Verhaltensexperimente - Ulrich Stangier - E-Book

Verhaltensexperimente E-Book

Ulrich Stangier

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Beschreibung

Verhaltensexperimente sind eine der wirkungsvollsten Interventionsmethoden in der kognitiven Therapie. Zentrales Prinzip ist die Kombination von Erfahrungs- und Einsichtslernen: Es geht darum, Überzeugungen in realen Situationen zu überprüfen, um anschließend die erwarteten und beobachteten Auswirkungen in der Therapie zu reflektieren. Der Band liefert einen Leitfaden zur Planung und Durchführung von Verhaltensexperimenten und schließt damit eine Lücke im deutschsprachigen Raum. Der Band schildert das praktische Vorgehen in der Therapie und gibt Anregungen, wie Verhaltensexperimente in den Behandlungsprozess eingebettet werden können. Von besonderer Bedeutung ist die Vorbereitung von Verhaltensexperimenten. Sie dient nicht nur der Motivierung, sondern soll auch helfen, möglichen Verzerrungen durch ungünstige Verarbeitungsweisen und Sicherheitsverhalten vorzubeugen, um eine möglichst unverfälschte Sichtweise der Erfahrung zu ermöglichen. Das Buch stellt Verhaltensexperimente anhand exemplarischer Fallvignetten für eine Vielzahl von Störungen und Problembereichen vor, unter anderem für Grübeln, Angst vor Ablehnung, negatives Selbstwertgefühl, Hoffnungslosigkeit, Angst vor Peinlichkeit, Kontrollverlusterleben, Fehlinterpretation von Körpersymptomen, exzessives Kontrollstreben, negative Zukunftserwartungen, Wiedererleben bei Traumatisierung, eingebildete Hässlichkeit, paranoides Denken und maladaptive positive Affekte.

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Ulrich Stangier

Verhaltensexperimente

Standards der Psychotherapie

Band 12

Verhaltensexperimente

Prof. Dr. Ulrich Stangier

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Die Reihe wurde begründet von:

Martin Hautzinger, Kurt Hahlweg, Jürgen Margraf, Winfried Rief

Prof. Dr. Ulrich Stangier, geb. 1958. 1978 – 1984 Studium der Psychologie in Frankfurt. 1984 – 1987 Promotionsstipendium der Hessischen Graduiertenförderung. 1987 Promotion. 1987 – 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Hautkrankheiten der Universität Marburg. 1993 – 2000 Hochschulassistent am Institut für Psychologie der Universität Frankfurt. 2000 Habilitation. 2000 – 2004 Hochschuldozent am Institut für Psychologie der Universität Frankfurt. 2004 – 2008 Professur für Klinisch-psychologische Intervention an der Universität Jena. Seit 2008 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Frankfurt.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3113-0; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3113-1)

ISBN 978-3-8017-3113-7

https://doi.org/10.1026/03113-000

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„Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden. Beides muß wie Aus- und Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wider bewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andre nicht stattfinden. Wer sich zum Gesetz macht, was einem jeden Neugebornen der Genius des Menschenverstandes heimlich ins Ohr flüstert, das Tun am Denken, das Denken am Tun zu prüfen, der kann nicht irren.“

