Joe Brauns Begräbnis - Michaela Stadelmann - E-Book

Joe Brauns Begräbnis E-Book

Michaela Stadelmann

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Beschreibung

Erst war ich arm. Dann reich. Die ganze Zeit glaubte ich, das Wissen in den Büchern der Welt bedeutet Macht. Doch dann begriff ich: Absolute Macht verleiht nur der Tod. Vater wäre stolz auf mich. Johannas Leben besteht aus Hunger und Armut. Ihre Mutter Grit, arbeits- und hoffnungslos, hat ihre pubertierende Tochter längst vergessen. Unverhofft werden die beiden in die Welt der Superreichen katapultiert. Doch Johanna kann sich mit der Rolle der reichen Erbin nicht arrangieren. Sie kehrt dem Jetset den Rücken und heuert als Aushilfe in einem Imbiss an. Bei einem Rollenspielwochenende lernt sie den angehenden Studenten Leon kennen. Er verspottet sie und ihren Job. Seiner Meinung nach hat sie nicht genug Ehrgeiz, um ein »besseres« Leben zu führen. Johanna beschließt daraufhin, endgültig Abschied von der Welt zu nehmen. Vorher zieht sie noch einmal alle Register: Die Zeit ist reif für das perfekte Rollenspiel. 6

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Johanna

Prolog

Johannas Körper schreckte hoch. Ihre Gedanken lösten sich aus der heilsamen Dunkelheit des Schlafs. In der Sekunde zwischen Abschiedsschmerz und Akzeptanz pflanzte ihr das andere Ich die Idee ein, später die Dorfbibliothek von Kleinküsterhausen aufzusuchen. Johanna hasste diese Schutzlosigkeit zwischen dort und hier.

Grit schnarchte im Sessel, der Radiowecker zeigte 4:30 Uhr. Trotz der zu erwartenden Schlappe verfuhr Johanna wie immer. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. 

»Grit! Aufwachen!«

»Hmpf.« Mühsam öffneten sich die verquollenen Augen ihrer Mutter. 

»Es ist halb fünf!«

»Lass mich schlafen.«

»Aber-«

»Verdammt noch mal, ich muss nicht mehr aufstehen!«

Wer auch immer den Sender mit dem Dauersatellitenflug um die Erde eingeschaltet hatte: Die Sendung nervte. Johanna tastete nach der Fernbedienung. Die Mattscheibe erlosch. Augenblicklich war es stockdunkel, aber nicht so sicher wie in ihrem Kopf.

Sie schälte sich aus der abgewetzten Decke, die im Winter immer nach nassem Hund roch. Kalt war es hier. Zitternd tappte sie zu Grits Schlafsessel und schüttelte sie vorsichtig. Grit brummte. Etwas Hartes landete dumpf auf dem Boden. Eine leere Flasche. Leere Flaschen bedeuteten Hunger. Früher hätte Johanna deshalb vor Wut geheult und um sich geschlagen. Doch nun brachte ihr Magen nur noch ein resigniertes Gurgeln zustande. Es sollte wohl ein Knurren sein. 

»Lass uns frühstücken«, bat Johanna, um lauter zu sein als der Hunger.

»Um die Zeit?« In Grits Atem klebten Hopfen und Malz. »Na gut. Weil du’s bist.« Stöhnend erhob sie sich und schaffte es tatsächlich in die Küche, ohne gegen etwas zu stoßen oder umzurennen. »Ich hab vorgesorgt«, murmelte sie, angelte das treue Keramikschwein Miffi vom Regal, zog den Stopfen aus seinem Bauch und drehte es um. Ein einsames 10-Cent-Stück rollte über den Tisch. 

»Ich gehe duschen«, murmelte Grit. »Vielleicht ist das Wasser heute warm.«

Johannas Backenzähne mahlten. Sie wusste, dass man vor Hunger halluzinieren konnte, wenn man sich Mühe gab. Doch der Küchentisch blieb abgeschabt und blank. Sie konnte sich keine Rühreier mit Speck und Butterbrot vorstellen. Und trotz der schmerzhaften Leere im Bauch rief auch der Gedanke, dass die fleckigen Tapeten mit dem Speiseöl der besseren Jahre getränkt waren, bei ihr keinen Speichelfluss mehr hervor. War Johanna für das Leben in echter Armut inzwischen zu dumm geworden? 

Bestimmt kann man darüber etwas in der Bibliothek erfahren, wenn man das richtige Buch erwischt, flüsterte ihr anderes Ich. 

Johanna seufzte.

