12,99 €
Niels Seibert stellt Proteste aus der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit von Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre vor. Schwerpunkt ist die Zeit des Anwachsens sowie der Fraktionierung der 68er-Studentenbewegung, in der neue Gruppen und Bewegungen entstanden, die an den Internationalismus der Studentenbewegung anknüpften. Diese Zeit, Ende der 1960er bis Anfang der 1970er, war von einer weltweiten Aufbruchsstimmung geprägt. Auf allen Kontinenten revoltierten Menschen auf den Straßen, in Betrieben und an den Universitäten gegen die herrschenden Verhältnisse. Die politischen Aktivitäten, zu denen Niels Seibert recherchierte, sind vielfach in Vergessenheit geraten. Ausgewählt wurden Proteste der Studenten- und Internationalismusbewegung, die sich innerhalb der Themenbereiche Kolonialismus und Neokolonialismus, internationale Solidarität, bundesdeutsche Ausländerpolitik sowie Flucht und Asyl bewegen. Die politischen Aktionen und Kampagnen waren einerseits eine praktische Kritik an staatlicher Politik und hatten andererseits Einfluss auf politische Entscheidungen. In diesem Wechselverhältnis vermitteln sie sowohl etwas über die politischen Verhältnisse als auch über die Bewegungen dieser Zeit. »Der Autor arbeitet auf knapp 200 Seiten den Antirassismus der 68er auf und bezieht diese nahezu vergessene Geschichte auf politische Debatten der Gegenwart. Das macht die Lektüre ausgesprochen spannend. Der Band ist zudem reich bebildert und bietet eindruckvolles Material von der Bewegung. Auch deswegen liest sich Vergessene Proteste als Gegenerzählung zu den Schriften von Autoren wie Götz Aly.« – Martin Rapp, taz.de, 14. September 2008 »Niels Seibert will mit Vergessene Proteste die Leerstelle in der Darstellung der Antira-Arbeit vor 1990 ›ein wenig füllen‹. Wie leer diese Stelle war, fällt einem erst bei der Lektüre richtig auf: die Proteste gegen die Ereignisse in Chile und Vietnam dürften geläufig sein, anders sieht es schon mit der Kampagne gegen den Cabora-Bassa-Staudamm in Mozambique, der Organisierung schwarzer GIs in bundesdeutschen Kasernen oder dem Namen Moise Tschombé aus. Dabei waren die radikalen Proteste gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten in Westdeutschland 1964 der ›Beginn unserer Kulturrevolution‹, wie Seibert Rudi Dutschke zitiert.« – AL, arranca 39, Winter 2008/09 »Das Buch besticht durch seine Fülle an Informationen und Geschichten vom Kampf der damaligen BRD-Linken gegen Rassismus. In diesem Sinne stellt es linke Geschichtsschreibung im besten Sinne des Wortes da: Es wird überhaupt erst das Bewusstsein für vergangene Auseinandersetzungen geschaffen, welches für heutige politisch Aktive wichtig ist.« – Gerald Whittle, iz3w, Nr. 310, Januar/Februar 2009
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2024
Demonstration gegen den Tschombé-Besuch am 18. Dezember 1964 in Westberlin (Archiv des Autors)
Niels Seibert
Vergessene Proteste
Internationalismus und Antirassismus 1964-1983
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Diese Dissertation der Freien Universität Berlin und ihre Veröffentlichung
wurden unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung.
Niels Seibert:
Vergessene Proteste
2., mit einem aktuellen Vorwort ergänzte Auflage, Mai 2024
eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024
ISBN 978-3-95405-153-3
© UNRAST Verlag, Münster, Münster 2008
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: kv, 3 Fotos aus dem Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
Satz: kv
Vorwort zur zweiten Auflage
Einleitung
Auf dem Weg zur APO Von der Nachkriegszeit zur Neuen Linken
Flüchtlinge in den 1950er und 1960er Jahren
Kick him out, Willy! Der Tschombé-Besuch (1964)
Alte Themen, neue ProtestformenDer Film Africa Addio (1966)
Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und Filmbewertungsstelle
Geschichtspolitische DenkmalstürzeDie Wissmann-Statue (1967/68)
Tumulte auf der Buchmesse, der Straße und im GerichtssaalDie Friedenspreisverleihung an Leopold Senghor (1968)
Aktionärsversammlungen und eine BombeDie Cabora Bassa-Kampagne und deutsche Korvetten (1969-1974)
»Nationaler Befreiungskampf der Völker«
Antirassismus-Programm des Weltkirchenrats
Nach der Unabhängigkeit
Bewegung aus den USABlack Panthers und Angela Davis (1966-1972)
Black Panther Party
Gegen Militär und VietnamkriegGI-Widerstand, Desertion und Fluchthilfe (1966-1972)
Exkurs: Gesetze gegen AusländerNeues Ausländergesetz und ein alternativer Gesetzentwurf
Gegen Beihilfe zu Folter und MordAbschiebungen in den Iran (1969)
Hetze gegen arabische Student/innenDas Verbot von GUPS und GUPA und die Massenabschiebungen (1972)
Zerstörte Hoffnungen und ExilChile, Flucht und Asyl (1973-1979)
Ein staatlich betriebener SelbstmordCemal Altun und Proteste gegen Auslieferungen (1983)
Anstelle eines EpilogsThesen zur Flüchtlingsfrage (1986/87)
Anhang
Abkürzungen
Quellen
Aktenbestände
Bücher und Broschüren
Zeitungen und Zeitschriften
Anmerkungen
Seit Erscheinen von Vergessene Proteste im Jahr 2008 ist im Bereich antirassistischer Kämpfe viel passiert. Nach dem rassistischen Mord an George Floyd während seiner gewaltsamen Festnahme Ende Mai 2020 in Minneapolis mobilisierte Black Lives Matter viele Millionen Menschen auf die Straßen. Die Bewegung organisiert seit 2014 Proteste gegen Racial Profiling, Rassismus, Polizeigewalt und gegen die Tötung Schwarzer Menschen durch Polizeibeamte, seit Juni 2020 auch über die Grenzen der USA hinaus. Hunderttausende, darunter überdurchschnittlich viele People of Color, demonstrierten damals auch in Deutschland gegen Rassismus.
Im Rahmen dieser Proteste wurden Filmausschnitte aus Bristol, die den Sturz der Bronzestatue des Sklavenhändlers Edward Colston und ihr Versenken im Hafenbecken im Juni 2020 zeigten, auf Socialmedia gefeiert. Die Bilder aus dem Südwesten Englands gaben Anregungen für weitere, von Sympathie begleitete Aktionen gegen koloniale Denkmäler weltweit.
Schon dem Hamburger Denkmalsturz 1967/68 war die bürgerliche Presse zugeneigt und nahm die Demontage des Hermann-von-Wissmann-Denkmals sogar mit Humor (vgl. Kapitel »Geschichtspolitische Denkmalstürze« in diesem Buch). Seit 2004 ist die bronzene Statue des deutschen Kolonialoffiziers mehrmals Teil von Kunstaktionen und Ausstellungen gewesen, die sich einer kritischen Auseinandersetzung mit Kolonialismus und der deutschen Geschichtsaufarbeitung verbunden fühlten. Auch mehrere, jedoch nicht alle in der Bundesrepublik nach Wissmann benannte Straßen bekamen in den vergangenen 15 Jahren – meist auf Initiative von Anwohner*innen – neue Namensgeber*innen, beispielsweise in Stuttgart, Korntal-Münchingen und Berlin.
