Vergewaltigung - Mithu M. Sanyal - E-Book

Vergewaltigung E-Book

Mithu M. Sanyal

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Beschreibung

Das Standardwerk in überarbeiteter Neuausgabe - mit einem aktuellen Nachwort der Autorin: Wie sprechen wir über Vergewaltigung und welche Konzepte und Diskurse liegen dem zugrunde? Mithu M. Sanyal analysiert klug und kenntnisreich, welche Rolle Geschlechterbilder und Rassismus dabei spielen und was Selbstbestimmung und Konsens wirklich bedeuten. Sie zeigt, wie über Jahrhunderte nicht nur Sexualität, sondern auch Gewalt mit Geschlechterkategorien verknüpft wurde, und entwickelt Perspektiven, wie Vergewaltigung gesellschaftlich verhindert werden kann. In ihrem Nachwort reflektiert Sanyal die Entwicklungen seit Erscheinen des Buches 2016, sie schreibt über Repräsentation und #MeToo, Shitstorms und Solidarität.

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DR. MITHU MELANIE SANYAL, Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin. Referentin für Genderfragen und Dozentin an verschiedenen Universitäten, schreibt für WDR, Deutschlandfunk, SWR, Der Spiegel, The Guardian, taz, Missy Magazine, Vice etc. Ihre Bücher Vulva (Berlin, 2009) und Vergewaltigung wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die englische Ausgabe Rape wurde 2017 mit dem Preis Geisteswissenschaften international ausgezeichnet.

MITHU M. SANYAL

VERGEWALTIGUNG

ASPEKTE EINES VERBRECHENS

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2016

Originalveröffentlichung

Erstausgabe August 2016

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Porträtfoto Seite 2:

mit freundlicher Genehmigung

© regentaucher.com

3., neu durchgesehene und von

der Autorin mit einem Nachwort

versehene Auflage November 2020

epub ISBN 978-3-96054-246-9

Inhalt

Triggerwarnung

Der dunkle Doppelgänger der Geschlechterverhältnisse

Sexing the Difference I: Nein heißt ja!

Sexing the Difference II: Ja heißt nein!

Sexing the Difference III: Nein heißt nein!

Trauma Cinema

Ehre I: Das Schicksal, das schlimmer ist als der Tod

Ehre II: Mehr Ehre

Ehre III: Scham

Überleben

Sex Wars I: Schwarz-Weiß-Denken

Sex Wars II: Wer oder was ist eine Rape Culture?

Sex Wars III: The Second Sexism

Die Grammatik der Gewalt

Vergewaltigen und Strafen I:Ein Täter* ist ein Täter* ist ein Täter*?

Vergewaltigen und Strafen II:Die sexualstrafrechtliche Revolution

Ja heißt ja!

Nachwort: Notes from the road

Anmerkungen

Literatur

Register

»Nicht meine Narben haben mich zu der Persongemacht, die ich bin, sondern meine unglaublicheFähigkeit zu heilen.« Lemn Sissay*

Triggerwarnung

Wann immer ich Vorträge zu dem Thema dieses Buches halte, werde ich von den Veranstalter*innen gebeten, eine Triggerwarnung für das Programm zu schreiben, wenn sie das nicht direkt für mich erledigen.

Deshalb also hier die obligatorische Triggerwarnung:

Achtung, dies ist ein Buch über Vergewaltigung. Es gibt darin zwar keine drastischen Beschreibungen von brutalen Details, allerdings werden Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt und die dahinterstehenden Konzepte eingehend diskutiert.

Das Ziel solcher Warnungen ist, Traumatisierte vor Retraumatisierungen zu schützen. Das finde ich wichtig. Gleichzeitig fühle ich mich aber unwohl damit, Menschen, die Opfer eines Verbrechens geworden sind, so zu behandeln, als würden sie dadurch auch die Fähigkeit zu lesen verlieren. Der Titel dieses Buches (und meiner Vorträge) ist Vergewaltigung. Sicherlich erkennen sie – noch vor Menschen, für die Vergewaltigung ein weniger aufgeladenes Thema ist –, dass es hier um … Vergewaltigung geht.

Doch ist genau das das Problem, dass Vergewaltigung für uns alle ein aufgeladenes Thema ist und weitaus mehr Auswirkungen auf unser Leben hat als andere Verbrechen. Es gestaltet unsere inneren Stadtpläne und bestimmt, an welchen Orten wir uns zu welchen Zeiten aufhalten oder eben nicht aufhalten.1 Die Informationen, die wir über Vergewaltigung bekommen, sind nicht nur Informationen über Vergewaltigung, sondern immer auch über unser Geschlecht, das Verhältnis der Geschlechter zueinander und sogar über Sexualität.2 Und keine dieser Informationen ist erfreulich.

Da so viele Menschen so lange und so hart darum kämpfen mussten, dass sexuelle Übergriffe als Verbrechen anerkannt wurden und nicht als Kavaliersdelikt, dass sich der Umgang mit Opfern (zumindest) bei (vielen) Gerichtsverfahren geändert hat und dass nicht mehr nur Überfälle von Fremden unter Anwendung von außerordentlicher Gewalt als Vergewaltigung wahrgenommen werden, birgt jedes Hinterfragen der politischen Überzeugungen, die zu diesen Errungenschaften geführt haben, die Gefahr, denjenigen in die Hände zu spielen, die sexualisierte Gewalt relativieren wollen. Doch Wissen ist nicht absolut, sondern immer abhängig von den Umständen. Was vor 40 Jahren richtig und wichtig war, mag sich verändert haben, deshalb ist es notwendig, unsere Ansichten immer wieder mit den neuen Gegebenheiten abzugleichen. Sprich: Was unter bestimmten Umständen nützlich und notwendig ist, um eine Sensibilisierung für das Problem zu erzeugen und Gesetze durchzusetzen, kann unter anderen Umständen (wie ich an dem Beispiel der Heilung ausführen werde) auch in das Gegenteil umschlagen.

Darüber hinaus bedeutet etwas in Frage zu stellen ja noch lange nicht, dessen Gegenteil zu propagieren: »Es ist das Ziel von Kritik, unsichtbare Strukturen oder Aspekte eines bestimmten Diskurses ans Licht zu holen, und nicht etwa die ›Wahrheit‹ zu enthüllen. Die Verheißung von Kritik ist nicht Objektivität, sondern ein neuer Blickwinkel«3, konstatieren die Politik- und Rechtswissenschaftlerinnen Wendy Brown und Janet Halley.

Diesem Ansatz entsprechend soll und kann dieses Buch keine umfassende Kulturgeschichte von der ersten dokumentierten Vergewaltigung bis heute sein, sondern der Versuch, Narrative nachzuzeichnen und Verbindungslinien sichtbar zu machen. Mir geht es darum, einige der zu gültigen Wahrheiten geronnenen Grundüberzeugungen (ich sage mit Absicht nicht Vergewaltigungsmythen, da damit etwas sehr konkretes Anderes gemeint ist, wie ich in dem Kapitel »Sexing the Difference III: Nein heißt nein!« zeigen werde) unter die Lupe zu nehmen und zu testen, ob sie heute noch hilfreich sind.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Denn Vergewaltigung ist ein veritables Spiegelkabinett von Erwartungen und Diskursen, und jeder Satz zieht zehn ungesagte nach sich. Hier handelt es sich um einen Kulturell Wunden Punkt, der – ebenso wie wunde Punkte am Körper – darauf hinweist, dass da etwas ist, das unserer Aufmerksamkeit bedarf. Der aber auch genauso Berührungsängste auslöst, so dass dieses Buch während seiner Entstehung mit deutlich mehr Widerständen kämpfen musste als jeder andere meiner Texte: Von Seiten meines ersten Verlages, der sich nicht an dieses heiße Thema heranwagen wollte, aber auch von mir selbst, weil bei keinem anderen Thema die Schere im Kopf so scharf und die Knoten im Gehirn so festgezurrt waren, so dass es deutlich länger dauerte, es fertigzustellen, als ich ursprünglich geplant hatte. Was mir damals als Weltuntergang erschien, hatte den immensen Vorteil, dass vieles mit einfließen konnte, was in der öffentlichen Auseinandersetzung gerade in den letzten Jahren wieder passiert ist: »Nein heißt nein« und die Reform des §177 StGB, die Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in Köln, #ausnahmslos, Gina-Lisa Lohfink, neue Diskussionen und auch neue/alte Feindbilder wie die Angst vor dem muslimischen Vergewaltiger. All das werde ich behandeln und vieles mehr.

