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Die Geschichte der Industrialisierung wird in der Regel als Geschichte von Pionieren und Unternehmen erzählt. Es ist bekannt, dass Uhren und Textilien zu den Schweizer Exportschlagern des 19. Jahrhunderts gehörten und sich aus der Textilindustrie die Maschinen- sowie die Farben- und die chemische Industrie entwickelten. Aufgrund der Wasserkraft siedelte sich die Industrie mit Vorliebe an Flüssen an, die neben der Lieferung der benötigten Energie auch zugleich als Transportweg und Abfallgrube dienten. Hingegen wissen wir erstaunlich wenig darüber, wie sich die Industrialisierung vor Ort konkret auf die Menschen und ihre Umwelt ausgewirkt hat. Es gibt nur wenige Untersuchungen, die sich mit den Schattenseiten der Industrialisierung befassen. Dies holt Claudia Aufdermauer mit diesem Buch nach. Sie schreibt damit eine Umweltgeschichte der Industrialisierung mit Fokus auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert – und ihren Auswirkungen bis heute.
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Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Claudia Aufdermauer
Quecksilber: der Weg des Giftes
Miasma und Arsenik: die Wissenschaft von den Giften
Gelber Phosphor und Blei: die Arbeitenden im Fokus
Chlor und Ammoniak: Wassernutzungskonflikte
Dioxine, Furane und Fluor: Staatsversagen
DDT, Cadmium und PCB: die Entdeckung der Umwelt
PFAS: auf der Suche nach Entsorgungslösungen
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Chronologie
Potenziell wasserschädigende Fabriken um 1886
Ortsregister
Register chemischer Stoffe
Autorin und Dank
Sonne, Wind und Wasser lieferten der Menschheit während des grössten Teils ihrer Geschichte die Energie. Pflanzen wuchsen durch Fotosynthese und Wasser. Menschen und Tiere assen sie und gewannen daraus Energie. Aus Holz baute man Fortbewegungsmittel und Maschinen, die von Tieren, Wind und Wasser angetrieben wurden. Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert legte die Basis für ein neues Energiezeitalter, das heute als Industrielle Revolution oder Revolution der Energieumwandlung bezeichnet wird. Vereinfacht gesagt wurde dabei Wasser durch einen Brennkörper, beispielsweise Kohle, erhitzt, woraufhin sich der Dampf ausdehnte und einen Kolben und damit Verbundenes bewegte. Während Sonne, Wind und Wasser nicht immer zur Verfügung standen, konnte Wärme nun gezielt in Bewegung gesetzt und damit in Energie umgewandelt werden.1
Wie wir wissen, hatte die Industrielle Revolution ihren Ursprung in Grossbritannien. Dank immer leistungsfähigeren Dampfmaschinen konnten dort qualitativ hochwertige Stoffe in grossen Mengen und zu günstigen Preisen produziert und auf dem Weltmarkt angeboten werden. Auch die Schweiz und andere Länder machten dank der Mechanisierung der Spinnmaschinen und Webstühle entscheidende Produktionsfortschritte. Die Einführung der Dampfmaschine markiert nicht nur in wirtschaftshistorischer, sondern auch in umwelthistorischer Sicht eine Zäsur. Mit der Industrialisierung setzten Prozesse ein, die sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts beschleunigten und globale Veränderungen nach sich zogen. Der Übergang von der Nutzung von erneuerbaren zu fossilen Energieträgern war so einschneidend, dass darüber diskutiert wird, ob wir uns seither im Zeitalter des Menschen befinden, im sogenannten Anthropozän.2
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, «dass es auf der Erde keinen Ort mehr gibt, der von der industriellen Umweltzerstörung unberührt geblieben» ist.3 Der Begriff «Umwelt» im heutigen Sinn, als Vorstellung eines schützenswerten Guts, existierte im 19. Jahrhundert noch nicht. 1811 war «Umwelt» gemäss Lexikon ein Terminus von zweifelhaftem, noch nicht ausgemachtem Wert; 1864 wurde darunter «die Welt, und namentlich die Erde, in ihrem Zustande in der vorgeschichtlichen Zeit» verstanden. Erst aus dem Bewusstsein, dass Menschen mit ihrem Verhalten auch den eigenen Lebensraum zerstören konnten, entwickelte sich mit der Zeit – allerdings viel später – ein Umweltbewusstsein und der Gedanke des Umweltschutzes.4
Dieses Buch sucht an der Schnittstelle von Wirtschafts- und Umweltgeschichte nach den regionalen Auswirkungen der Industrialisierung auf Mensch und Umwelt – heute würde man von den externalisierten Kosten der Industrialisierung sprechen. Auch ohne die Begriffe «Umwelt» und «externalisierte Kosten» zu kennen, registrierten die Menschen im 19. Jahrhundert, dass die Fabriken mitunter einen negativen Einfluss haben konnten. In den damaligen Quellen ist von Vergiftungen und Fabrikabgängen, von toten Menschen und toten Fischen die Rede. Verursacht wurden die Todesfälle häufig durch einen Stoff, der absichtlich oder unabsichtlich hergestellt oder verwendet wurde und sich später als giftig herausstellte. Der Grundgedanke des Buches ist es, dem Weg des Giftes zu folgen.
Wie aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich ist, sind verschiedene giftige Stoffe in der Gliederung der Kapitel präsent. Am Beispiel einzelner Substanzen wird danach gefragt, wie sich das Wissen über die Wirkung von giftigen Stoffen entwickelte, welchen Gefahren die Arbeiterinnen und Arbeiter ausgesetzt waren und wie mit Gewässerverschmutzungen aus wirtschaftlicher Sicht umgegangen wurde. Ebenso kommt zur Sprache, wie der Staat reagierte und wo er versagte, wie die Umwelt «entdeckt» wurde und welche Lösungen man zur Entsorgung giftiger Abfälle entwickelte. Wie wir sehen werden, sind auch heute – trotz verfeinerter Messmethoden und dem Verständnis globaler Zusammenhänge – noch nicht alle Probleme gelöst.
