Der Nachtmahr - Michaela Stadelmann - E-Book

Der Nachtmahr E-Book

Michaela Stadelmann

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Beschreibung

1885, Berlin-Gesundbrunnen: Über Jahrzehnte hat Sahir, der Statthalter der Zwerge, die letzte Bastion seiner Gattung im Nordwesten der Großstadt bewacht. Eines Nachts wird die Eigentumsurkunde der Zwerge von einem Nachtmahr gestohlen. Zur Aufklärung des Falls wird die Zwergin Daliborka, adelige Vertreterin des Dezernats Riesengebirge, entsandt. Doch auch Drachen und Elben wollen den Kiez als Lebensraum für ihre Gattungen sichern, um von den Menschen nicht ganz verdrängt zu werden. Damit nicht genug: Ein Liebeszauber ergreift die Bewohner des Kiezes. Nur eine Hexe kann diesen mächtigen Zauber wirken. Sahirs Verdacht fällt auf Barbara, die Wirtin der Bierstube. Sie interessiert sich auffallend für Esoterik und Steinmagie. Oder ist es doch die unscheinbare Küchenhilfe Anna, die ein geheimnisvolles Doppelleben führt? Und wer ist der finstere Hintermann, der die Zwerge aus Gesundbrunnen vertreiben will? Ist er verantwortlich für die Anschläge auf Frau Daliborkas Leben?

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Séance

»Tee hast du also auch gekocht«, stellte Sibylle fest. 

Verlegen zupfte Barbara an dem schwarzen Wolltuch, das den Spiegel des Zierbuffets verhängte. Keine Spiegel, keine offenen Fenster, hieß es. Nur gut, dass das Hinterzimmer fensterlos war.

Nervös schob sie das fünfte Teegedeck auf dem Tisch herum. »Das ist nicht irgendein Tee.«

»Natürlich ist es das nicht, und das hier ist auch nicht irgendeine Zusammenkunft«, stichelte Sibylle, hob den Deckel von der Teekanne und schnupperte in den Dampf hinein. »Was ist da drin?«

Barbaras Wangen verfärbten sich rot. »Feigen und türkischer Apfel.«

Klappernd legte Sibylle den Deckel auf die Kanne zurück. »Was ist denn bitte ein türkischer Apfel? Gehört er etwa auch zu deiner spiritistischen Sitzung? Und die Feigen? Wer um alles in der Welt verkauft dir im Februar Feigen?«

Ein zierlicher silberner Kaffeelöffel klirrte gegen die Untertasse. »Klara hat mir Feigentee geschenkt, weil ihr Mann eine Sonderlieferung aus Vorderasien bekommen hat. Ich soll ihn probieren und ihr sagen, ob er gut ist.« Barbara sprach so schnell, dass sie die einzelnen Worte fast verschluckte. 

Wäre Sibylle nach der Abendandacht doch bloß schlafen gegangen, statt Barbara von ihrem esoterischen Irrglauben zu bekehren! Und dann auch noch Feigentee, den Barbara nie und nimmer von Klara Lohschelder, der alten Pfennigfuchserin, geschenkt bekommen hatte! 

»Von mir aus kannst du gern Verkosterin der hochedlen Familie Lohschelder spielen«, sagte Sibylle so ruhig wie möglich. »Es ist hoffentlich dein Geld, das du aus dem Fenster wirfst.« Sie machte sich daran, das dunkle Tuch vom Zierbuffet zu ziehen.

»Halt, nein! Das stand in den Anweisungen, die mir Monsieur Orell geschickt hat.«

Sibylle hielt inne. »Tatsächlich?«

»Ja. Schau, hier.« Barbaras Finger zitterten, als sie einen zerknitterten Zettel aus der Rocktasche zogen. »›Ich ersuche die Damen untertänigst, folgende Vorkehrungen für die Séance zu treffen: Verdunkeln Sie alle Fenster, um keine neugierigen Geister anzulocken. Verhängen Sie alle spiegelnden Flächen, damit kein Dämon unsere Zwiesprache mit den Toten stört. Legen Sie für jeden Anwesenden Tasse, Untertasse, Löffel sowie ein warmes Gebräu bereit, um die Gedanken weich und empfänglich zu machen, sowie eine zusätzliche Tasse.«

»Hm«, brummte Sibylle. 

»Ich dachte, du hättest den Brief auch gelesen.« Barbara gestattete sich ein verschmitztes Grinsen. 

»Ach, mit so was gebe ich mich doch gar nicht ab!« Was ein sogenanntes Medium verlangte, interessierte Sibylle grundsätzlich nicht. Das war doch alles häretischer Hokuspokus! Aber heute Abend würde sie der armen, verwirrten Barbara beweisen, dass es nur eine Instanz gab, an die es zu glauben galt: Gott! Wie ärgerlich, dass man nach wie vor in Zeiten leben musste, in denen an Seinem unumstößlichen Gesetz gezweifelt wurde.

»Ich hoffe, damit ist dein Hokuspokus vollständig«, knurrte Sibylle.

»Ja.« Nachlässig steckte Barbara das Schreiben zurück in die Rocktasche. Da klopfte es. »Der Allmächtige steh uns bei, ist er das schon?«, flüsterte sie erschrocken.

»Lass den Allmächtigen aus dem Spiel! Mach lieber die Tür auf!«, herrschte Sibylle sie an. 

Beunruhigt, dass die Begegnung mit ihrem besonderen Gast tatsächlich wahr werden sollte, flüchtete Barbara fast aus dem düsteren Hinterzimmer. Das Klopfen war von der Hintertür gekommen. Betraten hellsichtige Menschen aus Gründen, die Barbara nicht verstand, Gebäude nur von der Rückseite?