Grit kam zurück, sie rubbelte sich die Haare trocken. »Hab gehört, dass die Seniorinnen heute in der Bibo sind. Du wolltest doch hin wegen diesem Tierbuch.«

Wegen des Tierbuchs, dachte Johanna automatisch. »Jörgens Tierleben meinst du«, murmelte sie.

»Ja ja, du weißt schon. Wenn sie wieder Nusskuchen dabeihaben, bring mir ein Stück mit.« Grit wickelte sich das Tuch wie einen Turban um den Kopf. 

»Und was machst du so lang?«, fragte Johanna. 

Ihre Mutter hielt inne. »Ich hau mich noch ’ne Runde aufs Ohr, aber im Schlafzimmer.«

Johanna hörte das Bettgestell ächzen, weil Grit sich wie immer hineinfallen ließ. Ihr Magen antwortete mit dem enttäuschten Protest der Vergessenen. Die winzigen Kuchenstücke, welche die Seniorinnen den Lesenden regelmäßig spendierten, hinterließen stets ein hungriges Loch in Johannas Magen. Wenigstens bekam man den Leseausweis der Bibliothek kostenlos, auch wenn sich damit den Magen nicht füllte. Kochbücher gab es in der Bibo nämlich nicht.

Während Grit drinnen schon wieder schnarchte, hörte Johanna Grits andere Stimme aus einer Zeit, in der es noch Frühstück gegeben hatte: Wenn du aus diesem Loch raus willst, dann beschäftige dich mit Büchern, mein Kind. Das ist die beste Zukunftsvorsorge!

*

Stirnrunzelnd musterte der Sachbearbeiter Helmreich Grit und Johanna über seine Gleitsichtbrille hinweg. Beide lächelten zurück, aufmerksam darauf bedacht, auf dem Grat zwischen zaghafter Herzlichkeit und bitterer Bedürftigkeit nicht zu straucheln.

»Was war es diesmal? Die Kleinküsterhausener Trampolinmeisterschaft?« Helmreich suchte auf seinem Schreibtisch nach einem Kugelschreiber.

»Nee, echt nicht.« Johanna schüttelte den Kopf.

Der Kugelschreiber musste sein Versteck zwischen den Aktendeckeln verlassen. Helmreich klickte die Miene heraus. »Was sagen denn Ihre Nachbarn dazu, Frau Braun?« 

Trotzig spitzte Grit die trockenen Lippen. »Was sollen die schon sagen? Die haben auch nur Sachen aus dem Möbellager. Und da kracht eben öfter was zusammen.«

»Aber doch nicht dreimal innerhalb von fünfzehn Monaten.« Helmreich bedachte Johanna mit einem weiteren ernsten Blick. 

»Vielleicht war diesmal ein Holzwurm drin«, überlegte Grit. »Die im Möbellager müssen einfach besser aufpassen, dass sie nicht immer Schrott-«

»Frau Braun, alle gebrauchten Möbel werden gewissenhaft auf ihren Zustand überprüft, gegebenenfalls instand gesetzt und ordnungsgemäß bei den Beziehern abgeliefert«, unterbrach Helmreich sie lauter als nötig. »Sie sind die einzige Familie in meinem Bereich, bei der die Betten zusammenkrachen wie Kartenhäuser! Bitte erklären Sie mir das.«

Grit warf ihrer Tochter einen Blick zu, den Helmreich unter resigniert, weil endlich in die Enge getrieben, ablegte. »Da gibt es nix zu erklären. Johanna schläft in dem Bett und fertig.«

Johanna nickte eifrig. »Das hat doch auch die Frau Rupprich bestätigt.«

Müde schloss Helmreich die Augen. Ja, das hatte die Kollegin vom Jugendamt tatsächlich. Und seinen Verdacht Jugendbett – übermäßige Abnutzung – daraus resultierende üppigere Haushaltskasse zum Glück entkräften können. Er hatte wirklich schon viel erlebt. Die Brauns waren und blieben absolut einzigartig. - Ergeben öffnete er die Augen wieder. »Schauen Sie, Frau Braun, Sie müssen das irgendwie ändern. Ich kann Ihrer Tochter nicht jedes Jahr drei Bezugsscheine für Betten zuteilen. Mein Chef steigt mir schon aufs Dach.«

»Aber das wäre dieses Jahr der erste«, meinte Johanna und fühlte sich im Recht.

»Und der vierte in Folge«, meinte Helmreich. »Also gut, Frau Braun. Wenn Sie mir eine absolut logische Erklärung liefern können, warum die Betten Ihrer Tochter so schnell kaputtgehen, stelle ich noch mal einen Bezugsschein aus. Ausnahmsweise!«

Natürlich hätte Grit ihm endlich sagen können, dass es an den Büchern lag, die Johanna in ihrem Bett stapelte. Aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass er so oder so weitermosern und die Kollegin vom Jugendamt vorbeischicken würde. Darauf hatte sie keine Lust mehr. 

