Vergiss für immer - Michaela Stadelmann - E-Book

Vergiss für immer E-Book

Michaela Stadelmann

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Beschreibung

Folge meiner Stimme. Ich führe dich in das Reich der Toten. Hel, Göttin der Unterwelt Ein Tag vor Allerheiligen: In einer zerborstenen Weide findet das Medium Elena die entstellte Leiche des Studenten Oliver Bauer. Für Elena ist es ein eindeutiger Ritualmord zu Ehren der Todesgöttin Hel. Kommissar Claaßen ist davon alles andere als überzeugt, da er genügend andere Motive zur Auswahl hat: Der Vater hegte gegen Oliver jahrelang tiefen Hass. Und kurz vor seinem Tod plante Oliver einen Zeitungsartikel über einen Autofahrer, der nach Einbruch der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Fahrradfahrer macht. Ist er dem Fahrradjäger bei seinen Recherchen zu nahe gekommen? Und was ist mit seinem undurchsichtigen Schulfreund Leonard, der mit Oliver illegal an eine große Menge Geld gekommen zu sein scheint? Claaßen ahnt nicht, dass auch Elena ihm nicht die ganze Wahrheit sagt. Sie setzt alles daran, Vera zu schützen, die mit ihrer Großmutter auf einem verwahrlosten Bauernhof wohnt. Denn Vera ist eine der letzten Personen, die Oliver lebend gesehen hat. Aber gerade durch ihr Schweigen gefährdet Elena das Leben der jungen Frau ...

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Manchmal reicht es zu vergeben.

Manchmal sollte man vergessen.

Für immer.

Prolog

Einatmen. Schritt. Ausatmen. Schritt. 

Dunkel war sie, die Nacht der Nächte! Nur der brackige Geruch des Rheins begleitete Elena. 

Da – ein Schrei! Zitternd blieb Elena stehen. 

Einatmen. Ausatmen. Zögernder Schritt. 

Sie tat es für sie, die Göttin der Dunkelheit!

Etwas rutschte unter Elenas fest geschnürtem Outdoor-Schuh weg. Sie stolperte gegen einen einzeln stehenden Baum, fing sich, keuchte erschrocken und dankbar zugleich. Hel, die Göttin der Unterwelt, hatte sie straucheln lassen, um ihr die Vergänglichkeit alles Menschlichen zu zeigen. Und Hel hatte sie aufgefangen, um ihr zu zeigen: Ich erwarte dich!

Die letzten Ausläufer des Flürener Feldes ließ Elena kurz darauf hinter sich. Nun war nur noch auf der linken Seite bis zum Altrhein Waldbestand vorhanden, der sie vor dem Oktoberwind schützte. Ein richtiger Wald war es eigentlich auch nicht, denn die Bislicher Straße zerteilte den grünen Streifen in zwei kümmerliche Reste.

Nein, dachte Elena, Wald bleibt Wald. Immerhin konnte sie sagen, dass sie mit zehn Meter Abstand zur Landstraße durch das Unterholz stapfte. Sie wünschte sich mehr Alleebäume wie an der Landstraße stadteinwärts und hätte niemals zugegeben, wie erbärmlich sie fror. 

Trotz des unwirtlichen Wetters wagten sich noch andere Menschen hinaus. Elena kniff jedes Mal die Augen zu, wenn ihr ein Auto auf der Landstraße entgegenkam, damit das Fernlicht sie in der Finsternis nicht blendete. In ihrer Vorstellung kam es einer Begegnung mit einem Feuerdrachen im dunkelsten Zauberwald gleich, der sie nur deshalb nicht entdeckte, weil Hel ihre schützende Hand über sie hielt: Die Herrscherin über die Toten, Lokis mächtigste Tochter, war gnädig zu ihren Anhängern!

In der Tasche ihrer Outdoorjacke vibrierte etwas. Automatisch zog Elena ihr Handy heraus, obwohl sie sich bei allen nordischen Göttern geschworen hatte, in dieser Nacht auf alles Moderne zu verzichten. Nichts sollte ihre Vorbereitungen auf Allerheiligen stören! 

Wo zum Teufel bist du?

Udo, wie immer überaus besorgt, hatte mit seiner SMS Elenas Konzentration gestört. 

Bei der NABU Naturarena, schrieb sie mit klammen Fingern und tippte auf den Send-Button. Das Handy glitt zurück in die Jackentasche. Einen Moment schloss Elena die Augen. Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, sie fand nicht mehr unter die schützende Hülle aus freudiger Erwartung und Glaube an die alten Rituale zurück. Und der sowieso schon eisige Rheinwind frischte hier, wo der Baumstreifen endete, noch mehr auf. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte sie weiter. Es nützte nichts, die Mütze noch tiefer ins Gesicht zu ziehen und die Arme um den Körper zu schlingen. Es war kalt wie in einer Eishölle. 

Kurz darauf griff der Wind erst richtig an. Er blies so heftig, dass Elena das Gefühl hatte, nackt zwischen den Äckern zu stehen. Wie ein schrumpeliges Blatt taumelte sie immer weiter über ein brachliegendes Feld auf den Rhein zu. Ihre Füße sanken in der feuchten Erde ein. Die Unruhe in ihr wuchs, als sie darauf wartete, den Ruf der Totengöttin in sich wiederzufinden. Udo hätte sie spätestens jetzt sehr, sehr nachdenklich angeschaut und ihr eine Schlaftablette angeboten. 

»Ah!«

Etwas Unförmiges hatte sich in der Dunkelheit vor ihre Outdoor-Schuhe gemogelt. Der Länge nach schlug sie hin. 

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie in ihrer Muttersprache.

Zwanzig Meter weiter rollte etwas Großes über die Straße. Mühsam setzte sie sich auf. Das Brummen war lauter als die wütenden Wellen und kam ihr bekannt vor. Und weil der Wind gar so gemein war, rappelte sie sich mit einem Seufzer hoch, klopfte sich die feuchte Erde von den Klamotten und stapfte zu dem grauen Band aus Asphalt zurück. Scheinwerfer flammten auf. Fast glaubte sie, Udos zufriedenes Grinsen in seinem geliebten Kleinwagen ausmachen zu können.