Die Hauptdurchgangsstraße des Kurorts Bad Lauterberg im Harz, wo Wissmanns Mutterhaus steht, trägt noch immer den Namen des kolonialen Eroberers. Im angrenzenden Kurpark prangt seit 1908 unübersehbar, überlebensgroß und ohne kritische Kontextualisierung die einzige in Deutschland verbliebene Wissmann-Statue im öffentlichen Raum. 1980 formulierte der Antifaschistische Arbeitskreis Bad Lauterberg erste Kritik am lokalen Wissmann-Kult, mehrere Aktionen gegen das Denkmal folgten, ein nächtlicher Sturzversuch scheiterte (Langer 2022). Eine kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes findet seit 2020 durch Initiativen aus umliegenden Städten statt. Vor Ort scheint das nicht möglich, zu sehr hängen die Einwohner*innen der Kurstadt an ihrem Wahrzeichen. Der Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen, der den deutschen Kolonialismus apologetisch verherrlicht, darf sich sogar noch im örtlichen Kurhaus treffen, wie zuletzt im Oktober 2023. Ein Sturz der Bad Lauterberger Wissmann-Statue würde zwar nicht in der Stadt selbst, aber fast überall auf der Welt verstanden werden.
Nach 15 Jahren ist das 2008 in einer vierstelligen Auflage erschienene Buch Vergessene Proteste tatsächlich vergriffen. In dieser Zeit sind Abschiebungen und die Aushöhlung des Asylrechts unvermindert fortgesetzt worden, ebenso die Hetze gegen Migrant*innen und aktuell wieder gegen arabisch gelesene Menschen – über 50 Jahre nach dem im Herbst 1972 nach den Olympischen Spielen erlassenen Verbot der Generalunion Palästinensischer Studenten bzw. Arbeiter (GUPS und GUPA). Auch die Geschichte sowie der Protest, der Widerstand und die Organisierung gegen institutionellen Rassismus sind weitergegangen.
Zu den in diesem Buch behandelten Protesten gibt es inzwischen ergänzende Erzählungen. Anlässlich des 50. Jahrestags von Wissmanns Denkmalsturz hat die Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« Zeitzeugeninterviews geführt, die auf der Webseite der Uni Hamburg dokumentiert sind (Forschungsstelle 2018). Zum Anschlag auf die für die Kolonialmacht Portugal bestimmte Korvette bei Blohm und Voss im Hamburger Hafen 1969 haben sich 2020 zwei Personen gegenüber dem Staatsschutzhistoriker Wolfgang Krauhaar (taz, 10.10.2019) und der Hamburger Morgenpost bekannt. Sie berichten, wie sie an den Sprengstoff gelangten, den Sprengsatz anbrachten und den telefonischen Warnanruf tätigten.
Die in Vergessene Proteste geschilderten internationalistischen und antirassistischen Proteste nehmen die Leser*innen mit auf eine Reise rund um die Welt. Antikoloniale Befreiungsbewegungen und linke Bündnisse erzielten Erfolge; in mehreren Ländern Afrikas, Südost- und Südwestasiens durch Guerillakampf, in Lateinamerika auch durch demokratische Wahlen. Wie ein antikolonialer Befreiungskampf auf Europa zurückwirkte und dazu beitrug, das faschistische Regime in Portugal zu beseitigen, zeigt die Nelkenrevolution 1974/75 (Mailer 2024). Die weltweiten Kämpfe und Revolten sorgten in den Metropolen für eine Aufbruchstimmung und für die Hoffnung auf eine radikale Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse hierzulande. Die ›Weltrevolution‹ schien greifbar nahe, was bedeutsam für das Verständnis der teils militanten Proteste der 1960er- und 1970er-Jahre ist. Heute kann das als eine Überschätzung der eigenen Stärke interpretiert werden. Nichtsdestotrotz bleibt die Denkbarkeit einer Chance auf grundlegende gesellschaftliche Veränderung immer fruchtbar für die eigene Politik.
So erscheint die zweite, nicht überarbeitete Auflage des Buchs von 2008 mit der gleichen Motivation wie die Erstausgabe: Geschichte aus der Bewegung und für die Bewegung zur Verfügung zu stellen, um Bezüge und Anregungen für aktuelle politische Aktivitäten zu ermöglichen.
Das Buch hat zu vielfältigen Diskussionen beigetragen. Auf über 20 Veranstaltungen habe ich die historischen Vorläufer der antirassistischen Bewegung – unterlegt mit Fotos und Filmausschnitten – vorgestellt, erstmals bei der Anticolonial Africa Conference im November 2004 in Berlin. Nach Erscheinen von Vergessene Proteste gab es zahlreiche Einladungen zu Buchvorstellungen von Menschen aus linken und antirassistischen Bewegungen, Flüchtlingsräten, Dritte-Welt-Häusern und anderen selbstverwalteten Zentren. So ergab sich an den Veranstaltungsorten die gute Gelegenheit, auf lokale Protestgeschichten einzugehen, die im Rahmen meiner Recherchen entdeckt worden waren, teilweise aber keinen Eingang ins Buch gefunden haben. Es entstanden anregende Debatten, insbesondere über den über die Jahrzehnte erfolgten Wandel politischer Proteste und ihrer Wahrnehmung.
Zwar gebe es auch nach dem Ende der Systemauseinandersetzung weltweit Kämpfe, hieß es beispielsweise, diese würden jedoch nicht mehr in der Intensität wahrgenommen. Während Rassismus in den 1960er- und 1970er-Jahren eher als Nebenwiderspruch galt, vernachlässige der zum Teilbereichskampf gewordene Antirassismus heute ökonomische Gesichtspunkte. Zwar gewann der Antirassismusbegriff durch die internationale Debatte an Breite, aber entsprechende politische Praxen seien gegenwärtig stark auf innenpolitische Sichtweisen fokussiert. Praktische internationale Solidarität mit in Kollektiven organisierten Genoss*innen wurde abgelöst von sozialer Unterstützung für verfolgte Individuen. Das machten Veranstaltungsbesucher*innen auch an antirassistischen Kämpfen fest, an denen sie sich beteiligen, wie denen für das Bleiberecht der Geflüchteten oder für die Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle.
Dank der Ergänzungen durch anwesende Zeitzeugen wurde deutlich, dass manche Proteste im lokalen Gedächtnis nicht ganz verloren sind. Vor allem diejenigen gegen den Vietnamkrieg waren der älteren Generation noch präsent. Auch hoben manche Besucher*innen, die einzelne der Geschichten schon kannten, hervor, dass die Fotos eine besondere Bereicherung waren. Erst die Aufnahmen haben für sie die Proteste und die Beteiligung Schwarzer Genoss*innen bildlich in die Realität geholt.