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre II, 9

Inhaltsverzeichnis

Zitat/e

1  Beschreibung der Methode

1.1  Definition

1.2  Abgrenzung von anderen Methoden

1.3  Herausforderungen

2  Theoretischer Hintergrund

2.1  Kognitives Modell

2.2  Informationsverarbeitungsmodell

2.3  Experimentieren als humanistisches Lebensprinzip

2.4  Verhaltensexperimente als Erfahrungslernen

2.5  Das prozessbasierte Modell

2.6  Eine integrative Sichtweise von Veränderungsprozessen

3  Diagnostik, Indikation und Beziehungsgestaltung

3.1  Diagnostik und Indikation

3.2  Therapeutische Beziehung

3.3  Ableitung eines prozessbasierten Erklärungsmodells

3.4  Klärung von Zielen und Werten

4  Praktische Durchführung

4.1  Zielsetzungen von Verhaltensexperimenten

4.2  Varianten im Vorgehen und bezüglich des gewählten Settings

4.3  Planungsphase

4.3.1  Konkretisierung maladaptiver und adaptiver Überzeugungen

4.3.2  Festlegung des Kontexts

4.3.3  Formulierung einer kontextspezifischen Erwartung

4.3.4  Festlegung des Experiments

4.3.5  Förderung der Annäherungsmotivation

4.4  Durchführungsphase

4.4.1  Verhaltensexperimente im Therapiesetting

4.4.2  Verhaltensexperimente „in vivo“

4.4.3  Verhaltensexperimente als Hausaufgaben

4.5  Nachbereitungsphase (Auswertung und Reflexion)

4.6  Generalisieren: Experimentieren, Neugier, Offenheit

5  Verhaltensexperimente zu ausgewählten Problembereichen

5.1  Grübeln und Angst vor Ablehnung (Depression)

5.2  Hoffnungslosigkeit (Depression)

5.3  Negativer Selbstwert (Depression)

5.4  Angst vor Peinlichkeit, Selbstaufmerksamkeit, Sicherheitsverhalten (Soziale Angststörung)

5.5  Kontrollverlust und Hilflosigkeit (Panik und Agoraphobie)

5.6  Fehlinterpretation von Körpersymptomen (Krankheitsangst)

5.7  Exzessives Kontrollstreben (Zwang)

5.8  Negative Zukunftserwartungen (Generalisierte Angststörung)

5.9  Wiedererleben und Emotionsregulation infolge Traumatisierung (Posttraumatische Belastungsstörung)

5.10  Überzeugung, hässlich zu sein (Körperdysmorphe Störung)

5.11  Exzessiver Alkoholkonsum (Substanzmissbrauch)

5.12  Perfektionismus bei restriktivem Essverhalten (Anorexie)

5.13  Übermäßiges sexuelles Verlangen und Überlegenheitsdenken (Narzissmus)

5.14  Paranoides Denken und Misstrauen (Paranoide Persönlichkeitsstörung)

5.15  Maladaptive Regulation negativer Affekte und Selbstverletzung (Borderline-Persönlichkeitsstörung)

5.16  Maladaptive Regulation positiver Affekte (Bipolare Störung)

6  Schwierigkeiten bei der Durchführung von Verhaltensexperimenten

7  Stand der Forschung und empirische Evidenz

8  Ausblick

9  Weiterführende Literatur

10  Literatur

11  Kompetenzziele und Lernkontrollfragen

12  Anhang

Explorationsschema eines prozessbasierten Erklärungsmodells

Arbeitsblatt: Prozessbasiertes Erklärungsmodell

Arbeitsblatt: Klärung persönlicher Werte (modifiziert nach Eifert & Forsyth, 2005; Risch et al., 2011)

Arbeitsblatt: Verhaltensexperiment

Arbeitsblatt: Verhaltensexperiment (mit Erklärung)

Arbeitsblatt: Verarbeitungsexperiment

|3|1  Beschreibung der Methode

1.1  Definition

Experimente dienen in der Wissenschaft dem Nachweis, ob Hypothesen zutreffen. Ein Experiment ist ein Versuch, durch den eine Hypothese bestätigt oder widerlegt werden soll. Nicht anders ist die Definition von Verhaltensexperimenten. Aus den individuellen Überzeugungen werden Erwartungen für bestimmte Situationen abgeleitet, die durch Beobachtungen oder Handlungen in der Lebensrealität gezielt überprüft werden. Stimmen die empirischen Beobachtungen mit der Überzeugung überein, dann unterstützt dies den Wahrheitsgehalt der Überzeugung; stimmen sie nicht überein, ist die Überzeugung zu revidieren. Im philosophischen Sinn entstammen Verhaltensexperimente dem Empirismus: Beobachtung und Erfahrung geben uns Auskunft darüber, ob eine Überzeugung bzw. Erkenntnis gerechtfertigt ist.

Verhalten ist Mittel zum Zweck: Bestimmte Handlungen werden ausgeführt, um anhand der Auswirkungen gezielt Informationen zu sammeln, die für die Überzeugung relevant sind, dafür bzw. dagegen sprechen. Verhaltensexperimente zählen somit zu den Verfahren der kognitiven Umstrukturierung: Sie zielen darauf ab, durch Erfahrungen, d. h. durch Experimentieren, Überzeugungen zu verändern, die Leiden verursachen.