Zwei Minuten später standen sie und Johanna wieder auf der Straße. »Muss ich jetzt auf dem Boden schlafen?«, fragte Johanna bedrückt. Grit blickte zu der Fensterscheibe hoch, hinter der Helmreichs Bürogeranien zu sehen waren. »Die Matratze tut’s auch ohne Gestell. Du hättest nicht so viele Bücher ‘reinlegen sollen.«

»Aber du hast doch gesagt, wenn ich-«

Grit winkte ab.

»Hätte ich ihm sagen sollen, dass Omas Tierlexika so schwer sind?«, wagte Johanna einen weiteren Vorstoß.

Grit schüttelte den Kopf. »Nee. Am Ende hätte er verlangt, dass wir Omas Bücher verkaufen.« 

Johanna schauderte. Oma Bertas zwölfbändiges Tierlexikon mit Goldschnitt von 1912 verkaufen, nur wegen ihres instabilen Bettes? Niemals! Und so schlief ab sofort Johanna auf der Matratze auf dem Boden, umgeben von ihren papiernen Lieblingen.

*

Ein paar Tage später entdeckte sie die Bücher auf dem Nachhauseweg in der Auslage der Pfandleihe. Zuerst glaubte sie an einen Irrtum. Doch als sie ganz nah an die Scheibe herangetreten war, konnte sie mit etwas Mühe den Titel auf dem kleinen Schild lesen: Jörgens Tiere der Welt in 6 Bänden, Ausgabe von 1912, sehr gut erhalten, Goldschnitt, Abbildungen, Ledereinband.

»Ich hatte noch was bei der Kleinheisters offen, das wollte sie heute wiederhaben«, erklärte Grit achselzuckend, als Johanna sie zu Hause darauf ansprach. »Aber ich hole deine Bücher zurück, denn der Lubisch schuldet mir auch noch was und das gibt er mir heute, hat er gesagt. Und dann kriegst du deine Bücher wieder.«

Grit sorgt eben vor, dachte Johanna beunruhigt. So hatte sie es bisher gemacht, etwas geliehen, etwas versetzt, den Betrag zurückgezahlt und dann selbst von anderen Geld eingetrieben. Nicht lange und Grit würde auch Johannas Bücher wieder auslösen. 

Bereits am nächsten Tag waren die wertvollen Goldschnitterbstücke aus dem Schaufenster der Pfandleihe verschwunden. Erfreut wähnte Johanna den Jörgen und ihre tierischen Freunde zu Hause auf ihrer Matratze. Doch dort waren sie nicht. Dafür lagerten in dem halb vollen Kühlschrank Teile ihrer physischen Geschwister und deren Produkte: ein bisschen Wurstaufschnitt, ein Liter Milch, sechs Eier.

Diese Katastrophe war Grit nur das übliche Achselzucken wert. »Lubisch hat gezahlt, aber die Bücher waren schon weg, als ich vorhin in der Pfandleihe vorbeigeschaut habe. Willste noch ’nen Pfannkuchen?«

Von Wollen konnte keine Rede sein. Johanna musste noch einen Pfannkuchen essen, so ausgehungert und verzweifelt war sie. Während sie kaute, überkam sie das Pfingstfeuer oder so ähnlich, sie erinnerte sich nicht mehr daran, was sie in der Schule darüber gelernt hatte. Es war irgendwas mit Worten gewesen. 

Sie beendete das zweite reichhaltige Mittagessen in diesem Monat und leckte sich sehr sorgfältig die Finger ab. Nichts durfte verschwendet werden. Dann ging sie in den Raum, der als ihr Zimmer bezeichnet wurde, aber in Wirklichkeit die Abstellkammer war, wo nun die Matratze ohne Bücher lag, und kramte ihre alten Schulhefte von der Grundschule hervor. Die krakeligen Bleistiftbuchstaben hatten Johanna nichts entgegenzusetzen. Mühsam radierte sie Seite für Seite blank, bis sie ihre Fingerspitzen nicht mehr spürte. Dann setzte sie sich hin, schloss die Augen und konzentrierte sich. Jörgens Worte mussten her. Vor ihren Augen tanzten Igel, Bären, Eichhörnchen und Störche einen possierlichen Reigen. Der Bleistift weigerte sich, das Schriftbild, das in Johannas Kopf so klar zu erkennen war, aufs Papier zu bringen. 