Im Erscheinungsjahr von Vergessene Proteste jährte sich die 68er Revolte zum 40. Mal. Das hat zu einem Dutzend wohlwollender Rezensionen in linken Tages-, Wochen- und Monatszeitungen sowie Zeitschriften mit Schwerpunkt auf globaler Süden bzw. Antirassismus geführt. Der Freitag hob hervor, dass das Buch im Jubiläumsjahr 1968 ein ganz anderes Bild des Aufbruchs und seiner Folgen vermittele als jenes, das die veröffentlichte Meinung im Jahr 2008 dominiert (Freitag Nr. 28, 11.7.2008). Wiederholt wurde die gut lesbare, spannende Darstellung von Diskussionen und Aktionen gelobt, auch auf die reiche Bebilderung wurde hingewiesen. Die taz hob hervor, dass die Arbeit die »nahezu vergessene Geschichte (des Antirassismus) auf politische Debatten der Gegenwart« bezieht. Mehr noch: Das »eindrucksvoll« ausgebreitete Material könne »als Gegenerzählung zu den Schriften von Autoren wie Götz Aly« gelesen werden (taz, 15.09.2008). Eine andere Rezension machte geltend, dass mir mit »einem fundamentaloppositionell geschärften Blick (…) gegen dominierende herrschaftskonforme Interpretationsweisen ein Streich gelungen« sei, denn mit der Lektüre des Buches werde ein Befund auf dem Klappentext bestätigt: »Die Erinnerung an diese militanten Proteste steht unvermeidlich im Widerspruch zur herrschenden Geschichtsschreibung« (Junge Welt, 28.5.2009). Eine Besprechung in der Zeitschrift iz3w machte demgegenüber ablehnend geltend, dass ich den inhaltlichen Gründen und der politischen Motivation für die Proteste und damit dem »antiimperialistischen Antirassismus« auch heute noch etwas Positives abgewinnen kann (iz3w Nr. 310, Januar/Februar 2009). Nun, diesen Standpunkt vertrete ich nach wie vor.
Das Interesse an der Arbeit zeigt sich auch in der positiven Resonanz vor allem von Menschen, die in antirassistischen, migrantischen und polizeikritischen Gruppen und Bündnissen aktiv sind. Es hat mich gefreut, wenn politisch Aktive aus dem Buch für ihre Arbeit Nutzen ziehen konnten. So haben ausgewählte Passagen beispielsweise Einzug erhalten in das Faltblatt »frankfurt postkolonial« von der gleichnamigen Gruppe, die seit 2011 einen postkolonialen Stadtrundgang in Frankfurt am Main anbietet.
Auch zwischenzeitlich erschienene wissenschaftliche Publikationen verweisen auf steigendes Interesse am Antirassismus. Teilweise beziehen sie sich auf Vergessene Proteste. Die Kapitel über die Black Panthers und den GI-Widerstand hat Pablo Schmelzer in seiner Masterarbeit weitergeführt und vertieft (Schmelzer 2021). Daran zeigte sich auch die Bundeszentrale für politische Bildung interessiert und bat Schmelzer um einen Beitrag für deren Onlineportal (Schmelzer 2023).
In dem von Vojin Saša Vukadinović 2023 herausgegebenen Sammelband Rassismus wird auch punktuell Bezug auf Vergessene Proteste genommen. Leider wird das mit der demagogischen Anstrengung verknüpft, dem SDS und der Neuen Linken 1967 Antisemitismus anzudichten. Das überzeugt weder prinzipiell, noch ist das im empirischen Detail gelungen. Zu den Autor*innen dieses Bandes gehört auch der langjährige Referatsleiter in der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz Armin Pfahl-Traughber. Das ist bemerkenswert: Zum Zeitpunkt der Erstauflage von Vergessene Proteste wurde Antirassismus weitgehend durch radikale Linke thematisiert. Mittlerweile haben sich diesem auch staatliche und staatlich geförderte Stellen angenommen. Zu ihnen gehört die erwähnte Bundeszentrale für politische Bildung, eine dem Bundesinnenministerium unterstellte Behörde, die institutionell benachbart ist mit Repressionsbehörden und Geheimdiensten. Sie versuchen eine eigene Lesart anzubieten und Hegemonie über das Thema Antirassismus zu gewinnen – insbesondere gegen den wachsenden antirassistischen Protest auf der Straße und der damit einhergehenden scharfen Kritik an staatlicher Politik.
Es sind heute Gruppen wie Black Lives Matter und die nach dem rassistischen Anschlag in Hanau Mitte Februar 2020 gegründete Migrantifa, die der herrschenden Politik etwas entgegensetzen und mit ihren Kämpfen politische Proteste inspirieren.
Berlin, Frühjahr 2024
Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« (2018). 50 Jahre Denkmalsturz. Der Sturz des Wissmann-Denkmals an der Universität Hamburg 1967/68. https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/50-jahre-denkmalsturz-der-sturz-des-wissmann-denkmals-an-der-universitaet-hamburg-1967-68/
Langer, Bernd (2022). Schluss mit der Verherrlichung der deutschen Kolonialverbrechen und der Pflege faschistischen Gedankengutes. In: Unser Harz Nr. 9/2022. Bad Harzburg, S. 166–174.
Mailer, Phil (2024). Portugal. Die unmögliche Revolution? Hamburg
Schmelzer, Pablo (2021). »Black and White, unite and fight«. Die deutsche 68er-Bewegung und die Black Panther Party. Hamburg
Schmelzer, Pablo (2023). Geschichte antirassistischer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. https://www.bpb.de/themen/rassismus-diskriminierung/rassismus/521319/geschichte-antirassistischer-bewegungen-in-der-bundesrepublik-deutschland-nach-1945/
Vukadinović, Vojin Saša (2023). Rassismus. Von der frühen Bundesrepublik bis zur Gegenwart. Berlin. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110702729/html
»Die Internationalisierung der Strategie der revolutionären Kräfte scheint mir immer dringlicher zu werden. Unsere Mikrozellen haben umgehend Kontakt und Zusammenarbeit mit amerikanischen, anderen europäischen, lateinamerikanischen und auch afro-asiatischen Studenten und Nichtstudenten […] aufzunehmen. Diese Kontakte sind allen anderen Kontakten mit pseudorevolutionären deutschen Gruppen vorzuziehen. […] unsere sehr guten, aber noch unsystematischen Beziehungen zu den Lateinamerikanern sind zu systematisieren […]. Neben einer möglichen aktuellen theoretischen Zusammenarbeit muss vor allem daran gedacht werden, Adressen der revolutionären Gruppen in den Heimatländern zu erhalten. Austausch von Publikationen […] brächte uns endlich eine Fülle von bisher nicht oder kaum eruierbaren Informationen, ließe das konkrete Gebäude einer umfassenden Weltrevolutionstheorie sichtbar werden.«
Das schrieb Rudi Dutschke lange vor »68« in einem Diskussionspapier zur Notwendigkeit internationalistischer Zusammenarbeit. Diese Passage von April 1965 wirkt heute geradezu programmatisch für die beginnende Außerparlamentarische Opposition.