Er stieß die Autotür von innen auf und zog sie auf den Beifahrersitz. 

»Du hättest ruhig im Camp bleiben können«, sagte Elena in ihrem angenehmen Singsang. »Ich weiß, wo ich hin muss.«

»Eine Windsbraut hat mir geflüstert, dass meine Rubensfee weggeweht wird, wenn ich nicht aufpasse.« Knackend schaltete Udo die Innenbeleuchtung ein und öffnete das Handschuhfach. »Ich hab dir Tee mitgebracht.«

»Kräutertee?«, fragte Elena hoffnungsvoll.

»Hmhm«, brummte er bestätigend. »Damit du dir bei der Witterung nicht den Tod holst.« Er zog eine große Thermoskanne heraus, schraubte den Deckel ab, schenkte Tee für seine Herzdame ein. »Langsam trinken, er ist heiß.«

»Weiß ich doch«, murmelte Elena und errötete heftig. Ja, der Tee tat gut und ihr Gaumen durfte nach dem ersten Schluck ruhig brennen. Denn was mit Liebe von ihrem Herzbuben gekocht wurde, konnte ihr niemals schaden. 

Udo saß stumm neben ihr und wartete. Das konnte er gut, zumal er nun Zeit hatte, sich an Elenas Erscheinung zu erfreuen. Anfangs hatte er gedacht, sie wäre nur zu ihm auf die Grav-Insel gezogen, um in Deutschland bleiben zu können. Doch es war von Anfang an echte, tiefe Liebe gewesen, das wusste er inzwischen. Und er konnte nicht anders, als sie mit all ihren Pfunden zu vergöttern, denn sie entsprach in so vielen Punkten seinen geheimen Wünschen, dass er—

»Was starrst du so?« 

Ihre raue Stimme ließ ihn wohlig seufzen. »Ich werde schon meine Gründe haben.«

Daraufhin färbten sich ihre Wangen noch dunkler. »Tu das nicht immer, es macht mich verlegen.« Rasch hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und schickte sich an, wieder auszusteigen. 

Beunruhigt fragte Udo: »Wo willst du denn hin?«

»Weiter«, meinte sie. »Ich habe Hels Stimme wieder empfangen. Das habe ich dir doch erklärt.«

»Aber doch nicht mehr um die Uhrzeit.«

»Doch, genau jetzt!«, erwiderte sie gereizt. »Wenn die Herrscherin von Helheim dich zum Feiertag ruft, musst du ihre Ankunft vorbereiten, sonst nimmt es ein böses Ende mit—«

»Ja ja ja«, unterbrach Udo sie nachsichtig. »Ich fahre dich.«

»Nein!«

»Doch. Wenn du weiter durch die Kälte läufst, holst du dir am Ende noch den Tod.« Er beugte sich über sie und zog die Beifahrertür wieder zu. »Und dann wäre ich ausgesprochen sauer auf Hel und ihren Totenzirkus.«

»Sprich nicht so über sie«, bat Elena. »Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«

»Und du weißt, dass ich nicht an den Hokuspokus glaube.« Sein Lächeln wurde dünner. Ihr Glaube an alles, was der Mensch »zwischen Himmel und Erde nicht sehen kann«, nervte ihn heute. Ein wenig. Sehr. »Also, wo lang?«

Damit hatte er ihren Willen gebrochen, ganz allein den Ort aufzuspüren, an den Hel sie rief. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet, dass sie bereits länger als die geplante halbe Stunde durch die Kälte gestolpert war. Das sollte als Opfer reichen, oder? »Geradeaus«, seufzte sie und schnallte sich an. »Wir müssen zum Wasser. Aber fahr langsam.«

Auf seiner ersten Geistertour mit ihr hatte Udo lernen müssen, dass Zeit für sie keine Rolle spielte. Es sei durchaus üblich, für eine Strecke von hundert Metern zehn Minuten zu brauchen, hatte Elena ihm erklärt. Dass sie jetzt eingewilligt hatte, mit ihm weiterzufahren, war schon ein großer Fortschritt! Oder ihr war wirklich kalt. 

»Links«, sagte sie, als die Bislicher Straße eine Kurve nach rechts beschrieb. Gehorsam setzte Udo den Blinker und fuhr in den Marwick, eine schmale Straße, die an einem Kolk, dem Droste Woy, vorbeiführte. Unwillkürlich wurde er noch langsamer und bremste. 

»Was machst du? Fahr weiter«, drängte sie ihn. 

»Aber da ist jede Menge Wasser«, verteidigte Udo sich, »der Kolk und der Altrhein und gleich daneben die Teiche vom—«

»Gut, danke, aber ich suche ein anderes Wasser«, unterbrach Elena ihn geduldig. »Ein dunkleres. Also fahr.«

»Es ist doch überall gleich dunkel«, murmelte Udo beleidigt. 

Elena zeigte sich milde: »Ich meine nicht die Nacht, du Dummerchen. Ich meine die Seele des Ortes. Die Atmosphäre.« Sie lächelte. »Und jetzt sei still. Ich muss mich konzentrieren.«

Kurz vor dem Rhein machte die Straße einen Knick zur Anlegestelle der Fähre hin. Udo spähte in die Dunkelheit. Hier wäre auch eine schöne Ecke zum Wohnen gewesen. Aber er war ja schon Dauer-Camper auf der Grav-Insel, und gegen die kam keine noch so schöne Ecke der Welt an. Sie zockelten am Café Fährhaus vorbei, wo um diese Uhrzeit alles dunkel war. Weder Halloween-Party noch Disco liefen heute. 

»Vorne rechts«, kommandierte Elena.

»Links geht’s zum Wasser runter«, meinte Udo vorsichtig. »Da ist es auch dunkel.«

»Aber das Wasser vom alten schmutzigen Rhein will ich auch nicht, mein Schätzchen«, gurrte Elena belustigt. »Glaub mir, ich suche ein anderes.«

Wahrscheinlich wäre Udo schneller gewesen, wenn er den Wagen beim Abbiegen um die Ecke getragen hätte. Er schaltete in den zweiten Gang und schmatzte leise. »Ich hab Durst. Wir könnten bei Gertsens vorbeischauen. Die wohnen einen Steinwurf von hier in so ‘nem Gässchen. Auf der Laak oder so.«

»Mit denen will ich nichts zu tun haben!«, rief Elena empört. »Dort bekommt man nur Wasser mit Edelsteinen drin. Wer so was macht, ist nicht ganz gesund im Kopf!« Sie ließ ihren Zeigefinger an der Schläfe kreisen. »Verrückte Deutsche!«

Still schmunzelte Udo in sich hinein und hielt konsequent eine Geschwindigkeit zwischen zehn und fünfzehn Stundenkilometern. Nach einer Weile bog er auf Elenas Geheiß links ab auf den Damm. 