Der amerikanische Biologe Barry Commoner (1917–2012) schrieb im Jahr 1971 in seinem Buch «The Closing Circle», viele Umweltprobleme könnten darauf zurückgeführt werden, dass Abfälle in der Natur eigentlich nicht vorgesehen sind (Abb. 1, S. 10). Das Prinzip des Kreislaufs gelte bei allen Stoffen: «Man kauft also etwa eine quecksilberhaltige Trockenbatterie, benutzt sie, bis sie leer ist, und wirft sie dann ‹weg›. Aber was passiert damit in Wirklichkeit? Zunächst landet sie in einer Mülltonne; diese wird zu einer Verbrennungsanlage gebracht. Darin wird unser Batterie-Quecksilber erhitzt; dabei entsteht Quecksilberdampf, der durch den Schornstein des Ofens entweicht – Quecksilberdampf aber ist giftig. Vom Wind zunächst davongetragen, gelangt die giftige Substanz im Regen oder Schnee schliesslich wieder auf die Erdoberfläche. Nehmen wir an, der Ort des Niederschlags sei ein Gebirgssee, dann kondensiert der Quecksilberdampf und sinkt auf den Grund des Sees. Hier wird das Quecksilber von Bakterien in Methylquecksilber umgewandelt. Dieser Stoff ist wasserlöslich und wird von den Fischen aufgenommen; da er in deren Stoffwechsel jedoch nicht eingeht, reichert er sich in den Organen und Geweben der Fische an. Menschen fangen die Fische, essen sie und speichern das Quecksilber in ihren Organen, wo es gefährliche Schäden anrichten kann. […] Nichts ‹kommt weg›; es wird nur einfach von einem Ort an einen anderen gebracht und von einer molekularen Form in eine andere, und jedesmal beeinflusst es die Lebensfunktionen des Organismus, in dem es sich gerade aufhält.»5
Spinnt man den Kreislaufgedanken noch etwas weiter, kommt man zum Schluss, dass die quecksilberhaltige Trockenbatterie zunächst hergestellt werden musste. Die von Commoner erwähnte Trockenbatterie gab es im 19. Jahrhundert zwar noch nicht. Quecksilber, welches als einziges Metall bei Zimmertemperatur flüssig ist, war aber ein Stoff, der zu dieser Zeit in den Fabriken schon verwendet wurde. Quecksilber kann daher gut als Beispiel für die Idee dieses Buchs – dem Weg des Giftes zu folgen – dienen. Um 1910 galten bereits die Gewinnung des Quecksilbers auf bergmännischem Weg und die Verhüttung als gefährlich. Wie Gewerbehygieniker berichteten, waren in einer Mine in Spanien alle Beschäftigten, «vom Direktor weg bis zum hintersten Arbeiter», an einer chronischen Quecksilbervergiftung erkrankt.6 Neben einer «auffälligen Ablenkbarkeit und Erregbarkeit» sowie Gedächtnisschwächen lägen die typischsten Symptome von Quecksilbervergiftungen auf dem motorischen Gebiet: Zu «unkoordinierten schmerzlosen Zuckungen an den Extremitäten» geselle sich in den meisten Fällen ein «sehr feinschlägiger Tremor mit bis zu 10 Schlägen per Sekunde».7
Die im 19. Jahrhundert in der Schweiz als Experten wirkenden Fabrikinspektoren und Gewerbehygieniker schenkten den spanischen Minenarbeitern wenig Beachtung, registrierten aber, dass aus den Schweizer Hutfabriken «ganz typische Quecksilberleiden in die Spitäler gelangen». Das Bürsten und Klopfen der für die Hutherstellung mit salpetersaurem Quecksilberoxid bespritzten Haare und Felle sei problematisch. In einzelnen Hutfabriken leide die Hälfte bis drei Viertel der Arbeiterschaft an einer chronischen Quecksilbervergiftung respektive an «ernsthaftesten Merkurialleiden».8 Ob die mit Quecksilber behandelten Hüte eine Gefahr für die Konsumenten darstellten, wurde damals nicht diskutiert.
01 Der Kreislauf in der Natur. Illustration, um 1979: In einem natürlichen System werden die Ausscheidungen eines Organismus zur Nahrung eines anderen. Tiere, darunter auch der Mensch, atmen Kohlendioxid aus, das den Pflanzen als lebenswichtiger Nährstoff dient. Die Pflanzen wiederum produzieren Sauerstoff, der von den Tieren aufgenommen wird. Kleinere Lebewesen werden von grösseren gefressen. Wenn die grösseren Lebewesen sterben, werden sie wiederum von den kleineren gefressen.
So wie das Quecksilber in die Fabrik kam, verliess es diese auch wieder – entweder als Produkt oder als Abfall. Wie von Commoner beschrieben, ging der quecksilberhaltige Abfall nicht einfach «weg», sondern stieg in die Luft, versickerte im Boden oder floss als sogenannter Fabrikabgang in ein Gewässer – wo er sich wieder in Organismen anreichern konnte. Während dies heutigen Kenntnissen entspricht, verfügten die Menschen im 19. Jahrhundert über ein anderes Wissen und andere Erklärungsansätze. Obwohl Einzelne bereits Zusammenhänge erkannten, wurden die gesundheitsgefährdenden und die gewässerschädigenden Auswirkungen von Chemikalien lange Zeit getrennt behandelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich die Naturwissenschaften in einer Krise. Obwohl in einzelnen Bereichen wie der Anatomie, der Botanik oder der Chemie fortlaufend neue Erkenntnisse gewonnen wurden, fiel es den Zeitgenossen schwer, diese sinnvoll miteinander zu verknüpfen. In der Medizin zeigte sich die Krise der Naturwissenschaften beispielsweise darin, dass noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts an die Viersäftelehre, das heisst, an die «fortgesetzte Blutentziehung» als Mittel gegen Fieber, geglaubt wurde. Wie man schon damals erkannte, konnte diese Behandlung «in vielen Fällen ein wissenschaftlicher Mord» sein: «Die Krankheit wurde gehoben; allein fatalerweise starb der Patient mit der Genesung.» Auch sonst war die Sterblichkeit, vor allem die der Kinder, hoch. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts starb im Kanton St. Gallen jedes fünfte Kind im Säuglingsalter.9
Es wurde beobachtet, dass Städte eine erhöhte Sterblichkeit aufwiesen, weshalb sie auch als «Verkürzungsmittel des menschlichen Lebens» bezeichnet wurden. Wo der Ursprung der Gesundheitsgefährdung liegen könnte, darüber gingen die Meinungen auseinander. Einige glaubten, dass man höchstens viermal die gleiche Luft einatmen könne, bevor sie sich in ein tödliches Gift verwandle. Andere sahen die Schuld beim Wasser.10
02 Chemiker der Fabrik J. R. Geigy in Basel. Fotografie, um 1909.
03 Rosental-Fabrik J. R. Geigy. Fotografie, um 1921.
04 Der Rhein in Basel, von der Münsterplattform aus gesehen. Fotografie, um 1862. Das Bauwerk unten am Fluss gehört zum Neubau des Flussbades Pfalzbadhyysli.
Vor Tausenden von Jahren – der genaue Zeitpunkt ist unbekannt – begannen die Menschen ihren Bedarf an trinkbarem Wasser zu kultivieren und ihre Wasservorkommen baulich einzufassen, um sie zu schützen. Meister der Trinkwasserversorgung waren die Römer, welche kilometerlange Kanäle und Aquädukte bauten, um Quellwasser in die Städte zu leiten. Da die Menschen im Mittelalter diese Wasserversorgungsanlagen nicht mehr warteten und das Wissen darüber verloren ging, wurde der bis ins Grundwasser reichende Zieh- oder Sodbrunnen zum wichtigsten Element der Wasserversorgung. Eimerweise schöpften die Städterinnen und Städter ihr Trinkwasser aus den innerörtlichen, öffentlichen Brunnen.11