In diesem Buch werden linke Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland von Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er vorgestellt, die meist vergessen sind und erst in Archiven und Erinnerungen ausgegraben werden mussten. Damals waren die weltweiten Machtverhältnisse der Nachkriegszeit ins Wanken geraten und es ging nun auch in den westlichen Metropolen um Kolonialismus und Neokolonialismus, internationale Solidarität, Ausländerpolitik, Flucht und Asyl. Entsprechende Aktionen und Kampagnen waren eine praktische und mitunter durchaus erfolgreiche Kritik staatlicher Politik, die heutigen Aktivist/innen immer noch als Lehrstücke dienen könnten.
Die gewählte Zeitspanne von 20 Jahren beginnt mit den Anfängen der Außerparlamentarischen Opposition und endet mit einer sich konstituierenden antirassistischen Bewegung in der BRD. Die Zeit vom Ende der 1960er bis Anfang der 1970er war von einer weltweiten Aufbruchstimmung geprägt. Auf allen Kontinenten revoltierten Menschen auf den Straßen, in Betrieben und an den Universitäten gegen die herrschenden Verhältnisse. Für Europa stehen dafür exemplarisch der Pariser Mai und der Prager Frühling 1968. In Südostasien und Afrika gingen die Kämpfe der Befreiungsbewegungen in Vietnam und in den letzten portugiesischen Kolonien ihrem Ende entgegen. Anfang der 1970er kamen auch in Lateinamerika mit dem linken chilenischen Wahlbündnis Unidad Popular Sozialisten an die Macht. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich die theoretischen und praktischen Konzepte der Aktivist/innen aus der Studenten- und Internationalismusbewegung.
Ausländer- und Asylpolitik wurden vor allem von der sich in den 1980ern konstituierenden antirassistischen Bewegung aufgegriffen. Insofern bietet dieses Buch einen Einblick in die Vorgeschichte der aktuelleren antirassistischen Bewegungen. Rassismus stand zwar nicht im Fokus der Bewegungen der 1960er und 1970er, aber auch wenn viele Aktivitäten nicht oder nicht in erster Linie als antirassistisch verstanden wurden, ließen sie sich rückblickend darunter einordnen. Antirassismus existierte also schon vor der Entstehung einer so etikettierten Bewegung – trotz der »weißen Flecken«, wegen denen Rassismus nicht als eigenständige Unterdrückungsstruktur begriffen wurde.
Zur jüngeren Geschichte der antirassistischen Bewegung sind bereits zahlreiche Beiträge erschienen. Dabei taten sich vor allem Aktivist/innen von kein mensch ist illegal hervor. Pionierarbeit leistete auch die vierköpfige Herausgebergruppe interface aus den Zusammenhängen der Anti-Lager-Action-Tour 2004, die das erste Buch zur antirassistischen Bewegung in Deutschland mit Schwerpunkt auf den Kämpfen von und für Migrant/innen und Flüchtlinge veröffentlichte. Mit Ausnahme von kanak attak, für die die Arbeitsmigrant/innen der 1960er und 1970er Jahre ein wichtiger Bezugspunkt ihrer Analysen sind, wurde die Zeit vor 1990 allerdings kaum berücksichtigt. Diese Leerstelle soll dieses Buch ein wenig füllen.
Inhalte und Protestformen der Bewegungen vor 40 Jahren sind denen aus den vergangenen 20 Jahren zum Teil sehr ähnlich. Antirassist/innen wandten sich gegen autoritäre Formierung und staatlichen Rassismus, lehnten neue Ausländergesetze ab, protestierten unter anderem an Flughäfen gegen Abschiebungen, kritisierten die Lagerunterbringung für Flüchtlinge, starteten Imageverschmutzungskampagnen wie deportation.class, protestierten auf Aktionärsversammlungen der Abschiebe-Airline Lufthansa, thematisierten Fluchtursachen und die Verantwortung der westlichen Welt, setzten sich für Bewegungsfreiheit ein, leisteten Fluchthilfe, verhinderten die Aufführung von reaktionären, rassistischen Filmen und sie organisierten antikoloniale Aktionen, wie 2004 im Rahmen der Anticolonial Africa Conference. Die Proteste finden heute jedoch unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Zielvorstellungen statt, so dass man von ihrer bloßen Wiederholung nicht sprechen kann. Damals prägte die Solidarität mit den weltweiten Kämpfen für Emanzipation und Befreiung das Denken und Handeln, und eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch in der Metropole schien eine realistische Perspektive. So sprach auch Rudi Dutschke von einer »Weltrevolutionstheorie«. 20 Jahre später fand sich linke Politik in der Defensive wieder, denn die kapitalistischen Gesellschaften gingen gestärkt aus dem Ende des Kalten Krieges hervor und die EU wurde zur Festung gegen Flüchtlinge und Migrant/innen. In der BRD wuchs nach dem Anschluss der DDR die nationalistische Stimmung. Linke Politik wurde zwangsläufig zu einer Erwiderung der medialen Hetze, der neonazistischen Anschläge und der staatlichen Praxis gegen Flüchtlinge und Migrant/innen. Solidarität galt den Kämpfen aller, die im Rahmen größerer Migrationsbewegungen ins Land kamen oder kommen wollten. Perspektivisch ging es um offene Grenzen, Bleiberecht und die Abschaffung unmenschlicher Lebensverhältnisse für Flüchtlinge und Migrant/innen. Aktivist/innen sahen sich als »Sand im Getriebe der rassistischen Maschinerie«.
Mit dem Verlust von Illusionen hinsichtlich der erzielbaren sozialrevolutionären Erfolge der Befreiungsbewegungen und auch dem Zusammenbruch des Realsozialismus sind Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen viel vager geworden. Seither wird nicht mehr für die Weltrevolution gestritten, sondern für aktuell realisierbar erscheinende Forderungen wie die Verbesserung der Lebensbedingungen von Migrant/innen und Flüchtlingen. Die vormals kämpferischen Forderungen und Praxen für revolutionäre Veränderungen wurden von kleinteiligeren Ansprüchen und der Solidarität mit den rassistisch Ausgegrenzten im eigenen Land abgelöst. Und im Nachhinein betrachtet waren die Bewegungen der Vergangenheit eigentlich auch nur das, was eine sich illusionslos sehende antirassistische Bewegung später sein wollte: Sand im Getriebe der Maschinerie rassistischer Entrechtung und staatlicher Abschottungspolitik.