»Gib ein wenig Gas«, bat sie. »Sonst kommen wir nie an.«

Frauen, dachte Udo. Den Seufzer verkniff er sich lieber. »Hier geht es übrigens nach Vissel.«

»Ich weiß.« Elenas Stimme klang schläfrig. »Ich weiß …«

»Ist das nicht zu weit?«

Elenas Augen klappten auf wie bei einer Puppe. »Wieso zu weit?«

»Hätte ja sein können.« Udo unterdrückte ein Gähnen. 

Erleichtert sank Elena zurück in den Beifahrersitz. »Nein, Bärchen, das ist nicht zu weit. Ich glaube …«

Ihre träge Stimme brach ab und wurde zu dem zarten Schnarchen, das Udo seit knapp einem Jahr in den Schlaf wiegte. Unwillkürlich entspannte auch er sich. Das Licht der Scheinwerfer schob sich schwerfällig über den gelblich-grauen Asphalt, ohne dass er etwas tun musste. Warm war es im Auto, merkte Udo, und Elenas Duft intensiver als sonst. Sie schwitzte im Schlaf. Himmlisch. Udo war glücklich. 

So viel Glück konnte der Rhein nicht zulassen. Er schickte seinen Verbündeten, den Wind, ein weiteres Mal ins Rennen. Unbarmherzig nahm er am Ufer Anlauf, um den Wagen ordentlich durchzurütteln. 

Udo zuckte hoch. Was war das?

Einen Herzschlag hatte er Zeit, dann stürzte ein Schatten auf die schnurgerade Landstraße. Er hielt direkt auf den Wagen zu. Kein Trugbild, ein Gefährt auf Kollisionskurs, die Scheinwerfer dunkel, das begriff Udo noch, aber er reagierte zu langsam, um das Lenkrad herumzureißen.

Elena grunzte im Schlaf, als ginge sie das alles nichts an. 

Alles wurde plötzlich sinnlos.

»Hey!«, brüllte Udo trotzdem. Er war noch nicht bereit für den Tod und drosch auf die Hupe. Die Stille explodierte in infernalischem Kreischen. 

Kurz vor seinem Wagen scherte der Schatten auf die andere Seite aus, knirschend protestierte das Fahrerfenster unter dem Aufprall des Gegenwindes, dann war die Straße wieder leer. Nicht mal gestreift hatte das Geisterfahrzeug sie.

»Haaaalt!«, kreischte Elena so plötzlich, dass Udo den Van beinahe doch noch in den Straßengraben gesetzt hätte. Schlingernd kamen sie zum Stehen. 

»Bist du bescheuert?«, schimpfte Udo und riss an der Handbremse. »Was brüllst du hier so rum?«

»Bin ich bescheuert oder du?«, schrie Elena ihn an. »Was rast du so wie ein Idiot? Fast wären wir vorbeigefahren!« Mit fliegenden Fingern schnallte sie sich ab, sprang aus dem Van und rannte davon. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass irgend so ein Landstraßenvandale sie gerade fast auf die Hörner genommen hatte. 

»Elena!« Schweiß lief Udo aus den Haaren über die Stirn. Dann setzte das Zittern ein. Das war knapp! Und wo verdammt noch mal war Elena hin? Er konnte kaum den Zündschlüssel umdrehen, so heftig schüttelte es ihn. Trotzdem schaffte er es sogar, auszusteigen und ein paar Schritte zu laufen. 

Etwas klingelte. Sein Handy. In der Hosentasche. Minuten schienen zu vergehen, bis er es herauszog und das Gespräch annahm. »Ja?«

»Wo bist du?«, schrie Elena. »Ich brauche dich hier!«

Ihre Stimme beruhigte ihn. Nach und nach verebbte der Aufruhr in seinen Gedanken. Elena lebte. Er lebte. Das riesige Areal, um das er gerade herumlief, war sogar beleuchtet. »Ich bin an der Einfahrt zum Sandwerk. Auf der Straße. Hier ist hell, du kannst es gar nicht verfehlen. Komm zurück.« Er flüsterte fast. 

»Was soll ich beim Sandwerk? Komm du her!« 

»Aber …«

»Ich hatte recht! Hel hat mich gerufen!« Ihre Stimme vibrierte gefährlich. »Udo, ich brauche dich! Bitte komm zu mir!«

Ja, verdorri noch mal, dachte Udo, wie soll ich sie denn finden? Nur das Sandwerk wurde angestrahlt, der Rest der Auen lag so finster da wie vor der Entdeckung des Stroms!

Elena schien seine Gedanken über die Entfernung zu erahnen. »Verlass dich auf deinen Instinkt«, sagte sie mit fester Stimme. »Dann findest du mich.« Sie unterbrach die Verbindung.

Udo hatte keine Lust mehr auf ihre Esoterik-Spielchen. Er wollte zurück in seinen Camper und endlich schlafen. Aber nicht ohne Elena. 

Seufzend steckte er das Handy weg, kontrollierte mit der Fernbedienung, ob er den Van abgesperrt hatte, und ging los. Hinein in die Dunkelheit. Um die Göttin des Totenreichs zu empfangen.

Ha ha. 

»Elena?«

»Hier!«

Ihre Stimme klang schon näher. Mit ihr kam eine Windböe vom Rhein herauf und fegte Udo beinahe die letzten Haare vom Kopf. 