Und ganz vieles eben auch nicht. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit – das wäre auch größenwahnsinnig bei einem Buch von dieser Länge –, aber ich kann einen Überblick über die Debatten geben, die bestimmen, warum wir über Vergewaltigung denken, wie wir darüber denken, und die Geschichte dieser Haltungen sichtbar machen. Neben deutschen Diskursen beziehe ich mich schwerpunktmäßig auf den angelsächsischen Sprachraum, da dies die Debatte mit dem größten Einfluss auf uns ist. Dabei gehe ich nicht – oder nicht vordringlich – chronologisch vor, sondern versuche, Zusammenhänge und Kontinuitäten sichtbar zu machen, damit es möglich wird, über die daraus resultierenden Überzeugungen informiert zu reden und sie zu hinterfragen. Nicht, um sie abzuschaffen, sondern um Vergewaltigung nicht weiter als eine in Granit gehauene Realität zu behandeln. Mit den Worten der Historikerin Joanna Bourke: »Vergewaltigung ist eine Form von sozialer Performance: Sie ist hochritualisiert. Sie variiert von Land zu Land und zwischen unterschiedlichen Zeiten. An Vergewaltigung ist nichts Zeitloses oder Zufälliges. Ganz im Gegenteil sind Vergewaltigung und sexuelle Gewalt tief in konkreten politischen, ökonomischen und kulturellen Umständen verwurzelt.«4

Es sollte überflüssig sein zu sagen, dass nicht jede*r meine Einschätzungen teilen muss – selbstverständlich erwarte ich das nicht! –, doch Vergewaltigung ist ein Thema, bei dem überhaupt nichts selbstverständlich ist. Deshalb gebe ich es Ihnen hiermit schriftlich: Machen Sie mit diesem Buch, was Sie wollen: Verschenken Sie es an Ihre*n beste*n Freund*in, benutzen Sie es als Untersetzer für Ihre Kaffeetasse, schmeißen Sie es gegen die Wand – nur lassen Sie sich bitte nicht davon einreden, dass Ihre eigene Wahrnehmung falsch sei.

Ganz entgegen der Angst, Traumata zu triggern, bekam ich bei meinen Vorträgen jedoch häufig das genaue Gegenteil zu spüren: eine Erleichterung im Publikum, als würde ein Damm brechen, persönliche Geschichten, die mir Zuhörer*innen während des Vortrages und vor allem danach erzählten, und das überwältigende Gefühl, dass hier ein Thema war, das nur darauf wartete, aus der Schublade geholt, ausgeschüttelt und neu betrachtet zu werden. Schließlich – auch das fiel mir an diesem Punkt erst auf – war das eine Sache, über die ich bisher mit Freundinnen kaum gesprochen hatte. Also, natürlich sprachen wir darüber, aber nur abstrakt und theoretisch, wenn wieder einmal prominente Fälle durch die Medien gingen – doch den Bezug zu unserem eigenen Leben ließen wir wohlweislich außen vor (außer eben der nächtlichen Angst vor dunklen Straßen).

So ein Fehlen von Sprache wird allgemein als Scham gedeutet, dass es sich hier um Erlebnisse handelt, die zu schmerzhaft und peinlich sind, um sie außerhalb von geschützten Räumen zu teilen. (Mehr zu Scham in dem Kapitel »Ehre III: Scham«) Wieso kamen dann aber nach jedem Vortrag wildfremde Frauen und Männer auf mich zu und erzählten mir, was ich mit meinen Freundinnen nicht teilen konnte? (Mehr zu Männern in dem Kapitel »Sex Wars II: The Second Sexism«) Wer Spaß an doppelten Botschaften hat, ist beim Thema Vergewaltigung an der richtigen Adresse. Wo sonst soll man sich vor etwas fürchten, das als Gefahr hinter jeder Ecke lauert, während es gleichzeitig der Ausnahmefall sein soll – wie vom Blitz getroffen zu werden –, der in unserem Alltag nahezu nicht thematisiert wird? Wo tummeln sich noch so viele krude und anachronistische Menschenbilder, die mit unseren sonstigen Lebenserfahrungen herzlich wenig zu tun haben? Intimste Bereiche kollidieren mit politischen Konzepten, und die allgemeine Unsicherheit ist nur zu verständlich, angesichts der ganzen Doppelbotschaften, die sich um dieses Thema ranken, als gäbe es hinter der Dornenhecke ein Schloss mit einer idealen schlafenden Jungfrau.

Mein erstes Buch, über die Kulturgeschichte der Vulva, war eine Wiederaneignung, ein Wohlfühlbuch, das noch dazu politisch war. Was kann man mehr verlangen?

Ein Buch über Vergewaltigung ist notgedrungen weniger gut gelaunt, das liegt in der Natur der Sache. Aber muss es das wirklich sein?

Ich habe mein Bestes gegeben, dieses Thema ebenfalls zu einem befreienden Leseerlebnis zu machen, schließlich ist es ja auch eine Wiederaneignung: von Denk- und Handlungsoptionen. Denn, davon bin ich überzeugt, die Art, wie wir uns etwas vorstellen, beeinflusst die Art, wie es Macht über uns hat, und sogar die Art, wie es in der Welt ist.5

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen!

Der dunkle Doppelgänger der Geschlechterverhältnisse

Es ist auffällig, dass über sexuelle Gewalt häufig nicht als spezifisches Verbrechen gesprochen wird, sondern als eine Art Risiko der conditio humana – solange diese Menschen Frauen sind. »Obwohl ich selbst kein Opfer von Vergewaltigung bin, hat die Gefahr der Vergewaltigung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Struktur und Qualität meines Lebens«, beschreibt die Philosophieprofessorin Ann Cahill, wie Vergewaltigung bis in die geborgensten Bereiche ihres Alltags dringt. »Wegen der Möglichkeit von sexueller Gewalt lud ich einen neuen, männlichen Freund – später einer meiner besten Freunde – nach unserem ersten oder zweiten Treffen nicht ein, noch einen Kaffee in meinem Zimmer zu trinken. Ich war vergewaltigbar, also war ich vorsichtig.«6

Das Gefühl, mit einer – mal mehr, mal weniger, aber stets anwesenden – Bedrohung zu leben, ist keineswegs der zweiten Welle der Frauenbewegung vorbehalten. Auch jüngere Feminist*innen wie Hengameh Yaghoobifarah vom Missy Magazine schildern die Vorahnung von sexualisierter Gewalt nicht als Ausnahme, sondern als Alltag: »Laute Typengruppen bedeuten einen Straßenseitenwechsel, das bereite Handy für die Notruf-Schnellwahl, zwischen den Fingern zu einem Schlagring aufgestellte Schlüssel und viel Herzrasen […] all diese Maßnahmen sind zur Routine geworden. Denn Frau zu sein bedeutet leider, in ständiger Angst vor Gewalt leben zu müssen.«7

Nach wie vor gehört die Warnung vor Vergewaltigung zu den Initiationen in die Geschlechterverhältnisse. Zuweilen noch vor jeglicher Form von sexueller Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen – in der Regel ohne nähere Informationen, wie sich das gestalten soll. Jungen wachsen mit ebenso verwirrenden Botschaften auf, so sollen sie auf Mädchen besondere Rücksicht nehmen und vorsichtig mit ihnen umgehen, gleichzeitig gelten aber genau diese Eigenschaften als »unmännlich«: die Philosophin Susan Bordo nennt das den »Double Bind der Männlichkeit«8.