Geh in die Großhaubendorfer Bibo, dort gibt es Jörgens Tiere von 1970 sogar in Farbe, flüsterte ihr anderes Ich. Johanna freute sich, dass es mit ihr sprach, denn das bedeutete, dass sie in ihrer Verzweiflung nicht allein war. Oder halluzinierte sie, obwohl sie satt war?

Egal. Auf nach Großhaubendorf!

*

Zwei Wochen später begegnete ihr der Bezirksornithologe respektive der Gerichtsvollzieher Hubert Wankelheimer im Hausflur. Bisher hatte er nur die Nachbarn besucht. Jetzt bedachte er sie mit einem Blick, der nur bedeuten konnte, dass-

»Bist du Johanna Braun?« 

Sie nickte.

»Dachte ich es mir doch.« Dann löste er sich in Luft auf.

In der Wohnung stierte Grit trübsinnig in den leeren Suppentopf. »Die letzten Raten für Oma Bertas Grabstein waren heute fällig. Ich habe Wankie das Schmuckkästchen gegeben.«

Johannas Magen knurrte betroffen. Helmreich hatte nichts von Omas Schmuck gewusst. Sonst hätte er ihn für Grit verflüssigt und sie gezwungen, den Ertrag aufzubrauchen. Erst dann wäre wieder ein bisschen Stütze für sie und Johanna geflossen. 

So. 

Nun hatten sie alles verloren bis auf den Schlüsselring mit dem Mini-Oktopus-Anhänger. Traurig baumelte er am Schlüsselbrett neben der Tür. Den hatte Johanna für Oma Berta gehäkelt.

Grit deutete auf den Suppentopf. »Ich wollte heute vorsorglich Hühnersuppe machen. Wegen der kommenden Erkältungszeit. Aber es ist kein Geld mehr da. Cousine Alma konnte die Raten für Omas Beerdigung nicht mehr zahlen.«

»Die mag ich sowieso nicht.« Ob sie die Suppe oder Cousine Alma oder beide meinte, überließ Johanna der Entscheidung ihrer Mutter. Steif wandte sie sich ab, um sich in dem Raum, der ihr Zimmer war, einzusperren. Auf der Kommode im Flur lag die ungeöffnete Post der letzten Tage. (Oder waren es bereits Wochen?) Einige Briefe waren von Firmen, bei denen sich Grit beworben hatte. Sicher schickten sie wieder nur Absagen.

Die würde ich auch nicht lesen wollen, dachte Johanna und knallte die Tür zu.

*

Der nächste Schritt nach unten auf der Sozialleiter folgte relativ rasch, obwohl Johanna mindestens dreimal pro Woche in der Bibliothek war. Der Hausbesitzer erhöhte die Miete wegen unaufschiebbarer Modernisierungsmaßnahmen. Helmreich hatte, ganz der fürsorgliche Sachbearbeiter, den Umzug in ein günstigeres Viertel veranlasst und Grit sogar bei der Organisation unterstützt. Grit ließ es geschehen, denn Hunger und Arbeitslosigkeit hielten sie eisern in der depressiven Verstimmung fest. So fuhren ihre und Johannas letzte Besitztümer mit einem Erste-Klasse-Straßenbahn-Ticket in drei Müllsäcken zum Stadtrand und wurden in die dort vorhandenen Möbel umgesiedelt. Nun hatte Johanna nicht nur wieder ein geringfügig stabileres Bett, nein! Auch die Bibliothek des Nachbarortes Großhaubendorf lag nur noch fünf Fußminuten entfernt. Johannas Passion für Tierlexika war gerettet.

*

»Setz dich.«

Dieser Satz leitete fast alle Zusammenkünfte ein, die sie mit der Direktorin Frau Sauerbruch in regelmäßigen Abständen abhalten musste. Im Grunde waren diese Gespräche überflüssig. Sie endeten normalerweise damit, dass Johanna mit gesenktem Kopf das Büro verließ und sich nicht traute, die Tür zu schließen, weil sie das Gefühl nicht loswurde, etwas vergessen zu haben.

»Du weißt, worum es geht.«

Johanna nickte.

»Gut. Dann möchte ich die Sache noch mal aus deinem Mund hören.«

Johanna gehorchte. »Mario hat Maria eine blöde Pute genannt, weil sie Bluprix-Imitate trägt.« Von nebenan hörte man das Klappern der PC-Tastatur.

»Und weiter?«

Johanna schluckte. »Weiter nichts.«

»Wie kommt es, dass mit drei Stichen Marios rechtes Ohrläppchen wieder angenäht werden musste?« Frau Sauerbruchs Augen glühten, obwohl sie Verständnis hätten ausdrücken sollen. 