»Wo ist hier?« Bestürzt hörte er Elena schluchzen. »Bist du verletzt?«

Plötzlich schlug im Dorf die Kirchturmuhr. Unwillkürlich zählte Udo mit. Eins — zwei — drei — die vier Schläge der vollen Stunde. Er konnte nicht verhindern, dass sich seine Schritte dem Rhythmus der Schläge anpassten. Die Welt glitt an ihm vorbei: Das beleuchtete Sandwerk war nur noch ein weit entferntes Funkeln. Unsicher tastete er sich weiter in die Richtung vor, in der er Elena vermutete, weg von der Straße, weg von seinem Wagen. Der Boden wurde weicher. Bei jedem Schritt sank er ein wenig ein. Hin und wieder schmatzte die Erde wie ein nasser Schwamm.

Und noch mal: eins. Zwei. Drei. Vier Schritte. Eine Baumreihe zerteilte das Land in Brache und schlammiges Flussufer. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, dass er mit vier Schritten einen Kilometer zurücklegte. 

»Udo!«, rief Elena verzweifelt. 

Irgendwas stimmt doch da nicht.

Beim siebten Schlag tauchte eine Wand auf, die bis zum Himmel reichte, und noch mehr Bäume. Dort, wo der Rhein sich wie ein Geschwür in die Aue hineingefressen hatte, bildeten sie einen dichten Ring, wusste Udo.

»Elena?«

»Ich bin hier drin!«

Das klang gar nicht mehr gut.

Neun, zehn Schläge, zählte Udo und ließ die Grenze des Baumrings hinter sich. Hier gab es nichts mehr außer Dunkelheit und darüber den finsteren Himmel ohne Sterne. 

»Elena, ich  …« 

Elf. Zwölf. Mitternacht.

Plötzlich wurde Udo ganz ruhig. Na ja, dachte er sich, wenn ich hier tatsächlich nur deshalb stehe, weil die Göttin der Toten nach mir gerufen hat, dann brauche ich mich jetzt auch nicht mehr aufzuregen. Vielleicht bin ich ja auch schon tot und hab es nur noch nicht bemerkt.

Die Schatten wichen zurück. Eine Lichtung tat sich auf, darauf eine einzelne Kopfweide. Obwohl es zu dunkel für Details war, sah Udo, dass Elena auch hier war. Sie schmiegte sich an den Stamm des einsamen Baumes, als müsste sie ihn trösten. Vergessen waren Angst, Erschöpfung und Dunkelheit. Das hatte sie also gemeint, als sie davon sprach, Hel zu empfangen. 

»Hätten wir das nicht auch morgen machen können?«, fragte Udo. »Bäume umarmen im Dunkeln ist echt’n bissken bekloppt.«

»Sei vorsichtig«, flüsterte Elena erschöpft. Ihr Schatten löste sich von der Weide. »Hast du ein Taschentuch?« Mit verstopfter Nase sprach sie weiter: »Danke, Hel, die du bist die Göttin der Toten, dass du uns ein Zeichen gegeben hast.«

Langsam kam Udo näher. Allmählich wurde ihm die ganze Sache zu bekloppt. Er wollte Elena fürsorglich den Arm um die Schultern legen und sie von hier wegbringen, damit sie den Kopf wieder frei bekam. Und vorher einen Blick auf den Baum riskieren, damit er auf dem Campingplatz etwas zu erzählen hat, wenn es wieder hell war. 

»Da. In dem Hohlraum«, flüsterte Elena erstickt. »Siehst du? Das war Hel.«

Ein Schauer lief über Udos Rücken. Tapfer schluckte er den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und steckte den Kopf tief in den Spalt des Stammes. Erst jetzt nahm er den süßlichen Geruch wahr, das Schaben und Kratzen der Natur in Form von Käfern, Fliegen und Würmern, die hier ihr Werk zu jeder Tages- und Nachtzeit verrichteten. Das Abbeißen, Kauen und Schlucken der Insekten, die lebten, um alles Leben dem Humuskreislauf zuzuführen. 

Sie waren nicht allein.

Der Tote schien zu lächeln, als wollte er sagen: Da seid ihr ja endlich.

1

Im Scheinwerferlicht sahen die Regentropfen aus wie dramatisch zur Erde segelnde Sternschnuppen, oder wie Pfeile. Aufgrund des Eintrittswinkels von schräg oben hätten sie, wären die Regentropfenpfeile mit geschliffenen Spitzen präpariert gewesen, Halsschlagadern und Herzen aller Anwesenden mit einem Streich durchbohren können. Zurückgeblieben wäre lediglich ein bisschen Feuchtigkeit, die schneller verdunstete, als die nächste Polizeistaffel vor Ort war. 

»Regen als perfekte Waffe für das perfekte Verbrechen.« Müde rieb Claaßen sich die Augen. Aber dieser Täter hatte seinem Opfer natürlich ganz profan den Schädel eingeschlagen. Typisch und stillos.

»Was haben Sie gesagt, Chef?«

Langsam drehte Claaßen sich zu Frank Dresel von der Schutzpolizei um. Der konnte Nieselregen noch weniger leiden als Claaßen und hatte sich wie sein Chef unters Schutzzelt verzogen. »Ich habe gefragt, ob die Zeugen vernehmungsfähig sind.« Auf der Zeltplane kicherten Regentropfen.

»Soll ich die Sanis fragen?«, fragte Frank.

»Nein, Sie sollen es herauskriegen und mir dann … Ach, ich mach schon.« Vicky hätte ihn sofort verstanden und wäre losgegangen, ohne nachzufragen. Aber nicht, weil sie eine bessere Polizistin war als Frank, sondern weil sie immer einen Tick vorausdachte, um besser zu sein als ihr aktueller Chef Dietmar Claaßen. Sie sondierte die Lage vor allen anderen, um vorbereitet zu sein. Das war Vicky Steinhauers ganz persönlicher Kontrollwahn, der sie keinen Deut weiterbrachte.

Missmutig stapfte Claaßen durch den Herbstregen zum Rettungswagen. Das Fahrzeug konnte nicht zum Fundort in der Schonung fahren, weil es im aufgeweichten Feldboden einsank und womöglich Spuren vernichtete. Dafür lief der Regen schon nach der kurzen Strecke in Claaßens Kragen. Genau wie bei Schimanski. Schön heldenmäßig, aber saukalt. Da wurde später mindestens ein Erkältungsbad fällig.

Auf Claaßens Klopfen hin öffnete sich eine der beiden hinteren Türen. Ein Gesicht mit kurz getrimmtem Vollbart erschien. 