Brunnenmeister und Brunnengenossenschaften waren damit beauftragt, Tierkadaver in den Brunnen zu entdecken, bevor diese das Wasser verseuchen konnten. Als im 14. Jahrhundert die Pest in Europa ausbrach und mehr als ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, wusste niemand, woher die Krankheit kam und wie sie übertragen wurde. Die Juden wurden beschuldigt, die Brunnen vergiftet und so die Pest ausgelöst zu haben. In vielen europäischen Städten, darunter auch in Bern, Solothurn, Zürich und Basel, wurden Jüdinnen und Juden verfolgt und ermordet.12
Aus heutiger Sicht lebten die Menschen im 19. Jahrhundert unter unvorstellbaren hygienischen Verhältnissen. Sie wuschen sich nicht, aus Angst, mit dem Wasser könnten schädliche Stoffe in die Haut eindringen. Sie kippten ihre Küchenabfälle als Futter für das herumlaufende Vieh in die Gasse, lebten neben Misthaufen und in schmutzigen Gegenden. Die Fäkalien der Bewohnerinnen und Bewohner sammelten sich je nach Stadt in Sickergruben, Ehgräben oder direkt im Wasser. Sickergruben und Brunnen lagen oft in unmittelbarer Nähe zueinander, was zu einer Verschlechterung des Trinkwassers führen konnte (Abb. 5, S. 22). Auch existierte keine Kehrichtabfuhr oder Strassenreinigung, weshalb das Haus- und Küchenwasser, «vermischt mit dem Strassenkoth» vor sich hin dampfte und nur langsam, wenn überhaupt, in den Stadtkanal floss: «Bei hohem Grundwasserstand in übermässig feuchten Jahren füllen sich die Keller und Kanäle […] mit Wasser, und bereiten den Boden zu einer furchtbaren Epidemie, wenn der Keim der Cholera oder des Typhus zufällig einmal dorthin getragen wird.»13
Die Menschen waren immer wieder von Epidemien betroffen. In den 1850er- und 1860er-Jahren starben allein in Aarau und Zürich mehr als 500 Menschen an der Cholera. Während heute bekannt ist, dass Cholera und Typhus durch verunreinigtes Trinkwasser übertragen werden, konnte im 19. Jahrhundert über die Ursachen dieser Infektionskrankheiten nur spekuliert werden. Der deutsche Mediziner Robert Koch (1843–1910), der 1882 den Erreger der Tuberkulose entdecken sollte, glaubte, dass Bakterien eine Rolle spielen könnten. In der städtehygienischen Debatte unterlagen Kochs Vorstellungen aber noch lange den Theorien seines Berufskollegen Max von Pettenkofer (1818–1901). Dieser ging davon aus, dass Krankheiten von tieferen und feuchteren Stellen nach höheren und trockeneren Stellen vorrücken würden. Aus cholerakeimtragenden Exkrementen, die sich im feuchten und porösen Erdreich verbreiten würden, entwickle sich ein «Cholera-Miasma», welches sich mit den übrigen Exhalationen in den Häusern verbreite. Die Mediziner warnten folglich vor diesen potenziell tödlichen «Miasmen» – also vor Luftverunreinigungen und Ausdünstungen des Bodens, die von faulendem, gärendem Material ausgingen.14
Die Leute fürchteten sich vor der Leerung der Sickergruben. Sie durften nur nachts gereinigt werden. Die Nase war lange Zeit das einzige, wenn auch ungenaue Messinstrument. Wissenschaftler sammelten mit Gefässen verschiedene Gerüche und «Luftarten», um ihre jeweiligen Wirkungen auf den Organismus zu erforschen. Die unterschiedlichsten Gerüche wurden beschrieben, wobei man Gestank meist mit Gesundheitsgefährdung gleichsetzte. Dementsprechend wurden Betriebe wie Friedhöfe, Gerbereien, Schlachthäuser und Metzgereien an den Stadtrand verlagert, da sie Ausdünstungen, Blut, Haare, Fleisch- und Fettreste produzierten. Dort befanden sie sich meist in Wassernähe.15
Als die Chemiker durch exakte Messungen nachweisen konnten, dass der Sauerstoffgehalt der Luft überall annähernd gleich ist, waren die Mediziner enttäuscht: Sie hatten gehofft, Stoffe messen oder nachweisen zu können, die die Luft gesund oder ungesund machen. Der Glaube an den unergründlich giftigen Lufthauch der Miasma-Theorie führte zur Erfindung von «Feuerstühlen» zum Verbrennen von Fäkalien in den Haushalten und zu zahlreichen Desinfektions- und Deodorisierungstechniken. Der Glaube an die Miasma-Theorie führte aber auch dazu, dass die Sickergruben von den Brunnen beziehungsweise Trinkwasser- von Abwassersystemen getrennt und ausgebaut wurden. Aus der umstrittenen Miasma-Theorie, die wissenschaftlich nicht bewiesen werden konnte, resultierte schliesslich eine hygienisch modernere Infrastruktur (Abb. 6, S. 22).16
Als erste kontinentaleuropäische Stadt errichtete Hamburg 1854 nach englischem Vorbild eine zentrale Flusswasserversorgung mit dampfmaschinengetriebenen Pumpwerken und einer systematischen Entwässerung. Andere europäische Städte zogen nach. Die installierte Schwemmkanalisation, die den Wasserverbrauch pro Haushalt um ein Vielfaches erhöhte, spülte die Abwässer aus den Wasserklosetts sowie den städtischen Unrat und das verbrauchte Trinkwasser durch unterirdische Kanalsysteme. Von da leitete man sie ungefiltert in die Flüsse. Dass dieses zentralisierte System der Wasserversorgung und -entsorgung auch zu Problemen führen konnte, zeigte sich spätestens 1892, als Hamburg von einer grossen Cholera-Epidemie getroffen wurde. Krankheitserreger, die mit dem Abwasser in die Flüsse gelangt waren, hatten sich mit dem Trinkwasser wieder in den Haushalten verteilt.
Wie das Beispiel des Miasmas zeigt, konnte etwas als giftig gelten, ohne dass dies wissenschaftlich bewiesen werden konnte. Das lag unter anderem daran, dass chemische Verbindungen, unheimliche Tiersekrete, tödlich wirkende Pilzgifte und heilende Pflanzenextrakte die Menschen zu allen Zeiten faszinierten, aber nur von wenigen wirklich verstanden wurden: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Lehre von den Giften eine mysteriöse Waffe, die dem Kundigen fast magische Kräfte verlieh. «Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohn’ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.» Trotz des bekannten Spruchs des Schwyzer Arztes Paracelsus (1493–1541) sollte es erst mit dem Aufschwung der Chemie im 19. Jahrhundert gelingen, Empirie und Theorie gewinnbringend zu verbinden. Die Erkenntnis, dass ein Stoff giftig ist, blieb jedoch kontextabhängig und konnte je nach Epoche und politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen variieren.17
05 Noch offener Birsig mit Pfluggassbrücke in Basel. 1899 wurde er eingedolt. Fotografie, um 1875.
06 Illustration der Alltagsgefahren in einer Aufklärungsschrift, 1886.
Als Gift wird heute ein gasförmiger, fester oder flüssiger Stoff bezeichnet, der bei einem Lebewesen durch Überdosierung gesundheitliche Schäden verursacht. Voraussetzung ist, dass der Stoff über die Haut, den Verdauungstrakt oder über die Atemwege in das Lebewesen eindringt und die inneren Organe oder das Nervensystem erreicht. Die Giftigkeit ist von der Dosis, der Löslichkeit, der Art und Dauer der Zufuhr sowie von der individuellen Verletzlichkeit abhängig. Die Folgen einer Vergiftung sind unterschiedlich: Es kann zu einer vorübergehenden Beeinträchtigung kommen, zu einer dauerhaften Schädigung oder zum Tod. Eine anhaltende schädigende Gifteinwirkung wird als chronische Vergiftung, eine umgehende Gifteinwirkung als akute Vergiftung bezeichnet.
