spekulationen über Signora Pattas künftige Filmkarriere ergingen. Ein Zeichen für die Beliebtheit des Vice-Questore war die Wette, zu der man sich an einem der Tische verstieg: hunderttausend Lire für den ersten, der es wagte, sich nach dem Befinden von Pattas Gattin zu erkundigen.

Guido Brunetti erfuhr von dem ermordeten Transvestiten von Vice-Questore Patta selbst, als der ihn um halb drei zu sich ins Büro rief.

»Ich bin eben aus Mestre angerufen worden«, sagte Patta, nachdem er Brunetti gebeten hatte, Platz zu nehmen.

»Mestre?« fragte Brunetti.

[21] »Ja, die Stadt am Ende des Ponte della Libertà«, blaffte Patta. »Sie haben sicher davon gehört.«

Brunetti dachte an das, was er am Vormittag erfahren hatte, und beschloß, nicht weiter auf die Bemerkung einzugehen. »Warum haben die aus Mestre bei Ihnen angerufen?«

»Sie haben einen Mord und niemanden für die Ermittlungen.«

»Aber die sind doch da drüben mit Personal viel besser ausgestattet als wir, Vice-Questore«, sagte Brunetti, der sich nie ganz sicher war, inwieweit Patta über die Polizei hier oder dort Bescheid wußte.

»Das weiß ich, Brunetti. Aber zwei von ihren Commissari sind im Urlaub. Einer hat sich am Wochenende bei einem Autounfall das Bein gebrochen, bleibt noch einer, und der«, Patta schnaubte verächtlich, »oder vielmehr die geht am Samstag in Mutterschaft und ist erst ab Ende Februar wieder im Dienst.«

»Was ist mit den beiden im Urlaub? Die kann man doch sicher zurückbeordern.«

»Einer ist in Brasilien und der andere offenbar nicht aufzufinden.«

Brunetti wollte schon sagen, daß ein Commissario immer zu hinterlassen hatte, wo man ihn erreichen konnte, egal wohin er in Urlaub fuhr, aber ein Blick in Pattas Gesicht veranlaßte ihn, statt dessen zu fragen: »Was haben sie denn über den Mord gesagt?«

»Ein Stricher. Transvestit. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen und die Leiche auf einer Wiese draußen in Marghera deponiert.« Bevor Brunetti etwas einwenden [22] konnte, sagte Patta: »Fragen Sie nicht. Die Wiese liegt zwar in Marghera, aber der Schlachthof, zu dem sie gehört, ist in Mestre, nur ein paar Meter weiter, also gehört der Fall zu Mestre.«

Brunetti hatte keine Lust, Zeit auf Debatten über Besitzrechte oder Stadtgrenzen zu verschwenden, und fragte: »Woher wissen die, daß es sich um einen prostituto handelt?«

»Ich habe keine Ahnung, woher sie es wissen, Brunetti«, antwortete Patta in etwas schärferem Ton. »Ich gebe weiter, was mir mitgeteilt wurde. Prostituto, Transvestit, Frauenkleider; Schädel und Gesicht eingeschlagen.«

»Wann wurde er gefunden?«

Patta machte sich nie Notizen und hatte sich auch bei diesem Telefonat keine gemacht. Die Sache an sich hatte ihn nicht weiter interessiert – eine Hure mehr oder weniger – aber es beunruhigte ihn, daß seine Leute für Mestre arbeiten sollten. Das hieß, daß Mestre auch eventuelle Erfolge für sich verbuchen würde. Aber dann dachte er an die jüngsten Ereignisse in seinem Privatleben und kam zu dem Schluß, daß gerade dies womöglich ein Fall war, den er besser Mestre überließ – mitsamt dem ganzen Rummel.

»Der Questore hat mich jedenfalls gefragt, ob wir den Fall übernehmen können. Womit sind Sie denn beschäftigt, Sie alle drei?«

»Mariani ist im Urlaub, und Rossi geht immer noch die Unterlagen im Fall Bortolozzi durch«, erklärte Brunetti.

»Und Sie?«

»Ich habe eigentlich von diesem Wochenende an Urlaub.«

[23] »Das kann warten«, meinte Patta mit einer Bestimmtheit, die sich über Kleinigkeiten wie Hotelbuchungen oder Flugtickets hinwegsetzte. »Außerdem sollte sich diese Sache ja wohl schnell erledigen lassen. Man muß nur den Zuhälter finden und eine Liste der Kunden zusammenstellen. Der Täter gehört garantiert zu ihnen.«

»Haben die denn Zuhälter?«

»Huren? Natürlich haben die Zuhälter.«

»Auch männliche Huren, Vice-Questore? Huren, die Transvestiten sind? Vorausgesetzt natürlich, daß die Sache mit der Hure stimmt.«

»Wie kommen Sie darauf, daß ich so etwas wissen sollte, Brunetti?« fragte Patta mißtrauisch und gereizter als sonst, womit er Brunettis Gedanken wieder auf die Neuigkeit vom Morgen lenkte und ihn veranlaßte, rasch das Thema zu wechseln.