»Kann ich schon ein paar Worte mit den Zeugen wechseln?« Claaßen deutete auf das helle, warme Innere des Rettungswagens. 

Der Spalt verbreiterte sich, bis der ganze Sanitäter zu sehen war. »Wenn Sie mir sagen, wer Sie sind.«

Wortlos zupfte Claaßen seinen Ausweis aus der Jacke. Der Sanitäter nickte. »Rein in die gute Stube.« Bevor er die Tür hinter Claaßen zuknallte, warf er einen prüfenden Blick in die Dunkelheit.

»Alles in Ordnung?« Claaßen unterdrückte das heftige Bedürfnis, die Jacke auszuziehen und den Regen auszuschütteln. Erstens hätte ihm die Notärztin, die sich um die patschnassen Zeugen kümmerte, was gehustet. Zweitens war es hier drin so geräumig wie in einer Sardinenbüchse. Jede weitläufige Bewegung räumte Gerätschaften im Wert von mehreren zehntausend Euro ab. 

»Draußen ist jemand von der Tageszeitung rumgeschlichen. Wollte unbedingt ein Interview. Der ist erst verschwunden, als ich ihm Prügel angedroht habe.« Krachend zog der Sanitäter den Türflügel ins Schloss.

Claaßen schmunzelte. »Dafür wird Sie der Journalist hoffentlich nicht rechtlich belangen.«

»Dazu muss er erst mal beweisen können, dass ich es getan habe.« Das Grinsen des Sanitäters wirkte um diese Uhrzeit schon ein wenig angestrengt. »Notfalls halte ich dagegen, dass er uns bei der Ausübung unserer Tätigkeit gehindert hat.«

»Hat er das denn?«

Die Notärztin nickte. »Brüllen und an die Tür klopfen finde ich extrem störend bei der Untersuchung einer Verletzten. Sie nicht?«

Es wurde Zeit, sich mit den Zeugen zu befassen, die mit gesenkten Köpfen nebeneinander auf der Liege saßen und etwas schlürften, das nach Kamillentee roch. Ekelhaftes Zeug, fand Claaßen. 

»Und Sie sind Frau und Herr …?«

»Elena und Udo Gödecke«, stellte Udo sie beide vor. 

Claaßen hielt ihn für um die sechzig. Er ging wahrscheinlich regelmäßig ins Sonnenstudio und fuhr Fahrrad oder joggte. »Und Sie sind hier, weil …?« Den Trick mit den unbeendeten Sätzen hatte Claaßen bereits in der Ausbildung verinnerlicht. Wirkte bei hypernervösen oder verschlossenen Typen und Pärchen, die zusammen zu seltsamen Orten pilgerten. 

Umständlich zog Elena die Wolldecke fester um die kräftigen Schultern und nickte Claaßen ernst zu. »Ich hatte das Gefühl, herkommen zu müssen. Mein Mann hat mich begleitet.« Ihre Stimme klang so rein, wie Claaßen es sich bei einem Mensch gewordenen Schneewittchen vorstellte, das zu lang in einer Konditorei gearbeitet hatte. Dazu passten auch ihr osteuropäischer Akzent und die nassen, schwarzblauen Löckchen, die sich widerspenstig in alle Richtungen ringelten. Das fast perfekte Bild der unbefleckten Schönen. Niedlich. Nur in den Mundwinkeln war ihr dunkelroter Lippenstift verschmiert. 

»So, so, Sie hatten also ein Gefühl.«

Elena nickte nachdenklich. »Ein Bauchgefühl, ja.«

»Bauchgefühle klingen ungesund und gehören in die Arztpraxis, aber nicht in eine polizeiliche Ermittlung.« Schon so oft hatte Claaßen den Rat bekommen, seine blöden Sprüche hinunterzuschlucken, aber er brachte es nicht fertig. Dummes Zeug gehörte einfach kommentiert. »Und warum sind Sie wirklich hier?«

Energisch stellte Udo Gödecke seinen Plastikbecher auf die Liege. »Meine Frau ist sehr naturverbunden. Da unternehmen wir öfter mal Ausflüge.«

»Auch mitten in der Nacht?«, hakte Claaßen nach.

»Dann hat man seine Ruhe vor den ganzen Idioten, die nur blöd in der Gegend rumstehen.«

»Die sieht man nachts auch nicht so gut?«, witzelte Claaßen. 

Mit einem verärgerten »Ach was!« richtete Elena sich plötzlich auf. »Ich bin Geistheilerin. Nachts ist die Zeit der Geister. Also bin ich auch nachts draußen!« 

»Bitte, wie meinen?«, entfuhr es Claaßen. 

»Morgen ist Allerheiligen«, fuhr Elena eindringlich fort. »Ich wollte diverse Vorbereitungen treffen, um Hel zu huldigen.«

Verwirrt schaute Claaßen Udo an. »Was soll das sein? Ihr Hausgeist?«

Röte schoss Elena ins Gesicht. »Das ist die Herrscherin der Unterwelt. Sie ruft die Seelen der Verstorbenen zu sich ins Reich des Todes.«

Hinter Udo erlitt die Notärztin einen Hustenanfall. 

»Diesen Feiertag haben schon die Wikinger begangen.« Fest blickte Elena Kommissar Claaßen in die Augen.

»Die Wikinger gibt’s nicht mehr«, stellte er trocken fest. »Sind alle schon in Walhalla.«

»Das Jenseits mag es nicht, wenn man sich darüber lustig macht«, wies Elena ihn zurecht. 

»Das Jenseits ist nicht hier und ich mache auch nur meine Arbeit«, bügelte Claaßen sie ab. »Also jetzt bitte mal ernst bleiben: Was wollten Sie hier?«

Udo räusperte sich umständlich. »Ich weiß, Sie finden es merkwürdig, aber meine Frau meint das ganz ernst. Sie hat so eine Ader. Sonst hätte sie den Toten nicht entdeckt. Ich finde, der war noch zu jung zum Sterben.«

»Das finde ich aber auch«, stimmte Claaßen ihm zu. »Sie kannten den nicht zufällig?«

Kopfschütteln. 