Im Vergewaltigungsskript gibt es nur zwei Geschlechter: Täter und Opfer. Wer Vergewaltigung sagt, denkt an aggressive Männer und ängstliche Frauen, an Penisse als Waffen und Vaginas als ungeschützte Einfallstore in ebenso ungeschützte Körper; oder weniger martialisch: an Männer, die meinen, »ein Recht« auf Frauenkörper zu haben. Um die Rechte dieser Frauenkörper zu verteidigen, prägte die Frauenbewegung in den 1970er Jahren die Parole »Nein heißt nein!«, die noch heute die Anti-Vergewaltigungs-Politik maßgeblich bestimmt. Diese Parole hat, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird, eine Geschichte und eine Funktion, doch bricht sie nicht mit den Vorstellungen, auf denen der Vergewaltigungsdiskurs basiert, nämlich: dass Männer sexuell aktiv bis überaktiv sind, während sich die Aktivität der Frauen auf Nein-Sagen beschränkt, dass männliche Sexualität monströs und gefährlich ist, gegenüber der »guten« weiblichen Sexualität und so weiter.

Auch ich habe »Nein heißt nein!« auf zahllosen Demonstrationen, auf zahllosen Transparenten durch die Gegend getragen und mir mit Kajal auf den Bauch geschrieben (zusammen mit »Mein Körper gehört mir« und »Mein Bauch gehört mir«). Um die Welt von Vergewaltigung zu befreien, schien es ein kleiner Preis, dass sich unser Stil an diesem Punkt nur unwesentlich von der Rhetorik derjenigen unterschied, gegen die wir doch eigentlich kämpften. »Welchen Teil von Nein verstehst du nicht?« war wenigstens witzig, und es enthielt noch einen Hauch von Austausch. Doch »Nein heißt nein« war das Äquivalent zu »Noch ein Wort, und du gehst ohne Abendbrot ins Bett«.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sexuelle Gewalt einen so gewaltigen Einfluss darauf hat, wie wir uns in der Welt verorten und anderen Menschen gegenübertreten, ist die Sprache, die wir dafür finden, jedoch keineswegs ein Nebenwiderspruch, wie mir heute klar ist. Und die Kommunikation in diesem Kontext wird mitnichten nur von Feministinnen mit paternalistischer Autorität geprägt, so scheint es manchmal, als gäbe es genau genommen gar keine Kommunikation zwischen zwei Seiten, die in so überzogener Form den gängigen Geschlechterstereotypen entsprechen, dass es schwerfällt, sie als Mitglieder derselben Spezies zu erkennen. Der Vergewaltigungsdiskurs ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen – und zwar durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten hindurch. Sobald wir das V-Wort in den Mund nehmen, laufen die Uhren rückwärts, und es ist für immer 1955. Die Propaganda im Kalten Krieg der Geschlechter besagt, dass weibliche Sexualität ein bedrohtes Gebiet ist, das geschützt und verteidigt werden muss – anstatt erforscht und genossen. Etwas weiter unter dem Radar, aber nicht weniger folgenreich, sind die Botschaften über männliche Sexualität, die als zerstörerische Macht erscheint, die kontrolliert und beherrscht werden muss – anstatt erforscht und genossen. Die Publizistin Katie Roiphe nennt dies das »Vampirmodell männlicher Sexualität«9.

Dass diese Diskurse keineswegs mit dem letzten Jahrtausend beendet wurden, bewiesen die Biologen Randy Thornhill und Craig T. Palmer, als sie 2000 versuchten, Vergewaltigung evolutionsbiologisch zu erklären. Ihr Buch A Natural History of Rape basiert auf der Grundthese, dass Männer genetisch darauf programmiert seien zu vergewaltigen, um ihre evolutionären Chancen zu verbessern, indem sie ansonsten unerreichbare Frauen schwängern.10 Anthropolog*innen, Psycholog*innen und Soziolog*innen aus aller Welt wiesen darauf hin, dass keineswegs nur Frauen im gebärfähigen Alter vergewaltigt würden, dass die Wahrscheinlichkeit, durch eine Vergewaltigung schwanger zu werden, prozentual deutlich unter der von einvernehmlichem Geschlechtsverkehr liege,11 von diesen Schwangerschaften ein guter Teil nicht ausgetragen werde und dass die evolutionären Vorteile, unter solch belasteten Umständen zur Welt zu kommen, sowieso fraglich seien. Vor allem aber müssen Sexualstraftäter verblüfft gewesen sein, als sie den Grund für ihre Verbrechen erfuhren.

»Die meisten männlichen Verbrecher geben reproduktiven Erfolg nicht als Motivation für ihre Verbrechen an. Das liegt daran, dass psychologische Mechanismen normalerweise im Bereich des Unbewussten wirksam sind«, verteidigten Satoshi Kanazawa von der Indiana University of Pennsylvania und Mary C. Still von der Cornell University die Fortpflanzungdurch-Vergewaltigung-These. »Etwas treibt sie dazu. Unser Schluss ist, dass dieses Etwas der entwicklungspsychologische Mechanismus ist, der alle Männer dazu treibt, nach reproduktivem Erfolg zu streben. Den Männern ist diese evolutionäre Logik überhaupt nicht bewusst.«12 Das hört sich so unheimlich an wie das Klischee von dem Vergewaltiger, der seinem Opfer zuraunt: »Ich weiß, dass du es in Wirklichkeit auch willst«, nur dass es in diesem Fall die Wissenschaft ist, die weiß, was der Vergewaltiger will.

Thornhill und Palmer verstanden die Aufregung nicht, die ihr Buch ausgelöst hatte. »Alle Leute verstehen Sex doch als etwas, das Frauen haben und Männer wollen«13, rechtfertigten sie sich und schlugen ein Anti-Vergewaltigungs-Programm für Schulen vor, in dem junge Männer eindringlich darin trainiert würden, ihren »evolutionsbasierten« Drang zu sexuellen Übergriffen unter ständiger Kontrolle zu halten. Nach dem Motto: Wenn man weiß, wie gefährlich etwas – also man selbst – ist, reißt man sich besonders zusammen.

»›Zusammenreißen‹? Ist es so schlimm?«14, fragte der Soziologe Michael Kimmel zynisch. »Wie wäre es stattdessen mit ›ausdrücken‹ – ihren ebenso evolutionsbasierten biologischen Drive: Genuss, Gegenseitigkeit und Freude zu empfinden, auszudrücken? Der ja vielleicht genauso in unsere DNA eingeschrieben ist? Erziehung dazu, sich zusammenzureißen, ist wahrscheinlich die (zweit)größte politische Pleite, die es gibt, und noch dazu völlig ineffektiv.«15

Abgesehen davon, dass eine Botschaft wie »Vergewaltigung liegt in deinen Genen« ein vernichtendes Urteil für Jugendliche bedeutet, ist es auch unmöglich, ein gesundes Verhältnis zu der eigenen Sexualität aufzubauen, wenn man gleichzeitig die ganze Zeit dagegen ankämpfen soll wie ein trockener Alkoholiker gegen sein Verlangen nach Spirituosen. Konsequent zu Ende gedacht, wäre der einzige sichere Ort für eine solche Sexualität hinter Schloss und Riegel. Es muss menschenfreundlichere Theorien und entsprechend auch menschenfreundlichere Lösungen für das Vergewaltigungsenigma geben.