»Wann kam denn der Anruf?« fragte Brunetti.

»Vor ein paar Stunden. Warum?«

»Ich habe überlegt, ob die Leiche wohl noch dortliegt.«

»Bei dieser Hitze?« fragte Patta.

»Ja, da haben Sie recht«, stimmte Brunetti zu. »Wohin ist sie gebracht worden?«

»Keine Ahnung. In eines der Krankenhäuser. Wahrscheinlich ins Umberto Primo. Da machen sie, glaube ich, die Autopsien. Warum fragen Sie?«

»Ich möchte sie mir gern ansehen«, sagte Brunetti. »Und auch die Fundstelle.«

Patta war nicht der Mann, der sich um solche Kleinigkeiten kümmerte. »Da der Fall zu Mestre gehört, sehen Sie zu, daß Sie deren Fahrer nehmen, nicht unsere.«

[24] »Noch etwas, Vice-Questore?«

»Nein. Ich bin überzeugt, es ist ein klarer Fall. Bis zum Wochenende haben Sie die Lösung unter Dach und Fach und können in Urlaub fahren.« – Es paßte zu Patta, daß er keine Frage daran verschwendete, wohin Brunetti fahren wollte oder ob er vielleicht irgendwelche Reservierungen absagen mußte. Alles nur Kleinigkeiten.

Beim Hinausgehen bemerkte Brunetti, daß in dem kleinen Vorraum zu Pattas Büro während des Gesprächs mit seinem Vorgesetzten verschiedene Möbelstücke angekommen waren, ein großer Schreibtisch aus Holz stand auf der einen Seite und ein kleines Tischchen unter dem Fenster. Er beachtete das nicht weiter und ging nach unten in das Büro, wo die uniformierten Polizisten saßen. Sergente Vianello sah von den Papieren auf seinem Schreibtisch hoch und lächelte Brunetti an. »Fragen Sie gar nicht erst, Commissario, ja, es stimmt. Tito Burrasca.«

Brunetti vernahm die Bestätigung und konnte es ebensowenig glauben wie vor ein paar Stunden, als er die Geschichte zum erstenmal gehört hatte. Tito Burrasca hatte eine legendäre Karriere hinter sich. Er hatte in den sechziger Jahren mit dem Filmemachen angefangen, mit in Blut und Eingeweiden schwelgenden Horrorfilmen, die so offenkundig künstlich wirkten, daß sie zu unfreiwilligen Parodien des Genres wurden. Burrasca war kein Narr, so unbeholfen er sich bei der Produktion seiner Horrorfilme auch angestellt haben mochte, und ging auf das allgemeine Echo ein, indem er die Filme noch unechter machte: Vampire mit Armbanduhren, die die Schauspieler scheinbar abzulegen vergessen hatten; Telefone, über die Draculas [25] Entkommen gemeldet wurde; Akteure, die das Schauspielern in der Baumschule gelernt haben mußten. So wurde er über Nacht zur Kultfigur: die Leute standen Schlange vor den Kinos, nur darauf erpicht, das Unstimmige herauszufinden, die Heuler zu entdecken.

In den siebziger Jahren dann scharte er seine Meister des hölzernen Ausdrucks um sich und ließ sie in ihrer ganzen Unbeholfenheit in Pornofilmen auftreten. Die Kostüme waren sowieso kein Problem, und auch, was die Handlung anging, stand seiner Erfindungsgabe nichts im Weg: Er entstaubte lediglich die Drehbücher seiner alten Horrorfilme und machte aus den Leichenfledderern, Vampiren und Werwölfen Vergewaltiger und Sexbesessene. Damit füllte er die Kinos, allerdings diesmal kleinere, mit einem anderen Publikum, einem, das offenbar nicht im geringsten daran interessiert war, Anachronismen aufzudecken.

Die achtziger Jahre beglückten Italien mit jeder Menge neuer privater Fernsehsender, und Burrasca beglückte diese Sender mit seinen neuesten Filmen, allenfalls in etwas abgemilderter Fassung, aus Rücksicht auf die vermutlichen Empfindlichkeiten der Zuschauer. Und dann verlegte er sich auf Videokassetten.

Allmählich begann man sich lustig zu machen über ihn; er wurde zur Zielscheibe des Spotts in Fernsehshows, ein beliebtes Modell für Karikaturisten. Doch mittlerweile hatte sein Erfolg ihn dazu bewogen, nach Monaco zu ziehen und Bürger dieses steuergünstigen Fürstentums zu werden. Seine Zwölfzimmerwohnung in Mailand hielt er sich, wie er den Finanzbehörden versicherte, nur, um [26] Geschäftsfreunde zu empfangen. Und nun offenbar auch Maria Lucrezia Patta.