»Und Sie wissen natürlich auch nicht, wie er hergekommen sein könnte.«

»Genauso ist es, Herr Kommissar«, murmelte Elena. »Ich habe ihn gefunden, weil ich ihn finden sollte. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

Die Ärztin warf dem Sanitäter einen vielsagenden Blick zu. 

Claaßen schnaubte ein paar Male, als müsste er sich erst überlegen, ob er die Aussage für bare Münze nahm, bevor er sein Notizbuch herausholte und bedächtig alles notierte. »Sie behaupten also, Sie wussten, dass eine Leiche in genau diesem Weidenbaum in dieser Schonung von insgesamt drei liegt. Und der junge Mann hat quasi nach seinem Ableben auf Sie wartet.« Er nahm den Stift vom Papier und musterte Elena eingehend. »Waren Sie denn vorher schon mal hier? Also nachts, in Ihrer Kernarbeitszeit?«

Verlegen schlug sie die Augen nieder. »In Gedanken bin ich diesen Weg tatsächlich schon gegangen.«

»Haben Sie Drogen genommen?« Claaßens Stimme hatte jeden freundlichen Klang verloren. 

»Herr Wachtmeister, ich verlange, dass wir unseren Anwalt anrufen dürfen!« Udo sprang so heftig von der Liege, dass der ganze Rettungswagen wackelte. Seine dunklen Augen blitzten. »Sie spekulieren bloß wild herum und verdächtigen meine Frau und mich, den armen Kerl da draußen getötet zu haben. Warum? Sehen wir etwa aus wie Verbrecher?!«

Die Attacke versetzte Claaßen in Erstaunen. »Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist, Herr Gödecke. Also noch mal, haben Sie beide Drogen genommen?«

»Also, wirklich nicht!«

»Können Sie das irgendwie nachweisen?«, wandte er sich an die Notärztin. »Mit einem Schnelltest oder so?«

Sie holte Luft für eine Erklärung, aber das dauerte Claaßen schon zu lang. »Machen wir’s kurz, ich habe heute Nacht noch ein Date mit einer Leiche. Haben Sie den Eindruck, dass Herr und Frau Gödecke Drogen genommen haben könnten?«

»Nein!«, rief die Notärztin, als sie endlich zu Wort kam. »Bei der Untersuchung zur Erstversorgung haben wir keine Hinweise auf Drogenkonsum gefunden!«

Stille. Nur der Regen trommelte aufs Fahrzeugdach.

»Alle Reflexe normal?«, hakte Claaßen vorsichtig nach. »Pupillen und so?«

»Wenn ich es Ihnen doch sage!« Jetzt wurde die Notärztin laut. »Außerdem geht Sie das erst mal nichts an, ja? Das hier sind ja wohl nicht die Tatverdächtigen, sondern derzeit nur Zeugen!«

Ups, da kennt sich jemand aus, dachte Claaßen. Wobei: Schimanski hätte es aus ihr herausbekommen, ein stechender Blick hätte gereicht. Mit einem Ruck wandte er sich wieder Udo und Elena zu. Einmal mehr wackelte der Rettungswagen. »Dann jetzt bitte mal Klartext ohne Gedankenwanderungen und vor allem ohne Bauchgefühle: Haben Sie was mit dem Tod des jungen Mannes zu tun?«

»Nein«, antworteten Elena und Udo wie aus einem Munde.

»Gut! Dann brauche ich noch Ihre Daten und Ihre Unterschrift auf dem Protokoll, das morgen eine Kollegin in der Dienststelle aufnehmen wird.«

»Warum das?«, fragte Udo.

»Damit wir Ihre Aussage haben, wenn es zur Verhandlung kommt.«

»Und wir kommen nicht ins Gefängnis?« Elenas Stimme kratzte vor Aufregung etwas.

»Wenn Sie unschuldig sind, nicht.«

Damit schien auch Udo besänftigt. »Am Ende liegt der Junge dort im Baum, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war«, meinte er nachdenklich. 

»Das Opfer ist bei einem Mord meist zur falschen Zeit am falschen Ort. Liegt in der Natur der Sache, Herr Gödecke.« Claaßen schob sich am Sanitäter vorbei und öffnete die hintere Tür. »Frank!«

Hinter ihm nahm Udo Elenas Hand und drückte sie vorsichtig. »Es wird alles gut, Schatz.«

»Hoffentlich«, seufzte sie. »Dass aber auch niemand damit umgehen kann, dass die Herrscherin der Unterwelt …« Sie verstummte, als sie den Blick des Sanitäters auffing.

»Frank, notieren Sie bitte mal die Personalien. Danach können die Gödeckes nach Hause. Sie gehen dann rüber zu dem Privathaus neben dem Werk und fragen, ob dort jemand was gesehen hat, ja?«

Mit einem Satz sprang Claaßen in den Regen hinaus, vorbei an dem säuerlich dreinblickenden Frank Dresel, ohne Udo und Elena noch einmal anzuschauen, und stakste hinüber zum Schutzzelt. Dass er beim Aufkommen mit dem Fuß umgeknickt war, hatte hoffentlich niemand bemerkt.

2

Dienst am Tag vor Allerheiligen fand Vicky immer noch besser, als nachmittags die Verwandtschaft abzuklappern und Schnäpse mit Tante Lieschen und Onkel Hubert zu kippen. Und anschließend wurde einträchtig über tote Leute schwadroniert, die sie als Nachzüglerin nicht mal gekannt hatte. Damit vermied sie schon seit Jahren Familienzusammenkünfte an den Gräbern der lieben Verblichenen. Die Toten waren tot und fertig.

Als sie deshalb relativ entspannt an ihren Schreibtisch im Großraumbüro trat, wartete schon ein Zettel mit krakeliger Schrift auf sie: Kopfweide Bislich-Vahnum — Vermisstendatei durchgehen — Protokoll Ehepaar Gödecke im Laufe des Tages — Zahnstand nach Abdruck der Rechtsmedizin abfragen.