Rasch richtete Barbara die Rüschen ihres Baumwollschals, streifte ein paar lose Haare zurück in ihren Dutt und räusperte sich. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete sie die Tür zum Hinterhof.

»Bin ich zu spät?« Klara Lohschelder hielt sich nicht lang mit einer Begrüßung auf, sondern drückte sich an Barbara vorbei. »Wo ist er? Sieht er gut aus? Hat er schon etwas prophezeit?« Suchend schaute sie sich um. Bis auf einen alten Schrank und angeschlagene Gläser aus der Bierstube gab es für sie nichts im Flur zum Hinterhof zu entdecken.

»Nein! Leg ab und halt den Mund, du dummes Huhn!« Es fehlte nicht viel und Barbara wäre in Tränen ausgebrochen, so heftig setzte ihr die Aufregung wegen der bevorstehenden Séance zu. Sibylles harsche Worte taten ein Übriges. In letzter Zeit hatte sie heftig über Barbaras angebliche Verfehlung geschimpft, sich für mystische Rituale und dergleichen zu interessieren. Aber Barbara strebte nach dem, was sich in den Salons der wohlhabenden Bürger abspielte. Technik und Wissenschaft mochten sich mit Riesenschritten weiterentwickeln, doch nur der Spiritismus vervollständigte die Macht der Lebenden. Es reichte den Edlen nicht mehr, sich die Natur untertan zu machen. Auch alles andere zwischen Himmel und Erde sollte vom Menschen, der Krone der Schöpfung, unter Gefügigmachung der Geisterwelt gezähmt werden. Und je vehementer Sibylle all die seltsamen Vorkommnisse der letzten Zeit mit Gottes Allmacht zu erklären versuchte, desto stärker wurde Barbaras Überzeugung, dass Sibylle die Geister, die mit ihnen hier lebten und ihnen die ganze Fülle der Macht bringen sollten, nicht sehen wollte.

Es störte Klara nicht, dass Barbara sie nicht besonders sanft vor sich herschob. »Man wird doch wohl noch fragen dürfen«, protestierte sie fröhlich. »Hoffentlich ist unser Erbe von Atlantis pünktlich!« 

»Hoffentlich hältst du deinen vorlauten Mund, wenn er da ist«, zischte Barbara wütend. Sie hätte Sibylle untersagen sollen, Klara Lohschelder als »neutrales Individuum« einzuladen. Die Gattin des Kolonialwarenhändlers würde mit ihrer enervierenden Art alles verderben!

»Warum sollte ich?« Mit einer Geste, die auch zu einer Fürstin gepasst hätten, machte Klara sich von Barbara frei und schwebte den Flur entlang. »Muss ich etwa in euren schmuddeligen Alkoven?«

»Richtig!« Sibylle trat in den Flur und zog die Tür des Hinterzimmers bis auf einen Spalt zu. Nur noch ein dünner Streifen Licht ließ sie erkennen, was im Flur vor sich ging. »Klara, Liebste! Wie schön, dass wenigstens du kommen konntest.« Zwei kraftlose Küsse flogen an Klaras Wangen vorbei. »Herr Altın hat leider abgesagt. Leg ab und komm herein, der Meister sollte jeden Moment erscheinen.« Dass der kleine Graveur nicht dabei war, enttäuschte Sibylle schwer, denn wie sie setzte er sich vehement gegen die grassierende esoterische Mode ein. 

Ohne größere Umstände drückte Klara ihr den Filzumhang in die Hand. »Barbara, dieses liederliche Weibsstück, verbietet mir doch tatsächlich den Mund. Meine Güte, warum ist es denn so dunkel hier?«

»Weil wir …«

»Und wie staubig die Luft bei euch ist!« Klara hustete affektiert. »Hier wurde ja schon ewig nicht mehr richtig saubergemacht. Seid ihr sicher, dass es eine gute Entscheidung war, diese Anna einzustellen und nicht Christine von den Bergers, die ich euch empfohlen habe? Barbara, hast du den Tee aufgebrüht?«

»Ja, das hat sie und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mit dem Gegacker aufhören könntest«, fuhr Sibylle sie an. »Komm rein und sprich nur, wenn du gefragt wirst!«

Da schwieg Barbara lieber. Sie fürchtete, dass Sibylle vor lauter Ärger über die Séance hysterisch wurde.

Sekundenlang herrschte Stille. 

»Na gut«, sagte Klara schließlich. Ihre Begeisterung war hörbar geschwunden. »Es ist schon nach zehn. Können wir endlich anfangen? Oder wollt ihr noch länger in diesem ungemütlichen Gang stehen, bis wir alle erfroren …«

Ähem.

Einen Moment glaubte Barbara zu spüren, wie Eiskristalle ihren Nacken hinunterrieselten. 

Ich bin da.

Die Stimme schien direkt aus der Wand zu kommen. Verwirrt blinzelte Klara in den Lichtspalt, der langsam breiter wurde. »Hast du sonst noch jemanden eingeladen?«, flüsterte sie unwillkürlich.

»Nein«, antwortete Sibylle ebenso leise.

Die Tür zum Hinterzimmer schwang zurück, bis die drei Frauen freien Blick auf den Tisch mit den Gedecken hatten. 

»Jessas«, entfuhr es Sibylle. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund.