Johanna konnte nachvollziehen, dass auch die Geduld der Direktorin irgendwann aufgebraucht war. Sie beschloss, die Sache abzukürzen. »Weil sich mein Mittelfinger in seinem Ohrring verfangen hat.« 

Direktorin Sauerbruch räusperte sich. »Ich muss dir nicht erklären, dass es anatomisch unmöglich ist, das Glied eines fremden Organismus’ in ein Anhängsel eines anderen Körpers zu integrieren, ohne dass es zu Verletzungen kommt. Besonders, wenn die Integration mit einer gewissen Vehemenz durchgeführt wird.«

Die Schülerin in Johanna wusste, dass es sich um ein Wortspiel handelte, auf das sie zumindest mit einem Grinsen reagieren musste, auch wenn sie es a) nicht verstand und b) danach mit Sanktionen zu rechnen hatte. Also reagierte sie.

Auf der Stirn der Direktorin erschien eine ungute, steile Falte zwischen den Augenbrauen. »Deshalb spreche ich dir hiermit einen Verweis aus.«

Mist.

»Und dann habe ich noch eine andere Sache.« Wieder räusperte sich die Direktorin, um strenger zu erscheinen oder weil sie wirklich erkältet war. »Ich habe gehört, dass du sehr viel Zeit in den umliegenden Bibliotheken verbringst. Trotzdem glänzt du im Unterricht mit Nichtwissen und verweigerst jede Mitarbeit. Ich kann mir das nicht erklären, denn du bist intelligent und hast gute Chancen, all dem hier zu entkommen. Was läuft da verkehrt?«

Natürlich hätte Johanna von ihrer Gier auf bedruckte Seiten erzählen können, weil der Kühlschrank zuhause meist kalt und leer blieb. Sie hätte der Direktorin von den Tierlexika berichtet, mit denen sie im Rund der anderen Bibliotheksbücher thronte. Ein paar Worte über den Trost des australischen Schnabeligels, des ostafrikanische Gnus, des neuseeländischen Moas und vielleicht des echten Nachbarshundes, den sie hin und wieder streicheln durfte, wären gefallen. Vielleicht verstand die Direktorin sogar, dass die anderen Bücher für Johanna aus diesem Grund Zuschauer blieben. Doch mit dem Eingeständnis ihrer Liebe zu den bebilderten Tierlexika hätte Johanna die Tage in der Bibo erst entweiht und dann zerstört. Man musste schließlich alle Bücher gleich lieben und lesen. Und so schwieg sie, nahm still den Brief für ihre Mutter entgegen und überlegte, ob sie die Bibliothekarin zu Vergleichszwecken um ein paar Schautafeln über Insekten bitten sollte.

*

Zum fünfzehnten Geburtstag organisierte Grit für ihre Tochter irgendwie eine Reise ins Sommerzeltlager, wo es zu den ersten vorsichtigen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht kam. Verabredeter Tatort war der nächtliche Gemeinschaftsraum der »Wikinger«.

Theo, rothaarig, sommersprossig und mit einem juvenilen Sprachfehler geschlagen - er neigte zu übermäßigem Gebrauch der Silben »ey, ne, boa, dsch, nä!« - schwitzte bereits, als Johanna die Tür schloss. Er verlor kein Wort und hantierte im Halbdunkel ungeschickt mit einer Pappschachtel herum. Johanna beobachtete ihn interessiert, bis sie einen vertrauten Schriftzug im Bücherregal entdeckte. 

Jörgens Tierleben, Band VII. Die Welt der Insekten.

Ihr Mund wurde trocken, ihre Hände vibrierten, als sie das Buch herauszog. Der einzige Band, den sie nicht kannte, weil er bei Drucklegung der Goldschnittedition noch nicht existiert hatte! Ein ihr unbekannter Druck von … Hektisch blätterte sie zum Impressum. Jemand hatte die Zahl weggekratzt! Sie keuchte vor Ärger, was Theo völlig falsch interpretierte.

»Ich bin gleich soweit«, quiekte er nervös und zerriss die Plastikhülle. Ein Silikonstreifen sauste durch den Raum und landete im aufgeschlagenen Buch auf dem Verlagslogo.

Mit spitzen Fingern hob Johanna das Etwas hoch, das plötzlich in ihr Dasein katapultiert worden war. 

Genau drauf. Genau auf den-

»Skarabäus«, sagte sie tonlos.

»Was?« Theos Wangen drohten den Raum zu erleuchten.

»Mistkäfer!« Angeekelt schüttelte Johanna das Kondom von den Seiten.

Theo ergriff Tür knallend die Flucht.