»Tito Burrasca, in der Tat«, wiederholte Sergente Vianello, wobei er sich nur mühsam ein Lächeln verkniff. »Vielleicht können Sie ja von Glück reden, wenn Sie die nächsten Tage in Mestre sind.«

Brunetti konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Hat denn niemand etwas davon gewußt?«

Vianello schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand. Keinen Mucks.«

»Nicht einmal Anitas Onkel?« fragte Brunetti, der damit zugab, daß auch die höheren Ränge die Quelle der Informationen kannten.

Vianellos Antwort wurde durch das Summen der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch unterbrochen. Er nahm den Hörer ab und meldete sich mit: »Ja, Vice-Questore?«

Er hörte ein paar Sekunden zu, sagte dann: »Gewiß, Vice-Questore«, und legte auf.

Brunetti sah ihn fragend an. »Es geht um die Ausländerbehörde. Er möchte wissen, wie lange Burrasca im Lande bleiben kann, nachdem er die Staatsbürgerschaft gewechselt hat.«

Brunetti schüttelte den Kopf. »Man muß den armen Teufel ja wohl fast bedauern.«

Vianello hob mit einem Ruck den Kopf. Er konnte oder wollte sein Erstaunen nicht verbergen. »Bedauern? Ihn?« Nur mit Mühe enthielt er sich eines weiteren Kommentars und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu.

[27] Brunetti ging in sein eigenes Büro zurück. Von dort aus rief er die Questura in Mestre an und bat, mit dem Kollegen verbunden zu werden, der den Fall des ermordeten Transvestiten bearbeitete. Nach wenigen Minuten hatte er einen Sergente Gallo am Apparat, der ihm erklärte, daß man ihm den Fall zugeteilt habe, bis ihn ein höhergestellter Beamter übernehme. Brunetti stellte sich vor und sagte, das sei er. Dann bat er Gallo um einen Wagen, der ihn in einer halben Stunde am Piazzale Roma abholen sollte.

Als Brunetti aus dem schattigen Eingang der Questura kam, traf ihn die Sonne mit voller Wucht. Das grelle Licht, verstärkt durch die Spiegelung vom Kanal, blendete ihn so, daß er in die Brusttasche seines Jacketts griff und seine Sonnenbrille herausholte. Keine fünf Schritte weiter merkte er schon, wie sein Hemd feucht wurde und ihm der Schweiß über den Rücken lief. Er wandte sich nach rechts, denn er hatte spontan beschlossen, zum Anleger San Zaccaria zu gehen und von dort das zweiundachtziger Boot zu nehmen, obwohl der Weg dahin ein ganzes Stück durch die Sonne führte. Die Calli in Richtung Rialto lagen zwar durch die hohen Häuser alle im Schatten, aber es würde doppelt so lange dauern, und ihm graute vor jeder zusätzlichen Minute Weg in der Hitze.

Als er an der Riva degli Schiavoni herauskam und nach links schaute, sah er, daß sein Vaporetto eben am Anleger festgemacht hatte und die Leute bereits ausstiegen. Er wurde vor eine speziell venezianische Entscheidung gestellt: entweder rennen und versuchen, das Boot noch zu erreichen, oder in der brütenden Hitze des schwankenden embarcadero zehn Minuten auf das nächste warten. Er [28] rannte. Während er über die Holzbohlen stürmte, mußte er eine weitere Entscheidung treffen: entweder einen Moment innehalten, um seine Karte an dem gelben Automaten abzustempeln, und dadurch womöglich das Boot verpassen, oder direkt aufs Boot laufen und fünftausend Lire Strafe zahlen. Aber dann fiel ihm ein, daß er ja beruflich unterwegs war und die Stadt die Kosten tragen mußte.

Schon von diesem kurzen Spurt lief ihm der Schweiß in Strömen über Gesicht und Brust, so daß er lieber an Deck blieb, schon um des schwachen Lüftchens willen, das bei der gemächlichen Fahrt den Canal Grande hinauf entstand. Er blickte um sich und sah die halbnackten Touristen, die Männer und Frauen in ihren Badeanzügen, Shorts und ausgeschnittenen T-Shirts, und einen Augenblick lang beneidete er sie, auch wenn er genau wußte, daß er sich in einem solchen Aufzug höchstens am Strand blicken lassen würde.