Derweil schlägt Michael Kimmel spielerische Intervention vor, wie den »Spritzschutz«, den ein Kollege von ihm für die »Rape Awareness«-Woche seiner Universität produzieren ließ: »(Für diejenigen, die nicht wissen, was ein Spritzschutz ist: Es handelt sich dabei um die Plastikgitter, die in Männertoiletten in die Pissoirs gestellt werden, um Spritzen zu vermeiden.) Mein Kollege ließ Tausende mit dem einfachen und hoffnungsvollen Slogan herstellen: Das Mittel, Vergewaltigung zu stoppen, liegt in deiner Hand.«16

Laut der jährlichen polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts haben Männer ein mehr als 150% höheres Risiko, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. (Es sei denn, sie sind nicht-weiß, dann steigt ihr Anteil noch einmal.)18 Und je brutaler das Verbrechen, desto eher ist das Opfer männlich. Frauen sind draußen nicht nur sicherer als drinnen, sondern auch sicherer als Männer. Warum warnen wir also nicht unsere Söhne davor, das Haus zu verlassen, weil die Welt dort draußen für zarte Geschöpfe wie sie zu gefährlich ist?

Die Antwort lautet: Weil rund 90% Prozent der Täter von Gewaltverbrechen ebenfalls männlich sind und rund 90% der Opfer von Vergewaltigungen weiblich (wie aussagekräftig diese Zahlen sind, wird noch genauer untersucht in dem Kapitel »The Second Sexism«).

Diese Antwort ist ebenso einleuchtend wie falsch. Sie erklärt weder, warum wir uns unverhältnismäßig weniger um unsere Söhne sorgen – schließlich ist Gewalt auch dann schrecklich, wenn es dabei nicht um Sex geht –, noch, warum bei Vergewaltigung andere Maßstäbe angesetzt werden als in nahezu jedem anderen Bereich. Wenn man sich etwa die Statistiken zu Mord anschaut, ist ein signifikanter Prozentsatz der Opfer männlich –, trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, dass nur Männer ermordet würden.

Bei Vergewaltigungen ist der Umkehrschluss jedoch anscheinend die Regel. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Beschreibung eines Vergewaltigers in Deutschland: »Wer, mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, eine Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nöthigt«. So der Wortlaut des §177 des Reichsstrafgesetzbuches19von 1871, der bis auf das überflüssige ›th‹ in das deutsche Strafgesetzbuch übernommen wurde. De jure und in der allgemeinen Auffassung konnten demnach

– nur Frauen vergewaltigt werden und

– nur Männer Vergewaltiger sein,

– wenn es dabei zum Beischlaf kam, das bedeutete, zur Penetration,

– was aber nur außerhalb der Ehe als Problem angesehen wurde.

Die gefeierte Strafgesetzänderung von 1997 erkannte die Existenz der Vergewaltigung in der Ehe an, stellte nicht nur Penetration, sondern auch »ähnliche sexuelle Handlungen« unter Strafe und machte aus einer »Frauensperson« eine »Person«. Damit wurden zum ersten Mal auch Männer als Opfer von sexualisierter Gewalt denkbar. Wenn auch ziemlich schwer denkbar. In England wurde der Sexual Offences Act erst 2003 dahingehend geändert, so dass nun auch cis Männer und trans Personen vergewaltigt werden können. Südafrika folgte 2007, Schottland 2009, China 2015 …20 Dagegen bedarf es in der Schweiz nach wie vor eines Penis, um »eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs«21 zu nötigen, sonst ist eine Vergewaltigung keine Vergewaltigung.22

»Vergewaltigung ist eine ›essenziell umkämpfte Kategorie‹, durch und durch aufgeladen mit politischen Bedeutungen«26, konstatiert die Historikerin Joanna Bourke. All das bedeutet nicht, dass Männer die eigentlichen Opfer wären, sondern dass Vergewaltigung das gegenderteste Verbrechen überhaupt ist. Und damit nicht genug, auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert. Denn die Art, wie wir über Vergewaltigung denken, steht in einem erschütternden Verhältnis zu der Art, wie wir über Sex denken, und damit sind in diesem Fall Sexualität und Geschlecht gleichermaßen gemeint.

Was verrät es uns aber über unsere Kultur, dass es uns so schwerfällt, über Vergewaltigung anders zu sprechen als über ein Verbrechen, das Männer Frauen antun, obwohl das nicht die ganze Geschichte ist? Nachdem Genitalien und Chromosomen und Hormone nicht mehr ausreichen, um Geschlecht eindeutig zu bestimmen, und eine Studie der Universität von Tel Aviv nun auch mit dem Mythos vom männlichen versus weiblichen Gehirn aufgeräumt hat (anscheinend haben wir alle menschliche Gehirne)27 – wäre es doch überaus verwunderlich, wenn sich jetzt herausstellte, dass der wahre Geschlechterunterschied in einer Disposition zu sexueller Gewalt begründet liegt.

Sexing the Difference I: Nein heißt ja!

Zur Ehrenrettung der Parole »Nein heißt nein« muss man erwähnen, dass Nein lange Zeit natürlich nicht Nein hieß, sondern schlicht Ich bin weiblich. Männliche Gewalt und weibliches Sträuben waren ein integraler Teil der Konstruktion von »normaler« Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert. »Ist [ein Weib] geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes«28, bezeugte der Begründer der Sexualwissenschaft Richard von Krafft-Ebing und erklärte sich das so: »Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.«29 Da Frauen vermeintlich kein eigenes sexuelles Begehren hatten, war es die Aufgabe des galanten Mannes, sie zu überwältigen. Und die Frauen – die zwar nicht selber wollten, aber doch wollten, dass er wollte – stachelten ihrerseits den sexuellen Drang des Mannes durch ihre scheinbare Abwehr an, wie der Jurist Max Thal in seiner Streitschrift gegen »die sexuelle Doppelmoral« aufklärte: »(M)anch eine stammelt noch ein abwehrendes, rührend tiefes: ›Nicht doch!‹, wenn schon alles vorüber ist.«30

Damit hatte Thal die Tradition auf seiner Seite. So schrieb bereits der römische Dichter Ovid in seiner Liebeskunst: »Vielleicht wird sie zuerst dagegen ankämpfen und Unverschämter! sagen; sie wird aber im Kampf besiegt werden wollen.«31 Überhaupt geht die Idee des feurigen Mannes und der frigiden Frau auf die klassische Antike zurück,32 auf Aristoteles, der von einer größeren inneren Hitze des Mannes ausging – wortwörtlich. Das Fehlen dieses inneren Feuers führe dazu, dass die Frau in einem Stadium der Unfertigkeit verbliebe, was ihre physische, intellektuelle, aber vor allem sexuelle Potenz anginge. Schließlich sei sie noch nicht einmal in der Lage, ihre Menstruationsflüssigkeit zu kochen und damit zu Samen zu machen!33