Was stattgefunden hat, war eine inhaltliche Schwerpunktverlagerung: Die Bewegungen der 1960er und 1970er waren internationalistisch und antiimperialistisch. Die Aktivist/innen kritisierten die westlichen Staaten und ihre Marionettenregime in Afrika, Asien und Lateinamerika, die brutal durch militärische Interventionen westliche Kapitalinteressen zu sichern suchten und solche Bewegungen ausschalteten, die einen anderen als den kapitalistischen Weg einzuschlagen gewillt waren. Kritik galt besonders der Beteiligung der Bundesrepublik an solchen Verbrechen. Die mit der Einführung neokolonialer Verhältnisse veränderte kapitalistische Strategie hatte ihre Auswirkungen. Militärische Interventionen wie der Einsatz von Fallschirmjägern im Kongo oder Bombardierungen in den portugiesischen Kolonien waren viel offensichtlicher als modernere Kapitalinvestitionen und ökonomische Ausbeutungsmethoden. Klassischer Kolonialismus war leichter zu skandalisieren und hatte ein größeres Mobilisierungspotential als die Auseinandersetzung mit ökonomischen und individuellen Fluchtursachen. Über die Jahrzehnte verlor die politische Solidarität mit antiimperialistischen Parteien, Guerillas und Bewegungen im Trikont ihre zentrale Bedeutung. Obwohl der einstige internationalistische und antiimperialistische Impuls beim Aufkommen antirassistischer Bewegungen in der zweiten Hälfte der 1980er noch vorhanden war, ist er später aus antirassistischen Themenfeldern so gut wie verschwunden. Die Solidarität mit politischen, organisierten Exilierten wurde zur Solidarität mit allen Migrant/innen und Flüchtlingen, die aufgrund ihres Status diskriminiert werden. Humanistisch motivierte, karitative und sozialarbeiterische Ansätze wie Flüchtlingsberatung und Einzelfallhilfe hielten Einzug in die Praxis der Linken. Mit den zerfallenen Hoffnungen auf weltweite politische Veränderung ging der Gedanke einher, für aus dem Trikont flüchtende Menschen ein Leben mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus in den Metropolen einzufordern. Durch »offene Grenzen« und »Recht auf Bewegungsfreiheit« sollte jede/r die Möglichkeit erhalten, hierher zu kommen und hier zu leben. Mitunter wurde antirassistische Theorie und Praxis sogar auf die Hilfeleistung und die Unterstützung von Flüchtlingen und Migrant/innen sowie deren Kämpfen reduziert. Solch eine »Flüchtlingsunterstützungspolitik« geriet in die Nähe eines paternalistischen Antirassismus.
Die antirassistische Bewegung in der Bundesrepublik thematisierte vorrangig die Verhältnisse im eigenen Land. Sie kritisierte die brutalen Auswirkungen von bundesdeutschen Gesetzen und Verordnungen, Benachteiligungen, Diskriminierungen, aufgezwungene Lebensverhältnisse von Flüchtlingen und Migrant/innen und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dadurch zementiert werden sollen. Bezüge auf weltweite Kämpfe tauchen eher bei der Thematisierung von Fluchtursachen bzw. der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in anderen Ländern auf, wo lokale Ökonomien vernichtet oder unter unwürdigen Verhältnissen und zu Hungerlöhnen Waren für den Konsum in der BRD produziert werden.
Zum Repertoire der Außerparlamentarischen Opposition (APO) gehörten vielfältige Protestformen. Mit konspirativ vorbereiteten Überraschungsaktionen oder beispielsweise dem Verstecken und Ausschleusen von in der BRD stationierten US-Soldaten wurden von der Studentenbewegung bewusst Gesetzesverstöße in Kauf genommen. Im Oberbaumblatt 7/1967 hieß es: »Die organisatorische Seite ›konspirativer‹ Tätigkeit gegen den amerikanischen Imperialismus in West-Berlin (US-Armee, US-Firmen […] CIA-Zentralen) ist nicht Gegenstand öffentlicher Diskussion – inhaltliche Diskussion über die Notwendigkeit eines solchen Kampfes muss aber immer mehr in den Mittelpunkt unserer Aufklärungsarbeit gestellt werden«. Nicht-legales Verhalten war legitim angesichts der – gelegentlich sehr brutalen – Reaktionen des Staates auf friedlichen Protest und sinnvoll, um gegen die meist hetzerische Medienberichterstattung eine gewisse Öffentlichkeit für die Ziele der Aktivist/innen zu erreichen.
Der bewaffnete Kampf antikolonialer Befreiungsbewegungen wurde bis zum Anfang der 1970er ausdrücklich befürwortet. Die Aktivist/innen verteidigten die cubanische Revolution, die mit Waffengewalt erfolgreich gewesen war, und die bewaffneten Bewegungen gegen die von den USA unterstützten Militärregime in Lateinamerika. Im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wurde Geld für Waffen für die Nationale Befreiungsfront FNL in Südvietnam gesammelt. Das Recht auf bewaffneten Widerstand und ein politisch-militärischer Weg zur Befreiung wurde nicht in Frage gestellt; Rudi Dutschke sprach in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus im Dezember 1967 wörtlich davon, dass die Student/innen in der BRD zu den Waffen greifen würden, wenn Bundeswehrsoldaten in Vietnam oder Bolivien eingesetzt würden. Anhand der Schriften der Tupamaros in Uruguay und der Praxis der Black Panther Party in den USA wurde das Konzept Stadtguerilla in SDS-Gruppen diskutiert. Schließlich entschieden sich auch einige Aktivist/innen der APO, in der BRD bewaffnet zu kämpfen.[1]
Die ersten in diesem Buch vorgestellten Proteste wurden von ausländischen Student/innen angestoßen. Von ihnen wurden Inhalte und Formen der Protest- und Widerstandsbewegung in der BRD in deren Entstehungsphase entscheidend geprägt. Sie lieferten Informationen, forderten zum Protest auf und demonstrierten entschlossener und offensiver als ihre deutschen Genoss/innen es zunächst taten. Ohne sie, so Rudi Dutschke auf dem Vietnamkongress 1968, wäre die politische Arbeit nicht mehr denkbar gewesen.
Die fast ausschließlich männlichen Student/innen aus Lateinamerika und Afrika zählten zu Privilegierten ihres jeweiligen Landes. Sie hatten die Möglichkeit erhalten, in Europa zu studieren und unterschieden sich dadurch von den proletarischen Arbeitsmigrant/innen, die an die Fließbänder in der BRD kamen. Die Student/innen brachten politische Erfahrungen mit, waren organisiert, verfolgten zwar nicht immer dieselben Ziele, traten jedoch in verschiedenen Konstellationen mit dem Willen nach gesellschaftlicher Veränderung auf die politische Bühne. Als politisch aktive und durch Stipendien halbwegs abgesicherte Menschen haben sie sich durch Ausländergesetze und andere Repressionsmittel kaum einschüchtern lassen. Ihr Auftreten verdeutlicht, dass sie keine Opfer, sondern politisch handelnde Subjekte waren. Dem entsprechend wurden sie als Genoss/innen und Aktivist/innen und nicht bzw. nur nachrangig als Opfer staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierungen wahrgenommen. In den 1960ern und 1970ern gab es Kontakte zu und zwischen lateinamerikanischen, afrikanischen und westasiatischen Student/innen, auch organisierten Arbeitsmigrant/innen, die zum Beispiel mit einem anarchosyndikalistischen oder kommunistischen Hintergrund aus Spanien oder der Türkei kamen sowie zu Vertreter/innen von Befreiungsbewegungen, Black Panthern und – meist afroamerikanischen – GIs. Vor dem Hintergrund der Vorstellung eines weltweiten Kampfes lag ein gegenseitiges Interesse an Zusammenarbeit auf der Hand. International besetzte Gruppen und Arbeitskreise diskutierten über die politische Lage und den Widerstand in den jeweiligen Herkunftsländern und analysierten die politischen und ökonomischen Verbindungen zwischen den Staaten. Aus solchen Zusammenhängen heraus wurden Proteste, wie sie in diesem Buch zur Sprache kommen werden, organisiert.