Während sein Körper trocknete, schwand der Neid und machte seiner üblichen Verärgerung darüber Platz, daß sie so herumliefen. Wenn sie makellose Körper und makellose Kleidung gehabt hätten, wären sie ihm vielleicht weniger als Ärgernis erschienen. So aber dachte er beim Anblick ihrer schäbigen Kleidung und des noch schäbigeren Zustands vieler der Leiber sehnsüchtig an die erzwungene Bescheidenheit in islamischen Gesellschaften. Er war nicht unbedingt ein »Schönheitsfanatiker«, wie Paola es nannte, hatte aber durchaus nichts gegen ein angenehmes Äußeres. Er verlagerte seine Aufmerksamkeit von den Menschen auf dem Boot zu den Palazzi entlang des Canal Grande, und schon war sein Ärger verflogen. Auch hier waren viele [29] heruntergekommen, aber es war eine Schäbigkeit, die durch viele Jahrhunderte des Gebrauchs entstanden war, nicht durch Nachlässigkeit und billige Materialien. Die Stadt war alt geworden, doch Brunetti liebte die Sorgenfalten in ihrem sich wandelnden Gesicht.

Obwohl er nicht genau angegeben hatte, wo der Wagen auf ihn warten sollte, ging er zur Carabinieri-Station am Piazzale Roma und sah davor mit laufendem Motor eine der blau-weißen Limousinen der Squadra Mobile von Mestre stehen. Er klopfte an die Scheibe neben dem Fahrer. Der junge Mann kurbelte sie herunter, und eine Welle kühler Luft traf Brunettis Hemdbrust.

»Commissario?« fragte der junge Mann. Auf Brunettis Nicken hin stieg er aus und sagte: »Sergente Gallo schickt mich.« Damit öffnete er die Tür zum Fond des Wagens. Brunetti stieg ein und legte einen Moment den Kopf an die Rückenlehne. Der Schweiß auf seiner Brust und seinen Schultern wurde kalt, wobei Brunetti nicht wußte, ob er dieses Verdampfen als angenehm oder als schmerzhaft empfand.

»Wohin soll ich Sie fahren, Commissario?« fragte der junge Polizist, als er wieder hinter dem Steuer saß.

»In den Urlaub. Am Samstag«, anwortete Brunetti, aber nur für sich. Und für Patta. »Fahren Sie mich zu der Stelle, wo er gefunden wurde«, sagte er.

Am anderen Ende der Straßenbrücke, die Venedig mit dem Festland verbindet, bog der junge Mann in Richtung Marghera ab. Die Lagune schwand aus dem Blickfeld, und bald umgab sie dichter Verkehr auf einer geraden Straße mit einer Ampel an jeder Einmündung. Sie kamen langsam [30] voran. »Waren Sie heute vormittag dabei?« fragte Brunetti, worauf der junge Mann sich kurz umdrehte und ihn ansah, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtete. Sein Hemdkragen sah frisch und sauber aus. Vielleicht verbrachte er ja den ganzen Tag in diesem klimatisierten Wagen.

»Nein, Commissario. Buffo und Rubelli waren dort.«

»In dem Bericht steht etwas von prostituto travestito. Ist er denn identifiziert worden?«

»Das weiß ich nicht, Commissario. Aber es liegt doch nahe, oder nicht?«

»Wieso?«

»Na ja, da draußen sind doch die Huren, jedenfalls die billigen. Draußen bei den Fabriken. Es stehen immer bestimmt ein Dutzend an der Straße, falls jemand auf dem Heimweg von der Arbeit eine schnelle Nummer will.«

»Auch Männer?«

»Entschuldigung. Wer würde denn sonst eine Hure wollen?«

»Ich meine, auch männliche Prostituierte? Würden die sich denn auch da draußen hinstellen, wo jeder es sehen kann, wenn die Männer, die sich mit ihnen abgeben wollen, auf dem Heimweg von der Arbeit anhalten? Das scheint mir kaum zu den Dingen zu gehören, die viele Männer unter den Augen ihrer Arbeitskollegen tun würden.«

Der Fahrer dachte eine Weile darüber nach.

»Wo arbeiten sie denn normalerweise?« erkundigte sich Brunetti.

[31] »Wer?« fragte der junge Mann vorsichtig. Er wollte nicht wieder in eine Falle tappen.

»Die männlichen Huren.«

»Normalerweise an der Via Cappuccina, Commissario. Manchmal auch am Bahnhof, aber im Sommer, wenn dort so viele Touristen durchkommen, versuchen wir das zu verhindern.«

»War er der Polizei bekannt?«

»Das weiß ich leider nicht, Commissario.«

Sie bogen jetzt links in eine schmale Straße, dann rechts in eine breite mit niedrigen Gebäuden zu beiden Seiten. Brunetti warf einen Blick auf seine Uhr. Kurz vor fünf.