Klaras Verwirrung wich dagegen unverhohlener Begeisterung. Verzückt versank sie in einem fast unanständig tiefen Hofknicks. »Monsieur Orell!«, seufzte sie und schickte ein schrilles »Willkommen!« hinterher. 

Sibylle brach der Schweiß aus. Das ist doch albern, dachte sie und tastete hinunter zu Klara, ohne den Schatten im Hinterzimmer aus den Augen zu lassen. »Steh wieder auf!«

Im nervösen Flackern der Kerzen schien der Schatten zu wachsen. Sibylle versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie sie angezündet hatte. 

Seid ihr bereit?

»Ja«, flüsterte Barbara entrückt. Eine Geisterhand zog sie über die Zimmerschwelle, ohne dass sie einen Muskel bewegen musste. Willenlos glitt sie an den Tisch, sank auf den Stuhl, den der Schatten ihr mit einem Wink des Zeigefingers zuwies, und wartete.

Die Luft war erfüllt vom Duft des süßen Feigentees. Kekse wären auch gut gewesen, dachte Klara, oder Biskuits. Im nächsten Moment tauchten sie hinter der Teekanne auf. Eine perfekte Illusion.

Seltsam. Sibylle hatte Mühe, sich von dem Kerzenflackern nicht davontragen zu lassen. Ihre Vorbehalte verschmolzen mit den Schatten der Dunkelheit, sanken ins Nichts. Die mystische Atmosphäre war so perfekt, als hätte ihr Geist beschlossen, diese lächerliche Sache für bare Münze zu nehmen. Obwohl sie doch über alles, was mit Esoterik zusammenhing, nur ein müdes Lachen übrig hatte.

Greift zu.

Monsieur Orells Silhouette verschwamm wie durch den Boden einer grünen Weinflasche betrachtet. Gehorsam nahm Sibylle einen Biskuit vom Servierteller und probierte einen winzigen Bissen. Augenblicklich schmeckte die Luft weich und süß. Der Schatten hob sich vom Gesicht ihres Gastes. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge versetzten ihrem Herz einen freudigen Stoß. So rein war sein Blick, dass sie sich unwillkürlich an das Gemälde in der St.-Elisabeth-Kapelle erinnert fühlte. Wie befremdlich, in diesem sogenannten Medium eine Verkörperung des Herrn Jesu zu sehen … Nur minimal verschob sich die Perspektive, etwas Feminines bildete sich in seinen Zügen ab, die Mutter Gottes lächelte sie an …

»Ich danke für die Einladung«, raunte Monsieur Orell Barbara zu. Sein Zwinkern jagte heißes Kribbeln durch ihre Glieder. Wie auf einen geheimen Befehl nahm auch sie ein Stück des Gebäcks. Es schmeckte köstlich! Sibylle musste es auf den Tisch gestellt haben, während Barbara Klara eingelassen hatte. 

Mit glänzenden Augen verfolgte Klara jeden Atemzug des geheimnisvollen Mannes. In dem dunklen Schwalbenschwanz wirkte seine Gestalt drahtig und stark. Lange schwarze Locken umspielten seinen kräftigen Nacken. Der Kragen war nach unten umgeschlagen, wie man ihn noch vor ein paar Jahren in Frankreich getragen hatte. Für den großen Schlipsknoten hatte er augenscheinlich viel Zeit aufgewendet. Wenn Klara darüber nachdachte, welche Sorgfalt seine langen, schlanken Finger hatten walten lassen, schwanden ihr vor Entzücken beinahe die Sinne. 

Seine geschmeidigen Finger griffen nach einem Biskuit. Klara stockte der Atem, als Monsieur Orells Hand mit dem duftenden Gebäck auf Höhe ihrer Lippen verharrte.

»Bitte.« 

Monsieur Orells Stimme war die Aufforderung, Gustav Lohschelder mitsamt seinem Kolonialwarenladen zu verlassen. Was für eine Vorstellung! Wie hypnotisiert öffnete Klara die Lippen und packte den Biskuit mit den Zähnen, so sacht wie eine Katze ihr Junges im Nacken packt. Ihre sorgfältig zurechtgelegten Fragen waren vergessen. 

So erging es auch Sibylle, die nicht begriff, warum sie wie Barbara der stümperhaften Vorstellung des Scharlatans erlag. Träge kaute sie an ihrem ersten Bissen. Er füllte sie aus wie eine Verheißung auf glücklichere Zeiten, sie musste nur schlucken und schon würden sie beginnen! Gleichzeitig fürchtete sie die Wirkung dieses einen Bissens. Von Biskuit war nie die Rede gewesen …

»Posez vos questions, s’il vous plaît«, murmelte Monsieur Orell, »stellen Sie Ihre Fragen.«

Keine der drei Frauen war in der Lage, den Mund zu öffnen. Selbst das Kauen mussten sie einstellen, so müde waren sie plötzlich. Die vergessenen Fragen schwebten als Gespinste aus Wasserdampf über ihren Tassen. Monsieur Orell brauchte sie nur zu lesen. 

Er lächelte und schnippte mit den Fingern.

Alle Kerzen erloschen.

***

Sahir Altın 

Unweit des verdunkelten Hinterzimmers schob der Graveur Sahir Altın die dicke Daunendecke zur Seite, setzte sich in seinem Bett auf und lauschte in die Dunkelheit. Was war das? Der stattliche Mann mit dem gepflegten Schnauzbart, der tagsüber in seiner Werkstatt im Berliner Kiez Gesundbrunnen allerlei Platten und Ziergegenstände gravierte, wurde von Unruhe ergriffen. 

