Verlorene Seelen 10 - Egal, was das Leben bringt - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 10 - Egal, was das Leben bringt E-Book

Claudia Choate

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Beschreibung

Der 25-jährige Fabian Wolkenstein führt ein Leben im Schatten, in dem er von den meisten Menschen einfach übersehen und ignoriert wird. Nur für seine Freundin trifft das nicht zu, so glaubt er zumindest, als er sie um ihre Hand bitten will. Aber bevor er seine Frage aussprechen kann, bricht seine Welt vollkommen zusammen. Eine Katastrophe jagt die andere und er spielt sogar mit dem Gedanken, seinem trostlosen Leben ein Ende zu bereiten. Doch da bekommt er Post von einem Anwalt aus Norddeutschland, der ihm eine unglaubliche Geschichte auftischt und ihn schließlich überredet, ein völlig neues Leben anzufangen. Fabian muss sich gegen Hass und Intrigen zur Wehr setzen und erfährt zum ersten Mal in seinem Leben, was es heißt, wahre Freunde zu haben.

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INHALTSVERZEICHNIS

Unerwartete Wendung

Black Friday

Post aus dem Norden

Eine unglaubliche Geschichte

Restaurantbesuch

Besuch auf dem Gestüt

Neue Wege

Umzugsstress

Unterricht

Freund oder Feind?

Neuland

Verleumdung

Lichtblicke

Hoher Besuch

Reitstunde

Nächtliche Aufregung

Interview

Veränderungen

Dramatische Ereignisse

Heimkehr

Überraschungen

Enthüllungen

Gerichtsverhandlung

Schockzustand

Blinde Wut

Zärtlichkeiten

Gerechtigkeit

Familienbande

Danksagung

Weitere Titel von C.Choate

UNERWARTETE WENDUNG

Als Fabian das Büro betrat, wirkte er irgendwie nervös. Ein äußerst seltener Anblick, denn der junge Mann war ein eher ruhiger und stiller Mensch. Dennoch sprach ihn niemand darauf an; die meisten Mitarbeiter machten einen großen Bogen um ihn.

Das war eigentlich schon immer so gewesen, schon seit seiner Jugend. Die Leute waren es einfach Leid, immer Rücksicht nehmen zu müssen, und es fiel ihnen schwer, ihn nicht ständig anzustarren. Dabei sah er eigentlich nicht schlecht aus. Der 25-Jährige hatte stets ordentlich geschnittene, braune Haare, ebenfalls braune Augen und ein gleichmäßiges Gesicht. Vielleicht kein Model-Gesicht, aber doch recht ansehnlich.

Der Rest seiner Erscheinung war leider weniger perfekt. Im Gegensatz zu seinem schmalen Körper hatte er recht breite Schultern und kräftige Oberarme. Dies lag daran, dass er sich nur mit Hilfe von zwei Gehstöcken fortbewegen konnte – und das bereits, seit er laufen gelernt hatte. Fabian litt unter einem Geburts-Defekt. Er war mit einem verkrüppelten Bein auf die Welt gekommen; sein Unterschenkel war nicht gerade und sein Fuß stand nach innen. Durch die Fehlbildung war sein Bein nicht kräftig genug, um sein Gewicht halten zu können, und er war daher auf seine Geh-Hilfen angewiesen, um sich fortzubewegen.

Kurz nachdem Fabian das Büro betreten hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, hängte seine Stöcke in die Halterung daneben, die extra dafür angebracht worden war, und fuhr seinen Computer hoch. Er arbeitete bereits seit ein paar Jahren für ein kleines Logistikunternehmen, bearbeitete dort Kundenaufträge, pflegte Stammdaten und nahm Reklamationen entgegen. Sein Traum-Job war es zwar nicht, aber es wurde gut genug bezahlt, sodass er davon leben konnte.

Eine Kollegin legte ihm einen Packen Papiere auf den Tisch, als sie an ihm vorbeiging, murmelte: „Die Post von heute“ und verschwand wieder.

„Danke“, rief Fabian ihr nach, aber sie war bereits wieder um eine Ecke gebogen. Seufzend nahm er die Post und fing an, sie grob durchzusehen. Dabei schweiften seine Gedanken zum heutigen Abend. Das Geschenk für seine Freundin Cordula hatte er bereits besorgt und hübsch eingepackt. In der Mittagspause würde er noch kurz in den Supermarkt gehen, um ein paar letzte Zutaten für das romantische Abendessen zu besorgen, das er seit Wochen plante.