»Wo ist denn Frank Dresel?«, fragte sie in den Raum hinein. »Hat der heute nicht auch Frühschicht?«

»Nein, Nachtschicht. Der ist noch mit Claaßen unterwegs«, antwortete die Kollegin, deren Schicht auch um sechs Uhr am Morgen begann und mit der sie sich den Schreibtisch teilte. »Frank hat angerufen und gesagt, dass du schon mal anfangen kannst. Ich hab dir einen Zettel hingelegt.«

Ein halbes Jahr hatte nicht gereicht, um mit Frank Dresel eine gemeinsame Arbeitsroutine zu entwickeln. Seine Notizen waren nichtssagend wie dieser Zettel, seine Laune war meist eher schlecht. Und auch sonst war Vicky froh, wenn sie ihn nicht sah. Sie deutete auf den Zettel. »Dann ist das hier von Frank?«

Die Kollegin war damit ausgelastet zu nicken, ohne ihren Kaffee auf ihre Uniform zu kippen. Für sie war die Frühschicht heute definitiv zu früh. »Ja. Soll er dir von Claaßen ausrichten. Hat er mir am Telefon diktiert.«

»Und was meint er damit?«

»Hat er nicht gesagt.«

»Na prima«, murmelte Vicky.

Ein paar Minuten später rauschte Claaßen mit Frank im Schlepptau herein, beide klitschnass, müde und abgespannt.

»Hallo, Frau Steinhauer, gibt’s schon Ergebnisse?«

»Guten Morgen.« Vorwurfsvoll hielt sie den Zettel hoch. »Ich habe nicht mal ansatzweise genug Infos, um loslegen zu können. Was ist denn überhaupt passiert?«

Claaßen musterte Frank, als müsste er überlegen, wer er war. »Bisschen vage geblieben, was?« 

Frank zuckte nur mit den Schultern. 

Nach einem abschätzigen Schnauben fasste Claaßen den Fund in der Rheinaue Bislich-Vahnum zusammen: große, männliche Leiche in der Aushöhlung einer zerbrochenen Kopfweide, geschätztes Alter 20 bis 25, Liegezeit etwa ein halber Tag, Quetschungen an Hals, Brustkorb und Extremitäten, Brüche an der Wirbelsäule, wahrscheinlich durch einen heftigen Aufprall verursacht, Schädelknochen am Hinterkopf gesplittert. Todesursache: Schläge auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand. 

»Sieht aus, als wäre er mit einem Auto zusammengestoßen, aber dafür wurde er zu weit weg von der Straße gefunden. Kein Handy, keine Papiere oder Markierungen in der Kleidung, weshalb wir uns erst mal um die Identität kümmern müssen.« Ein weiterer strenger Blick traf Frank. »Das hätten Sie Frau Steinhauer wirklich schon durchgeben können.«

»Wieso Markierungen in der Kleidung?«, fragte Vicky verwundert.

»Na, Eltern machen das doch, damit die Kinder ihre Sachen nicht in der Schule oder im Kindergarten verwechseln«, meinte Claaßen ungeduldig. »Da werden neben den Wäschezeichen auch noch kleine Namensschildchen zum Ausfüllen eingenäht. Kennen Sie das nicht?«

»Aber welcher Zwanzigjährige lässt seine Mutter noch die Klamotten beschriften?«, meinte Vicky.

»Na, zum Beispiel, wenn er in einem Internat wohnt«, warf Frank überraschend ein. »Das steht so angeblich auch in den ganzen Internatsgeschichtenbüchern drin, weiß ich von meiner Schwester. In diesen Büchern wird immer ein Mordstheater um die Hausmutter und die Wäsche der Mädchen gemacht und diese blöden Beschriftungen, damit die—«

»Ja, gut, wir wissen Bescheid, aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, Vicky: Nein, ich glaube auch nicht, dass ein Zwanzigjähriger solche Zettel in der Kleidung hat. Nur kann man ja nie wissen, oder?« Claaßen wirkte zerstreuter und noch ungeduldiger als sonst. »Jetzt sehen Sie mal zu, dass die Identität des Toten geklärt wird, Vicky, Zahnstand abfragen und so weiter, Sie wissen schon.«

Vicky wusste nicht, was sie mehr störte: Claaßens kurz angebundene Art oder Franks Trägheit. »Um den Zahnstand kümmert sich eigentlich die Rechtsmedizin. Und die Zahnarztpraxen machen erst in einer Stunde auf. Frühestens. Das kann also dauern.«

Als hätte er nicht zugehört, zog Claaßen einen weiteren Zettel aus der Innentasche seiner Jacke. »Bitte schön. Die Rechtsmedizinerin hat am Tatort schon mal ein paar Auffälligkeiten notiert. Damit können Sie vielleicht was anfangen, bis die Verifizierung aus Wedau kommt.«

Mit spitzen Fingern nahm Vicky den zerknitterten Zettel entgegen und runzelte die Stirn. Claaßens Schrift war auch nicht gerade ordentlich.

»Frank, Sie schauen mal, was Sie aus den Mitarbeitern herausholen können, ja?«, schnarrte Claaßen weiter.

Frank schreckte hoch. »Mitarbeiter?«

»Ja, die vom Sandwerk, das vis-à-vis vom Tatort ist.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen warf Frank einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber meine Schicht ist eigentlich schon zu Ende.«

»Dann ordne ich Überstunden an«, meinte Claaßen knapp. »Ziehen Sie los und fragen Sie nach. Morgen ist Feiertag, bis dahin will ich den Fall aufgeklärt haben.« Mit diesen Worten ging Claaßen davon.

»So ein Depp«, meinte Frank. 

»Tja, er ist der Chef.« Vicky zuckte mit den Achseln. »Und der Fall muss so oder so aufgeklärt werden.«

Verzweifelt kratzte Frank sich am Kopf. »Ich bin schon zwei Stunden früher hergerufen worden, weil es einen Personalengpass gab. Jetzt hab ich zehn Stunden runtergerissen. Ich muss langsam echt schlafen.«

Vicky beeindruckte er damit nicht. »Was habt ihr denn schon alles?«

»Ich schick’s dir vom PC.« Müde trollte Frank sich zu seinem Schreibtisch am anderen Ende des Großraumbüros. In den Vorabendserien entwickelte sich aus ungleichen Kollegen meist ein Liebespaar, aber das konnte Vicky sich bei Frank und ihr nicht vorstellen, so tranig, wie er war. Außerdem fand sie ihn spießig. Er kam ihr vor, als hätte er schon alles durch im Leben und wartete nur noch auf die Rente. Und das mit Anfang dreißig!