Seine gut zahlenden Kunden, darunter zahlreiche Bürger und Adelige, hätten darüber verwundert den Kopf geschüttelt. Noch größer wäre ihre Verwunderung gewesen, hätten sie seiner erstaunlichen Verwandlung beigewohnt, die allabendlich nach Sonnenuntergang einsetzte. Doch weil Sahir pünktlich und sorgfältig die Vorhänge vor den großen Fenstern seiner Werkstatt schloss, wussten nur die Möbel und die Hauswände, dass er allabendlich die Haut wechselte. Aus dem Graveur wurde Sahir Altın, der Zwerg mit den ernsten Stirnfalten, Angehöriger des Geschlechts der Hohen Atlaskönige und Thronerbe. Was seine körperliche Größe betraf, wäre die Verwandlung nicht nötig gewesen, denn in seiner echten Gestalt war Sahir nur eine Handbreite kleiner als ein Mensch. Dafür wucherten die Brauen über seinen Augen nach Zwergenart weiter, bis sie wie ein dicker Balken darüberstanden. Auch der Blick aus seinen Augen wurde stechender, wie man es bei einem Zwerg nach nahezu zweihundertfünfzig Lebensjahren erwartete.

Trotz seiner Ehrfurcht gebietenden Erscheinung wagte Sahir in der Finsternis seiner Schlafkammer kaum zu atmen. Das Geräusch war ihm zunächst wie die Beigabe zu seinem Traum vorgekommen. Doch dann hatte ihn etwas die Augen öffnen lassen, vielleicht der ungewöhnlich harte Kiel einer Daune oder das knarzende Bett. So hatte das Geräusch seiner Kammer ein hörbares Echo gefunden.

Da. Noch mal. Das Zischen drang deutlich durch die Kammertür. Es konnte niemals von einem irdischen Ding stammen! Waren einmal mehr Gnome und Kobolde auf ihn aufmerksam geworden? Das Unterweltgesindel bekam ja nie genug von den Kostbarkeiten, die die Zwerge den Bergen abtrotzten. Es wäre fatal gewesen, wenn sie ausgerechnet jetzt gekommen wären, um sich kichernd und fauchend seiner Schätze zu bemächtigen!

Rasch verließ Sahir sein Bett, schlüpfte leise in seine Hose und tappte auf bloßen Füßen zu der Tür, die die Werkstatt von der Schlafkammer trennte. Auf den splittrigen Dielen wären Holzschuhe gut gewesen, doch das Gesindel hatte nicht nur lange Finger, sondern auch gute Ohren. Das hatte wiederum den Vorteil, dass die winzigen Kobolde schon die Flucht ergriffen, wenn man geringfügig die Stimme hob. Der Krach machte sie schier verrückt.

Eine Kerze hätte ich brauchen können, um sie zu erschrecken, fiel Sahir auf halbem Weg ein. Doch er war Zwerg genug, um sich auch so gegen das lichtscheue Volk durchzusetzen. 

Beherzt drückte er die Klinke hinunter, schob die Tür auf und sagte mit tiefer Stimme: »Na, was haben wir denn …« 

Sahir verstummte. 

Wie ein boshaftes Drachenauge blinzelte ihn der feurige Schlitz der Sturmlaterne an. Eine Gestalt kniete in der Ecke und zog die mit Eisen beschlagene Falltür im Boden auf, als hätte sie kein Gewicht. Mit spinnendünner Hand holte sie eine Schatulle herauf. 

Nein, verbesserte Sahir sich wutentbrannt, es war die Schatulle, die dieses Geschmeiß mit seinen schmutzigen Fingern zu berühren und - er schnappte nach Luft - sogar zu öffnen versuchte!

»Hinfort!«, brüllte Sahir und stürzte sich auf den Eindringling. 

Das Wesen fuhr herum. Sahir erkannte das kalte, leblose Zischen dieser Chimäre, die halb Nachtmahr, halb Mensch zu sein schien und bedauerte, dass er nicht wenigstens einen Knüppel mitgenommen hatte. 

Die Chimäre entfaltete sich in ihrer knochigen Spinnenhaftigkeit zu doppelter Größe. Sie schoss auf Sahir zu, bevor er auch nur die Faust gegen sie heben konnte, und raste modrig und tot über ihn hinweg. 

Hitze schlug Sahir wie Lava entgegen. Ehe ihm die Sinne schwanden, hörte er das Schmatzen ihres Hinterleibs, als die Chimäre ihren Stachel ausfuhr. Der Stich traf ihn mitten ins Herz …

***

Frau Daliborka

Das Telegramm erreichte Frau Daliborka in Johannisbad zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt im Frühstücksraum des Sanatoriums »Goldene Aussicht«. Sie pflegte um diese Zeit ein Glas Steintrunk zu sich zu nehmen, wobei es sich um mit seltenen Silikaten versetztes Quellwasser handelte. Es diente zur Stärkung des allgemeinen Wohlbefindens. Derzeit stärkte es die Damasttischdecke, weil Frau Daliborka das Glas zu heftig abgestellt hatte.

Der herbeigeeilte Kellner drückte nervös seine Serviette auf die Lache auf dem Tisch. »Ich bin untröstlich, Gnädigste, wirklich untröstlich«, murmelte er fortwährend. 

»Wieso?«, verlangte Frau Daliborka irritiert zu wissen.