Nachdem medizinische Erkenntnisse die Existenz eines realen Temperaturunterschieds ad absurdum geführt hatten, musste ein anderes Modell herhalten, um den imaginierten Temperamentunterschied zwischen den Geschlechtern zu erklären. Das vom Darwinismus geprägte 19. Jahrhundert fand dies in der Geschlechterordnung der Urgeschichte – nicht in der tatsächlichen Urgeschichte wohlgemerkt, sondern in einer Flintstones-Version der bürgerlichen Gesellschaft.34 Der Sexualforscher Havelock Ellis führte aus: »Die Zurückhaltung des Weibes – die in ihrer ursprünglichen Form als körperlicher, aktiver oder passiver, Widerstand gegen die Angriffe des Mannes sich darstellt – hat die Auslese gefördert, indem sie die wichtigste Eigenschaft des Mannes, Stärke, auf die Probe stellt. So kommt es, dass das Weib bei der Wahl unter Männern, die um ihre Gunst wetteifern, der Kraft den Vorzug gibt. Im Kampfe ums Dasein ist Gewalttätigkeit die erste Tugend.«35

Die sexuelle Selektion war Charles Darwins große Neuerung, und sie gestand Frauen in gewisser Form eine größere Rolle in der Fortpflanzung zu: War sie vorher komplett passiv, konnte sie jetzt auswählen, von welchem Mann sie überwältigt wurde. In Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl schrieb Darwin: »[Das Weibchen] ist spröde, und man kann oft sehen, dass es eine Zeit lang den Versuch macht, dem Männchen zu entrinnen […] Das Ausüben einer gewissen Wahl von Seiten des Weibchens scheint ein fast so allgemeines Gesetz wie die Begierde des Männchens zu sein.«36 Diese Wahl beinhaltete jedoch nicht, dass Frauen selbst nach Sexualpartnern suchten, ein solches Verhalten sei wesensfremd und würde sie für die virilen Männer unattraktiv machen.37 Wo für Männer das Überleben des Stärksten galt, schien es für Frauen das Überleben der Schwächsten und Passivsten zu sein. Wie bereits Susan Sontag bemerkte: »In unserer Kultur [ist] alles, was mit der Sexualität zusammenhängt, zu einem ›besonderen Fall‹ geworden – ein Vorgang, der zu merkwürdig widersprüchlichen Verhaltensweisen führte.«38

Die Überzeugung von der Frigidität der Frau und der heißen Begierde des Mannes durchdrang noch bis ins 20. Jahrhundert alle Bereiche: allgemeine Rollenvorstellungen, Kommunikation, gelebte und imaginierte Sexualität, so dass eine Frau, die einen Mann nicht wollte, weil sie ihn halt nicht wollte, massiv körperlich gegen ihn ankämpfen musste, da er sonst davon ausgehen konnte, dass sie einfach nur eine »echte Frau« war.

Für das deutsche Strafrecht war die Idee der nicht unwillkommenen Gewalt – das römische Konzept der vis haud ingrata – noch bis in die 1970er Jahre relevant. So wurde bei einem Strafprozess der Nachweis erwartet, dass die Frau sich nicht nur gewehrt, sondern diesen Widerstand die ganze Zeit über aufrechterhalten hatte, schließlich hätte ihre Erregung ja noch später auf verschlungenen, geheimnisvollen Wegen einsetzen können, nachdem ihr »natürlicher« sexueller Widerwille überwunden worden wäre.39

Nun hat sich inzwischen zwar die (Rechts-)Auffassung von der weiblichen »Natur« geändert, nicht aber die der männlichen. Weshalb Bestseller wie die Ratgeber von Ellen Fein und Sherrie Schneider – Die Kunst, den Mann fürs Leben zu finden: »The Rules« und Die neue Kunst, den Mann fürs Leben zu finden: The Rules II und Die Kunst, den Mann fürs Leben zu halten und so weiter – ihren Millionen von Leserinnen Passivität mühsam beibringen und ihnen erklären, dass sie, um einen Mann zu bekommen, diesen erst einmal ablehnen müssen, weil Männer von Frauen, die wissen, was sie wollen, abgestoßen seien. Ein Bewerbungstraining, das Bewerberinnen riete, sie würden einen Job nur kriegen, wenn sie bloß keine Unterlagen einschickten und sich nicht interessiert zeigten, würde sich wohl kaum verkaufen, doch Die Regeln sind so populär, dass Oprah Winfrey konstatierte: »The Rules isn’t just a book, it’s a movement, honey.«40 Und auch diesseits des Atlantiks kolportieren Frauenmagazine und Selbsthilfebücher: »Sexuelle Forderungen der Frauen törnen Männer ab. Je gradliniger eine Frau […] einfordert, was sie will, desto weniger wahrscheinlich ist, dass sie es bekommt. […] Will sie sich einen Mann ›schnappen‹, muss sie unbedingt den Eindruck erwecken, dass sie ihn nicht haben will, darf seine Anrufe nicht entgegennehmen, seine Textnachrichten nicht beantworten, muss so tun, als sei sie ›schwer zu haben‹.«41

Das führte zu der paradoxen Auffassung, dass eine Frau umso begehrenswerter sei, je weniger Lust sie habe, während eine lüsterne Frau degeneriert sei und dadurch entsexualisiert, also entweiblicht werde. Schließlich war Weiblichkeit keineswegs gleich auf alle Frauen verteilt. Im 19. Jahrhundert wurde das am Genital gemessen: Je kleiner die – vor allem inneren – Labien waren, als desto zivilisierter galt eine Frau und desto geringer sei ihr sexuelles Verlangen. Anthropologen entwickelten eine wahre Obsession für die Schamlippen der »unzivilisierten« – das heißt kolonialisierten – Frauen, die sie maßen, beschrieben, fotografierten und katalogisierten. Dabei übersahen sie geflissentlich den Widerspruch zur These, dass die Frau vermeintlich bereits in der Vor- und Frühgeschichte sexuell passiv gewesen sein sollte, während sie diese Passivität nun als Ergebnis des Zivilisationsprozesses darstellten.

Damit es bei diesen eingeschränkten Handlungsspielräumen überhaupt zum Geschlechtsverkehr kommen konnte, bedurfte es des immer bereiten Mannes. »Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung«42, jubelte Richard von Krafft-Ebing. Die andere Seite der Medaille war, dass Männer, die in der »Liebeswerbung« nicht erfolgreich waren, nach diesem Modell unter ständigem sexuellen Druck standen. Aber auch die Ehe hielt sexuelle Frustration für die eine Hälfte der Verheirateten bereit. Andrew Jackson Davis – dem wir den Terminus »Gesetz der Anziehung«43 verdanken – führte in Anlehnung an Aristoteles aus: »Die Frau erhält unfehlbare und regelmäßige Erleichterung durch den menstruellen Ausfluss. Die von den vitalen ehelichen Essenzen angeschwollenen Eierstöcke fließen über und werden mit jedem Mond beruhigt und abgemildert.« Der Mann dagegen: »wie viel überreichlicher und schrecklich dringend sind seine zeugungsfähigen Ressourcen.« Die körperliche Nähe einer Frau, ohne mit ihr Sex zu haben, ließe ihn »aufgeladen bis zur Auszehrung, sogar bis zum Rande der unkontrollierbaren Gewalt«44.