Wie angekündigt kamen ein paar Minuten später die ersten Daten aus der Rechtsmedizin, die so nichtssagend waren, dass sie auf jeden männlichen Weseler ab 20 hätten zutreffen können. Immerhin hatte die zuständige Medizinerin das Alter bestätigt. Vicky reckte den Hals, um einen Blick in den Flur zu werfen, bevor sie damit zu Claaßen ging. Die Tür zum Büro des Kommissars war geschlossen. Das bedeutete, dass er entweder literweise Eistee trank oder einen seiner Power-Naps hielt.

Super, dachte sie. Wir sollen Gas geben und er schläft erst mal eine Runde! Andererseits musste es auf die Dauer ganz schön ungesund für die Bandscheiben sein, bei schwierigen Fällen über längere Zeit nur am Schreibtisch ein kurzes Nickerchen zu machen. Nun, es hatte ihn niemand gezwungen, Kommissar zu werden. Und weil das hier ganz wie ein schwieriger Fall aussah, der bestimmt bald die Presse auf den Plan rief, war Geschwindigkeit das Gebot der Stunde.

Grimmig vertiefte Vicky sich in die Datenbank. Vielleicht fand sie etwas in der Vermisstendatei, das zu diesen nichtssagenden Daten passte.

3

Keine Nachricht von Vera. 

Müde steckte Hella das Handy in die Regenjacke und stolperte den Gehweg zur Bushaltestelle entlang. Die Windböen trugen den allgegenwärtigen Nieselregen bis unter ihre Kapuze. Ihre Mutter stand bestimmt am Küchenfenster und schaute ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Angeblich, weil sie sich Sorgen machte. Dabei wollte sie nur kontrollieren, ob Hella auch wirklich zur Bushaltestelle ging. Kontrollanrufe in der Arbeit machte sie inzwischen zum Glück nicht mehr. Aber Hella war sicher, dass ihr Chef Dr. Holtkamp immer noch täglich mit ihr telefonierte. Der Zahnarzt nahm die Sache mit ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten sehr sehr, sehr ernst.

Der Bus kam, Hella taumelte hinein und ließ sich auf einen Fensterplatz fallen. Wie geht es dir?, tippte sie und schickte die SMS ab. Bis zum Zwischenhalt am Bahnhof kam keine Antwort. Die Fenster waren beschlagen, Leute stiegen aus, Leute stiegen ein. Hella hätte den Bus gern verlassen, um Dr. Holtkamps dauerbesorgte Miene heute nicht sehen zu müssen. Aber vom Blaumachen wurde es garantiert nicht besser. 

Der Bus fuhr aus der Haltebucht auf den Kaiserring. Ein paar Minuten hatte Hella noch die Qual der Wahl: Sollte sie Vera eine gute Freundin sein und sie anrufen, statt noch eine SMS zu schicken?

Bloß nicht. Sie wollte gar nicht so genau wissen, wie schlecht es ihr ging, nur weil sie sich unsterblich in jemanden verliebt hatte! Am Ende driftete Vera wieder total weg, nur weil Hella was Falsches sagte.

Hinter dem evangelischen Krankenhaus stieg sie aus. Die letzten paar hundert Meter musste sie laufen und sich vom Nieselregen nassregnen lassen. Ziemlich blöder Deal, fand Hella. Sie ließ es lieber ruhig angehen. 

Der scharfe Geruch des PVC-Bodens, lange haltbar, leicht zu pflegen, neutral fürs Auge, empfing sie beim Betreten der Praxis wie ein Faustschlag. Immerhin blieb der Nieselregen draußen. 

»Guten Morgen«, rief sie, um Persönlichkeit in der Stimme bemüht, wie Dr. Holtkamp es ihr seit über einem Lehrjahr einzutrichtern versuchte. Das bedeutete, sie sollte nicht zu laut und nicht zu leise rufen, weder zu hoch, was schrill werden konnte, noch zu tief, als wäre sie ein Bullterrier auf der Jagd. Heraus kam wie jeden Morgen die Stimme eines trägen Teenagers, den man zu früh aus dem Bett geholt hatte.

»Guten Morgen!« Dr. Holtkamp erschien in der Tür des Behandlungszimmers. »Hast du das Wochenende gut überstanden?«

Hella dachte an den kurzen Besuch bei Vera, der im Streit geendet war und meinte: »Geht so.«

»Freut mich zu hören!« Das breite Lächeln auf Dr. Holtkamps Gesicht wurde von tiefen Sorgenfalten und heruntergezogenen Mundwinkeln abgelöst. »Ich habe eine Aufgabe für uns beide, je nachdem, ob du dich dafür stark genug fühlst.«

Das klang wieder nach etwas, das Dr. Holtkamp für richtig und wichtig hielt, etwas aus der Ecke »Ausbildungsauftrag«. Oder Kaffeekochen. Auf beides legte der Herr Doktor Wert, und beides hatte sie schon mal verbockt. Aber so richtig.

»Die Polizei bittet um Mithilfe.« Vom Türstock deutete er zur Rezeption hinüber. »Eine Leiche muss anhand des Zahnstatus’ identifiziert werden. Wäre das interessant für dich? Wollen wir es zusammen machen?«

»Ich?«, meinte Hella unbehaglich. 

Das Lächeln kehrte auf das Gesicht des Arztes zurück. »Das ist doch eine interessante Sache, die du in deinen Lebenslauf eintragen kannst.« Weil Hella immer noch nicht in Jubelschreie ausbrach, schob sich Besorgnis auf sein Gesicht. »Falls es dir unangenehm ist, kann ich es auch allein machen.«

»Ne, schon in Ordnung.« Na danke! Wenn der Morgen schon den ersten Toten brachte, wie sollte bitte schön der Rest des Tages werden?

»Du musst es wirklich nicht machen«, dröhnte Dr. Holtkamp. »Ich will nur nicht, dass du dich langweilst. So eine Story kommt krass gut bei Freunden an.«

»Alles okay«, murmelte Hella. »Ich mache mit.« Schon damit der Herr Doktor sich nicht weiter an der sogenannten Jugendsprache versündigte.