Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter - Tina In-Albon - E-Book

Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter E-Book

Tina In-Albon

0,0

Beschreibung

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind weit verbreitet und führen beim Kind und dessen Umfeld zu Beeinträchtigungen und starkem Leidensdruck. Mit der kognitiven Verhaltenstherapie liegt ein wissenschaftlich fundiertes und nachhaltig wirksames Therapieverfahren vor. Das Buch vermittelt einen Überblick über die Verhaltenstherapie, ihre Anwendung und die Indikation konkreter Behandlungsmethoden für die häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 227

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorinnen

Professorin Dr. phil. Tina In-Albon, Psychologische Psychotherapeutin mit Fachkunde Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau.

Dr. phil. Simone Pfeiffer, Psychologische Psychotherapeutin mit Fachkunde Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau.

Tina In-AlbonSimone Pfeiffer

Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033475-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033476-2

epub:   ISBN 978-3-17-033477-9

mobi:   ISBN 978-3-17-033478-6

Inhalt

 

 

Geleitwort zur Reihe

Vorwort

1   Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

2   Verwandtschaft mit anderen Verfahren und Disziplinen

3   Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen des Verfahrens

3.1   Lernformen

3.1.1    Klassische Konditionierung

3.1.2    Operantes Lernen (Operante Konditionierung)

3.1.3    Soziales Lernen (Modelllernen)

3.2   Die kognitive Wende der Verhaltenstherapie

4   Kernelemente der Diagnostik

4.1   Kompetenzen des Diagnostikers

4.2   Besonderheiten der Diagnostik im Kindes- und Jugendalter

4.3   Erstgespräch und Anamnese

4.4   Psychopathologischer Befund

4.5   Kategoriale Diagnostik

4.5.1    Klassifikationssysteme

4.6   Dimensionale Diagnostik

4.6.1    Störungsübergreifende Verfahren

4.6.2    Störungsspezifische Verfahren

4.7   Intelligenzdiagnostik

4.8   Verhaltensbeobachtung

4.9   Verhaltensanalyse

4.9.1    Mikroanalyse

4.9.2    Makroanalyse

4.9.3    Plananalyse

4.10   Ressourcen und Kompetenzen

4.11   Fehlerquellen in der Diagnostik

4.12   Rückmeldegespräch

5   Kernelemente der Therapie

5.1   Allgemeine psychotherapeutische Wirkfaktoren

5.2   Methoden und Interventionen der Verhaltenstherapie

5.2.1    Psychoedukation und Erklärungsmodell

5.2.2    Ressourcenaktivierung

5.2.3    Operante Verfahren

5.2.4    Kognitive Verfahren

5.2.5    Soziales Kompetenztraining

5.2.6    Kognitiv-verhaltenstherapeutische Elterntrainings

5.2.7    Entspannungsverfahren

5.2.8    Training emotionaler Fertigkeiten

5.2.9    Selbstmanagementstrategien und Problemlösetraining

5.2.10 Umgang mit Krisensituationen

5.2.11 Rückfallprophylaxe

5.3   Störungsspezifische Interventionen

5.3.1    Angststörungen

5.3.2    Depressive Störungen

5.3.3    Die Posttraumatische Belastungsstörung

5.3.4    Störung des Sozialverhaltens und oppositionelles Trotzverhalten

5.3.5    Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

5.3.6    Tic-Störungen

5.3.7    Zwangsstörungen

5.3.8    Ausscheidungsstörungen

6   Klinischer Fall

6.1   Symptomatik und Anamnese

6.2   Diagnostik

6.3   Psychotherapie

6.3.1    Therapieziele

6.3.2    Therapieverlauf

6.4   Therapieevaluation

7   Hauptanwendungsgebiete

7.1   Angststörungen

7.1.1    Störung mit Trennungsangst

7.1.2    Phobien

7.1.3    Soziale Angststörung

7.1.4    Generalisierte Angststörung

7.2   Depressive Störungen

7.3   Posttraumatische Belastungsstörung

7.4   Störung des Sozialverhaltens und oppositionelles Trotzverhalten

7.5   Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

7.6   Tic-Störungen

7.7   Zwangsstörungen

7.8   Ausscheidungsstörungen

8   Settings

8.1   Ambulantes und stationäres Behandlungssetting

8.2   Einzel- und Gruppensetting

8.3   Einbezug der Eltern in die Psychotherapie

9   Therapeutische Beziehung

10 Wissenschaftliche und klinische Evidenz