Jackson beschwor die Männer, sich trotzdem zurückzuhalten. Doch war das »Dampfkesselmodell« im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts die bevorzugte Erklärung und Rechtfertigung für Notzucht, so die damalige Bezeichnung für Vergewaltigung. Viele Ärzte betrachteten Notzucht zwar als unmoralisch, aber unausweichlich und »stets der ungesunden Onanie45 bei fehlendem Zugang zu Prostituierten vorzuziehen […], da regelmäßiger Geschlechtsverkehr ein unverzichtbares ›Remedium‹ für die Gesundheit des Mannes darstelle«46. Anfang des 20. Jahrhunderts ging der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gegen den Mythos der schädlichen Masturbation vor, da für ihn Samenerguss Samenerguss war und schwache Männer von dem unerträglichen Druck der verbotenen Gelüste befreite: »Die Onanie hat in diesem Sinne eine wichtige soziale Bedeutung. Sie ist gewissermaßen ein Schutz der Gesellschaft […] Würde man die Onanie vollkommen unterdrücken, die Zahl der Sittlichkeitsdelikte würde ins Unglaubliche steigen.«47

Noch in den 1970er Jahren korrelierte der renommierte Medizinhistoriker Edward Shorter die Zunahme von Vergewaltigungen in bestimmten Epochen mit dem Anstieg des Heiratsalters. Zwar seien die meisten Männer in der Lage, ihre Triebe unter Kontrolle zu halten, doch bei Individuen mit psychischen Abweichungen würde die heiße Begierde überkochen und sich in sexuellen Überschreitungen Bahn brechen.48

Als das Dampfkesselmodell aufkam, stellte es erst einmal einen Widerspruch zu der allgemeinen Auffassung dar, dass Männer das rationale Geschlecht seien. Wie konnte ihr Sexualtrieb dann dermaßen irrational sein? In der Folge wurden die Bereiche der Sexualität und Intimität Schritt für Schritt aus der Vernunftvorstellung herausgenommen, so dass die Trennung zwischen Körper und Geist noch weiter voranschritt.49 Von seiner überschießenden phallischen Energie zu Genie oder Verbrechen getrieben, eignete sich der Mann nun ebenfalls nicht mehr für seine angestammte Rolle als Vertreter der moralischen Ordnung. Wer wäre besser geeignet, diese vakante Stelle zu übernehmen, als die wegen ihrer fehlenden Leidenschaft sowieso nur selten in Versuchung geratende Frau?50 Als Hüterin der göttlichen Ordnung (Hegel) oder der moralischen Ordnung (Rousseau) erhielt sie obendrein noch die Verantwortung, die männliche Sexualität zu kontrollieren, indem sie ihre Kleidung und ihr Verhalten darauf abstimmte, seine leicht erregbare Libido nicht zu entflammen.

Die Warnung an Frauen, bloß nicht zu viel Alkohol zu trinken, wenn sie ausgehen, und Männern nicht die »falschen Signale« zu senden, ist ein Überbleibsel des Dampfkesselmodells und wird zu Recht breit kritisiert.51 So formierte sich in Toronto 2011 der erste Slutwalk als Reaktion auf den Rat des kanadischen Polizeibeamten Michael Sanguinetti, Studentinnen sollten sich nicht »wie Schlampen anziehen«, um Vergewaltigungen zu vermeiden. Dagegen sind vergleichbare Forderungen an Männer, »sich gefälligst zusammenzureißen«52, den Neandertaler in sich zu bezwingen,53 oder die Handzettel, mit denen die American College Health Association männliche Erstsemester warnt: »Ihr mögt eure Lust nicht kontrollieren können, wohl aber eure Handlungen.«54 noch immer Teil der Rhetorik, mit der wir das unerklärliche Phänomen Vergewaltigung erklären.

Doch wie konnte ein solches sexuelles Szenario überhaupt so breit anerkannt werden, angesichts tatsächlicher sexueller Beziehungen? Indem alles, was diesem Bild nicht entsprach, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als krank definiert wurde, oder, um im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit zu bleiben: als pervers. Verwirrenderweise wurden diese Perversionen gleichzeitig als normaler Bestandteil der weiblichen Psyche deklariert: die Frau, das perverse Geschlecht.

So fuhr Krafft-Ebing, nachdem er die Asexualität der Frau etabliert hatte, fort: »Gleichwohl macht sich in dem Bewusstsein des Weibes das sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. Das Bedürfniss nach Liebe ist größer als bei dem, continuierlich, nicht episodisch.«55 Männer dachten also nur an Sex, wenn sie eine Frau sahen, während Frauen die ganze Zeit heiß darauf waren, es sei denn, sie hatten tatsächlich Sex mit einem Mann?

Die Psychoanalytikerin Helene Deutsch, die in den 1940er und 50er Jahren als die Spezialistin für Die Psychologie der Frau – so der Titel ihres einflussreichsten Werkes – galt, erklärte dieses Paradox mit dem weiblichen Masochismus, der nach Deutsch nicht eine Spielart, sondern die Voraussetzung für den erotischen Genuss der Frau darstellte. Nachdem sie für die Erhellung der physischen die psychischen Vorgänge herangezogen hatte, erklärte sie die Psyche wiederum mit der Physis, genauer gesagt mit der Vagina, die nach Deutsch komplett passiv sei und nur durch den Penis erweckt werden könne.56 Daraus entstünde das tiefe weibliche Bedürfnis, überwältigt zu werden. »Die ›unentdeckte‹ Vagina wird – im normal günstigen Fall – durch einen ›Vergewaltigungsakt‹ erotisiert. […] Jene Phantasie ist nur eine psychologische Vorbereitung für einen realen, wohl milderen, jedoch dynamisch identischen Vorgang. Er drückt sich in der aggressiven Penetration von Seiten des Mannes einerseits, in der ›Überwältigung‹ der Vagina zur erogenen Zone andererseits aus!«57

Damit bezog sich Helene Deutsch auf Sigmund Freuds These, die psychosexuelle Entwicklung der Frau sei erst dann abgeschlossen, wenn ihre Erogenität von der Klitoris (die nach Freud ein verkümmertes männliches Sexualorgan und damit aktiv sei) in die Vagina (das eigentliche weibliche Sexualorgan und damit passiv) gewandert wäre. In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualität hatte er bestimmt: »Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während der Mann die Seinige von der Kindheit an beibehalten hat.« Dies barg selbstredend mannigfaltige Gefahren für Fehlentwicklungen und Regredierungen unterwegs, so dass die Voraussetzung für das »Weibwerden« gleichzeitig zur Voraussetzung wurde »für die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie. Diese Bedingungen hängen also mit dem Wesen der Weiblichkeit innigst zusammen.«58

Doch auch ohne Neurosen war die Prognose für die weibliche Sexualität pessimistisch. Nicht nur glich der Geschlechtsakt so sehr einer Vergewaltigung, dass Kinder, die ihre Eltern beim Koitus überraschten, laut Freud meinten, eine Vergewaltigungsszene zu sehen – zumindest beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit empfände die Frau das genauso, da »die sexuellen Geschehnisse in [der Hochzeitsnacht] oft nur auf eine Notzucht hinauslaufen«59, wie der Psychiater Leopold Loewenberg ausführte. Helene Deutsch ging noch weiter und setzte voraus, dass die Penetration dies im Kern auch bliebe. »Die häufige Angst der Frau vor dem Koitus liegt in der Tatsache begründet, dass er eine Beschädigung der Körpereinheit darstellt.«60 Sexualität – und damit ist der Koitus gemeint, jede andere Form von Sexualität galt als Regression – war demnach in letzter Instanz nicht natürlich für die Frau, so masochistisch veranlagt sie auch war.61

Sexing the Difference II: Ja heißt nein!

Bei der Lektüre dieser ganzen psychoanalytischen Texte, in denen die Vorstellung von Sexualität nie einfach für Sexualität steht, sondern stets für etwas weitaus Dunkleres, Tieferliegendes, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Vergewaltigung und Masochismus Stellvertreter für ganz andere Auseinandersetzungen waren und dass sich sexuelle Macht und Ohnmacht völlig banal auf reale Macht und Ohnmacht bezogen.