»Ich hätte der Baronka diese Nachricht mit mehr Rücksicht auf Ihre Gesundheit überbringen müssen.« Der Kellner wagte kaum, den Kopf zu heben. »Gegen Mittag wäre es sicher angemessener gewesen.«

»Dummes Zeug!« Nachlässig betupfte Frau Daliborka ihre Bluse. »Mach die Motorkutsche fertig!«

Die Motorkutsche, nicht die Pferdedroschke! Das bedeutete wirklich nichts Gutes. »Belieben Gnädigste mitzuteilen, wohin Sie die Motorkutsche zu lenken gedenkt?«

»Nach Pardubitz mit Zwischenstopp in Königshof an der Elbe. Von dort werde ich den Zug nehmen. Telegrafier schon einmal meine Ankunft. Und ein Zugbillett sollst du auch gleich buchen. Nach Berlin Hauptbahnhof.«

»Sehr wohl«, murmelte der Kellner und entfernte sich. Nun war er vollends beunruhigt.

Achtlos ließ Frau Daliborka das Telegramm fallen, um sich wieder ihrem Frühstück zu widmen. Es segelte unter den Tisch in die Pfütze aus Silikatwasser, weichte auf und wurde unleserlich. Die Nachricht war so erschreckend wie einfach zu verstehen: 

CHIMAERE WERKSTATT S ALTıN BERLIN DIEBSTAHL DRINGEND UNTERSUCHUNG EINLEITEN GEZ DEZERNAT WIEN

Es war höchste Eile geboten. Aber bevor der Page ihre Koffer gepackt hatte, konnte Frau Daliborka sowieso nichts unternehmen. In aller Ruhe blieb sie am gedeckten Tisch sitzen und schnitt noch eines von den warmen Brötchen auf, die Sabella jeden Morgen nur für sie buk. Auf ihre gute Küche würde Frau Daliborka nun eine Weile verzichten müssen. Auch den Steintrunk würde sie nicht ohne Weiteres in jedem Gasthaus bekommen. Das lag an den Erden abseits der Felsdome, die für ihre Bedürfnisse schlicht nicht die richtigen Salze hergaben. Und von der Bodenbeschaffenheit in Berlin wollte sie gar nicht erst anfangen. 

Berliner Bier lässt auch sehr zu wünschen übrig, spann sie ihre Gedanken weiter. Immerhin gab es dort seit Neuestem Feigenkaffee. Eine entfernte Cousine namens Nadeshda Commerciante mit Sitz in den Berghöhlen der Paganella bei Trient hatte ihn erfolgreich über die Alpen gebracht. Wenn es stimmte, was man sich erzählte, war sie wegen ihrer Geschäfte wochenlang oberirdisch unterwegs gewesen. 

Vorsichtig kostete Frau Daliborka von der Fragariapaste. Köstlich! Sabella musste ihr unbedingt ein Glas davon mitgeben.

Dass Frau Daliborka nun ebenfalls den oberirdischen Weg nach Berlin nehmen musste, gefiel ihr überhaupt nicht. Für sie, eine Montanwissenschaftlerin aus einer uralten Familie und damit befugt, das Allerheiligste der Universität zu Prag zu betreten, war es geradezu anrüchig, sich dem Sonnenlicht auszusetzen. Doch die nicht enden wollenden Konflikte der Menschen zerstörten nach und nach die Welt unter der dünnen Erdkruste. Über Meilen und Meilen waren in den letzten Jahren die unterirdischen Zwergenrouten unpassierbar geworden. Es würde Jahrzehnte dauern, sie wieder befahrbar zu machen. Und ob man aufgrund der kriegerischen Natur des Nordischen Bundes jemals wieder ein funktionierendes Tunnelnetz bis Paris würde herstellen können, nun. Das würde sich hoffentlich bald zeigen.

Frau Daliborka trank den Steintrunk mit einem Zug aus. Es wurde allmählich Zeit zum Aufbruch. 

»Marian! Wo ist mein Gepäck? Wir müssen fahren!«

Wie aus dem Boden gewachsen erschien der Kellner neben ihrem Tisch und verbeugte sich tief. »Gnädigste, der Page benötigt noch einen Augenblick.«

»Dann soll er diesen Augenblick nicht ausreizen oder er wird mich kennenlernen!« So würdevoll wie möglich rutschte sie von ihrem Stuhl. Da sie selbst für eine Zwergin klein geraten war, gelang es ihr nicht ganz. Das war auch so ein Umstand, den sie lieber heute als morgen geändert hätte: speziell eingerichtete Sanatorien und Hotels nur für Zwerge, statt ihr Volk durch Hintereingänge und Falltüren in die Herbergen einzulassen. Als ob man sich der Hüter der Berge schämen musste!

Andererseits, dachte sie, während sie zum Aufzug eilte, war es dafür in manchen Gegenden wohl immer zu früh oder unpassend oder unmöglich. 

»Dritter Stock«, herrschte sie den Pagen an, der gehorsam den Hebel umlegte. Sanft schwebte die Kabine nach unten und kam mit einem kleinen Ruck im dritten Stollen unterhalb des Hotels zum Stehen. 

»Huang!«, schrie Frau Daliborka schon beim Aussteigen. »Huang, Wir müssen los!«

Eine Zimmertür öffnete sich, die ein Mensch als zu niedrig empfunden hätte. »Was macht Gnädigste für einen Krach zu dieser frühen Stunde?«, beschwerte sich Herr Stempelmacher, Angehöriger der Tessiner Sippe und ihr gegenüber immer eine Spur respektloser als andere Untergebene ihres Stabes.