10.1 Angststörungen

10.2 Depressive Störungen

10.3 Störung des Sozialverhaltens

10.4 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

10.5 Tic-Störungen

10.6 Zwangsstörungen

10.7 Ausscheidungsstörungen

11 Institutionelle Verankerung

12 Aus- und Weiterbildung

12.1 Praktische Tätigkeit

12.2 Theoretische Ausbildung

12.3 Praktische Ausbildung

12.4 Selbsterfahrung

12.5 Zusatzausbildung in Kinder- und Jugendlichen- psychotherapie

12.6 Approbationsstudium Psychotherapie

13 Fazit und Ausblick

Literatur

Sachwortverzeichnis

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Carsten Spitzer (Rostock)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Die Reihe wurde von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß begründet.

Vorwort

 

 

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind weit verbreitet und gehen mit Leidensdruck für das Kind und das gesamte Umfeld des Kindes sowie Beeinträchtigungen in verschiedenen Bereichen einher. Des Weiteren stellen psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter einen Risikofaktor für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen im Erwachsenenalter dar. Zudem zeigt sich die Relevanz des Kindes- und Jugendalters auch dadurch, dass die Mehrzahl psychischer Störungen bereits im Kindes- und Jugendalter ihre Anfänge hat.

Mit der Verhaltenstherapie liegt ein umfangreich wissenschaftlich fundiertes und nachhaltig wirksames Therapieverfahren vor, welches mit verschiedenen Techniken und Methoden bei vielen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters gute Effekte erzielen kann. Einige dieser Techniken und Methoden möchten wir in diesem Band vorstellen.

Da leider immer noch viel zu viele betroffene Kinder und Jugendliche keine angemessene Intervention erhalten, ist es unser Ziel, die Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen kompakt vorzustellen. Das Buch vermittelt einen Überblick über die Kernelemente der Verhaltenstherapie und vermittelt Wissen über die Anwendung und die Indikation konkreter Behandlungsmethoden. Die häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und die konkrete Darstellung von evidenzbasierten Kernelementen der Verhaltenstherapie werden dargestellt. Hierbei werden in den Bereichen der Diagnostik und Psychotherapie anhand von Fallbeispielen ein Praxistransfer hergestellt.

Ansprechen möchten wir mit dem Buch Einsteiger wie auch erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die mit Kindern zusammenarbeiten.

Mit dem Begriff Kinder wird sowohl auf Kinder als auch auf Jugendliche verwiesen. Wenn der Verweis spezifisch für eine Altersgruppe gilt, wird explizit darauf verwiesen. Zudem verwenden wir den Begriff des Psychotherapeuten oder Patienten für jegliches Geschlecht.

Wir bedanken uns bei allen Patienten, dass wir sie ein Stück auf ihrem Weg begleiten durften und von ihnen fortwährend lernen dürfen. Im Kohlhammer Verlag danken wir insbesondere Frau Anita Brutler und Frau Carmen Rapp.

Landau in der Pfalz, im April 2020

Tina In-Albon und Simone Pfeiffer

1          Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

 

 

Die Bezeichnung »Verhaltenstherapie« wurde das erste Mal von Lazarus 1958 verwendet und von Wolpe (1958), Skinner (1938) und Eysenck (1959) geprägt. Im Laufe der Jahre hat sich die Verhaltenstherapie kontinuierlich weiterentwickelt und umfasst heute ein breites Spektrum psychotherapeutischer Methoden. Die Verhaltenstherapie basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zur effektiven Behandlung psychischer Störungen und befindet sich in einer ständigen Weiterentwicklung. Es existiert daher keine allgemeingültige Definition der Verhaltenstherapie. Den verhaltenstherapeutischen Modellen der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen liegt eine lerntheoretische Sichtweise zugrunde, nach der alle Lernformen (respondentes, operantes, soziales und kognitives Lernen) in der Entwicklung des Kindes eine Rolle spielen. Es wird angenommen, dass der Entwicklungsstand eines Kindes aus seiner individuellen Lerngeschichte heraus resultiert.