Eine giftige Chemikalie musste immer als solche erkannt, gemessen und nachgewiesen werden. Dieser Grundsatz gilt auch heute noch. Heute versuchen die Gewerbetoxikologen die maximale Konzentration eines chemischen Stoffes am Arbeitsplatz zu ermitteln, die bei einer 8-Stunden-Schicht und einer 40-Stunden-Woche über das gesamte Arbeitsleben weder gesundheitsschädlich noch belastend ist. Darüber hinaus führen sie toxikologische Risikoabschätzungen mit Tierversuchen durch, um schliesslich zur Tagesdosis eines Stoffes zu gelangen, die auch bei lebenslanger Aufnahme die Gesundheit des Menschen nicht beeinträchtigt. Auf gleiche Weise werden Höchstmengen für Schadstoffe in Lebensmitteln und Grenzkonzentrationen im Trinkwasser festgelegt.18
Spulen wir 100 und oder gar 170 Jahre zurück, so ist klar, dass die Menschen in dieser Zeit noch nicht über dieselben Instrumente, Messmethoden und Kenntnisse verfügten. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Fortschritts beziehungsweise des Glaubens an den Fortschritt. In diesem Kontext wurden Chemiker als Schöpfer neuer Stoffe und in gewissem Sinne als Universalgelehrte gefeiert (Abb. 2, S. 14f.). Die Industrielle Revolution ging auch mit einer chemischen Revolution einher: Harnstoff war 1828 der erste organische Stoff, der aus anorganischen Stoffen künstlich hergestellt wurde. Andere Schöpfungen waren weniger harmlos. Das Wissen um die gesundheitsschädigende Wirkung giftiger Stoffe entwickelte sich erst mit der Zeit.19
1831 wurde in Bremen die letzte öffentliche Hinrichtung vollzogen. Gesche Gottfried (1785–1831) war zum Tod verurteilt worden, nachdem sie den Mord an 15 Menschen gestanden hatte, darunter ihr erster und ihr zweiter Ehemann, ihr Bruder, ihre Eltern und drei ihrer Kinder. Für die Morde hatte sie weisse Arsenikkügelchen verwendet, welche sie in einer Dose mit «Mäusebutter», einem damals gebräuchlichen Vernichtungsmittel gegen Vorratsschädlinge, gefunden hatte. Da Arsenik farb-, geruchund geschmacklos ist, merkten die Opfer nichts, als sie das Gift einnahmen. Wie andere Gifte – der deutsche Dichter Heinrich Heine (1797–1856) war mutmasslich mit Blei vergiftet worden – war Arsenik eine beliebte Mordwaffe.20
Giftmorde gingen erst zurück, als Experten auf der Basis von Proben der verstorbenen und mutmasslich vergifteten Menschen – Blut, Mageninhalt, Urin und Haare – immer mehr giftige Stoffe quantitativ und qualitativ nachweisen konnten. 1836 entwickelte der englische Chemiker James Marsh (1794–1846) erstmals eine Methode zum Nachweis von Arsen in Materialmischungen: Er bildete aus der zu untersuchenden Probe durch Beigabe von Zink und Salzsäure Arsenwasserstoff. Nachdem Marsh den Arsenwasserstoff durch ein Glasrohr leitete und erhitzte, zerfiel er kurz darauf zu Wasserstoff und Arsen. Das Arsen blieb dabei als schwarzer, spiegelnder Niederschlag zurück.21
Es entstanden verschiedene Berufsfelder, die auch am 1855 gegründeten Eidgenössischen Polytechnikum, der heutigen ETH, gelehrt wurden: Die Pharmakologen untersuchten die nützlichen Wirkungen chemischer Stoffe auf den lebenden Organismus, die Toxikologen die schädlichen. Die Forensiker befassten sich mit den klassischen Vergiftungsfällen, die Gewerbehygieniker mit den toxikologischen Problemen am Arbeitsplatz. Zu den Lehrstühlen für technische Chemie und für Farbenchemie an der ETH kamen 1890 ein Lehrstuhl für Gewerbehygiene und eine Ausstellung über Arbeiterschutz hinzu. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann sich auch die Umwelttoxikologie zu entwickeln. Chemiker arbeiteten in der chemischen Industrie und untersuchten Gewässerproben. Andere Sachverständige, welche Aussagen über den Zustand der Gewässer hätten machen können, gab es bis zur Jahrhundertwende nicht.22
Die Gewerbehygiene stützte sich in ihren Anfangsjahren hauptsächlich auf visuelle Beobachtungen: «Durch genaue Untersuchungen und Experimente der Hygieniker muss erst festgestellt werden, wie das Gift aufgenommen wird, ob gasförmig durch die Luft, oder durch eingeatmeten und verschluckten Staub, oder von der Haut aus, oder durch Übertragung von den Händen auf Lebensmittel (Brot).» Erst wenn man wisse, wie das Gift aufgenommen werde, könne man geeignete Schutzmechanismen entwickeln. Ein Gewerbehygieniker vertrat um die Jahrhundertwende die Ansicht, sein Berufsstand habe «schon ungeheure Verdienste erworben», indem er durch Beobachtung und Anordnung von Vorbeugungsmassnahmen «eine Arbeiterzahl, die wohl nach Tausenden zählt, vor Siechtum und frühem Tode bewahrt» habe. Ein Kollege kam wenig später zum gegenteiligen Schluss. Er war erschüttert über die «Minimalzahlen» zu den gewerblichen Vergiftungen, sie seien nichts anderes als «Zeugnisse der Unkenntnis».23
Neben Beobachtungen stützten sich die Gewerbehygieniker auch auf Tierversuche. Um die Gesundheitsgefährdung durch den gelben Phosphor abschätzen zu können, fütterten der deutsche Chemiker Ernst von Bibra (1806–1878) und der deutsche Arzt Lorenz Geist (1807–1867) Fische, Katzen und Kaninchen mit Phosphorstückchen. Später setzten sie die Tiere Phosphordämpfen aus, um die Phosphornekrose «nach Belieben künstlich zu erzeugen». Die Tiere starben, krankhafte Veränderungen an den Kieferknochen konnten jedoch nicht festgestellt werden. Nachdem Bibra auf die kariösen Zähne von Zündholzarbeitern hingewiesen worden war, zog er den Kaninchen einige Zähne und verletzte ihre Kiefer. Erneut den Phosphordämpfen ausgesetzt, stellte Bibra an den Kieferknochen der Versuchskaninchen Entzündungen und Geschwülste fest, die «identisch mit der in den Zündholzfabriken auftretenden eigenthümlichen Knochenkrankheit» waren.24
Einzelne Chemiker untersuchten die Wirkung giftiger Stoffe «nicht nur an Tieren, sondern auch an Menschen». Der deutsche Hygieniker Karl Bernhard Lehmann (1858–1940), ein Schüler Max von Pettenkofers, wusste, wie ein Adjunkt des Fabrikinspektors 1912 dem Bundesrat berichtete, dass 0,18 Milligramm Ammoniak pro Liter vom Menschen noch vertragen würden. Lehmann hatte den Versuch an sich selbst und unter Aufsicht von Pettenkofer durchgeführt, nachdem er sich bei Tieren von der Unschädlichkeit dieser Ammoniakmenge überzeugt hatte. Die Reizerscheinungen seien nichtsdestoweniger in den Augen und der Nase so stark gewesen, dass Pettenkofer Angst bekommen habe: «Eine Schädigung trat jedoch nicht ein.»25