Die Bauten, an denen sie vorbeifuhren, lagen jetzt immer weiter voneinander entfernt, und dazwischen waren Wiesen, auf denen niedriges Gras und gelegentlich ein Busch wuchs. Hier und dort standen herrenlose Autos mit eingeschlagenen Scheiben und herausgerissenen Sitzen quer im Gelände. Wie es aussah, war jedes Gebäude einmal von einem Zaun umgeben gewesen, aber der hing inzwischen bei den meisten schlaff an seinen Pfosten, die ihn zu halten aufgegeben hatten.

Ein paar Frauen standen an der Straße bereit, zwei unter einem großen Sonnenschirm, den sie in die Erde gerammt hatten.

»Wissen die, was heute hier passiert ist?« erkundigte sich Brunetti.

»Bestimmt. So etwas spricht sich schnell herum, Commissario.«

»Und trotzdem sind sie hier?« Brunetti konnte sein Erstaunen nicht verhehlen.

[32] »Sie müssen doch leben. Außerdem war das Opfer ein Mann, da besteht für sie keine Gefahr, oder wenigstens nicht aus ihrer Sicht, nehme ich an.« Der Fahrer nahm das Gas weg und fuhr an die Seite. »Da wären wir, Commissario.«

Brunetti stieg aus. Hitze und Feuchtigkeit krochen an ihm hoch und schlossen ihn ein. Vor ihm lag ein langgezogener Flachbau; auf der einen Seite führten vier steile Betonrampen zu metallenen Doppeltüren. Ein blau-weißer Streifenwagen parkte am Fuß einer der Rampen. An dem Gebäude stand kein Schild, und nichts kennzeichnete es als das, was es war. Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, machte das überflüssig.

»Ich glaube, es war hinten, Commissario«, meinte der Fahrer.

Brunetti ging rechter Hand um das Gebäude herum auf die Wiesen zu, die sich dahinter ausbreiteten. Als er zur Rückseite kam, sah er wieder einen dieser schlaffen Zäune vor sich, dazu eine Akazie, die nur durch ein Wunder überlebt hatte, und in ihrem Schatten auf einem Holzstuhl einen schlafenden Polizisten, dem der Kopf auf die Brust gesunken war.

»Scarpa«, rief der Fahrer, bevor Brunetti noch etwas sagen konnte. »Hier ist der Commissario.«

Der Polizist zuckte zusammen, war sofort hellwach, und ebenso schnell stand er auf den Beinen. Er sah Brunetti an und salutierte. »Guten Tag, Commissario.«

Brunetti registrierte, daß die Jacke des Mannes über der Stuhllehne hing und sein Hemd ihm schweißnaß am Körper klebte, nicht mehr weiß, sondern eher blaßrosa. »Wie [33] lange sind Sie denn schon hier draußen, Scarpa?« fragte Brunetti, während er nähertrat.

»Seit das Laborteam weg ist, Commissario.«

»Und wann sind die gegangen?«

»Gegen drei.«

»Und warum sind Sie noch hier?«

»Der Sergente hat gesagt, ich soll hierbleiben, bis ein paar Leute kommen, um mit den Arbeitern zu reden.«

»Was tun Sie hier draußen in der Sonne?«

Der Mann machte keine Anstalten, der Frage auszuweichen oder seine Antwort zu beschönigen. »Ich konnte es da drin nicht aushalten, Commissario. Der Geruch. Ich bin rausgegangen und habe mich übergeben, danach wußte ich, daß ich nicht wieder reingehen kann. Die erste Stunde habe ich versucht zu stehen, aber Schatten gibt es nur an dieser kleinen Stelle, da bin ich zurückgegangen und habe mir einen Stuhl geholt.«

Brunetti und der Fahrer hatten sich instinktiv genau an dieser kleinen Stelle zusammengedrängt, während der andere sprach. »Wissen Sie, ob die Kollegen schon gekommen sind, um die Arbeiter zu verhören?« fragte Brunetti.

»Ja, Commissario. Vor etwa einer Stunde.«

»Was tun Sie dann noch hier?« wollte Brunetti wissen.

Der Mann blickte Brunetti unbewegt an. »Ich habe den Sergente gefragt, ob ich in die Stadt zurückfahren kann, aber er wollte, daß ich beim Verhör helfe. Ich habe ihm gesagt, ich kann nicht, es sei denn, die Leute kommen heraus. Er war nicht einverstanden, aber ich konnte da nicht wieder reingehen.«

Ein Lüftchen ließ Brunetti dies nachfühlen.