Zu Beginn der lerntheoretischen Forschung wurden ausschließlich Experimente an Tieren durchgeführt. In diesem Kontext sind John B. Watson (1913; Einführung des Begriffs »Behaviorismus«), Iwan P. Pawlow (1927; »Klassische Konditionierung«) und Burrhus F. Skinner (1930; »Operante Konditionierung«) zu nennen, deren Experimente die lerntheoretische Sichtweise bis heute prägen. Die Psychologie wurde hierbei als objektive Naturwissenschaft gesehen, in der die inneren Prozesse, wie Kognitionen, nicht beachtet wurden. Allmählich erfolgte die Übertragung auf den Menschen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden zunehmend lerntheoretische Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen, z. B. durch Joseph Wolpe (1958; »Systematische Desensibilisierung«) oder Orval H. Mowrer (1960; »Zwei-Faktoren-Theorie der Angst«), eingesetzt. Im Zuge der kognitiven Wende in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts lag der Fokus nicht nur auf beobachtbarem Verhalten, sondern auch auf den Veränderungen der kognitiven und gedanklichen Schemata. Bedeutende Vertreter sind z. B. Frederic H. Kanfer (1970; »Selbstregulation«), Albert Bandura (1994; »Soziales Lernen«), Albert Ellis (1973 »Rational-Emotive-Therapie«) und Aaron T. Beck (1976; »Kognitive Therapie«). Im Sinne einer dritten Welle werden die Rolle der Emotionen sowie ein stärkerer Bezug zu biographischen Faktoren mehr in den Vordergrund gerückt.

Die Verhaltenstherapie zeichnet sich in (Teil-)Abgrenzung zu anderen psychotherapeutischen Verfahren durch bestimmte Grundprinzipien aus (Margraf 2018). Sie ist problemorientiert, d. h. die Therapieplanung erfolgt anhand der aktuell beschriebenen Probleme. Anhand eines individuellen Störungsmodells wird der Behandlungsplan erstellt, der spezifisch und individuell auf die Verringerung der vorhandenen Probleme ausgerichtet ist. Im Störungsmodell werden prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren für die beschriebene Problematik identifiziert und Behandlungsbausteine mit dem Fokus der Identifikation auslösender Faktoren und der Reduktion von aufrechterhaltenden Faktoren abgeleitet. Die Verhaltenstherapie ist ziel- und handlungsorientiert. Mit Patienten und Eltern werden konkrete Ziele zu Beginn der Therapie gemeinsam erarbeitet, die realistisch erreichbar sind. Die Zielerreichung wird während der Behandlung regelmäßig überprüft und ggfs. angepasst. Zur Erreichung der Ziele steht das aktive Mitwirken des Patienten und ggfs. der Eltern im Vordergrund. Die Patienten sollen selbst zu Experten für den Umgang mit den eigenen Symptomen werden. Im Rahmen von Psychoedukation wird den Patienten auf eine verständliche Art und Weise Wissen über ihre psychische Störung vermittelt und die Ableitung des Behandlungsplans transparent gestaltet. Im Vordergrund steht das Neulernen oder der Wiedererwerb eines funktionalen Umgangs mit psychischen Symptomen (z. B. Exposition bei Angststörungen), welche auch im Alltag geübt und erprobt werden. Der Transfer von erarbeiteten Strategien in den Alltag und der Aufbau von funktionalem Verhalten sind in der Verhaltenstherapie von zentraler Bedeutung. Hausaufgaben sind ein wesentlicher Bestandteil der Verhaltenstherapie, die in den Sitzungen jeweils vor- und nachbesprochen werden. Der Psychotherapeut hilft hierbei den Patienten und den Eltern, einen funktionalen Umgang mit psychischen Symptomen zu erwerben, mit Strategien, die dem Patienten nach Abschluss der Therapie weiterhin zur Verfügung stehen. Die Verhaltenstherapie sieht sich als Hilfe zur Selbsthilfe, fördert die Eigenständigkeit und stärkt das Selbstwirksamkeitserleben des Patienten.

Merke

Ein entscheidender Unterschied zu anderen Therapieverfahren ist, dass historisch in der Verhaltenstherapie nicht konzeptionell zwischen dem Vorgehen bei Kindern und Erwachsenen getrennt wurde, sondern lerntheoretische Konzepte gleichermaßen angewendet wurden. Es ging also in der Verhaltenstherapie mehrheitlich um Methoden, die bei Kindern und Erwachsenen den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen, im Gegensatz zur Psychoanalyse, für die z. B. Anna Freud (1927) und Melanie Klein (1934) spezifische Behandlungsmethoden für Kinder entwickelten.