Definition

Verhaltensexperimente sind „geplante erlebnisorientierte Aktivitäten, die auf Experimentieren oder Beobachtung basieren“ (Bennett-Levy et al., 2004, S. 8; Übers. vom Autor). Diese leiten sich unmittelbar aus dem Erklärungsmodell des Problems ab und zielen darauf, neue Erfahrungen zu sammeln, die zur Überprüfung und Modifikation bestehender Überzeugungen der Patient:innen beitragen.

Nicht immer sind jedoch aus Überzeugungen klare Hypothesen abzuleiten, zum Beispiel, weil Erfahrungen aufgrund von Vermeidung der Situation fehlen oder nur vage Überzeugungen formuliert werden können. In diesem Fall sind Verhaltensexperimente nicht auf die Testung von Hypothesen ausgerichtet, sondern auf die Beobachtung von Reaktionen oder dem Entdecken von |4|Zusammenhängen. Offene Verhaltensexperimente dienen somit dem Ziel, neue Erfahrungen zu sammeln und hieraus Erkenntnisse abzuleiten. Dieser zweite Typ von Verhaltensexperiment ist somit stärker an Erfahrungslernen und Persönlichkeitsentwicklung orientiert.

Fallbeispiel

Eine Patientin mit chronischer Depression hatte die Überzeugung, dass andere Menschen sie als egoistisch ablehnen würden, wenn sie eigene Interessen äußern würde. Sie fühlte sich deshalb sehr verletzlich und vermied es, offen für ihre persönlichen Rechte einzutreten. Mit einer Nachbarin, die sie an sich sympathisch fand, gab es einen Anlass, der eine Kette von negativen Gedanken zur Folge hatte. Eines Tages stand auf dem Flur vor der Wohnung ein kleiner Tisch, der sie störte. Sie empfand dies als rücksichtslos und stellte den Tisch in den Keller. Tagelang grübelte sie über die mögliche Reaktion der Nachbarin und vermutete, dass diese wegen der „eigenmächtigen“ Beseitigung des Tischs wütend auf sie sei. In der Therapie wurde herausgearbeitet, dass diese Situation typisch für die großen Belastungen sei, die zwischenmenschliche Konfliktsituationen in ihrem Leben haben, und dass sie sich grundsätzlich eine selbstbewusstere Klärung solcher Probleme wünschen würde. Jedoch war sie der festen Überzeugung, dass sie sich den Angriffen der Nachbarin aussetzen würde, wenn sie sie darauf ansprechen würde. Andererseits konnte sie nachvollziehen, dass die Kette von negativen Erwartungen im Widerspruch zu ihrem ansonsten positiven Eindruck der Nachbarin stand. Auf dieser Grundlage wurde die alternative Interpretation entwickelt, dass die Nachbarin den Tisch nur vorübergehend rausgestellt hatte, um ihn abzutransportieren.

Sie willigte in ein Verhaltensexperiment ein, in dem sie die Nachbarin auf den Tisch ansprechen und ihr mitteilen wollte, dass sie selbst den Tisch weggestellt hatte, weil dieser sie gestört hatte. Ihre Erwartung war, dass die Nachbarin sehr ärgerlich reagieren und ihr Verhalten unverschämt finden würde. Obwohl sie eine fast unerträgliche Spannung empfand, setzte sie am nächsten Tag das Verhaltensexperiment um. Zu Ihrer Überraschung reagierte die Nachbarin verständnisvoll; sie entschuldigte sich und erzählte, dass ihre Tochter den Tisch rausgestellt hatte, um diesen in ihre Wohnung mitzunehmen. Die Patientin war sehr erleichtert, und es entwickelte sich noch ein angeregtes Gespräch über die beruflichen Pläne der Tochter. In der nächsten Therapiesitzung wurde dieses unerwartete Ergebnis analysiert. Die Patientin fand die Erfahrung hilfreich, um die Erwartung von Ablehnung durch andere zukünftig mehr infrage zu stellen und davon auszugehen, dass sie zwischenmenschliche Konflikte besser lösen kann, als sie bislang glaubte.

|5|Das Beispiel verdeutlicht einige Merkmale von Verhaltensexperimenten.