Keiner der begleitenden Erzieher konnte sich erklären, warum Theo Johanna den Beinamen »die Heilige« gab. Mehrmals hatten sie sich im Rund der Wohnbaracken handfeste Keilereien geliefert und waren nur mit gemeinsamer Anstrengung der Erwachsenen zu trennen gewesen. Nach der dritten Prügelei wurden die beiden getrennt nach Hause geschickt. Trotzdem staunten die Erzieher über Theos große sprachliche Fortschritte. Warum er diese jedoch ausgerechnet mit Begriffen aus der Insektenwelt erzielt hatte, war ihnen ein Rätsel.

*

Johannas Schritte hallten in der eiskalten Wohnung wider. Grit kauerte, in ausgefranste Decken gehüllt, von deren Existenz Johanna nur noch eine vage Ahnung hatte, im Schlafsessel. Bisher hatten die Motten jeden Umzug klaglos überstanden.

»Was ist denn hier los?«

»Siehst du doch. Es gibt keinen Strom und keine Heizung.«

»Aber im Hausflur …« Grits Blick ließ sie verstummen. Ach so. Der Vermieter hatte nur ihnen den Strom abgestellt. Johanna war zu erschöpft, um nach dem Grund zu fragen. »Und warum tragen die da unsere Möbel weg?« Sie zeigte auf die Männer in blauen Latzhosen, die sich an dem schmuddeligen Ledersofa aus dem Möbellager zu schaffen machten.

Ein Blatt kam unter den Decken hervor. Das Kreuz auf dem Briefkopf der Bestattungsfirma ließ keine Illusionen aufkommen. »Ich habe den Inhaber überredet, sich mit dem Sofa zu arrangieren, weil ich den Gesamtbetrag sonst nicht zusammenkriege«, erklärte Grit.

»Wieso müssen wir Almas Beerdigung bezahlen? Wir haben doch gerade erst Oma Bertas Stein abbezahlt.« Johanna verstummte. Der Blick ihrer Mutter war leer und ein wenig gerötet von der kleinen braunen Flasche.

»Alma gehörte zur Familie. Die lasse ich doch nicht in ein Armengrab werfen und in achtzehn Monaten wird es ausgehoben und sie ist für immer verschwunden!«

»Dann feiern wir dieses Jahr eben kein Weihnachten«, meinte Johanna, nachdem sie ein bisschen an dem Kloß im Hals herumgewürgt hatte. »Und zu Silvester gibt es sowieso nur blödes Geballer.«

»Und dein Geburtstag?«

»Ich hab nächstes Jahr wieder.«

Einer der Latzhosenmänner tauchte im Türrahmen auf. »Ich brauche eine Unterschrift für die ordnungsgemäße Übergabe der Stücke.«

Grit setzte ihre Namen auf den Zettel, als wäre er Klopapier. 

»Meinst du, dass es nächstes Jahr besser wird?«, fragte Johanna.

Schulterzucken. »Irgendjemand stirbt immer.«

»Dann einen schönen Tag noch, Frau Braun«, nickte der Latzhosenmann und ging.

»Bis bald«, rief Grit und ärgerte sich. »Das klingt ja fast wie bei Bekannten.« 

Das Knallen der Wohnungstür klang hohl.

»Ich hab Hunger«, murmelte Johanna.

»Im Kühlschrank ist noch ein Zipfel Leberwurst.«

»Und Brot?«

»Ist alle. Hab Miffi vorgestern schlachten müssen. Aber in der Bibliothek gibt’s heute Plätzchen umsonst. Der Seniorenkreis hat wieder gebacken. Weil bald Weihnachten ist.«

»Ich mag keine Nussplätzchen.«

»Aber die machen satt. Und sind gut fürs Gehirn.«

Johannas Knie zitterten leicht.

»Denk an die Thermoskanne, es soll auch Kakao geben«, riet Grit ihr besorgt.

*

Wenn ich zaubern könnte …

Irgendwann hatte sie sich angewöhnt, die Schritte bis zur Bibliothek zu zählen. Um sich abzulenken von der Kälte, die durch die viel zu dünne Jacke kroch. Um die weißen Mäuse zu verwirren, die in der nutzlosen Aussackung ihres Bauches eingezogen waren, um die Anspannung im Gehirn einzugrenzen. Ihr Magen krampfte müde. 

Mist! Verzählt!

Umkehren und noch mal anfangen, dazu fühlte sie sich heute zu schwach. 