»Kein Krach, ein Notfall«, antwortete Frau Daliborka nicht eben leiser. »Eine Chimäre hat einen Hüter im Norden Berlins überfallen!«

»Chimären?« Herr Stempelmacher erblasste um seinen gepflegten Backenbart herum. »Was gedenkt Baronka zu tun?«

Frau Daliborka war schon vorbeigeeilt und rief über die Schulter: »Wir fahren nach Berlin! Herr Stempelmacher wird in Pressburg vorstellig und ruft den Krisenstab zusammen. Parallel hält Er Uns über die Entwicklungen per Depesche auf dem Laufenden!«

»Zu Befehl!«, brüllte Herr Stempelmacher. Seine Respektlosigkeit unterstreichend knallte er die Zimmertür zu und begann unverzüglich, sich anzukleiden. 

»Huang!«, schrie Frau Daliborka mit sich überschlagender Stimme. »Wir müssen los!«

Einem geheimen Kommando folgend, öffneten sich weitere Kammern. 

Wumm! Wumm! Wumm! 

Den ganzen langen Stollen Nummer drei bis zum Quergang knallten dunkle Eichentüren gegen steinige Felswände. Die übrigen Gäste, durchweg Zwerge aus Frau Daliborkas Stab, waren erwacht. Im Nu glich Stollen 3 dem Prager Wochenmarkt. Kurz darauf waren alle Stollen unterhalb des »Goldenen Ausblicks« leer. Nur die Goldstücke auf den Nachtschränkchen neben den Betten zeugten davon, dass hier heute Nacht eine Zwergengesandtschaft der Sektion Riesengebirge Quartier genommen hatte. 

***

Sibylle

Es brauchte nicht viel, um Sibylle am Morgen zurück in die Welt zu holen. Ein paar Atemzüge am offenen Fenster im Morgengrauen, je nach Jahreszeit ein bisschen Nebel und Wind genügten, und sie war wach. Doch das bedeutete nicht, dass sie vorher freiwillig aus den Federn stieg. 

Stöhnend wälzte sie sich auf die andere Seite und zog die Daunendecke wieder über den Kopf. Ihr Versuch, Barbara mit dieser dummen Séance zu zeigen, dass sie einen Irrweg eingeschlagen hatte, war gescheitert. Es hatte nicht mal zu einem netten Abend mit Klara und dem jungen Monsieur Orell aus Frankreich gereicht. Jedenfalls konnte Sibylle sich nicht daran erinnern. Und nun vermischte sich auch noch das Ticken ihres Weckers mit den schlimmen Kopfschmerzen, die sich wie ein Eisenband um ihre Stirn zogen. Das Brennen in den Augen machte die Sache nicht erträglicher. 

Seufzend schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf. Ihr schwindelte, als hätte sie am vergangenen Abend zu viel von dem guten Wein getrunken, den Klara kredenzt hatte, bevor sie sich diskret zurückzog, damit Sibylle und Sahir … Sibylle stöhnte, dieses Mal wegen des pochenden Schmerzes, der sich hinter ihren Schläfen manifestierte.

»Wieso Wein?«, murmelte sie. »Und wieso Sahir?« Ihre Zunge kam ihr seltsam trocken vor. Wie Leder. Der Graveur Sahir Altın hatte doch abgelehnt zu kommen, was sie übrigens tief getroffen hatte. Aber das würde sie allerhöchstens sich selbst eingestehen, niemals Barbara oder gar Anna. Barbara würde sich sonst in ihren spiritistischen Bemühungen bestärkt fühlen und die Geister für Sibylle um Unterstützung bitten! 

Nein, stimmt ja gar nicht, korrigierte Sibylle sich erneut. Barbara hatte es nicht geschafft, Sahir Altın einzuladen, weil er, so seine Begründung, derzeit sehr viele Aufträge von hohen Häusern abzuarbeiten hätte und kaum zum Schlafen kam. Oder hatte er angeekelt den Mund verzogen und Barbara aus seiner Werkstatt geworfen, weil ihm der Gedanke an eine spiritistische Sitzung zu absurd erschien? Sibylle hätte ihn selbst aufsuchen und ihm mit einem verschämten Lachen gestehen sollen, dass sich dahinter eine Rosskur bezüglich Barbaras esoterischen Neigungen verbarg. Aber wieso erinnerte Sibylle sich dann an seinen Kuss wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, den er ihr auf die Nasenspitze gehaucht hatte? Eins stand jedoch fest: Im Bett würde sie die Antworten darauf nicht finden. 

Mit schweren Gliedern stemmte sie sich hoch und kleidete sich an. Sie rätselte immer noch, als sie das Hinterzimmer der Bierstube betrat, um die Spuren des vergangenen Abends zu beseitigen. Doch anscheinend war jemand schneller gewesen, denn es war sauber und aufgeräumt. Sogar das Wolltuch hatte dieser Jemand vom Zierbuffet genommen. Und auch im Schankraum hatte der Jemand bereits die Stühle heruntergenommen und ordentlich an die Tische gestellt.