Begründung in einem Erklärungsmodell: Vorhersagen beruhen auf Annahmen, wie Kontext, Erleben und Handlungen zusammenhängen. Ohne Bezug zu einem individuellen Erklärungsmodell des Problems würden die Ergebnisse für Patient:innen möglicherweise keine persönliche Relevanz haben. Zum Beispiel ist es für die Patientin aus dem Fallbeispiel weniger relevant, herauszufinden, ob sie peinlich wirkt, wenn sie im Gespräch nicht die richtigen Worte finden sollte.

Planung: Handlungen werden vorher so festgelegt, dass Zusammenhänge überprüfbar werden. Bei der Planung ist auch zu berücksichtigen, nach welchen Kriterien die Ergebnisse eindeutig interpretiert werden können. Dies ist weder bei spontanen Handlungen gewährleistet noch bei nachträglicher Umbewertung von Handlungen in Verhaltensexperimente. Zufällig von der Tochter der Nachbarin zu erfahren, dass sie den Tisch weggestellt hatte, wird nicht helfen, die Erwartung von Ablehnung zu überprüfen.

Erfahrung: Die Überprüfung von Annahmen anhand realer Erfahrungen ist mit einer höheren Evidenz verbunden als die rationale Analyse. Allerdings kann der Erkenntnisgewinn durch Verzerrungen in der Wahrnehmung und Verarbeitung der Erfahrung beeinträchtigt werden. Würde sich die Patientin auf ihre Anspannung oder Erinnerungen an vergangene Konflikte konzentrieren, würde die Interaktion negativer wahrgenommen. Deshalb sind Verhaltensexperimente auch mit dem Einüben angemessener Verarbeitung in der Situation verbunden.

Reflexion: Auch die Schlussfolgerungen aus einer Erfahrung sind von Verarbeitungsprozessen beeinflusst. Nachträgliche Umbewertungen können dazu führen, dass Erfahrungen verzerrt interpretiert werden, zum Beispiel als mehrdeutig oder nicht relevant, oder neue Kriterien für die Beurteilung herangezogen werden. Zum Beispiel könnte die Patientin im Nachhinein die Ehrlichkeit der Nachbarin in Zweifel ziehen und annehmen, dass diese sich nur verstellt hat, um Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Aus diesen Gründen ist in der Anfangsphase der Therapie die Einbettung in den Therapieprozess und die Begleitung durch die:den Therapeut:in notwendig, um Probleme bei der Umsetzung von Verhaltensexperimenten zu vermeiden.

1.2  Abgrenzung von anderen Methoden

Verhaltensexperimente wurden explizit erstmalig von Beck, Rush, Shaw und Emery (1979, S. 56) in dem grundlegenden Therapiemanual zur kognitiven Therapie der Depression beschrieben. Mit dem Ziel, Überzeugungen anhand |6|der Realität zu überprüfen, stellen Verhaltensexperimente eine wichtige Erweiterung der verbalen Methoden zur kognitiven Umstrukturierung, insbesondere des Sokratischen Dialogs, dar (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1:  Einordnung von Verhaltensexperimenten in der Verfahrenssystematik

Im Sokratischen Dialog versucht der:die Therapeut:in durch verbale Exploration, d. h. mithilfe von Fragen oder Zusammenfassungen, der:dem Patient:in zu helfen, Überzeugungen bewusster wahrzunehmen und diese im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt, der zugrunde liegenden Werte oder dem funktionalen Nutzen zu reflektieren. Mithilfe dieses Fragestils wird der:die Patient:in angeregt, durch logisches Denken Diskrepanzen, Widersprüche und Verzerrungen in Überzeugungen zu erkennen und aufzulösen. Beck et al. (1979, S. 142 f.) beschreiben eine Reihe von Gesprächstechniken, zu denen die verbale Formulierung automatischer Gedanken, die Identifikation zugrunde liegender Erfahrungen, die logische Analyse des Realitätsgehaltes, die Reattribution (Veränderung der Ursachenzuschreibung) und die Suche nach alternativen Sichtweisen und Problemlösungen gehört. Auch wenn die Definitionen von Sokratischem Dialog inkonsistent sind, so wird doch zumeist in der logischen Analyse eigener Kognitionen der zentrale Wirkfaktor gesehen (Clark & Egan, 2015).