[34] »Aber was machen Sie dann hier draußen? Warum sind Sie nicht im Auto?«

»Er hat gesagt, ich soll hier warten, Commissario.« Das Gesicht des Mannes blieb ausdruckslos, während er sprach. »Ich habe gefragt, ob ich mich ins Auto setzen kann – es ist klimatisiert –, aber er hat gesagt, wenn ich nicht beim Verhör helfe, soll ich hier draußen warten.« Und als ob er Brunettis nächste Frage geahnt hätte, erklärte er: »Der nächste Bus fährt erst um Viertel vor acht, um die Leute nach der Arbeit in die Stadt zurückzubringen.«

Brunetti nahm das zur Kenntnis und fragte dann: »Wo ist er gefunden worden?«

Der Polizist deutete auf eine längliche Stelle mit hohem Gras und niedrigem Gebüsch auf der anderen Seite des Zauns. »Da drunter, Commissario.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Einer von den Arbeitern da drin. Er war rausgegangen und wollte eine Zigarette rauchen, da sah er einen Schuh auf dem Boden liegen – einen roten, glaube ich –, worauf er hinging, um ihn sich näher anzusehen.«

»Waren Sie dabei, als die Spurensicherung hier war?«

»Ja. Sie haben alles durchgekämmt, haben Fotos gemacht und im Umkreis von hundert Metern jede Kleinigkeit vom Boden aufgehoben.«

»Fußspuren?«

»Ich glaube, ja, aber ich weiß es nicht genau. Von dem Mann, der ihn gefunden hat, aber ich glaube auch noch andere.« Er hielt inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fügte hinzu: »Und die ersten Polizisten haben auch welche hinterlassen.«

[35] »Ihr Sergente?«

»Ja, Commissario.«

Brunetti sah zu dem Stück Wiese hin, dann wieder auf das durchgeschwitzte Hemd des Polizisten. »Gehen Sie zu unserem Wagen, Scarpa. Er hat eine Klimaanlage.« Und dann zum Fahrer: »Gehen Sie mit ihm. Sie können da beide auf mich warten.«

»Danke, Commissario«, sagte der Polizist erleichtert und nahm sein Jackett von der Stuhllehne.

»Die Mühe können Sie sich sparen«, sagte Brunetti, als er sah, daß der Mann einen Arm in den Ärmel stecken wollte.

»Danke, Commissario«, wiederholte der und griff nach dem Stuhl. Die beiden Männer gingen auf das Gebäude zu. Der Polizist stellte den Stuhl vor die Hintertür und folgte dem Fahrer. Sie verschwanden um die Ecke, und Brunetti ging zu dem Loch im Zaun.

Er bückte sich tief, kroch hindurch und lief dann auf den Busch zu. Die Hinterlassenschaften der Spurensicherung waren überall zu sehen: Löcher in der Erde, wo sie Stöcke hineingesteckt hatten, um Entfernungen zu messen, Erdaufschürfungen, wo sich Füße gedreht hatten, und näher an der Stelle ein kleiner Haufen, ordentlich aufgetürmt; offenbar hatten sie Gras und Zweige abschneiden müssen, um an die Leiche heranzukommen und sie wegbringen zu können, ohne die Haut an den scharfkantigen Halmen und dornigen Zweigen zu verletzen.

Hinter Brunetti fiel eine Tür ins Schloß, und gleich darauf rief eine Männerstimme: »He, Sie, was machen Sie da? Gehen Sie da weg, zum Donner.«

[36] Brunetti drehte sich um und sah wie erwartet einen Mann in Polizeiuniform, der von der Rückseite des Gebäudes her mit schnellen Schritten auf ihn zukam. Während Brunetti ihn beobachtete und sich dabei nicht von der Stelle rührte, zog der Mann seinen Revolver und schrie: »Nehmen Sie die Hände hoch und kommen Sie durch den Zaun.«

Brunetti tat wie geheißen; er bewegte sich wie auf Geröll, mit seitwärts ausgestreckten Händen, um die Balance nicht zu verlieren.

»Ich habe gesagt, Hände hoch!« geiferte der Polizist, als Brunetti am Zaun ankam.

Der andere hatte eine Waffe, deshalb versuchte Brunetti lieber nicht, ihm klarzumachen, daß er die Hände ja hochhielt, auch wenn sie nicht über seinem Kopf waren. Statt dessen sagte er: »Guten Tag, Sergente. Ich bin Commissario Brunetti aus Venedig. Haben Sie die Aussagen der Leute da drin aufgenommen?«

Die Augen des Mannes waren klein, und viel Intelligenz war darin nicht zu entdecken, aber immerhin konnte Brunetti erkennen, daß der andere die Zwickmühle sah, in der er sich befand. Er konnte Beweise verlangen, konnte einen Commissario nach seinem Ausweis fragen, oder er konnte einem Fremden, der behauptete, Polizeibeamter zu sein, ohne weiteres Glauben schenken.