Wenn ich einen Wunsch frei hätte …

Das mit den Gebeten hatte sie schon lange aufgegeben. Immer wieder die eigene Hoffnung enttäuscht zu sehen, machte bitter. Eine Weile hatte sie mit Camilla, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, Gläserrücken ausprobiert. Die Narbe spürte sie jetzt noch. Camilla hatte befohlen, ihren Kopf ganz leer zu machen, damit die »andere Welt« eintreten konnte. Doch wo nichts drin war, konnte man auch nichts ausleeren. Geister meldeten sich ebenfalls keine. Wahrscheinlich ahnten sie, dass sich in Johannas Gehirn ein schwarzes Loch manifestiert hatte, das Entitäten wie sie zerfetzte. Oder Trinkgläser wie das, welches sie für die Séance verwendeten und das einfach so zersprungen war.

Die Betteltour in der Bibliothek brachte sie professionell hinter sich. Es war für die Seniorinnen eine feine Sache, armen Kindern beutelweise Bröselkekse in die Hand zu drücken und »frohe Weihnachten« zu bibbern. Manchmal gab es sogar kratzige Socken in der falschen Größe. »Frau Meiding-Voggenreither meinte, du hättest Schuhgröße 36. Bist du seit letztem Jahr etwa gewachsen?« Egal. Sockenauftrennen war Grits Winterlieblingsbeschäftigung. So kam jedes Jahr ein neuer Pullover zusammen.

»Grüß deine Mutter.«

»Mach ich.«

Ab einer gewissen gesellschaftlichen Klasse, spätestens jedoch mit dem Prekariat, wuchs bei allen, die Johanna kannte - und nun auch bei ihr-, ein drittes Auge aus dem Hinterkopf. Sie stellte sich vor, wie die Seniorinnen die Köpfe zusammensteckten und tuschelten: »Wie vierundvierzig im Winter … viel zu dünn angezogen … Schuhe zu klein … kaum was auf den Knochen … schlimm …« Aber das hörte sie jedes Jahr. Auch »… sieht ihrem Vater sehr ähnlich« kannte sie.

»Wann die Mutter es ihr wohl sagt?«

Johanna blieb stehen. Das war neu. Grit und der freiwillige Gebrauch der Sprachwerkzeuge waren zwei völlig gegensätzliche Themen. Und dass jetzt auch noch ihr Vater ins Spiel gebracht wurde … Stumm trug Johanna ihre Beute nach Hause, füllte zwei Tassen mit lauwarmem Kakao aus der Thermoskanne und schwieg den Rest des Abends.

Wie Grit.

*

Grit schlief schon den dritten Tag am Stück. Vielleicht wollte sie auch einfach die Augen nicht aufmachen. Jedenfalls reagierte sie noch auf Ansprache und dass sie seltsam roch, lag an mangelnder Hygiene. Der Monat war mal wieder länger geworden, als Helmreichs Almosen reichten.

Brav wandelte Johanna zur Schule. Der vorletzte Schultag vor den Weihnachtsferien verging so zäh, dass sie sich mit den Hausaufgaben sofort in die Dorfbibliothek flüchten wollte. Das sahen die Damen, die dort Aufsicht führten, zwar nicht so gerne, denn die Plätze waren begrenzt, aber sie wollten auch niemanden daran hindern, Bildung zu konsumieren. 

Unschlüssig stand Johanna vor der Bibliothek Großhaubendorf. Hinter der Glastür lauerte schon wieder eine Seniorin mit Keksbeuteln. Hatte die denn kein Zuhause? Johanna verspürte keine Lust auf getuschelte Botschaften, die Grit zum Reden zwangen, wenn Johanna nachgefragt hätte. Gut, dass Johanna es nicht tat. Das anschließende Nachdenken war mittlerweile schwierig.

Johanna war schlecht vor Hunger. 

Gerade röhrte der Überlandbus nach Kleinküsterhausen um die Ecke. Dort gab es heute hoffentlich andere Plätzchen. Schinkenbrote verteilten die Seniorinnen irgendwie nie. Aber Essen war Essen. Mit einem wackeligen Sprint erreichte sie den Bus und sprang hinein. Wenn irgendwo das Glück lauerte, hatte es nun Gelegenheit, sich Johanna zu zeigen.

Der erste Lichtblick des Tages offenbarte sich in zwei verschiedenen Auflagen von Brehms Tierleben. Auch diese Lexika liebte sie. Weil die in Kleinküsterhausen außer Johanna niemand las, holte sie alle Bände an ihren Tisch, baute sie um sich herum auf und blätterte in ihrem Lieblingsband, dem mit den Stacheltieren. Mecki ließ sich auch geduldig von ihr erforschen, bis-

»Hallo«, sagte die freundliche Bibliothekarin. 

Erschrocken schaute Johanna auf.