Beck definiert kognitive Therapie primär durch die Orientierung an einem kognitiven Erklärungsmodell: Verbale und behaviorale Methoden werden eingesetzt, um kognitive Veränderungen herbeizuführen. Dementsprechend sind Verhaltensexperimente eine wirkungsvolle Möglichkeit, Überzeugungen zu verändern, indem sie an der Realität überprüft werden. Die Einbeziehung der Lebensrealität der Patientin oder des Patienten impliziert nach Beck allerdings, dass Verhaltensexperimente überwiegend außerhalb des therapeutischen Settings, d. h. als Hausaufgabe, und damit ohne Begleitung durch die:den Therapeut:in stattfinden. Dies macht eine gründliche Vorbereitung notwendig, die vor allem darauf abzielt, ungünstige Verarbeitungs- und Verhaltensmuster zu verhüten, die eindeutige Ergebnisse behindern könnten. Das philosophische Prinzip, das Verhaltensexperimenten zugrunde liegt, |7|kommt wie bereits erwähnt aus dem Empirismus: Überzeugungen bzw. Erkenntnisse sind wahr, wenn sie auf Sinneswahrnehmung beruhen. Analog diesem naturwissenschaftlichen Grundverständnis sieht Beck in dem Experiment und der Beobachtung zentrale Methoden, um Überzeugungen zu überprüfen.

Recht bald nach der Einführung von Verhaltensexperimenten in die Behandlung von Depression durch Beck übertrugen vor allem britische Therapieforscher (Clark, 1989; Salkovskis, 1991; Clark & Wells, 1995) die Technik auch auf die Behandlung von Ängsten und Zwängen. Ausgehend von der Beobachtung, dass prolongierte Exposition bei vielen Angststörungen nicht zu einer erfolgreichen Habituation führte, wurden Verhaltensexperimente als alternative Form der Konfrontationsbehandlung mit angstauslösenden Situationen eingesetzt.1 Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Annahme, dass eine Reduktion der Angstreaktion von Bewertungsprozessen abhängig ist und diese wiederum durch Sicherheitsverhalten während der Konfrontation beeinflusst wird.

Nach der Theorie der emotionalen Verarbeitung (Foa & Kozak, 1986) führt Konfrontation zu einer starken dauerhaften Angstreduktion, wenn eine/ein Patient:in neue Informationen ins Gedächtnis aufnimmt und hierdurch die Erwartung nicht bestätigt wird, dass eine Bedrohung vorliegt (expectancy violation). Zusätzliche Unterstützung für eine kognitive Sichtweise der Konfrontation ergab sich aus der Analyse von Vermeidungsstrategien bei Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, sogenanntem Sicherheitsverhalten (safety behaviours). Führt eine/ein Patient:in solche Vermeidungsstrategien in der angstauslösenden Situation durch, indem sie:er etwa versucht, sich in der Situation vor der Bedrohung zu schützen oder deren Auswirkungen entgegenzuwirken, so erhält dies die Angst längerfristig aufrecht (Salkovskis, 1991). Die Erklärung hierfür ist, dass das Nicht-Eintreten der Bedrohung dem eigenen Schutzverhalten zugeschrieben werden kann; hierdurch verringert sich die Evidenz für eine Umbewertung der eigentlichen Bedrohung.

Es war schließlich die Arbeitsgruppe um David Clark2 an der Klinik für Psychiatrie der Universität Oxford, die Verhaltensexperimente zu einem festen Bestandteil der kognitiven Therapie von unterschiedlichen Angststörungen |8|einschließlich Panikstörung, Hypochondrie, Zwangsstörungen, Soziale Phobie, Generalisierte Angststörung und Posttraumatische Belastungsstörung machte. Diese bemerkenswerte Entwicklung wurde insbesondere durch die Umsetzung von experimenteller Grundlagenforschung zu störungsspezifischen Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozessen sowie Vorstellungen in wirkungsvolle Interventionen ermöglicht (Clark, 1999). Gleichzeitig erweiterte die Oxforder Arbeitsgruppe Becks Verständnis von Verhaltensexperimenten: Diese sind nicht mehr nur einmalige Interventionen zur Ergänzung der verbalen Überprüfung von Überzeugungen, sondern auch ein Mittel zum Einüben funktionaler Verarbeitungsweisen und ein kontinuierlicher Behandlungsstrang im Therapieprozess.