»Tut mir leid, Commissario, ich habe Sie gegen die Sonne nicht erkannt«, sagte der Sergente, obwohl die Sonne ihm von hinten über die linke Schulter schien. Damit wäre er durchgekommen, hätte sogar Brunettis grollenden Respekt geerntet, wenn er nicht noch eins draufgesetzt hätte:  [37] »Es ist schwierig, wenn man so in die Sonne tritt aus dem Dunkel da drin. Außerdem habe ich nicht damit gerechnet, daß von Venedig noch jemand herauskommt.«

Auf dem Namensschildchen an seiner Brust stand: »Buffo.«

»Mestre hat offenbar in den nächsten paar Wochen keine Commissari zur Verfügung, da hat man mich geschickt, um die Ermittlungen zu leiten.« Brunetti bückte sich und kroch durch das Loch im Zaun. Als er sich auf der anderen Seite wieder aufrichtete, war Buffos Revolver im Holster und die Lasche darüber sicher befestigt.

Brunetti schritt auf die Hintertür des Schlachthofs zu, Buffo ging neben ihm her. »Was haben Sie von den Leuten da drin erfahren?«

»Nicht mehr als heute vormittag bei unserem ersten Besuch, Commissario. Einer von den Fleischern, Bettino Cola, hat die Leiche heute morgen kurz nach elf gefunden. Er war draußen, um eine Zigarette zu rauchen, und ist zu dem Gestrüpp gegangen, weil er sich irgendwelche Schuhe näher ansehen wollte, die auf dem Boden lagen, wie er sagte.«

»Waren denn keine Schuhe da?« fragte Brunetti.

»Doch. Sie waren da, als wir hinkamen.« Wenn man ihn so reden hörte, mußte man fast annehmen, daß Cola sie dorthin gelegt hatte, um den Verdacht von sich abzulenken. Wie jeder normale Bürger oder jeder Kriminelle, haßte Brunetti sogenannte hartgesottene Bullen.

»Am Telefon wurde uns gesagt, eine Hure liege draußen auf der Wiese. Daraufhin bin ich rausgefahren und habe sie mir angesehen, aber es war ein Mann«, zischte Buffo.

[38] »Nach dem, was mir berichtet wurde, soll es sich um einen prostituto travestito handeln«, sagte Brunetti ausdruckslos. »Ist er denn schon identifiziert?«

»Nein, noch nicht. Wir lassen die im Leichenschauhaus Fotos von ihm machen, obwohl er ziemlich schlimm zugerichtet wurde, und danach macht ein Zeichner dann eine Skizze, wie er vorher ausgesehen haben könnte. Das Bild zeigen wir herum, und früher oder später wird ihn jemand erkennen. Diese Typen sind ziemlich bekannt«, sagte Buffo mit einem Gesichtsausdruck zwischen Grinsen und Grimasse. Dann fuhr er fort: »Wenn er zu den hiesigen gehört, haben wir ihn bald identifiziert.«

»Und wenn nicht?« fragte Brunetti.

»Dann dauert es wohl etwas länger. Oder aber wir finden gar nicht heraus, wer er ist. In jedem Fall kein großer Verlust.«

»Und warum das, Sergente Buffo?« fragte Brunetti gefährlich leise, aber Buffo hörte nur die Worte, nicht den Ton.

»Wer braucht die schon? Perverse. Sie haben alle AIDS und finden nichts dabei, anständige, schwer arbeitende Männer damit anzustecken.« Er spuckte aus.

Brunetti blieb stehen, drehte sich um und sah den Sergente an. »Soweit ich weiß, Sergente Buffo, stecken sich diese anständigen, schwer arbeitenden Männer, um die Sie so besorgt sind, mit AIDS an, weil sie diese ›Perversen‹ dafür bezahlen, daß sie ihnen den Schwanz in den Arsch rammen dürfen. Versuchen wir, das nicht zu vergessen. Und vergessen wir auch nicht, daß dieser Tote, wer immer er sein mag, ermordet wurde und es unsere [39]

[40] 4

Drinnen erfuhr er nicht viel mehr. Cola erzählte seine Geschichte noch einmal, und der Meister bestätigte sie. Buffo berichtete mürrisch, keiner der Männer, die dort arbeiteten, habe etwas Außergewöhnliches gesehen, an diesem Morgen nicht, und auch nicht tags zuvor. Die Huren gehörten schon so in die Landschaft, daß inzwischen niemand mehr groß auf sie oder das, was sie trieben, achtete. Keiner könne sich erinnern, daß diese Wiese hier hinter dem Schlachthof je von den Huren benutzt worden sei – schon allein der Geruch spräche dagegen. Doch hätte man eine dort gesehen, wäre es auch nicht weiter aufgefallen.

Nachdem Brunetti sich das alles angehört hatte, ging er zum Wagen zurück und bat, zur Questura in Mestre gefahren zu werden. Scarpa, der seine Jacke wieder übergezogen hatte, stieg aus und setzte sich zu Sergente Buffo in den zweiten Wagen. Auf der Fahrt nach Mestre kurbelte Brunetti das Fenster auf seiner Seite ein Stück herunter, um etwas Luft hereinzulassen, auch wenn sie noch so heiß war, und damit den Schlachthausgeruch wegzubekommen, der immer noch in seinen Kleidern hing. Wie die meisten Italiener hatte Brunetti die Idee des Vegetarismus immer verspottet und sie als eine der viele Überspanntheiten der Wohlgenährten abgetan, aber heute erschien sie sehr naheliegend.