Auch in den 1990ern wurden der Kontakt und der Austausch mit Menschen ohne deutschen Pass gesucht. Für viele Antirassist/innen war Politik ohne Einbeziehung von Flüchtlingen nicht denkbar. Antirassist/innen hatten und haben allerdings weniger Kontakte zu parteiähnlichen Exilorganisationen, sondern vor allem zu Flüchtlingen, die sich als von rassistischer Diskriminierung Betroffene organisieren. Im Zentrum stehen Flucht- und Repressionserfahrungen, staatlicher Rassismus und die Lebensbedingungen der Flüchtlinge und Migrant/innen in der BRD. Während viele in der APO die »Völker der Dritten Welt« als revolutionäres Subjekt einer kommenden Weltrevolution verstanden, verorteten Aktivist/innen der antirassistischen Bewegung Flüchtlinge als Protagonisten einer weltweiten Migrationsbewegung.
So oder so entstand ein neuer und grenzüberschreitender Blick auf die eigene politische Theorie und Praxis der Linken in der BRD. Die Hoffung war und ist, durch die Bündelung unterschiedlicher Erfahrungen und Kämpfe gemeinsam stark zu werden. Dahinter stand und steht die Auffassung, dass es keine wirkliche Befreiung geben kann, so lange andere unterdrückt werden.
Allerdings ist über die Jahrzehnte an diesem Punkt ein Wandel feststellbar. Die politisch-strategische Sicht auf Bewegungen in der »Dritten Welt« wurde von einem eher unmittelbareren Blick auf individuelle Flüchtlingsschicksale und Lebensbedingungen abgelöst. Der Verlust politischer »revolutionärer Subjekte«, als welche die Befreiungsbewegungen einmal gesehen wurden, ging einher mit einer stärkeren Wahrnehmung von Flüchtlingen und Migrant/innen als von Flucht und Asyl betroffenen Subjekten und potentiellen Mitstreiter/innen gegen deutschen Rassismus.
Bei den in diesem Buch beschriebenen Protesten war Rassismus zwar ein Thema, es stand aber nur selten im Mittelpunkt. Wenn überhaupt von Rassismus gesprochen wurde, wurde er in den 1950ern und 1960ern meist im historischen Kontext des deutschen Faschismus und seiner sozialdarwinistischen Rassenideologie und -politik analysiert. Die Kritik von Rassismus tauchte als theoretisch nur gering ausdifferenziertes Element in der Solidaritätsarbeit mit den Unabhängigkeitskämpfen in Afrika und der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA auf. Rassismus wurde stark mit Kolonialismus und Apartheid konnotiert, während die Ausländerpolitik, Abschiebungen oder die Verweigerung der Einreise von Flüchtlingen noch kaum als rassistische Unterdrückung analysiert wurde.
Die von der APO eingeforderte Kritik des deutschen Faschismus sensibilisierte allerdings durchaus wirksam für aktuelle Formen des Rassismus. Nicht nur die deutschen Söldner im Kongo, auch die Ideologien rechter Parteien, die Abweisung von Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe in Gaststätten und Diskotheken und ganz generell die Ressentiments von Deutschen wurden als rassistisch bezeichnet. Rassismus wurde in der politischen Diskussion aber in erster Linie als strukturelle Eigenschaft des Staates und von Institutionen gesehen oder mit bestimmten Politiker/innen verbunden – weitaus seltener mit dem Alltagsbewusstsein der deutschen Bevölkerung.[2]
Im Großen und Ganzen wurde Rassismus von der Linken als ein Herrschaftsinstrument zur Spaltung der Arbeiterklasse gesehen, das aufgrund vom Kapital geschaffener Bedingungen nebst entsprechender Propaganda zur speziellen Ausbeutung der Arbeitsmigrant/innen eingesetzt werde. Mit der 1969 im Kursbuch16 getroffenen Feststellung, »Kapitalismus und Rassismus scheinen Hand in Hand zu gehen«, wurde die im »Triple Oppression-Papier« Drei zu Eins von 1991 stark gemachte Verzahnung der Unterdrückungsverhältnisse schon gestreift.
Bis in die 1980er wurde Rassismus jedoch vorrangig außerhalb des eigenen Landes verortet und war selten Anlass, eher Aspekt von Protesten. Rassismustheorien wie die angelsächsischen Postcolonial Studies waren noch nicht nach Deutschland gelangt und ohne Verständnis von der Notwendigkeit eines eigenständigen antirassistischen Kampfes war Antirassismus für Linke einfach nur »selbstverständlich«, aber kein ausgearbeitetes Programm und keine alltägliche kontinuierliche Praxis.
Aber selbst wenn die rassistische staatliche Abschottungspolitik, Kolonialismus und Neokolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung der Migrant/innen nur als »Nebenwiderspruch« kapitalistischer und imperialistischer Politik verstanden wurden, war Rassismus doch Teil der Herrschaftsanalyse und Gegenstand von Protest und Widerstand. So gesehen gab es eine antirassistische Praxis schon lange vor Entstehung einer antirassistischen Bewegung. Die Auffassung, Rassismus sei in der Linken bis in die 1980er kein Thema gewesen, wie Ingrid Strobl 1992 schrieb, muss ebenso wie die Kritik, es habe keine Migrant/innen in den Reihen der Linken gegeben und der theoretische Austausch mit von Rassismus Betroffenen habe gefehlt, wovon Klaus Viehmann im selben Jahr ausging, relativiert werden. Grundsätzlich hat die deutsche Linke die Wirkungsmächtigkeit von Rassismus allerdings sicher unterschätzt und ihn tatsächlich nicht als eigenständige Unterdrückungsstruktur begriffen.
Eine explizit antirassistische Perspektive rückte erst mit dem antifaschistischen Kampf gegen Neonazis, der Kritik am Ausländergesetz und der Repression gegen Menschen, die keinen deutschen Pass haben, in den Vordergrund. Die in den 1980er einsetzenden Kampagnen gegen die »Asylantenflut« und die deutsche und europäische Abschottungspolitik der 1990er sowie die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock verlangten eine massive antirassistische linke Praxis und trugen zu einer veränderten, genaueren Wahrnehmung von Rassismus bei. Der Kampf gegen den aufbrechenden gesellschaftlichen und regierungsoffiziellen Rassismus und die Festung Europa lenkte den linken Blick verstärkt auf die EU und insbesondere Deutschland, auf Lagerunterbringung und Abschiebungen. Es sind heute vor allem die Flüchtlinge selbst, die mit Feststellungen wie »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört«, einen Bezug zu imperialistischer Ausbeutung und Zerstörung herstellen.