2          Verwandtschaft mit anderen Verfahren und Disziplinen

 

 

Verhaltenstherapeutische Verfahren basieren historisch auf lerntheoretischen Grundlagen (Kap. 4). Allerdings zeigte sich, dass diese in der Behandlung psychischer Störungen nicht ausreichten und weitere Faktoren für die Wirksamkeit einer Psychotherapie eine wichtige Rolle spielen. Die Verhaltenstherapie zeichnet sich unter anderem durch ihre Aktualität (Kap. 1) und das Prinzip der Weiterentwicklung aus (Margraf 2018). Sowohl die theoretischen Konzepte als auch die Behandlungsmethoden werden empirisch überprüft und in Bezug auf ihre Wirksamkeit weiter ausdifferenziert. Die Verhaltenstherapie begründet sich daher nicht auf einem durchgängigen universellen Prinzip, sondern entwickelt sich ständig weiter und beinhaltet eine Vielzahl von wissenschaftlich evaluierten psychotherapeutischen Methoden. Sie zeichnet sich demnach auch durch eine integrative Grundorientierung vor einem empirischen Hintergrund aus.

In der kognitiven Welle der Verhaltenstherapie wurden introspektive Prozesse in die Methoden der Verhaltenstherapie integriert, zu der neben den kognitiven Verfahren aktuell auch metakognitive Verfahren gehören (Simons 2019). In der sogenannten »Dritten Welle der Verhaltenstherapie« in den 1990er/2000er Jahren wurden die kognitiv-behavioralen Ansätze der Verhaltenstherapie durch achtsamkeitsbasierte Verfahren erweitert, wie zum Beispiel die Acceptance Commitment-Therapie (ACT) (Hayes et al. 1999) und die Mindfulness Based Stress Reduction-Therapie (MBSR) (Kabat-Zinn 2005) bzw. die Mindfulness Based Cognitive-Therapie (MBCT) (Segal et al. 2002). Achtsamkeit (»Mindfulness«) ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht (statt auf die Vergangenheit oder die Zukunft) und nicht wertend ist (Kabat-Zinn 2005). Die aktuelle Studienlage deutet auf eine Effektivität von MBSR und ACT in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen hin (Kallapiran et al. 2015). Insgesamt schränkt allerdings zum Teil eine geringe Qualität vorhandener Studien die Ergebnisse ein, weshalb es einer besseren Studienlage bedarf, um die Wirksamkeit tatsächlich beurteilen zu können (siehe dazu Michalak und Heidenreich 2018). Bei ACT (Hayes et al. 1999) werden verhaltenstherapeutische Methoden mit achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Methoden kombiniert. Während es bei den kognitiven Verfahren der Verhaltenstherapie vor allem um den Inhalt der Kognitionen geht, steht bei ACT die Funktion der Kognition im Vordergrund. Hierbei wird die eigene Lerngeschichte in Bezug zum Verhalten gesetzt sowie Werte und Lebensziele formuliert. Das Ziel ist hierbei nicht zwangsweise eine Symptomreduktion, sondern die Erhöhung der psychischen Flexibilität, die für ein werteorientiertes Leben unter ständig wechselnden inneren und äußeren Lebensbedingungen notwendig ist. ACT kann bei Jugendlichen mit Depressiven Störungen oder chronischen Schmerzen, in der Prävention von Risikoverhalten sowie bei Eltern von Kindern mit Autismusspektrumstörungen wirksam sein (Coyne et al. 2011). Weiterhin zeigt sich bei Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörungen eine Reduktion von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sowie komorbider internalisierender Symptome mit mittleren bis großen Effektstärken (Linderkamp und Lüdeke 2019). Auch in der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT) zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Linehan 1993) wird Achtsamkeit als Skill eingesetzt (Kap. 6).