Verhaltensexperimente lassen sich auch von anderen behavioralen Interventionen weniger scharf abgrenzen, wenn man ein kognitives Erklärungsmodell zugrunde legt. Mit Verhaltensaktivierung wird zum Beispiel angestrebt, durch geplante Aktivitäten die Stimmung zu beeinflussen. In Trainings sozialer Kompetenzen wird Verhalten eingeübt, das andere Menschen dazu motivieren soll, eigene Rechte und Bedürfnisse stärker zu berücksichtigen. Bei beiden Interventionen ist bestimmtes Verhalten an Erwartungen geknüpft. Entscheidend für Verhaltensexperimente ist die Funktion der Erwartung im individuellen Störungsmodell. Patient:innen können zum Beispiel die Erwartung haben, dass die Stimmung nicht durch Aktivitäten beeinflusst werden kann; oder dass es nicht möglich ist, eigene Interessen in Beziehungen einzubringen. Würde man gezielt diese Erwartungen in der Realität überprüfen, gehen Verhaltensaktivierung oder soziale Kompetenztrainings in Verhaltensexperimente über.

1.3  Herausforderungen

Ein großer Vorteil von Verhaltensexperimenten ist die Möglichkeit, die Intervention an den Veränderungsprozess einer:eines Patient:in anzupassen. Allerdings sind angesichts der Vielfalt an Anwendungsmöglichkeiten auch die Anforderungen an die Flexibilität der:des Therapeut:in groß. Die Patient:innen müssen motiviert werden, Verhalten zu zeigen, das in ihrer Überzeugung negative Konsequenzen für sie haben könnte. Welche Erfahrung die Realität mit sich bringen wird, ist offen und entzieht sich der Kontrolle der Therapeut:innen. Bei Verhaltensexperimenten in der Sitzung ist, ähnlich wie bei Exposition in vivo, der zeitliche Rahmen selten auf eine Sitzung von 50 Minuten zu begrenzen. Bei der Durchführung können unerwartet situative Bedingungen auftreten (z. B. Reaktionen von Interaktionspartner:innen), die ein flexibles Reagieren auf den Sitzungsprozess erforderlich machen. Nicht selten werden erst bei der Durchführung wichtige Verarbeitungsprozesse und |9|Schlüsselkognitionen einer:eines Patient:in deutlich, die eigentlich eine Voraussetzung für die Planung darstellen. Um Verhaltensexperimente als Hausaufgaben vorzubereiten, sind die Instruktionen sehr genau festzuhalten, um einen Ablauf zu gewährleisten, der für die Überprüfung spezifischer Überzeugungen geeignet ist.

Angesichts der Komplexität der bei der Durchführung zu berücksichtigenden Faktoren und der Ergebnisoffenheit von Verhaltensexperimenten sind somit besondere therapeutische Kompetenzen notwendig, die dieser Band vermitteln soll (vgl. auch Kapitel 11).

1

In der englischsprachigen Literatur, insbesondere in den USA, wird „exposure“ als Oberbegriff für Konfrontationsverfahren verwendet und umfasst dann häufig Exposition und Verhaltensexperimente, während „confrontation“ zumeist für die Konfrontation der:des Patient:in mit intrapsychischen Diskrepanzen bzw. Konflikten steht. Hingegen wird im vorliegenden Buch „Konfrontation“ als Oberbegriff genutzt und Exposition und Verhaltensexperimente, wie in Abbildung 1 veranschaulicht, als unterschiedliche Verfahren dargestellt.

2

David M. Clark, Anke Ehlers, Melanie Fennell, Freda McManus, Ann Hackmann, Paul Salkovskis und Adrian Wells.

|10|2  Theoretischer Hintergrund

2.1  Kognitives Modell

Das auf Beck und Haigh (2014) sowie andere zurückgehende kognitive Modell psychischer Störungen geht von einer zentralen Bedeutung der Kognition für das Erleben und Verhalten des Menschen aus. Die Art und Weise, wie Menschen Erfahrungen verarbeiten, beeinflusst maßgeblich Emotionen, Verhalten und körperliche Reaktionen. Diese Sichtweise fußt in mehr oder weniger lockerer Weise in der philosophischen Tradition der Sokratiker, insbesondere der Stoiker (Beck et al.,1979, S. 8).