Immer wieder haben Wissenschaftler freiwillig oder unfreiwillig Selbstversuche durchgeführt. Es ist davon auszugehen, dass Forscher, die zum ersten Mal mit einem giftigen Stoff zu tun hatten, vermutlich häufig «als Opfer der Wissenschaft ihr Leben verloren». Gesichert ist dies für den deutschen Chemiker Adolph Ferdinand Gehlen (1775–1815), der Arsen mit Kaliumhydroxid zusammengeschmolzen hatte: «Beim Auflösen derselben entwickelte sich Arsenwasserstoff, von dem G. etwas einatmete, ohne dessen Giftigkeit zu kennen.» Er starb acht Tage später.26
Wie die zeitgenössische Diskussion um gesunde und kranke Luft beruhte auch die Wasseranalyse lange Zeit auf der sinnlichen Wahrnehmung: Farbe, Geruch und Geschmack des Wassers wurden entsprechend untersucht. Bereits im 18. Jahrhundert hielten einzelne Experten klares und helles Wasser unter bestimmten Umständen für schädlich, aber erst Ende des 19. Jahrhunderts erlangten wasseranalytische Erkenntnisse eine grössere Breitenwirkung.27 Dass ungekochtes Wasser lange nicht als gesunder Durstlöscher galt, und Bier, Wein und Schnaps aufgrund ihres Alkoholgehalts und ihres Herstellungsverfahrens einen besseren Ruf hatten, zeigte sich noch 1892. Der Thurgauer Kantonschemiker Alfred Schmid (1863–1926) hatte in diesem Jahr 339 Sodbrunnen untersucht, und 168 davon als «verunreinigt» und «in äusserst verwahrlostem Zustande» beanstandet. Auch wenn die Brunnenbesitzer selbst angeblich nie Wasser trinken würden, so müsse man doch auch an die «Kinder und andere Hausgenossen» denken, «die nicht immer mit alkoholischen Getränken ihren Durst löschen» könnten.28
Im Idealfall, so die Chemiker, verhielten sich Fabrikabgänge im Wasser so, «wie ein Stück Zucker beim Zergehen in einer Flüssigkeit, wie der Rauch des Kamins in der Atmosphäre».29 Sie knüpften damit an eine Theorie an, die im 19. Jahrhundert viele Anhänger hatte: der Glaube an die Fähigkeit der Flüsse, sich selbst zu reinigen. Naturforscher hatten 1864 berichtet, dass sie in England unterhalb von Fabriken wieder Fische in den Flüssen vorgefunden hätten. Mit zunehmender Entfernung werde das Wasser ausserdem klarer. Da beobachtet wurde, dass verschmutzte Gewässer in gewissen Zeitabständen ohne äussere Einwirkung sauberer wurden, nahm man an, dass sich Fliessgewässer selbst reinigten. Beispielsweise wenn die Erde den Fluss berühre oder wenn Licht und Luft mit dem Flusswasser in Verbindung kämen: «Läuft das Wasser über sieben Stein, wird’s alsbald wieder rein!»30
Natürlich gab es bereits damals Kritiker, welche zu anderen Schlüssen kamen; Industrielle und Befürworter der Schwemmkanalisation argumentierten aber beide gern mit der Selbstreinigungskraft der Flüsse. Da miasmatische Vorstellungen und die Angst vor gesundheitsschädlichen organischen Substanzen den Diskurs weiterhin dominierten, wurde manchmal auch behauptet, dass die chemische Industrie mithelfe, die Flüsse zu reinigen. Die Chemikalien würden die Flüsse desinfizieren, zumal in diese auch Haushaltsabfälle, Fäkalien, Kohlenreste aus den Dampfkesseln, grosse Mengen von zerbrochenem Tongeschirr, abgenutzte Metallgegenstände, Schutt aus alten Gebäuden, der Schmutz der Wege, Strassenkehricht, erschöpfte Farbhölzer sowie «Hunderte von Thiercadavern, Hunde, Katzen, Schweine u.s.w.» geleitet würden.31
Während in der Gewerbehygiene die Arbeiterinnen und Arbeiter bei ihren Tätigkeiten vor Ort durch Experten beobachtet und untersucht wurden, war den Chemikern am Ende des 19. Jahrhunderts klar, dass die sinnliche Wahrnehmung im Gewässerschutz nicht zielführend ist. Mochten Fischer auch davon berichten, dass das Wasser an dieser Stelle immer «roth oder blau», «violett», «braun», «schwarz», «grün» oder «hie und da gelb gefärbt» sei, so wussten die Chemiker, dass die Farbe allein nichts über die Gefährlichkeit oder den Grad der Schädlichkeit für die Fische aussagte. Klare Gewässer konnten unter Umständen für Fische gefährlicher sein als trübe. Da man den Augen nicht trauen konnte und zuverlässige Geräte fehlten, gab es eigentlich nur eine zuverlässige Methode: Man hielt einen Fisch in den zu untersuchenden Fluss – und zählte die Minuten oder Stunden, bis er tot war.32
Neben Fischversuchen in Fliessgewässern führten Chemiker auch im Labor Experimente durch. Der deutsche Chemiker Curt Weigelt (1844–1911) setzte seine Versuchsfische einer zuvor definierten Abwasserkonzentration aus und mass den Zeitabstand bis zur dauernden Seitenlage: «1. Chlor: 0,04 im Liter tödtet eine Forelle in 10 Minuten.» Sein deutscher Berufskollege Joseph König (1843–1930), ebenfalls eine Koryphäe in Gewässerschutzfragen, setzte zur gleichen Zeit auf agrarchemische Methoden. Auf kleinen Versuchsflächen und an einzelnen Pflanzen versuchte er Antworten auf die Frage zu finden, ab welcher Menge beziehungsweise ab welchem Zeitpunkt verschiedene Abwässer schädlich wirken (Abb. 7, S. 27).33
Andere Experten befassten sich Ende des 19. Jahrhunderts mit den Kleinlebewesen und dem Sauerstoffgehalt in den Gewässern. Es stellte sich die Frage, ob die Abwässer der Fabriken den Fischbestand möglichweise dadurch schädigen könnten, dass sie die «Flora und Fauna» des Flussbetts, der Wasserläufe und der Ufer so beeinträchtigten, dass die für die einzelnen Arten notwendige Nahrung vernichtet und damit den betreffenden Fischen die Existenzmöglichkeit genommen wird. Für Casimir Nienhaus-Meinau (1838–1910), den ab 1883 auf Mandatsbasis herumreisenden und während 18 Jahren einzigen Schweizer Gewässerschutzexperten, war diese Frage nicht so einfach zu beantworten. Es gebe noch zu wenig Untersuchungen über das «Leben der organisierten Wesen, welche als Fischfutter dienen». Sollten sich die Befürchtungen bewahrheiten, müssten ohnehin sehr strenge gesetzliche Bestimmungen gegen die Fabriken erlassen werden: «Man würde dann nur dazwischen zu wählen haben, der Industrie unerträgliche Schranken zu ziehen oder in Industriebezirken auf Fischkultur zu verzichten.» Damit näherten sich die Experten dem späteren Verständnis der Ökologen an: Kleine Organismen reinigen das Wasser. Sie dürfen nicht durch Industrieabwässer getötet werden, damit der Fluss nicht aus dem Gleichgewicht gerät.34
07 Die Wirkung von Kochsalz gemäss den agrarchemischen Versuchen des deutschen Chemikers Joseph König. Darstellung, 1899.
08 Zwei Kinder mit einem Lachs bei Augst, undatierte Fotografie. Bis in die 1920er-Jahre waren Lachsfänge im Rhein noch häufig. Nach dem Bau der Kraftwerke Augst-Wyhlen (1912) und Kembs (1932) wurden sie immer seltener, spätestens mit dem Brand des Chemikalienlagers in Schweizerhalle (1986) blieben sie ganz aus.