Neben anderen psychotherapeutischen Verfahren spielt auch die Integration anderer Disziplinen eine wichtige Rolle. Kenntnisse über die Entstehung und den Verlauf von psychischen Störungen (Entwicklungspsychopathologie) sind wichtig für die Diagnostik, die Behandlungsplanung und die Prognose bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen. So sind viele Verhaltensweisen in einem bestimmten Alter normal (Trotzphasen, Trennungsängste) und werden erst zu einem späteren Zeitpunkt, in einer längeren Dauer und Intensität psychopathologisch. Weiterhin ermöglichen sie auch eine Prognose für den weiteren Verlauf und die Erfolgschancen einer Behandlung sowie über die Rückfallgefahr im Anschluss an die Psychotherapie. Auch Kenntnisse der Bindungsforschung (Grossmann 2003) und Kenntnisse über die psychosoziale Entwicklung (Erikson 1988) sind wichtig für ein komplexes Verständnis von psychischen Störungen bei Kindern. Fundiertes Wissen über physiologische Prozesse und Medizin sind eine Grundvoraussetzung für das Verständnis psychischer Störungen. Im Sinne eines biopsychosozialen Modells spielen sie vor allem in der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen eine Rolle und sind auch in der Behandlung von sozialen und psychischen Folgeerkrankungen (z. B. bei Schmerzstörungen, chronischen Erkrankungen oder Krebserkrankungen) von Bedeutung. Darüber hinaus sind auch Kenntnisse über die Wirkung und Nebenwirkungen von Psychopharmaka sowie ein interdisziplinäres Arbeiten mit Kinder- und Jugendpsychiatern diesbezüglich wichtig.

Im Vergleich zur Psychotherapie mit Erwachsenen besitzt der Einbezug des Umfelds in der Arbeit mit Kindern in der Regel einen deutlich höheren Stellenwert. Ein interdisziplinäres Arbeiten ist hierbei für die effektive psychotherapeutische Arbeit unabdingbar. Hierzu gehören unter anderem die Bezugspersonen, Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogische Familienhilfen, Erziehungsbeistände, das Jugendamt, Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und Ergotherapeuten. In vielen Fällen übernimmt der Therapeut im Sinne des Wohlergehens des Kindes oder Jugendlichen die Funktion, Interdisziplinarität zu fördern und die Informationen aus verschiedenen Quellen zu bündeln.

Die Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter beinhaltet neben individuellen und elternzentrierten Therapieansätzen auch familientherapeutische und schulzentrierte Interventionen (Dattilio 2013; Döpfner et al. 2013; Sanders 1999; Shadish 1992; Turner et al. 2007). Ein systemisches Grundverständnis ist notwendig, um die Komplexität der Familien- und Helfersysteme zu verstehen. Hierbei ist auch die Auftragsklärung in der Arbeit mit Familien von Bedeutung, denn nicht selten kommt es vor, dass Kinder und Eltern oder auch Lehrer unterschiedliche Behandlungsaufträge an die Therapeuten herantragen, die es zunächst zu erfassen gilt. Auch die Ressourcenorientierung spielt in der Verhaltenstherapie genauso wie in der systemischen Therapie eine wichtige Rolle. Weitere Gemeinsamkeiten sind der Gegenwartsfokus, die Lösungsorientierung (Operationalisierung), die Handlungsorientierung sowie der Fokus auf aufrechterhaltende Prozesse bei psychischen Störungen. Die Wirksamkeit der systemischen Familientherapie für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter ist hierbei für Störungen des Sozialverhaltens und jugendliche Delinquenz, Substanzstörungen, Anorexia nervosa, psychische Faktoren bei somatischen Krankheiten sowie Depressionen und Suizidalität gut belegt (van Sydow et al. 2006, 2013). Für Angststörungen liegt bislang eine Studie vor, die keinen zusätzlichen Effekt durch eine systemische Therapie zur Verhaltenstherapie zeigte (Siqueland et al. 2005). Zudem sind weitere Vergleichsstudien mit anderen evidenzbasierten Verfahren im Vergleich zu Wartelistenkontrollgruppen notwendig.

Ein Beispiel für ein wirksames Verfahren, in dem sowohl Methoden der psychodynamischen Kurzzeittherapie als auch der Verhaltenstherapie eingesetzt werden, ist die Interpersonelle Psychotherapie für Jugendliche (IPT-A) (Mufson et al. 2004; O’Shea et al. 2015) zur Behandlung von unipolaren Depressionen. Der Behandlungsfokus der IPT-A liegt hierbei auf gegenwärtigen Beziehungen und Belastungen im zwischenmenschlichen Kontext. Die interpersonellen Belastungen werden als Auslöser, Folge wie auch als aufrechterhaltende Bedingung der Depression angesehen.