In der Questura brachte ihn der Fahrer in den zweiten [41] Stock und machte ihn mit Sergente Gallo bekannt, einem hageren Mann mit tiefliegenden Augen, der aussah, als ob ihn die Jahre, die er mit der Verfolgung von Verbrechern verbracht hatte, von innen her zerfressen hätten. Als Brunetti vor Gallos Schreibtisch Platz genommen hatte, meinte der Sergente, es gebe dem, was Brunetti bereits wisse, nur wenig hinzuzufügen. Immerhin konnte er einen ersten mündlichen Bericht des Pathologen weitergeben: Der Tod war durch eine Reihe von Schlägen auf Kopf und Gesicht verursacht worden und zwölf bis achtzehn Stunden vor Auffinden der Leiche eingetreten. Angesichts der Hitze ließ es sich nicht genauer bestimmen. Aus Rostspuren in den Wunden und deren Form schloß der Pathologe, daß die Mordwaffe ein Stück Metall gewesen war, wahrscheinlich eine Art Rohr, sicher aber etwas Zylindrisches. Die Laboranalysen über Mageninhalt und Blut kämen frühestens am Mittwoch, so daß man noch nicht sagen könne, ob der Tote unter Drogen oder Alkohol gestanden habe, als er starb. Da viele Prostituierte und fast alle Transvestiten der Stadt nachweislich Drogen benutzten, war das anzunehmen, auch wenn die Leiche keine Einstichstellen aufwies. Der Magen war leer gewesen, doch es gab Anzeichen für eine Nahrungsaufnahme etwa sechs Stunden vor dem Tod.

»Und seine Kleidung?« fragte Brunetti.

»Ein rotes Kleid, irgendein billiger Stoff. Rote Schuhe, kaum getragen, Größe einundvierzig. Ich lasse sie untersuchen, um zu sehen, ob wir den Hersteller ausfindig machen können.«

»Haben Sie Fotos?« wollte Brunetti wissen.

[42] »Die sind vor morgen vormittag nicht fertig, Commissario, aber nach dem Bericht der Kollegen, die ihn abgeholt haben, werden Sie vielleicht lieber darauf verzichten, sie anzuschauen.«

»So schlimm ist es also?« fragte Brunetti.

»Wer das getan hat, muß ihn wirklich gehaßt haben, oder er war nicht ganz bei sich. Von der Nase ist nichts mehr übrig.«

»Lassen Sie von einem Zeichner eine Skizze machen?«

»Ja. Aber das meiste wird er wohl raten müssen. Als Anhaltspunkte hat er nur Gesichtsform und Augenfarbe. Und die Haare.« Gallo hielt einen Moment inne, bevor er sagte: »Sie sind sehr dünn, und an einigen Stellen ist er schon kahl, so daß ich annehme, er hat eine Perücke getragen, wenn er, äh, wenn er arbeiten ging.«

»Wurde eine Perücke gefunden?« fragte Brunetti.

»Nein. Außerdem sieht es so aus, als wäre er woanders getötet und dann zu der Stelle gebracht worden.«

»Fußspuren?«

»Ja. Die Spurensicherung sagt, sie hätten welche gefunden, die zu der Stelle hin- und auch wieder wegführen.«

»Tiefere Eindrücke beim Hinweg?«

»Ja, Commissario.«

»Dann ist er also dort hingeschafft worden. Wohin führten die Fußspuren?«

»Es sieht aus, als wären sie von einer schmalen Asphaltstraße gekommen, die hinter der Wiese und dem Schlachthof verläuft.«

»Und auf der Straße?«

»Nichts. Es hat seit Wochen nicht geregnet. Da könnte [43] ein Auto oder sogar ein Laster angehalten haben, ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen. Wir haben nur die Fußspuren. Männliche. Größe dreiundvierzig.« Das war Brunettis Schuhgröße.

»Haben Sie eine Liste von allen Transvestiten, die als Prostituierte arbeiten?«

»Nur von denen, die schon mal in Schwierigkeiten waren, Commissario.«

»Was für Schwierigkeiten sind das denn so?«

»Die üblichen. Drogen. Streitereien untereinander. Hin und wieder legt sich einer mit einem Kunden an. Meist wegen Geld. Aber bisher ist noch nie einer in etwas Ernstes verwickelt gewesen.«

»Und die Streitereien? Enden die manchmal gewalttätig?«

»Nie so, Commissario. Nie hat es so etwas gegeben.«

»Wie viele sind es denn überhaupt?«