»Du hast mal hier im Viertel gewohnt, nicht wahr?«, fragte die Frau. »Hast du noch einen Büchereiausweis?«

Johanna wurde feuerrot im Gesicht. »Ich will nichts ausleihen.« 

»Das hier ist eine private Bibliothek. Nur registrierte Mitglieder dürfen Bücher ausleihen und hier oder zu Hause lesen. Wenn deine Eltern einen Familienausweis haben, kostet die Mitgliedschaft nur zehn Euro pro Jahr«, fuhr die Bibliothekarin fort.

Zehn Euro! Plötzlich stand Johanna das Sparschwein Miffi vor Augen. Das hatte nicht gewusst. 

Forschender Blick. »Und wenn deine Eltern einen Sozialpass haben, kannst du sogar kostenlos Bücher ausleihen und hier lesen.«

In Johannas Hals wurde es eng. »Ich, ich, ich habe einen Ausweis aus Großhaubendorf.« 

Bedauernd schüttelte die Bibliothekarin den Kopf. »Der Großhaubendorfer Ausweis gilt bei uns nicht.«

Meckis Pelz wäre jetzt gut gewesen. Einrollen und abwarten, bis der Feind sich verzogen hatte. Dann hätte diese Hyäne auch nicht gesehen, wie Tränen in Johannas Augen traten. Sie schluckte hart. »Dann geh ich jetzt.«

Wortlos sah die Bibliothekarin zu, wie Johanna die Bücher wieder wegräumte. Sie wartete, Johanna durch die Glastüren verschwunden war. Damit war die Möglichkeit, ein weiteres Tierlexikon in ihrem Kopf abzuspeichern, vorerst dahin. Und Plätzchen hatte es auch nicht gegeben.

*

Es war gegen sechs Uhr, als der Bus endlich ächzend um die Ecke schnaufte und sie auf den Bürgersteig spuckte, genau vor die Großhaubendorfer Stadtteilbibliothek. Auf der Landstraße hatte es einen schlimmen Unfall mit einem PKW und einem anderen Überlandbus gegeben. Eine Stunde hatte es gedauert, bis die Polizei die nachfolgenden Fahrzeuge durchgewunken und den Verkehrsfluss wiederhergestellt hatte. Eis und Schnee waren wohl schuld. Während der Busfahrer seelenruhig das Radio auf den Lautsprecher schaltete und ein Weihnachtslied nach dem anderen mitpfiff, hatte der Mäusehunger in Johanna gewühlt. Mehrmals glaubte sie, sich übergeben zu müssen, aber es war ja nichts da, um es auszukotzen. Und doch hätte ein Funke genügt, Johannas innere Bedürftigkeit in schierer Leere implodieren zu lassen.

In der Großhaubendorfer Stadtteilbibliothek brannte noch Licht. Die Feierabendlaune der Keks-Seniorin der Woche war schon durch die Glastüren zu erkennen. Sie fegte gerade die letzten Krümel vom Tisch in die hohle Hand. Hinter ihr stand Frau Meiding-Voggenreither, die Bibliothekarin, und lachte. Da hatten sie sich also mit ihren Krümelkeksen und dem generösen Gehabe gegenseitig wieder sehr, sehr glücklich gemacht. 

Johanna fror. Statt kratziger Socken sollten sie lieber Wintermäntel ausgeben oder ihr das Stricken beibringen. Das lernte man in der Schule ja nicht mehr. Und statt so blöd zu lachen, könnten sie doch - könnten sie …

Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Wie denn, wenn ich ihnen nicht sage, was ich brauche! Wie elektrisiert rüttelte Johanna an der Glastür. 

Abgeschlossen.

Die Seniorin winkte bedauernd ab. Johanna rüttelte weiter. Jetzt kam Frau Meiding-Voggenreither und schloss auf, ließ sie aber nicht hinein. »Hallo Johanna. Wir haben schon geschlossen.«

»Ich weiß, aber-« Plötzlich dehnte sich die Leere im Kopf aus.

»Es sind leider keine Plätzchen mehr da.« Frau Meiding-Voggenreither klang aufrichtig bedauernd. »Morgen haben wir wieder Kuchen.«

»Aber ich hab doch-«

Die Meiding-Voggenreither lächelte gütig. »Ich weiß. Schaffst du es bis morgen?«

Was sollte sie schaffen, etwa am Leben zu bleiben? »Ja.« Mehr war nicht drin.

Frau Meiding-Voggenreither lächelte und schloss von innen ab.

Johannas Füße wuchsen durch die dünnen Sohlen und den Asphalt ins Erdreich. Plötzlich hatte sie den zwingenden Wunsch, ein Buch in die Hand zu nehmen und es gegen die Glastür zu rammen, bis eins von beiden nachgab.