Zusammenfassung

In der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen besitzt der Einbezug des Umfelds des Kindes einen zentralen Stellenwert. Daher gehört die interdisziplinäre Zusammenarbeit beinahe zur täglichen Arbeit. Auch beinhaltet die Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter sehr häufig familientherapeutische und schulzentrierte Interventionen. Vor diesem Hintergrund sind die Bestrebungen, zukünftig vermehrt interdisziplinäre Behandlungszentren aufzubauen, sehr sinnvoll. Des Weiteren bedarf es vermehrt der Erforschung, für welche Patienten welches Verfahren am wirksamsten ist.

3          Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen des Verfahrens

 

 

Im folgenden Kapitel werden lerntheoretische und kognitive Grundlagen der Verhaltenstherapie vorgestellt. In Kapitel 6 werden die psychotherapeutischen Interventionen näher erläutert, die sich aus den therapietheoretischen Grundlagen ergeben (Kap. 6).

3.1       Lernformen

Die Grundlage der Verhaltenstherapie ist ein lerntheoretischer Ansatz. Im folgenden Abschnitt soll eine Übersicht über die verschiedenen Lernformen gegeben werden. Unter Lernen versteht Lefrançios (2006) alle Verhaltensänderungen, die aufgrund individueller Erfahrungen zustande kommen. Zimbardo und Gerrig (1999) definieren Lernen als einen Prozess, der zu einer relativ stabilen Veränderung von Reiz-Reaktions-Beziehungen führt. Er ist eine Folge der Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung mittels seiner Sinnesorgane. Die ursprüngliche verhaltenstherapeutische Krankheitslehre bezieht sich dabei auf die allgemeine Psychologie des Lernens und nimmt an, dass psychische Störungen auf abnormes, gelerntes Verhalten zurückzuführen sind und abnormes Verhalten denselben lerntheoretischen Gesetzmäßigkeiten wie funktionalem Verhalten unterliegt. So ist eine Grundidee, dass das störungsbedingte Verhalten erlernt wurde und gleichermaßen wieder verlernt werden kann bzw. dass angemessenere Verhaltensweisen erlernt werden können. Aus heutiger Sichtweise können alle Formen des Lernens unter dem Begriff der Informationsverarbeitung zusammenfasst werden. Lernen findet dann statt, wenn das Individuum bedeutsame Informationen über das Auftreten von externen oder internen Bedingungen oder deren Valenz erhält, die sein zukünftiges Befinden, Denken, Verhalten und/oder seine physiologischen Reaktionen beeinflussen.

3.1.1     Klassische Konditionierung

Bei der klassischen Konditionierung nach Iwan P. Pawlow (1927) werden ursprünglich neutrale Reize bzw. Stimuli zum Auslöser einer Reaktion, die sie zuvor nicht auslösten (Tab. 3.1). Dieser neutrale Stimulus kann eine biologisch vorprogrammierte, automatische Reaktion auslösen und wird gemeinsam mit einem unkonditionierten Stimulus dargeboten. In der Vorbereitungsphase seines klassischen Experiments an Hunden konnte Pawlow folgendes zeigen: Der Glockenton löst als neutraler Stimulus (NS) eine Orientierungsreaktion (OR) mit Zuwendung zur Reizquelle aus. Als Reaktion auf Futter (unkonditionierter Stimulus, US) zeigen Hunde einen biologisch vorprogrammierten reflexhaften Speichelfluss, also eine nicht gelernte, unkonditionierte Reaktion (UCR). In der darauffolgenden Trainingsphase wird der NS wiederholt mit dem US dargeboten. Das Tier lernt, auf den ursprünglichen NS mit einer UCR zu antworten. Somit wurde der NS zu einem konditionierten Stimulus (CS). Die UCR wird zur konditionierten bzw. bedingten Reaktion (CR). Um zwei Reize miteinander verknüpfen zu können, müssen sie in einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang gesetzt werden. Hierbei ist es notwendig, dass UCS und NS zeitlich dicht beieinander liegen (Gesetz der Kontiguität), um eine CR auszulösen. Diese Kopplung zwischen NS und UCS wird als Verstärkung bzw. Bekräftigung (reinforcement) bezeichnet. Die CR muss hierbei nicht vollkommen der UCR entsprechen (z. B. eine Schmerz-Furcht Reaktion als UCR und eine Angstreaktion als CR).