Tatsächlich schreiben Freud und Deutsch und Ellis nicht über Masochismus als sexuelle Phantasie, sondern als (neurotische) Charaktereigenschaft. Damit sind diese Texte streng genommen gar keine sexualpsychologischen Schriften, sondern Psychogramme ihrer Gesellschaft anhand von sexuellen Symptomen. Und so wurden sie auch gelesen. Außer einem kleinen Fachpublikum interessierte sich niemand ernsthaft für die Probleme des »Rattenmannes« oder der »Anna O.«, aber alle wollten wissen, was Männer und Frauen wirklich dachten und fühlten. Freud und Ellis informierten die gebannte Öffentlichkeit – nicht überraschend, aber doch überraschend unverblümt –, dass der Sexualtrieb nicht nur in seiner männlichen Ausprägung aktiv wäre und in seiner weiblichen passiv, sondern dass Dominieren Männlichkeit und Dominiertwerden Weiblichkeit definiere.

Der Einfluss dieser Definition erklärt, warum Masochismus noch heute ein solches Reizthema ist, dass der Erfolg eines Softporno-Bestsellers wie 50 Shades of Grey ausreichte, um eine Debatte darüber auszulösen, warum sich Frauen in der Tiefe ihrer Psyche danach sehnten, von Männern dominiert zu werden – so, als würden Menschen ihre sexuellen Praktiken eins zu eins auf andere Interaktionen, auf berufliche Ambitionen und vor allem die Politik übertragen. Newsweek widmete dem männlichen Dom und der weiblichen Sub des Romans eine Coverstory und fragte: »Warum ist der freie Wille eine solche Last für Frauen?«62

Worauf die britische Autorin und Aktivistin Laurie Penny antwortete: »Zu den Dingen, die Jean-Jacques Rousseau wirklich zu schätzen wusste, zählten neben der Freiheitsphilosophie auch junge Damen, die ihm bis zur Ekstase den Hintern versohlten. […] Nie gab es jedoch auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass Männer, die sich sexuell gern von Frauen dominieren lassen, auch sozial und wirtschaftlich von ihnen dominiert werden wollen. […] Dass Kink – besonders der Sadomasochismus – dermaßen salonfähig geworden ist, soll den Frauen aber angeblich beweisen, dass es mit unserem Emanzipationskram eben doch nicht so weit her ist, wie wir es vielleicht glauben.«63 Auch die geschlechtsspezifische Vorstellung der sexuellen Präferenzen – Männer hauptsächlich dominant versus Frauen hauptsächlich submissiv – hat mehr mit Deutsch/Freud/Ellis zu tun als mit gelebten Realitäten. 2015 belegte eine Studie an der Universität Merseburg, dass sich Männer und Frauen in Bezug auf ihre sexuellen Vorlieben statistisch schlicht nicht voneinander unterscheiden.64

Die aufgebrachten Artikel und Kommentare über die weitgehend harmlose Cinderella-Geschichte mit – nicht einmal wirklich masochistischen – Sexszenen lassen das Ausmaß des Schadens, den der psychoanalytische Masochismus-Diskurs angerichtet hat, erahnen. Besonders problematisch war, dass Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens die berüchtigte Behauptung aufgestellt hatte, Frauen fänden es schwierig, sich gegen eine Vergewaltigung zu wehren, weil ein Teil von ihnen diese herbeisehne. Er illustrierte das nicht etwa mit einem Fall aus seiner Praxis, sondern mit einem Ausschnitt aus einem literarischen Werk: Don Quijote von Miguel de Cervantes.

Darin kommt eine Frau zu dem Richter Sancho Panza und zeigt eine Vergewaltigung an. Panza nimmt dem Angeklagten seine volle Geldbörse weg und gibt sie der Frau als Entschädigung. Sobald diese gegangen ist, schickt er ihr den Mann jedoch hinterher mit dem Auftrag, die Börse zurückzustehlen. Nach einer Weile kommen die beiden kämpfend und fluchend zurück zum Gerichtshaus. Woraufhin Sancho Panza zu der Frau sagt: Hättest du nur die Hälfte der Kraft, die du aufgewandt hast, um deine Geldbörse zu behalten, eingesetzt, um deine Keuschheit zu schützen, so wärst du nicht vergewaltigt worden.

Damit nicht genug, legte Freud nahe, »dass unter dem sittsamen Benehmen noch immer das Feuer der Begierde in der weiblichen Brust kochte und ihr eine überaktive sexuelle Fantasie verlieh, die mitunter zu falschen Anschuldigungen von Vergewaltigung führte«65. Aufbauend auf Freuds Ätiologie der Hysterie arbeitete der einflussreiche US-amerikanische Neurologe Bernard Sachs die Verbindung zwischen Hysterie und falschen Vergewaltigungsvorwürfen heraus. Nach ihm neigten »hysterische Frauen zu solchen Anschuldigungen, wenn sie sich in einem Zustand großer Erregung befanden, wie etwa während der Menstruation«. Umgekehrt war für Ärzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts »die Neigung zu Anschuldigungen von unanständigem sexuellen Verhalten ein Nachweis für Hysterie bei einer Frau«.66 Deshalb entschied in den 1930er Jahren ein US-amerikanisches Komitee unter Vorsitz des Rechtsexperten John Henry Wigmore, dass Richter sich vor Hysterikerinnen und pathologischen Lügnerinnen in Acht nehmen und alle Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigten, zuerst von einem Psychiater auf Freudianische Komplexe untersucht werden sollten.67

Auch wenn sie nicht logen, rückten die Opfer ab den 1940er Jahren mit dem neu begründeten Feld der Viktimologie endgültig in den Fokus der Forschung. »So es Kriminelle gibt, ist es offensichtlich, dass es (ebenfalls) geborene Opfer geben muss, autoaggressiv und selbstzerstörerisch«68, erklärte Hans von Hentig in dem Grundlagenwerk der Viktimologie The Criminal and His Victim. Vergewaltigung wurde in der Fachliteratur zu einem durch das Opfer verursachten Verbrechen (»victim-precipitated«). Der Psychoanalytiker (und ehemalige Leiter der Forschungsgruppe, die die Insassen des Sing Sing Gefängnisses in New York untersucht hatte) David Abrahamsen stellte in seiner einflussreichen Studie The Psychology of Crime fest: »Das Opfer kann ebenfalls unbewusst selbst ihren Angreifer zu der Tat verleiten. Die bewusste oder unbewusste physische und psychische Attraktion zwischen Mann und Frau besteht nicht nur auf der Seite des Täters, der sich zu der Frau hingezogen fühlt, auch sie fühlt sich zu ihm hingezogen, was in vielen Fällen zu einem gewissen Maß der Auslöser für den sexuellen Übergriff sein kann. Häufig wünscht sich eine Frau unbewusst, mit Gewalt genommen zu werden.«69

Diese nahezu telekinetische Energie, mit der Frauen Männer zu Kriminellen machten, ist umso verblüffender, als es ihnen gleichzeitig an eigener krimineller Energie mangeln sollte.70 So sich die frühen Kriminologen überhaupt mit der Frage des Geschlechts befassten, dann, um zu erklären, warum Frauen keine bemerkenswerten Verbrechen begingen. Cesare Lombroso, der Vater der Kriminologie, ging davon aus: »Wegen ihrer geringeren kortikalen Erregbarkeit haben Frauen allerdings auch weniger das Bedürfnis [nach dem Laster], das beim Manne immer stärker wird, je mehr seine Intelligenz wächst, und außerdem bildet der weibliche Misoneismus, der Respekt vor den einmal herrschenden Sitten, einen Zügel.«71

Besonders schwer war es, sich Frauen als Täterinnen vorzustellen, wenn es um Sexualverbrechen ging72 – mit Ausnahme der Prostitution. Willem Adriaan Bonger, der kurz darauf der erste Professor für Soziologie und Kriminologie in den Niederlanden werden sollte, schrieb 1916: »… die Rolle der Frau im Sexualleben (und damit auch bei Sexualverbrechen) ist eher passiv als aktiv.«73 Darüber hinaus ging man sowieso davon aus, dass Frauen gar nicht vergewaltigen mussten, weil sie jederzeit Sexualpartner finden konnten, da Männer in dieser Hinsicht nicht wählerisch seien. »Während ein Übermaß an Leidenschaft beim Mann, wenn er nicht in die angemessene Bahn geleitet wird, zu sexuellen Übergriffen und Perversionen führt«, brachte es die Sozialreformerin Frances Alice Kellor auf den Punkt, »kulminiert dieselbe bei Frauen am häufigsten in Geisteskrankheit oder physischem Siechtum.«74

Wo Männer vergewaltigen, werden Frauen halt verrückt.