Einen Moment kam Sibylle der Verdacht, sie hätte die Séance mit dem geheimnisvollen Monsieur Orell nur geträumt. Ihr verliebtes Herz hatte ihr das alles wohl nur vorgegaukelt, weil sie Barbara zu ein bisschen mehr Realismus verhelfen wollte und sich die Erfüllung Ende ihres Verlangens nach dem Graveur wünschte. Und Sahir hatte sie nicht geküsst … 

»Guten Morgen!«

Die Stimme der Aushilfe Anna riss sie aus ihren verworrenen Gedankengängen. Erschrocken drehte Sibylle sich zu ihr um. »Was machst du denn schon hier?«

Verblüfft ließ Anna die kleine Kehrschaufel sinken. »Ich sollte doch wie immer erst das Trottoir kehren. Und dann hier alles in Ordnung bringen, bevor Sie die Bierstube öffnen. Frau Barbara hatte mir extra aufgetragen, dass ich …«

»Jajaja.« Überfordert winkte Sibylle ab. »Ich weiß, was Barbara dir aufgetragen hat. Also hast du hier schon aufgeräumt. Fein.« 

»Ja«, bestätigte Anna. »Hätte ich denn damit warten sollen?«

Dieses dumme Ding, dachte Sibylle aufgebracht. Kann es nicht wenigstens einmal den Mund halten? Wie rücksichtslos, mich mit so vielen Fragen zu bombardieren! »Es ist gut, Anna«, tadelte Sibylle sie scharf. »Du bist ein fleißiges Mädchen und Frau Barbara wird dich dafür sicher loben.« 

Anna lächelte erleichtert. »Dann ist es ja gut. Ich hatte schon Angst, dass …«

»Anna!«

Der Mund der jungen Frau klappte zu. Die Migräne, die Sibylle so sehr plagte, dass sie die Augen kaum offenhalten konnte, ließ augenblicklich nach. Anna kann ja doch schweigen, stellte sie fest und fragte sich, warum sie heute so empfindlich auf das Mädchen reagierte. »Ich nehme an, du hast auch das Geschirr schon weggeräumt, ja?«

»Ja«, antworte Anna mit ausdruckslosem Gesicht. »Alle fünf Gedecke.«

Die Anspielung auf den fern gebliebenen Graveur schwang nur für Sibylle mit. »Dann geh jetzt wieder an deine Arbeit und räum im Schankraum auf.«

»Das habe ich schon getan, Frau Sibylle«, widersprach Anna verlegen.

Sibylle hielt inne. Mühsam drang die Erinnerung an die letzten Minuten durch den Nebel hinter ihren Augen. Sie hatte es vergessen! War sie etwa in einem weiteren zerfahrenen Traum gelandet? Es musste an dieser schrecklichen Migräne liegen …

»Frau Sibylle, darf ich Sie etwas fragen?« 

Anna sprach so artig, dass Sibylle am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Dieses gute Mädchen, es war ihr trotz der vielen Schwächen doch sehr ans Herz gewachsen. 

»Natürlich, liebe Anna. Sprich frei.«

»War nicht auch der werte Herr Graveur eingeladen?«

Wieder schoss das Blut in Sibylles Wangen, dieses Mal vor Ärger. Was ging das diese schreckliche Göre an? 

»Er konnte leider nicht kommen.« Mit der Würde, die sie in ihrer Verfassung noch aufbrachte, tat sie so, als inspizierte sie Tisch und Stühle. 

»Aha«, meinte Anna. »Schade. Er würde gut zu Ihnen passen, Frau Sibylle, wenn ich das sagen darf.«

Leider konnte Sibylle nicht verhindern, dass die Gesichtsröte nun auch ihre Ohren ergriff, die wie Pfingstrosen erblühten. »Das hat dich nicht zu interessieren. Und nun hopp, in die Küche! Barbara wartet schon auf dich. Ich muss mich um unseren Gast kümmern.«

Das erneute Zögern der jungen Frau machte Sibylle rasend. Sie wollte schon losschimpfen, da meinte Anna sehr, sehr leise: »Welcher Gast?«

»Monsieur Orell aus Frankreich!«, rief Sibylle fassungslos. Ja, bekam denn diese Person gar nichts mit? Annas stutziges Gesicht brachte sie nur noch mehr in Rage. »Du hast doch gestern für ihn das Gästezimmer hergerichtet, wie ich es dir befohlen hatte! Wie kannst du das nur vergessen?«

»Das habe ich nicht«, gestand Anna. »Weil Sie mir nichts davon gesagt haben, Frau Sibylle.«

»Halt mich nicht zum Narren!«, rief Sibylle schrill.

Verschüchtert drehte Anna die Ecke ihrer Schürze um den Zeigefinger. »Aber als ich heute Morgen am Gästezimmer vorbeiging, stand die Tür offen. Das Bett war nicht bezogen und es war auch kein Gast darin.«

Hatte Sibylle sich den gestrigen Abend etwa doch nur zusammenfantasiert? »Ich muss nachschauen«, murmelte sie und eilte zur Stiege in den ersten Stock. Das hatte sie nun von ihrem Wunsch, Barbara zu bekehren. Sie konnte sich nicht einmal mehr auf ihre eigenen Erinnerungen verlassen! 

Unten hörte Anna ihren erstaunten Ausruf mit unbewegter Miene. »Das ist nicht möglich!«

»Was ist nicht möglich?«, antwortete die Stimme von Frau Barbara oben. 

»Wo ist unser Gast? Herr Orell? Er sollte doch die Nacht bei uns verbringen!« Und weil ihr alles zu viel wurde, brach Sibylle in Tränen aus. 

Unten drehte Anna weiter die Ecke ihrer Schürze um den Finger. 