Tab. 3.1: Schematischer Ablauf der klassischen Konditionierung

Begriffe und PhasenProzessbeschreibung

3.1.1.1    Extinktion und Gegenkonditionierung von konditionierten Reaktionen

Beim Assoziationslernen spielen auch die Begriffe Löschung (Extinktion) und Spontanerholung eine wichtige Rolle. In einer Löschungsphase wird der CS (Glocke) ohne die Kopplung mit dem UCS (Futter) dargeboten. Nach einigen dieser Darbietungen ist eine Abnahme in der konditionierten Reaktion zu erkennen. Folglich kann unerwünschtes Verhalten unterbunden werden, wenn die Verstärkung für dieses Verhalten ausgeschaltet wird. Bei erneuter Darbietung des CS nach einer Pause tritt die zuvor gelöschte Reaktion wieder auf, allerdings in deutlich geringerem Ausmaß. Dies wird als Spontanerholung bezeichnet. Nicht alle situativen Stimuli sind gleichermaßen als CS geeignet. Es scheint eine biologische Prädisposition auf bestimmte Reize zu geben, im Sinne einer Preparedness (Seligman 1971). Auf diese Reize lässt sich besonders leicht eine stabile konditionierte Reaktion entwickeln. Somit tritt die klassische Konditionierung bei manchen Reizen (z. B. Angst vor Spinnen, Höhe, Hunden) im Vergleich zu anderen (z. B. Angst vor Steckdosen, Motorsägen, Autos) weitaus häufiger auf. Gewisse Stimuli sind für bestimmte Spezies auch prägnanter und werden selektiv stärker wahrgenommen (Thorndike 1914; Prepotency). Hierbei handelt es sich um Reize, die entwicklungsgeschichtlich gefährlicher waren als andere Reize. Sie sind löschungsresistenter und brauchen weniger Lerndurchgänge bei der Konditionierung. Bei der klassischen Konditionierung wird auch eine Assoziation der Stimulusbedingung des Kontextes erworben, in dem die Reize auftreten. Neben der Verknüpfung eines konditionierten Stimulus mit einem unkonditionierten Stimulus werden weitere Reize (z. B. ein Laborkittel des Versuchsleiters, Geruch des Labors) mit dem konditionierten Stimulus verknüpft und nehmen ebenfalls Einfluss auf die konditionierte Reaktion. Siegel (1983) konnte in mehreren Versuchen mit Ratten nachweisen, dass bei der Gabe von Morphium, dessen Wirkung mit der Zeit nachlässt, diese in einem neuen Kontext allerdings wieder ansteigt. Konditionierte Reaktionen können auch durch mentale Prozesse erworben werden, ohne dass ein realer CS und/oder ein US zum Lernzeitpunkt vorhanden sein müssen (Cautela 1967; verdeckte Konditionierung). So können Kinder Angst vor Schlangen und Monstern haben, die allein durch die Imagination von negativen Konsequenzen beim Auftreten der phobischen Stimuli auftritt. Auch die Vorhersehbarkeit des US beeinflusst die Erwartung, ob der US auftritt und zu einer emotionalen Gegenregulierung führen kann. Die Person kann entscheiden, wie stark sie auf einen US reagiert oder nicht. Andersrum kann die CR auch verstärkt werden, wenn die Erwartung besteht, dass die US stärker ausfällt. Darüber hinaus spielen auch genetische (z. B. Hettema et al. 2003) und hormonelle (z. B. Hofman et al. 2015) Einflüsse sowie Beobachtungslernen (Bandura 1977) eine Rolle.

Reize, die dem konditionierten Stimulus ähnlich sind, können auch zum Auslöser einer konditionierten Reaktion werden (Reizgeneralisierung) oder entgegengesetzt treten manche bedingten Reaktionen nur durch einen einzigen genau definierten Reiz auf (Reizdiskrimination). Wird ein Reiz mehrere Male ohne Konsequenz dargeboten, bevor er in einer Lernphase (Aquisition) als konditionierter Reiz mit einem unkonditionierten Reiz gepaart wird, so findet eine Abschwächung des Assoziationslernens statt (Lubow 1989). Diesen Prozess nennt man eine latente Hemmung oder latente Inhibition. Im Alltag ist dieser Prozess notwendig, um zwischen relevanten und irrelevanten Reizen zu unterscheiden und Aufmerksamkeitsprozesse effektiv steuern zu können. Die Konditionierungsstärke hängt hierbei also stark von der Vorerfahrung mit einem konditionierten Stimulus als auch von der Fähigkeit der latenten Hemmung im Sinne einer Verhinderung von Reizüberflutungen ab.