Die Sokratiker betrachteten Kognitionen (Vorstellungen, Bewertungen, Meinungen) als Grundlage für Emotionen. Beispiel dafür ist der häufig zitierte Satz von Epiktet: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Vorstellungen von den Dingen.“ Das Menschenbild ist dabei geprägt von dem Ideal, sich durch die Fähigkeit zu eigenständigem Denken von Leiden zu befreien. Der Sokratische Dialog orientiert sich an der dialektischen Methode, eine Behauptung oder Hypothese durch Fragen einer logischen Prüfung zu unterziehen. Durch das Aufzeigen von Widersprüchen sollen Überzeugungen, die zu belastenden Emotionen beitragen, infrage gestellt werden. Insofern kann man den Sokratischen Dialog als eine negative Methode bezeichnen, indem zunächst einmal versucht wird, zu identifizieren und abzugrenzen, was eine Person nicht weiß.

Menschliche Vernunft und Logik ist jedoch im kognitiven Therapiemodell nicht das entscheidende Element zur Erlangung von Erkenntnissen. Ausgehend von Aristoteles’ Betonung der naturwissenschaftlichen Methode zur Überprüfung von Hypothesen führte Beck mit dem Empirismus auch das Grundprinzip in die Therapie ein, dass die Erfahrung die Grundlage für Erkenntnisse darstellt. Aus Erfahrungen werden Evidenzen abgeleitet, mit deren Hilfe Überzeugungen entwickelt werden können, die der Realität angemessener sind. Während also unangemessene Überzeugungen durch Vernunft erschüttert werden sollen, zielt die genaue Analyse von Erfahrungen auf die Stärkung angemessener Überzeugungen ab.

Tatsächlich betonen Beck et al. (1979, S. 7) das Experiment als zentrales Unterscheidungsmerkmal der kognitiven Therapie von anderen Ansätzen:

The overall strategy of cognitive therapy may be differentiated from other schools of therapy by its emphasis on the empirical investigation of the patient’s automa|11|tic thoughts, inferences, conclusions and assumptions. We formulate the patient’s dysfunctional idea and beliefs about himself, his experiences, his future into hypotheses and then attempt to test the validity of these hypotheses in a systematic way. Almost every experience, thus, may provide the opportunity for an experiment relevant to the patient’s negative views or belief.

Anders als in der frühen Verhaltenstherapie, in der lediglich die Therapeut:innen experimentelle Prinzipien verfolgten und Daten sammelten, betonte Beck das Prinzip des kollaborativen Empirismus: Therapeut:in und Patient:in entwickeln gemeinsam Verhaltensexperimente, wie man Überzeugungen testen kann. Die Therapeut:innen sollten die Neugier der Patient:innen steigern und ihr aktives Engagement im Therapieprozess fördern.

Beck et al. (1979, S. 6 f.) geben eine Anleitung, wie Verhaltensexperimente durchzuführen sind:

Aus einer Überzeugung wird eine spezifische Erwartung in einer Situation abgeleitet. Dabei wird die Erwartung möglichst konkret operationalisiert: Wenn ich dies tue, passiert das.

Der:die Patient:in führt das Experiment durch.

Der:die Patient:in beobachtet das Ergebnis, erfasst es und interpretiert es schriftlich.

Therapeut:in und Patient:in reflektieren und diskutieren Ergebnis und Bedeutung des Experimentes mit Bezug auf die Überzeugung.

Der letzte Schritt des Verhaltensexperimentes beinhaltet wiederum den Sokratischen Dialog: Der:die Therapeut:in fördert durch Fragen und Hervorhebung des Widerspruchs zwischen Erfahrung und Überzeugung die Übernahme einer realitätsangemesseneren Bewertung. Vernunftgeleitete Reflexion und Erfahrung sind somit zwei untrennbar miteinander verbundene Wirkelemente in der Therapie von Beck.

Beck erkannte zudem, dass die Überprüfung von Überzeugungen im Lebensalltag der Patient:innen eine höhere Validität aufweist als im begrenzten, kontrollierten Therapiesetting. Deshalb sah Beck die Durchführung von Verhaltensexperimenten primär als Hausaufgabe vor, während deren Planung und Vorbereitung eine gemeinsame Aufgabe in der Therapiesitzung ist.