Diedrich Diederichsen prägte den Satz: »Wahres Spießertum erkennt man an der Verve, mit der es auf längst überkommene Tabus eindrischt.«75 Nun ist es natürlich einfach, sich über veraltete Geschlechtervorstellungen lustig zu machen. Doch wenn wir über Vergewaltigung sprechen, hallen dabei stets die Echos vergangener Diskurse mit. Ein großer Teil unseres »Wissens über Vergewaltigung« basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären. Da das aber nicht der Fall ist, haben die daraus resultierenden Haltungen eine weitaus durchdringendere Wirkung und Nachwirkung, als sie hätten, wenn wir um ihre Genese wüssten. »Geschichten prägen uns, auch die miesen und sogar die, die absichtlich simplifizieren und unsere Alltagserfahrungen ausblenden. Über Geschichten organisieren wir unser Leben […] und diese Geschichten formen dann unsere Sehnsüchte und unsere Identität.«76 Das beginnt mit der Sprache. Sex wird als etwas beschrieben, das Männer Frauen geben – oder ihnen antun. Worte wie Koitus, Penetration – und ficken – drehen sich um den Penis und vermitteln, was er und seine Substitute – wie Dildos oder Finger – machen, so als würden sich die Körperöffnungen, die penetriert werden, nicht an dem Geschehen beteiligen. Nun gibt es selbstverständlich zahllose andere sexuelle Handlungen, die auch eine größere sprachliche Aufmerksamkeit verdienen. Doch ist Penetration die offensichtlichste linguistische Scheuklappe. Deswegen schlägt die Autorin Bini Adamczak als Gegenbegriff Circlusion77 vor, eingedeutscht Zirklusion, altmodisch auch Circumclusion: »Beide Worte bezeichnen etwa denselben materiellen Prozess. Aber aus entgegengesetzter Perspektive. Penetration bedeutet einführen oder reinstecken. Circlusion: umschließen oder überstülpen. That’s it. Damit ist aber auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität verkehrt.« Dieser Neologismus sollte sich ohne größere Probleme einführen lassen, führt Adamczak aus: »Circlusion ist ohnehin bereits häufiger in der Alltagserfahrung. Denken wir an das Netz, das Fische fängt, den Gaumen, der die Nahrung umschließt, den Nussknacker, der Nüsse zermalmt. […] Circlusion ermöglicht so, eine Erfahrung auszusprechen, die wir schon lange machen.«78 Und damit nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken zu verändern.

Mit einem Konzept wie Circlusion als einer der treibenden Kräfte hinter Sexualität würden sich Klassiker wie Donald Symons The Evolution of Human Sexuality – das Thornhill und Palmer als Inspirationsquelle für ihre Natural History of Rape anführen – merkwürdig anhören: »Auf der ganzen Welt sind es vordringlich die Männer, die um die Gunst der Frauen werben, sie umgarnen, anmachen und verführen … Männer machen Frauen Geschenke, um mit ihnen schlafen zu können, und nehmen die Dienste von Prostituierten in Anspruch.« Vergewaltigung erklärt er als Nebenprodukt »der größeren männlichen Erregung, des größeren autonomen Sexdrives, geringerer Fähigkeit sich sexueller Aktivitäten zu enthalten, viel größerer Lust auf Sexualität per se und größerer Bereitschaft zu Sex ohne Liebe, und nicht wählerisch in Bezug auf ihre Sexualpartner zu sein«79. Mit einem Wort, als Nebenprodukt der Penetration. Kein Wunder also, dass es bis 1997 eines Penis bedurfte, um laut Strafgesetzbuch zu vergewaltigen.

Ohne den Hinweis auf Vergewaltigung läge das allerdings noch immer im Mainstream der populären Meinungen. Wenn man die Stichworte Männer und Frauen und Sex in eine Aphorismen-Suchmaschine eingibt, erhält man geflügelte Worte wie: »Männer reden mit Frauen, um mit ihnen schlafen zu können. Frauen schlafen mit Männern, um mit ihnen reden zu können.« (Jay McInerney) Bestseller wie Das weibliche Gehirn behaupten, dass Frauen pro Tag 13.000 Worte mehr als Männer benutzen müssten, während Männer nur eines wollten. Was, ist ja klar. Die Autorin Louann Brizindine führt weder aus, wie sie auf die doch recht konkrete Zahl von 13.000 kommt, noch was mit Frauen passiert, die ihr Pensum nicht erfüllen. Wahrscheinlich explodieren sie und fallen damit aus der Statistik. Das ist sozusagen das Dampfkesselmodell in Bezug auf Sprache.

2010 machte der britische Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry – der in England als Nationalerbe gilt, so wie die Kronjuwelen und Stonehenge – Schlagzeilen, als er in einem Interview mit dem Magazin Attitude erklärte: »Frauen interessieren sich nicht wirklich für Sex. Das ist nur der Preis, den sie für eine Beziehung bezahlen.«80

Zwar hatte er das so nie gesagt, trotzdem wurde die Debatte begeistert von allen Medien aufgegriffen. »Die Wissenschaft von Frauen und Sex: Hat Stephen Fry doch Recht?«, titelte der Independent und griff für seinen Artikel wieder auf Darwin zurück, um anhand der Evolutionstheorie zu erklären, warum Männer ständig wollen und Frauen ständig nicht wollen: »Männer liegen, was ihre Neigung zu Promiskuität angeht, zwischen Gorillas und Schimpansen. Wir können das an der relativen Größe der Hoden erkennen: Erst Gorillas (ein wenig sexuell freizügig, kleine Hoden), dann Männer und schließlich Schimpansen (sehr freizügig, sehr große Hoden).«81 Und an der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes?

Laut Populär-Primatologie seien schon Affenweibchen schüchtern und sexuell zurückhaltend. Bloß lässt sich das nicht belegen, ganz im Gegenteil. So nennt die Anthropologin Meredith Small eine ganze Reihe von Affenarten, bei denen das Weibchen auf das Männchen zugeht, ihre Genitalien in sein Gesicht drückt und auf unzählige weitere Arten Sex initiiert.82 Pavianweibchen bespringen offensichtlich mit größtem Vergnügen ein Männchen nach dem anderen. Und weibliche Bonobos sind nicht nur während ihres gesamten Zyklus sexuell aktiv, sie sind auch diejenigen, die die männlichen Bonobos anführen – was den Ethnologen Frans B. M. de Waal zu der Spekulation über die Evolutionstheorie anregte: »Was wäre gewesen, wenn die Forschung mit den Bonobos begonnen hätte? Wir würden heute aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgehen, dass frühe Hominide in frauenzentrierten Gesellschaften gelebt haben, in denen Sex wichtige soziale Funktionen erfüllte.«83

Trotzdem ist die Tatsache, dass Frauen nicht primär durch Schokolade und Liebeserklärungen und Babys sexuell erregt werden,84