Textilien und Uhren waren um 1850 die wichtigsten Exportgüter der Schweiz, da sie leicht und hochwertig waren, sodass die Transportkosten in einem guten Verhältnis zu den Produktionskosten standen. Ohne Bleichereien und Färbereien hätten die gräulichen oder bräunlichen Stoffe aus Flachs, Hanf, Wolle, Seide und Baumwolle jedoch nicht exportiert werden können. Entsprechend gross war der Bedarf an Farbstoffen, das heisst nach Pflanzen- und Farbholzextrakten. Besonders beliebt war der blaue Farbstoff Indigo aus der Indigopflanze. Bis in die 1870er-Jahre wurden jährlich 200 Tonnen Indigo in die Schweiz importiert. Danach gingen der Verbrauch und die Importe zurück. Verantwortlich dafür war eine Erfindung, die den Farbenmarkt revolutionieren und die Farbpalette um zahlreiche Nuancen erweitern sollte. 1856 gelang es dem englischen Chemiker William Henry Perkin (1838–1907) erstmals, einen Farbstoff künstlich herzustellen: das violette Mauvein. Grundlage für die Darstellung des Farbstoffs war Steinkohleteer, der bei der Gewinnung von Koks und Leuchtgas aus Steinkohle entsteht und lange Zeit als Abfallprodukt galt.35
Die Herstellung von Farbstoffen erfolgte anfangs rein empirisch; theoretische Grundlagen zum Verständnis der chemischen Eigenschaften der Stoffe fehlten. Je nach Chemiker variierten Menge und Qualität der Ausgangsstoffe. In Frankreich war die Pioniertätigkeit sehr erfolgreich, doch wegen des strengen Patentschutzes und drohender Prozesse wanderten die französischen Chemiker mit ihren Rezepten nach Belgien, Deutschland und in die Schweiz aus. Ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen, konnten die Hersteller in der Schweiz – dank fehlendem Muster- und Patentschutz – ausländische Verfahren nachahmen und ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu tieferen Preisen anbieten.36
Während die Farbstofffabriken in den Kantonen Genf und Zürich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts liquidiert wurden, konnten sich jene im Raum Basel halten und zu chemischen Fabriken weiterentwickeln. Für den Standort Basel sprachen der Absatzmarkt und die Logistik: Mit der Basler Seidenband- und der Elsässer Textilindustrie war reichlich Kundschaft vorhanden – und die Ausgangslage für Schmuggel dank der nahen Grenze günstig. Rohstoffe und Fertigprodukte konnten von hier besonders gut transportiert werden: Basel wurde als erste Schweizer Stadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen und mit St. Louis in Frankreich verbunden. Das war auch deshalb von Bedeutung, weil die frühen Farben ein kurze Haltbarkeitsdauer hatten und rasch ausgeliefert werden mussten. Der Rhein bot sich ebenfalls als Transportweg und Abfallgrube an.37
In Basel wurde rotes Fuchsin ab 1859 in der Fabrik von Alexander Clavel (1805–1873) und ab 1860 in der Fabrik von Johann Jakob Müller-Pack (1825–1899) hergestellt. Nach Experimenten mit salpetersaurem Quecksilberoxid gingen die Chemiker 1861 zur Arsensäure über. Damit gehörten sie weltweit zu den Ersten. Es handelte sich um ein neues Herstellungsverfahren, dessen Gefährlichkeit von den politischen Behörden nicht eingeschätzt werden konnte. Der Basler Kantonschemiker Friedrich Goppelsroeder (1837–1919) und sein deutscher Kollege Theodor Schneider beklagten 1863, dass jede neue Fabrikation und Industrie von den Polizei- und Sanitätsbehörden unbehelligt bleibe, solange keine Beschwerden vorlägen: «Die Fuchsinbereitung ist gefährlich. Die Polizei weiss es aber nicht, und erfährt es vielleicht erst durch plötzlich auftretende Unglücksfälle.»38
Bis 1866 hatten auch die Basler Behörden einschlägige Erfahrungen mit der Farbenindustrie gemacht: «Die Anilinfarbenfabrikation zeichnet sich vor allen andern Industrien dadurch aus, dass sie eigentlich mit Gift arbeitet und Gift ihr Lebenselement ist; dass sie dieses Gift in festem, flüssigem und gasförmigen Zustand dem Boden, dem Wasser und der Luft mitteilt und dadurch, wenn ihr nicht strenge Schranken gezogen werden, eine langsame aber sichere Zerrüttung aller normaler Gesundheitsverhältnisse herbeiführt.»39
Das Anilin, gemäss heutiger Kenntnis durchaus ein starkes Blut- und Nervengift, galt zeitgenössisch als narkotisches Gift, welches die Arbeiter betäuben könne. Es verblasste aber gegenüber dem Halbmetall Arsen. Obwohl reines Arsen gemäss heutigem Kenntnisstand nicht giftig ist, geht es leicht in eine giftige Form über, sodass bereits die Gewinnung des Stoffs toxisch sein kann. Drei giftige Verbindungen gilt es zu unterscheiden: Arsenik, Arsensäure und Arsenwasserstoff.40
Arsenik, auch Arsentrioxid genannt, entsteht beim Rösten arsenhaltiger Erze. Es ist ein weisses, geruch- und geschmackloses Pulver, ähnlich wie Kochsalz oder Zucker, dessen französische Bezeichnung «poudre de succession» auf seine bereits erwähnte Beliebtheit als Mordgift anspielt. Arsensäure entsteht durch Oxidation von Arsen oder Arsenik mit konzentrierter Salpetersäure. In der Farbenherstellung war Arsensäure lange Zeit die wichtigste Zutat: Um ein Kilogramm Fuchsin herzustellen, benötigte man nach zeitgenössischen Rezepten zehn Kilogramm Arsensäure und fünf Kilogramm Anilin. Nach stundenlangem Destillieren und tagelangem Schmelzen wurde die Fuchsinausbeute mit Kupferlöffeln von Hand aus den kupfernen Retorten geschöpft, wobei sich «der Arbeiter durch einen vor Mund und Nase gebundenen, mit etwas Essigsäure befeuchteten Schwamm» vor den Dämpfen schützte. Anschliessend kochte man die Gefässe mit Wasser aus oder behandelte sie mit Kalkmilch, wodurch nach zeitgenössischen Beschreibungen die Arsensäure in Form von Kalksalzen ausgeschieden wurde. Diese Vorgänge waren für die Arbeiter besonders gefährlich, da aus einer chemischen Verbindung der Elemente Arsen und Wasserstoff das unerwünschte, nebensächliche Industriegift Arsenwasserstoff entstehen kann, das noch giftiger ist als die beiden anderen Verbindungen. Arsenwasserstoff ist ein farbloses Gas, das nach Knoblauch riechen kann und wegen seines spontanen und unerwarteten Entstehens als «eines der gefährlichsten Gifte» gilt.41
Die Herstellung der Farben erfolgte zunächst in improvisierten Einrichtungen, nämlich in «engen und niederen Küchen, deren Mauern und Boden aus Steinen, deren Dach aber aus blossem Holz» bestand. Die Holzbauten und leicht brennbaren Stoffe setzten die unmittelbare Umgebung einer erhöhten Brandgefahr aus – und das mitten in der Stadt Basel.42 Ab 1860 beschwerten sich die Nachbarn über den Gestank und den schwarzen Russ, die aus den Farbstofffabriken entweichen und die Häusersubstanz schädigen würden. Die Dämpfe seien so stark, dass sie die Atmung beeinträchtigten und «keine weisse Wäsche aufgehängt werden» könne, ohne dass diese «gelblich» werde. Aufgrund der Klagen aus der Nachbarschaft besuchte der Basler Kantonschemiker Goppelsroeder im Mai 1863 im Auftrag der Basler Regierung die chemische Fabrik von Alexander Clavel, welche sich als widerrechtliche Erweiterung seiner Färberei erwies.43
Neben den Gefahren für die – in den Anfängen hauptsächlich männlichen – Arbeiter missfiel Goppelsroeder bei Clavels Farbenproduktion, dass nach dem Auswaschen der Retorten und der Behandlung mit Kalkmilch und der weiteren Behandlung mit Essigsäure immer noch Arsenikverbindungen ungelöst zurückbleiben würden: «Diese werden in der Clavel’schen Färberei in den Teich entleert; obgleich sie ziemlich leicht sind und nicht zu Boden sinken, so kann doch leicht etwas davon an den Rändern des Teichbetts hängen bleiben und früher oder später zu Vergiftungen Veranlassung geben.» Nicht nur die Basler Bevölkerung müsse vor einer Vergiftung des Trinkwassers geschützt werden, auch für die Fische, für andere Wassertiere und selbst für das in der Nähe des Teichs weidende Vieh sei diese Art der Abfallentsorgung sehr gefährlich, da das Gras «mit übelriechenden und höchst giftigen Stoffen imprägniert» und «das davon sich nährende Vieh vergiftet» werden könnte.44