Verhalten und Reaktionen, die vermeintlich durch Extinktionslernen gelöscht werden, können allerdings wieder auftreten. Die ursprüngliche Lernerfahrung bleibt im Gehirn gespeichert, d. h. es findet ein Umlernen bzw. Neulernen (Renewal) statt. Man geht davon aus, dass während der Extinktion eine neue, inhibitorische Lernspur gebildet wird, die die alte Lernspur hemmt. Nach erfolgreicher Extinktion bestehen zwei Lernspuren, die miteinander konkurrieren, wobei die neue, inhibitorische Lernspur fragiler ist als die vorherige Lernspur. Hierbei wird deutlich, dass Lernerfahrungen kontextabhängig sind und neue Lernerfahrungen auf neue Kontexte übertragen werden. Daher kann eine Expositionsbehandlung an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Arten von Reizen helfen, die ursprüngliche Reaktion eher zu verlernen, als wenn man sich auf einen Kontext beschränkt. Es kann auch zu einem Wiedereinsetzen der Reaktion (Reinstatement) kommen, wenn nach vollständiger Extinktion zunächst der ungepaarte unkonditionierte Stimulus präsentiert wird und danach der ungepaarte konditionierte Stimulus. Die Person zeigt dann eine konditionierte Reaktion auf den vorab konditionierten Stimulus. So können z. B. auch nach erfolgreicher Expositionsbehandlung bei Ängsten trotzdem auch in anderen ähnlichen Situationen wieder Ängste auftreten. Als Folge der Behandlung kann das Kind beispielsweise wieder in seinem eigenen Zimmer ohne Anwesenheit der Eltern schlafen. Übernachtet das Kind allerdings auswärts (Änderung des Kontexts), kann hierbei eine erneute Angstreaktion auftreten, vergleichbar mit der initialen Angstreaktion. Daher ist das Üben in verschiedenen Kontexten wichtig (z. B. die Exposition mit Dunkelheit an verschiedenen Orten). Bei der Gegenkonditionierung wird eine problematische Reiz-Reaktions-Verbindung durch eine weitere Konditionierung mit anderen, unvereinbaren Reizen wieder verlernt bzw. neu konditioniert. Die ursprüngliche CR1 wird durch die gegenteilige CR2 ersetzt. Dieses Prinzip wird beispielsweise bei der systematischen Desensibilisierung verwendet. Bestimmte Reize lassen sich auch an emotional-motivationale Reaktionen koppeln. Watson und Rayner (1920) konnten in ihrem ethisch und methodisch fragwürdigen Experiment bei einem Kleinkind (der kleine Albert) nach mehreren Durchgängen eine Angstreaktion klassisch konditionieren. Wenn auf einen ursprünglich neutralen Reiz (z. B. eine Ratte) ein unkonditionierter, angstauslösender Stimulus (z. B. Lärm) folgt, löst dieser eine reflexbedingte Reaktion (in diesem Fall Erschrecken, Angst, Herzklopfen) aus. Das aversive Erleben auf den Lärm wurde auf den ursprünglich neutralen Reiz übertragen und der kleine Albert zeigte Angstreaktionen bei der Präsentation der Ratte. Auch dem Stimulus ähnliche Reize (Katze, Fell) lösten eine vergleichbare Angstreaktion aus (Reizgeneralisierung).

Was wird während der Klassischen Konditionierung gelernt?

Innerhalb des Paradigmas der Klassischen Konditionierung gibt es zwei Lernmechanismen:

1.  Eine Kopplung zwischen dem CS und der UR im Sinne eines Stimulus-Response-Lernens. Im Beispiel vom kleinen Albert wird Angst als UR mit dem ursprünglich NS (Ratte) verknüpft. Hierbei ist die CR identisch mit dem UR, jedoch meist etwas schwächer ausgeprägt.

2.  Eine Kopplung zwischen dem CS und dem US im Sinne eines Stimulus-Stimulus-Lernens. In diesem Fall lernt der kleine Albert eine Verknüpfung von Lärm und der Ratte. Hierbei kann die CR identisch mit dem UR sein, muss sie aber nicht. Wird die Ratte zum Beispiel in größerer Distanz präsentiert, kann die Angstreaktion schwach ausgeprägt sein.

Wenn ein Reiz zu oft oder regelmäßig dargeboten wird, kommt es zu einer Gewöhnung an den entsprechenden Reiz (Habituation).