Pflasterstein-Blockade bei der Anti-Senghor-Demonstration am 22. September 1968 in Frankfurt am Main (Archiv des Autors)
Proteste gegen den Jud Süß-Schauspieler Werner Krauß im Dezember 1950 in Westberlin (oben) und den Jud Süß-Regisseur Veit Harlan im Februar 1952 in Hamburg (unten) (Archiv des Autors)
1945/46 wurden in Deutschland Forderungen nach Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Entflechtung der Monopole, Rechts- und Sozialstaatlichkeit und ein »friedliches Zusammenleben der Völker und Staaten« gesellschaftlich stark vertreten. Auch wenn diese Positionen im Klima des Antikommunismus an gesellschaftlicher Wirksamkeit verloren, hatten viele Sozialdemokrat/innen, Gewerkschafter/innen und deren Jugend- und Studentenorganisationen ein antifaschistisches Selbstverständnis und bildeten Anfang der 1950er an vielen Orten Bündnisse gegen sich auslebende nazistische Strömungen und Vereinigungen. Nach Gründung der Bundesrepublik kamen zahlreiche Nazis wieder in Amt und Funktion und konnten nahezu bruchlos ihre Karriere fortsetzen. Beispielsweise wurde der Verfasser der Nürnberger Rassegesetze, die als Grundlage für die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung dienten, Staatssekretär unter dem CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer. Die Studentenbewegung griff dies punktuell auf, insbesondere wenn die Student/innen mit den ehemaligen Nazi-Funktionären wie Universitätsrektoren oder Richtern konfrontiert waren. Besonders im Fokus stand das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger, CDU. Gegen die geplante große Koalition unter Kiesinger demonstrierten schon im November 1966 in mehreren Städten jeweils einige hundert Menschen mit der Parole »Wir wollen keinen NS-Kanzler«. Zwei Jahre später ohrfeigte die Journalistin Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger, um auf dessen Nazi-Vergangenheit hinzuweisen. Diese Ohrfeige gehört zu den bekanntesten Protesten gegen die Nazi-Generation.
Nach den Ende der 1950er zunehmenden Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten sowie nach der Gründung und dem Erstarken rechter Vereinigungen und Parteien waren es Gewerkschaften, Studenten- und Jugendverbände, die angesichts der antisemitischen Vorfälle aktiv wurden.
Derartige Initiativen gingen häufig vom SDS und dem DGB aus. Zusammen mit anderen Studenten- und Jugendverbänden, der KPD, der SPD, jüdischen Gemeinden und Christen demonstrierten sie erfolgreich gegen ehemalige NS-Kulturschaffende, Autoren, Schauspieler und Filmemacher wie beispielsweise Veit Harlan, der 1940 im Auftrag von Joseph Goebbels den antisemitischen Propagandafilm Jud Süß gedreht hatte und mit seinen neuen und alten Filmen wieder in die Kinos kam. Viele Vorführungen mussten aufgrund der Proteste vorzeitig abgebrochen und ganz vom Spielplan abgesetzt werden. Ende 1964 wurde die NPD von Funktionären anderer rechtsradikaler Parteien gegründet, darunter Adolf von Thadden, der Vorsitzender der neuen Partei wurde. Ihre wesentlichen programmatischen Kennzeichen waren Rassismus und Nationalismus, entsprechend ging sie mit Hetze gegen »Gastarbeiter« auf Stimmenfang. Die NPD hatte ihre großen Erfolge vor 1968, bis dahin zog sie in sieben Landesparlamente ein. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte sie allerdings knapp mit 4,3 Prozent der Stimmen und flog bei den Wahlen 1970/71 wieder aus allen Landtagen heraus. Während Politik und Medien über ein NPD-Verbot diskutierten, gingen ab 1966 bis zu 10 000 Überlebende des deutschen Faschismus, Kommunist/innen, Sozialdemokrat/innen, Gewerkschafter/innen, Student/innen und Schüler/innen gegen die NPD auf die Straße. Es gab Angriffe gegen Infostände, Parteiversammlungen und die öffentlichen Auftritte des Vorsitzenden Thadden. Die meisten NPD-Veranstaltungen konnten erfolgreich gestört, vorzeitig beendet oder ganz verhindert werden.
Flüchtlinge in den 1950er und 1960er Jahren
Wenn man in den 1950ern und 1960ern in den westlichen Besatzungszonen und später der BRD von Flucht bzw. Flüchtlingen sprach, wurde meist »aus dem Ostblock« mitgedacht. Bis 1960 kamen insgesamt 13,2 Millionen Flüchtlinge, sogenannte Vertriebene, Displaced Persons und Aussiedler/innen in die BRD. Zuständig für sie war das von 1949 bis 1969 existierende Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte – ein Hort der Rechten. Die Zahl der aus den kolonialisierten Ländern kommenden Flüchtlinge war im Vergleich marginal und für sie galt noch nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention, die erst 1967 auf außereuropäische Flüchtlinge ausgeweitet wurde. Alle Flüchtlinge wurden nach ihrer Einreise zunächst in Lagern untergebracht. Das bekannteste war das Lager in Nürnberg-Langwasser, ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, das später zum »Bundessammellager« mit Sitz der Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde. Im Oktober 1951 war es mit einer Belegung von 4 300 Personen aus 28 Nationen (hauptsächlich aus Ostblockstaaten) das mit Abstand größte Lager in Bayern. 1952 war mit 21 419 Flüchtlingen in insgesamt 26 staatlichen Ausländerlagern der Höchststand erreicht. Diese Lager wurden bis 1963 geschlossen, danach war Zirndorf bei Nürnberg, wo die US-Armee der Bundesregierung eine kleinere Kaserne überließ, das alleinige Aufnahmelager und ist seither Sitz des heutigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.
Kritik an der Anerkennungspraxis und der Lagerunterbringung kam damals überwiegend aus der politischen Rechten und von antikommunistischer Seite. Am Beispiel der Deutschen Nansen-Gesellschaft zeigt sich, wer mit welcher Intention Ende der 1950er, Anfang der 1960er zu Flucht und Asyl gearbeitet hat. Benannt hatte sich der 1957 in München gegründete Verein zur Förderung der Forschung über die Massenzwangswanderungen nach dem norwegischen Nobelpreisträger Fridtjof Nansen, da er als Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) in den Jahren 1926 bis 1928 die ersten Vereinbarungen zum Schutze des Flüchtlingsstrom aus den Staaten der Sowjetunion zustande brachte. Präsident der Gesellschaft war der frühere »Rassenhygieniker« und Eugeniker Hans Harmsen, ein korrespondierendes Mitglied der Ministerialrat Werner Kanein aus dem bayerischen Staatsministerium, der zum führenden Kommentator des neuen Ausländergesetzes wurde. Die Kongresse der Gesellschaft, wie beispielsweise der von 1963 zum Thema »Abgelehnte Asylbitten«, standen unter Schirmherrschaft des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Alfons Goppel.
Nach der Schließung der innerdeutschen Grenze durch die DDR im August 1961 organisierten sich Fluchthelfer/innen, die mit dem Bau von Tunneln oder dem Fälschen von Ausweispapieren Menschen in die BRD brachten. Bis 1973 waren so angeblich 100 000 Menschen in den Westen gelangt. Beteiligt waren daran zahlreiche Westberliner Student/innen, darunter auch SDS-Mitglieder. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, SPD, bezeichnete ihre Tätigkeit im Spiegel als »ehrenwert«. Derart positive staatliche Stimmen zur Fluchthilfe hörte man ab den 1970ern nicht mehr. Mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge und Migrant/innen wandelte sich die Einstellung zu Flucht und Asyl und der breite Konsens für eine Aufnahme von Menschen ohne bundesdeutschen Pass wurde hinfällig. Während nach Kriegsende mehr als 13 Millionen Flüchtlinge in die BRD gekommen waren, reichten in den 1960ern eine Million Arbeitsmigrant/innen aus Mittelmeerländern, dass von einer »Überflutung« der BRD gesprochen wurde.