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Goppelsroeder einen Zusammenhang zwischen den Fabrikabfällen, dem Trinkwasser und der Gefährdung des dort weidenden Viehs herstellte, und dass die Basler Behörden – der Sanitätsausschuss und der Kleine Rat des Kantons Basel – seinen Argumenten Gehör schenkten. Entsprechend den Empfehlungen von Goppelsroeder ordnete der Kleine Rat an, dass arsenhaltige Fabrikabgänge nicht in Wassergräben, Teiche oder Senkgruben geschüttet werden durften, da sie die Pumpbrunnen und damit letztlich das Grundwasser gefährden könnten.45
Dass es sinnvoll war, die Arsenabfälle nicht in eine Senkgrube zu schütten und auf diese Weise im Boden versickern zu lassen, zeigte sich wenig später, im Juni 1864, als Goppelsroeder eilig zur chemischen Untersuchung eines Sodbrunnenwassers gerufen wurde. Wie er dem Sanitätsausschuss mitteilte, hatte ihn der Besitzer eines Anwesens in der Nähe des Badischen Bahnhofs damit beauftragt: «Sein ganzes Haus, er, seine Frau, 3 Töchter, ein Knabe, eine Magd und ein Gärtner wurden am Pfingstmontag von Unwohlsein überfallen. Niemand wusste zu rathen, der Arzt selbst konnte die Ursache nicht ermitteln. Brechen, viel Durst, Fieber, Schlaflosigkeit, usw. stellten sich ein. Auf jedesmaligen Genuss des mit dem Sodbrunnwasser bereiteten Thees wiederholten sich die Brechanfälle usw. Der Arzt rieth zur chemischen Untersuchung des Wassers.»46
Die Untersuchung ergab, dass der Arsengehalt des Wassers erheblich war. Nach Goppelsroeder konnte das Arsen nur von der Fabrik des Johann Jakob Müller-Pack stammen, die an das Grundstück grenzte. Der giftige Stoff sei vielleicht durch das Rinnen einer Grube, die sich gut zwanzig Meter neben dem Brunnen befinde, oder durch eine Versickerung vom Teich her ins Brunnenwasser gelangt. Jedenfalls könne dieses nun weder zum Trinken noch zum Kochen verwendet werden: «Das Wasser des vorliegenden Sodbrunnens ist vollständig vergiftet.»47
Wie Otto Stampfer (geb. 1814), der Besitzer des vergifteten Brunnens, vor Gericht aussagte, wohnte seine Familie seit zwölf Jahren in diesem Haus. Vor zwei Jahren hätten sie beim Trinken des Wassers aus dem Sodbrunnen erstmals einen «widerlichen Geschmack» bemerkt und den Brunnen mehrmals reinigen lassen, worauf das Wasser wieder «kristallhell» geworden, der unangenehme Geschmack aber geblieben sei: «Da in der Luft öfter ein ähnlicher Geruch war, der augenscheinlich von der Müllerischen Fabrike her kam, so führte ich auch den Geschmack des Wassers auf diese Ursache zurück, dachte aber nicht, dass das Wasser schädlich sei.» Der Arzt, den man nach der Vergiftung mehrerer Mitglieder seines Haushalts an Pfingsten herbeigerufen hatte, habe zunächst die verzehrte Rauchwurst verdächtigt. Da aber nicht alle von der Wurst gegessen hätten, sei der Verdacht auf das Trinkwasser gefallen, was schliesslich vom Kantonschemiker bestätigt worden sei.48
Im Rahmen der vom Kleinen Rat des Kantons Basel-Stadt in Auftrag gegebenen Untersuchungen wurden zahlreiche Zeugen befragt. Die Erkrankten berichteten von «furchtbarem Erbrechen», dass sie wochenlang weder schlafen noch essen konnten und dass ihre Füsse immer noch «wie todt» waren.49 Ein Anwohner bestätigte, dass die Fische im Teich verendeten, und dass Enten, die in den Teich gegangen seien, «ganz roth» herausgekommen und ebenfalls gestorben seien.50 Alle Befragten berichteten übereinstimmend, dass von der Fabrik jeweils in der Nacht ein «brüdicker Strahl» aus einem Rohr in den Teich geflossen sei. Drei Arbeiter, die beim alljährlichen Teichabschlag beschäftigt gewesen waren, beschrieben, wie ihre Beine gebrannt hätten, nachdem sie drei Stunden lang mit hochgekrempelten Hosen im roten Teichwasser gearbeitet hätten: «Die Haut hatte Sprünge bekommen und war rothgefärbt und zwar so, dass man die rothe Farbe nicht abwaschen konnte.»51
Auch der Angeklagte, der Fabrikant Johann Jakob Müller-Pack, wurde mehrmals zu den Vorfällen befragt. Er bedauerte die Vergiftungen, meinte aber, sie könnten ebenso gut durch den Verzehr verdorbener Würste verursacht worden sein. In früheren Jahren habe man in der Fabrik, die auch «innere Fabrik» genannt werde, zwar Fuchsin mit Arsensäuren produziert. Seit aber vor einem Jahr die «äussere Fabrik» im Rosental errichtet worden sei, werde Fuchsin nur noch dort produziert (Abb. 3, S. 16f.; 9–11, S. 33). Das Fuchsin komme also gebrauchsfertig in die innere Fabrik, wo es nur noch zu violetten und blauen Farben weiterverarbeitet werde. Die Abgänge dieser Farben, die zunächst ins Reservoir und dann zweimal täglich in den Teich entleert würden, seien so stark verdünnt, dass man sie nur noch «als ganz unbedeutend arsenikhaltig» bezeichnen könne. Da seine Fabrik den Teich lediglich «wie jeder andere Anwänder als Abzugskanal» für die Abwässer benutze, glaubte Müller-Pack, an den Vergiftungen «keine direkte Schuld» zu tragen.52
Der Basler Kantonschemiker Goppelsroeder und der Basler Kantonsingenieur Johannes Merian (1826–1880) hoben im Auftrag des Sanitätsausschusses mehrere Gräben und Schächte in der Umgebung der Fabrik aus. Mit der Marsh-Methode stellten sie hohe Arsenwerte im Boden und im Grundwasser fest. Sie vermuteten, dass das Grundwasser sowohl durch das undichte Reservoir als auch vom Teich her verunreinigt worden war.53 Die Untersuchungen ergaben auch, dass der Arsengehalt der blauen und violetten Farben und folglich auch ihrer Abgänge wesentlich höher war als Müller-Pack gegenüber den Behörden angegeben hatte. Wie die Chemiker weiter nachweisen konnten, waren neben dem Brunnen von Stampfer noch vier weitere Brunnen und das städtische Pumpwerk «mehr oder weniger mit Arsenik infiziert und also geeignet der Gesundheit Schaden zu bringen».54
Müller-Pack wurde vom Gericht «der fahrlässigen Körperbeschädigung sowie der fahrlässigen Eigenthumsbeschädigung gemeingefährlicher Natur» schuldig gesprochen. Das Gericht befand, dass Müller-Pack das Reservoir mangelhaft beaufsichtigt und wiederholt das Gesetz und die Weisungen der Behörden missachtet habe. Der Fabrikant wurde zu hohen Geldbussen verurteilt und konnte auch wegen seines ramponierten Rufs keinen Neuanfang mehr wagen.55
Für die Basler Behörden stellte sich aufgrund der Vorkommnisse die Frage, wie eine Verunreinigung des Grundwassers durch die Farbstofffabriken in Zukunft verhindert werden könnte. Die Behörden beauftragten drei Chemiker, den «bereits eingetretenen Schaden» zu analysieren und gleichzeitig der Frage nachzugehen, wie ähnliche Gefahren in Zukunft vermieden werden könnten: «Welche Garantien sind zum Schutz der Arbeiter von allen diesen Geschäften zu verlangen? Welches ist die gefahrloseste und für das Publicum wenigst lästige Art, die bei der Fabrikation sich entwickelnden Dämpfe abzuleiten oder zu beseitigen? Welches ist die für unsere Verhältnisse zweckmässigste Art zur Entleerung der arsenikhaltigen Abgänge? Kann die Abdampfung mit Erfolg vorgeschrieben werden? Liesse sich z. B. mittelst einer Fähre die Einrichtung treffen, dass allen jeder Abgang aus diesen Fabriken mitten in den Rhein entleert werden müsste? […] Ist bei fortgesetztem Entleeren all dieser Abgänge in den Rhein eine Reklamation der Nachbarländer denkbar?»56
09 Die Rosental-Fabrik von Johann Jakob Müller-Pack. Plan, um 1863.
10 Die Rosental-Fabrik von J. R. Geigy. Plan, um 1870. Johann Rudolf Geigy (1830–1917) übernahm die Fabrik von Johann Jakob Müller. Sie wurde etwas erweitert, blieb aber im Prinzip ähnlich aufgebaut: Das Rotlokal Y war noch bei Müller-Pack ein Violettlokal, das Violettlokal M. das Blaulokal. Das Grünlokal L. und das Blaulokal B. gab es bei Müller-Pack noch nicht. Dagegen war auf dem Plan von Müller-Pack noch eine Wasserzisterne und neben dem Spritmagazin eine Anilindestillation eingezeichnet.