»Aber davon war doch nie die Rede«, redete Barbara oben beruhigend auf Sibylle ein. »Ich habe ihm das Geld noch gestern Abend gegeben, weil er gleich wieder wegfahren wollte.«

»Meine Nerven!«, schluchzte Sibylle. »Ich bekomme einen Zusammenbruch!«

»Nein, nein, das tust du nicht«, widersprach Barbara. »Denn du wirst brav mit mir hinuntergehen und Bier und Wein und Kaffee ausschenken wie jeden Tag. Komm.«

Die hölzernen Bohlen knarrten bei jedem Schritt der beiden Frauen. Vorneweg schritt Barbara sehr ernst, gefolgt von der schluchzenden Sibylle. »Bete drei zusätzliche Vaterunser, dann wird schon alles in Ordnung kommen«, sagte Barbara leichthin. »Guten Morgen, Anna!«

»Guten Morgen.« Rasch knickste die Aushilfe. Sie hatte keine Ahnung, warum die beiden Frauen so angespannt und aufgelöst waren. Von welchem Gast redeten sie?

Würdevoll nickte Barbara ihr zu. »Sag mal, Anna, was waren das gestern eigentlich für Biskuits?«

Nun kamen auch Anna Zweifel an ihrer Erinnerung. »Wie meinen?«

»Na, die Plätzchen, die du bereitgestellt hattest. Die waren wirklich deliziös, aber ich habe sie wohl nicht vertragen. Mir war nach dem ersten Bissen ganz blümerant.«

Jetzt fing Frau Barbara auch noch damit an! Doch es war wohl besser, wenn Anna mitspielte, bevor Frau Barbara so wütend wurde, dass sie die hölzerne Elle herausholte. »Die waren nicht von mir. Die muss dieser Monsieur Orell mitgebracht haben.«

»Hm«, machte Barbara unschlüssig.

»Er hat also nicht hier genächtigt«, stellte Sibylle überflüssigerweise fest. »Er hat sich nicht einmal richtig verabschiedet!«

»Von mir schon«, meinte Barbara. »Und jetzt Schluss damit, lasst uns arbeiten!« Entschlossen klatschte sie in die Hände und ging den kurzen Gang hinüber in die kleine Küche der Bierstube. 

Anna konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch der Esoterikanhängerin Frau Barbara der gestrige Abend nicht bekommen war. Vielleicht war es sogar von Vorteil gewesen, dass Anna nicht bei der Séance hatte dabei sein dürfen. Wenn sie danach auch so verwirrt gewesen wäre wie Frau Sibylle und Frau Barbara, dann hätten die Gäste der Bierstube sicher etwas zu lachen bekommen.

»Lassen wir es gut sein«, murmelte Sibylle. Glühende Feuerräder drehten sich vor Sibylles Augen. Die Kopfschmerzen fraßen sich durch ihren Schädel wie ein blutgieriger Alligator. »Wir hatten einen interessanten Abend mit Herrn Orell. Und nun, mein Mädchen, frisch ans Werk! Lass uns unserem Herrn und Gott einen guten Tag bereiten.«

»Jawohl, Frau Sibylle.« Anna ließ den Kopf hängen und tappte davon. Sie verstand nun gar nichts mehr.

Schwach vor Übelkeit ließ Sibylle sich auf die unterste Stufe der Treppe sinken. Wäre ihr jedoch das listige Funkeln in Annas Augen aufgefallen, hätte sie dem Mädchen eine heftige Ohrfeige versetzt.

***

Sir Elliot of Waterford

In vielerlei Hinsicht befand sich Sir Elliot of Waterford, Sohn von Amarell of Waterford, in der Zwickmühle. Schon lange wartete er darauf, endlich den Ruf des Kontinents zu vernehmen, denn London begann, ihn zu langweilen. Doch die Dunkelheit zog ihn immer noch auf die andere Seite der Themse, wie er es nannte. Besonders des Nachts fand er kaum Ruhe in den geschützten Räumen der königlichen SFERA-Dependance. Stundenlang wanderte er durch die unendlichen Flure und versuchte, die Erinnerungen aus der Hölle in den Himmel seiner Hoffnungen zu überführen. Übermäßiger Schlaf war zwar bei den Angehörigen seiner Art nicht üblich, aber mit seinen Wanderungen unterbot er selbst den Bedarf des Obersten seines Volkes, den Wächter der Träume.

Es war um die siebte Morgenstunde, als er das Bureau des vorgesetzten Beamten Sir Morrogoth of Cumbria betrat. Heute, so erkannte Sir Elliot am Talar des Edlen, würde er auf Reisen gehen.

»Mein Weg führt mich nach Venedig«, erwähnte Sir Morrogoth nach der Begrüßung beiläufig. »Und damit viel zu weit weg von den Ereignissen in Berlin. Ich fürchte, mein lieber Elliot, dass Ihr mich dort vertreten müsst.«

»Ich fühle mich dazu nicht in der Lage«, gab Sir Elliot unumwunden zu. »Die Agonie hat mich noch nicht gänzlich freigegeben.«

In Gedanken überschlug Sir Morrogoth die Jahre, die Elliot bereits in der Dependance darauf wartete, dass die Schatten von ihm abfielen. Es mussten sehr viele sein, denn der Edle konnte sich nicht daran erinnern, Sir Elliot einmal aufrecht und mit einem Lächeln herumspazieren zu sehen. 

Er fasste einen Entschluss. »Die Agonie wird Euch auch weiterhin beugen, wenn Ihr nicht entschieden gegen sie antretet. Ich halte deshalb an meinem Befehl fest und entsende Euch als Agent in die Berliner Dependance, um die Aufklärung des Falls zu begleiten.« Sein Lächeln kam von Herzen. »Es wird Euch dort gefallen! Die Spree ist zwar nicht halb so beeindruckend wie unser Mutterfluss, die Themse. Aber Ihr werdet an den fremden Ufern Eure Freude wiederfinden. Das verspreche ich Euch.«