Die SPD hatte sich mit dem Godesberger Programm 1959 von der zumindest noch im Parteiprogramm zuvor enthaltenen Kapitalismuskritik verabschiedet und zum bürgerlichen Rechtsstaat und der sozialen Marktwirtschaft bekannt. 1966 wurde sie in der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger erstmals Regierungspartei. Ihr Verschwinden als parlamentarische Opposition trug zur Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition bei. Zur selben Zeit führte der Mangel an billigen Arbeitskräften zur Öffnung des nationalen Arbeitsmarkts für Nicht-Deutsche, flankiert von der Verabschiedung des Ausländergesetzes 1965. Im Oktober 1969 kam die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt ins Amt. Durch ihre neue Ostpolitik verschoben sich zwar die außenpolitischen Feindbilder, aber die restriktive Politik gegen die deutsche und migrantische Linke wurde generell fortgeführt und bald sogar verschärft.[3]
Die internationale Lage war vom Kalten Krieg geprägt. In Afrika, Asien und Lateinamerika entstanden antikoloniale Befreiungsbewegungen, die für politische Selbstbestimmung und ökonomische Unabhängigkeit vom weißen Europa kämpften. Fast alle europäischen Kolonien wurden bis 1965 zu formal unabhängigen Nationalstaaten, was an der ökonomischen Abhängigkeit und Ausbeutung durch die Konzerne der ehemaligen Kolonialmächte wenig änderte und an den Lebensbedingungen der Armen erst recht nicht.
Sozialrevolutionäre Kräfte im Trikont wurden als »Vasallen Moskaus« denunziert und fortschrittliche Regierungen wie im Iran und Guatemala durch CIA-Putsche gestürzt; wo dies nicht gelang, wurde militärisch interveniert. So in Vietnam, der ehemaligen Kolonie Indochina, dessen Norden seit der Niederlage der französischen Kolonialtruppen in Dien Bien Phu und dem Unabhängigkeitsabkommen von 1956 sozialistische Republik war und in dessen pro-westlichen Süden die 1960 gegründete Nationale Befreiungsfront FNL große Gebiete kontrollierte. Die 1964/65 einsetzenden Flächenbombardements der US-Luftwaffe führten zu weltweiten Protesten. In den USA, wo die Schwarze Bürgerrechtsbewegung zu einer starken Opposition geworden war, entstand eine sich aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammensetzende große Anti-Vietnamkrieg-Bewegung. In der BRD gab es ab Frühjahr 1965 Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, deren Teilnehmerzahlen in den nächsten Jahren auf eine fünfstellige Größe anwuchs.
Schon auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1956 wurde den für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung kämpfenden Befreiungsbewegungen Solidarität zugesagt, jedoch ohne dass unmittelbar praktische Aktionen daraus erwuchsen. Zu diesem Zeitpunkt entstand bereits anlässlich des algerischen Unabhängigkeitskriegs 1954-1962 gegen die Kolonialmacht Frankreich die erste internationalistische Solidaritätsbewegung in der BRD. Bis 1961 waren Aktivist/innen als »Kofferträger« für die algerische Front de Libération Nationale (FLN) unterwegs. Sie sammelten und schmuggelten Geld und Waffen aus der BRD und schleusten politisch verfolgte Algerier über die Grenze. In Frankfurt am Main wurden 1960 am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, Flugblätter verteilt, in Tübingen und Marburg gab es Mahnwachen und kleinere Algerien-Demonstrationen. 1961 verabschiedete der SDS eine Resolution gegen die Teilnahme der BRD als NATO-Mitgliedstaat am »Völkermord« in Algerien und Angola und solidarisierte sich mit den Befreiungsbewegungen: »Der SDS unterstützt den Kampf der Völker in Lateinamerika, Afrika und Asien gegen jede Art von politischer Abhängigkeit und ökonomischer Ausbeutung. Der SDS verurteilt die gewaltsamen Aktionen der kapitalistischen Länder, die darauf abzielen, ihre ökonomischen und politischen Positionen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern zu erhalten. Er verurteilt insbesondere: 1. Das Vorgehen der USA gegen die kubanische Revolution, 2. den Vernichtungskrieg Portugals in seinen Kolonien, 3. die Aktionen des belgischen Kapitals gegen die kongolesische Unabhängigkeitsbewegung, 4. den Kolonialkrieg, den die französische Regierung in Algerien führt. Der SDS tritt deshalb gegen die militärische und wirtschaftliche Bindung der Bundesrepublik an diese imperialistischen Staaten ein. Er verpflichtet sich, mit allen studentischen- und Arbeiterorganisationen zusammenzuarbeiten, die Widerstand gegen den militanten Kolonialismus leisten«. 1962 wurde Algerien unabhängig und war fortan bedeutsam für andere Befreiungsbewegungen. Der African National Congress (ANC) und die South-West Africa People’s Organisation (SWAPO), die gegen die rassistischen Regime in Südafrika und Namibia kämpften, hatten beispielsweise Stützpunkte in Algier. Algerien nahm auch in den USA verfolgte Mitglieder der Black Panther Party auf und bot ihnen Asyl. Auch die Studentenbewegung wandte sich bereits in ihren Anfängen gegen Kolonialismus und seine rassistischen Ideologien und Praktiken. Ihre antikolonialistischen Aktivitäten drückten sich vor allem in einer Kritik der bundesdeutschen Verstrickungen mit Kolonialismus und Neokolonialismus sowie in der Solidarität mit Befreiungsbewegungen aus. In der ersten Hälfte der 1960er war hierbei der zentralafrikanische Staat Kongo wichtig, bevor sich der Blick der Aktivist/innen noch weiter in Richtung Süden richtete: In den 1970ern auf die portugiesischen Kolonien und das südliche Afrika, in den 1980ern auf Namibia und bis in die 1990er auf Südafrika.
In derselben Zeit entwickelten sich neue theoretische Debatten und Zugriffe auf die gesellschaftliche Realität. Zunächst in England, dann auch in anderen westlichen Industriestaaten, entstand eine »Neue Linke«, die jenseits von Parteien und in Abgrenzung zur Sozialdemokratie und dem real existierenden Sozialismus marxistische Theorieansätze vertrat oder entwickelte. In der BRD begriff sich der SDS als Teil der Neuen Linken. Der SDS, bis zu seinem Ausschluss 1961 Studentenverband der SPD, war eines der wichtigsten organisatorischen und auch Theorie produzierenden Element der APO.
Im Sommer 1965 veröffentlichte das Kursbuch 2 das erste Kapitel des Buches von Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Nach Erscheinen dieses »antikolonialistischen Manifests« wurde es zum Anlass einer breiteren theoretischen Auseinandersetzung mit Kolonialismus und seinen Folgen. Dabei übernahm die Frankfurter Studentenzeitung Diskus