11 Johann Rudolf Geigy und die Chemiker seiner Rosental-Fabrik. Fotografie, um 1888. Von links nach rechts: Dr. E. Fischer, Dr. J. Walter, Dr. Chr. Ris, Dr. J. R. Geigy, Dr. Ad. Feer, Dr. H. Schmid, Dr. T. Sandmeyer, Dr. E. Greppin, M. Müller, J. Weinmann, A. Mylius.
Wie diese Fragen zeigen, hatten die Basler Behörden die Absicht, das Thema möglichst umfassend anzugehen. Sie wollten nicht nur die Anwohnerschaft, sondern auch die Arbeiterinnen und Arbeiter vor möglichen Gesundheitsgefahren schützen. Zudem erkannten die Basler Behörden, dass die Abfallentsorgung in Zukunft so gelöst werden musste, dass weder die Basler Bevölkerung noch diejenige der Nachbarländer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Interessanterweise stellten die Behörden die Hypothese auf, dass eine weitere Einleitung arsenhaltiger Abfälle in den Rhein zu einer Verschärfung der Probleme führen könnte. Dennoch blieb ihre Gefahrenanalyse rein auf den Menschen konzentriert. Die Frage, welchen Einfluss die Fabrikabgänge auf Flora und Fauna haben könnten, wurde nicht gestellt.
Die drei mit der Beantwortung des Fragenkatalogs beauftragten Chemiker, darunter Goppelsroeder, bemühten sich, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie empfahlen, dass die Farbstofffabriken ihre arsenarmen Abwässer mit gusseisernen Röhrenleitungen direkt in den Rhein leiten und arsenhaltige Abgänge eindampfen sowie angemessen aufbewahren sollten – was Ende 1864 vom Kleinen Rat des Kantons Basel-Stadt so verfügt wurde. Durch das Eindampfen der arsenhaltigen Rückstände sollte die Arsensäure zur Wiederverwendung zurückgewonnen werden, was gemäss Sanitätsausschuss auch im wirtschaftlichen Interesse der Fabrikanten liegen musste. Die Rückstände durften jedoch nach dem Eindampfen nicht in Basel gelagert werden, bestand doch die Gefahr, dass ein Teil des Arsens erneut ins Grundwasser gelangte. Die Abfallprodukte mussten «sofort ausser Landes geschafft» werden – was schon damals eine Herausforderung war.57 Wie der Sanitätsausschuss zu berichten wusste, hatte eine Basler Fabrik Fässer mit Rückständen im Meer versenken wollen. Dies sei ihr aber von der französischen Regierung untersagt worden: «Für wie gefährlich diese Substanzen auch andernwärts gehalten werden, mag daraus entnommen werden.»58
Die Lösungsansätze der Basler Behörden führten zu einer Verlagerung der Entsorgungsproblematik vom Boden zur Luft und zum Wasser. Neue Klagen waren vorprogrammiert. Bereits im April 1866 erhielt der Kleine Rat ein Schreiben von 18 Nachbarn der Fabriken Alexander Clavel und Gerber & Uhlmann. Wie die Anwohner schrieben, wollten sie die «stets zunehmende Belästigung» durch die Fabriken nicht mehr länger «ruhig» ertragen. Damals hätten sie eine «Wohnung ausserhalb der Stadt und in ziemlicher Entfernung von derselben» bezogen, um die freie und reine Luft geniessen zu können. Damit sei es jetzt vorbei – dank den Farbstofffabriken, die vor zwei Jahren in der unmittelbaren Nachbarschaft errichtet worden seien. Der «widerliche, gesundheitsschädliche, die ganze umliegende Atmosphäre belästigende Gestank», der von diesen Fabriken ausgehe, verursache «Husten, Kopfweh und Uebelkeit» und mache den Aufenthalt im Freien und bald auch in den Häusern unmöglich: «Man versetze sich auf einen Augenblick in unsere Lage und die der vielen Armen, die um uns her wohnen», und man werde ihre Klagen für begründet halten. Bei jedem Westwind müssten sie ihre Häuser wie Festungen verbarrikadieren.59
Wie aus dem Brief hervorgeht, war die Bevölkerung häufig gut informiert. Sie kannte die Bedingungen, unter denen die chemischen Fabriken seinerzeit von den Behörden genehmigt worden waren. Dementsprechend forderten Anwohnerinnen und Anwohner die Einhaltung dieser Auflagen. Dazu gehöre auch, dass die Fabriken «die Umgebung vor schädlichen Einflüssen» bewahren müssten. Seien nicht ohnehin die Behörden für eine gute Luftqualität zuständig? Hätten sie als Menschen, die hier wohnten, nicht «ein viel älteres Recht auf Genuss reiner, unverpesteter Luft»?60
Der Kleine Rat des Kantons Basel-Stadt überwies das Schreiben zur Berichterstattung an den Sanitätsausschuss. Dieser beauftragte eine Expertenkommission mit der Untersuchung der Angelegenheit. Vor Ort stellten die drei Experten – mit welcher Messmethode ist nicht bekannt – «folgende Emanationen in der Luft» fest: Rauch, Wasser, Salzsäure, arsenige Säure, Jodwasserstoffsäure, Anilin, Aldehyd, Weingeist, schwefelige Säure und Ammoniak.61 Hinsichtlich der Gesundheitsgefährdung durch die Dämpfe sahen die Experten nach wie vor «Arsenik, dieses fatale Gift» als Hauptgefahr für Arbeiter- und Nachbarschaft. Wie sie in verschiedenen Fabriken festgestellt hätten, werde die Verdampfung des arsensauren Natrons trotz gegenteiliger Anweisung nach wie vor in «offenen Kesseln» vorgenommen.62
Nach der Ansicht der Experten war das geforderte Eindampfen in geschlossenen Behältern eine «höchst einfache Operation». Die Farbstoffhersteller sahen das ganz anders: Dabei könnten sich «Arsensalze» bilden, betonten sie in einem Brief an den Sanitätsausschuss. Die Arsensalze könnten in Verbindung mit dem «rothglühenden Boden» des Kessels Arsenwasserstoff oder Chlorarsen bilden, welche «bekanntlich der Gesundheit sehr schädlich» seien und daher vermieden werden müssten. Jede auf diese Art und Weise durchgeführte Operation koste zudem einen Kessel, da die beim «Erkalten steinhartgewordene Masse ohne Meissel und Hammer, und ohne Zerbrechen des Kessels» nicht mehr zu lösen sei. Die Fabrikanten wünschten daher, dass entweder die Vorschrift, das Eindampfen habe in geschlossenen Kesseln zu erfolgen, fallengelassen werde, oder dass man ihnen erlaube, die Rückstände mit Kalk zu behandeln.63