Heute vor genau einem Jahr hatte er sie kennengelernt. Cordula hatte ihn buchstäblich umgeworfen, denn sie war ein wenig zu stürmisch um eine Ecke geschossen und hatte den Mann mit seinen Krücken versehentlich umgerannt. Dabei war Fabian unglücklich gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Die junge Frau hatte sich riesige Vorwürfe gemacht, als er bewusstlos am Boden lag, und sich sofort um ihn gekümmert. Am nächsten Tag hatte sie ihn im Krankenhaus besucht und sie waren ins Gespräch gekommen. Cordula gab ihm das Gefühl, ein richtiger Mann zu sein. Es störte sie nicht, dass er immer leicht gebückt auf seinen Krücken laufen musste und daher beim Spazierengehen nicht ihre Hand halten konnte. Auch beklagte sie sich nie darüber, dass sie nicht tanzen gingen. Fabian hatte endlich einmal das Gefühl, von jemandem vollständig akzeptiert zu werden, und als sie ein paar Monate später das erste Mal miteinander schliefen, war sich Fabian sicher, dass er sie liebte und mit ihr zusammenbleiben wollte. Jetzt kannten sie sich bereits seit 365 Tagen und der 25-Jährige hatte beschlossen, dass es Zeit für den nächsten Schritt wäre.

Heute Abend würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wollte, und sie bitten, bei ihm einzuziehen. Sie verbrachte sowieso schon eine Vielzahl der Abende bei ihm, weil es in seinem Haus einen Aufzug gab und in ihrem keinen. Da sie jedoch im dritten Stock wohnte, war es mit seiner Behinderung schwierig, die Treppen zu bewältigen. Daher kam sie meistens zu ihm.

Nachdem er nach der Mittagspause seinen Rucksack, in dem er seine Einkäufe verstaut hatte, um sie besser tragen zu können, unter seinem Tisch verstaut hatte, machte er sich wieder an die Arbeit. Er schaute dabei aber immer wieder auf die Uhr und hatte das Gefühl, dass der Nachmittag überhaupt nicht enden wollte. Die Zeit verstrich quälend langsam, bis er endlich seinen PC ausschaltete, seine Tasche griff und das Büro verließ. Niemand fragte ihn, ob er noch etwas vorhatte, oder wünschte ihm einen schönen Feierabend – aber das hatte Fabian auch nicht erwartet.

Humpelnd machte sich der junge Mann auf den Weg zu seinem Fahrzeug, stellte die Tasche in den Kofferraum und setzte sich auf den Fahrersitz. Seine Geh-Hilfen legte er wie immer hinter seinem Sitz auf den Boden. Er fuhr ein Automatik-Fahrzeug und konnte deshalb ein ganz normales Fahrzeug führen, das keine besondere Ausstattung benötigte. Voller Vorfreude auf den Abend mit seiner Freundin betrat er eine halbe Stunde später seine Zwei-Zimmer-Wohnung, legte Schlüssel und Papiere auf das kleine Schränkchen im Flur und betrat die gemütliche Wohnküche.

Seine Nervosität hatte er in den Hintergrund verbannt, auch wenn er genau wusste, dass sie sich in Kürze wieder bemerkbar machen würde. Mit ein wenig musikalischer Unterstützung durch das Radio im Wohnzimmer fing er an, das Essen vorzubereiten, deckte liebevoll den kleinen Tisch und stellte sogar ein paar Kerzen auf.

Es duftete bereits verführerisch, als es an seiner Tür klingelte und er diese mit einem strahlenden Lächeln öffnete. „Schön, dass du da bist“, begrüßte er sie und empfing die Freundin mit einem zärtlichen Kuss auf den Mund.

„Mmh“, machte Cordula. „Das riecht aber lecker. Hast du gekocht?“

„Ich bin noch dabei. Komm’ rein und mach’ es dir bequem. Trinkst du ein Glas Wein?“

„Gerne“, gab die Frau zurück und ging weiter ins Wohnzimmer. Als ihr Blick auf den Tisch fiel, stockte sie plötzlich. „Habe ich deinen Geburtstag vergessen?“ fragte sie überrascht.

„Nein“, antwortete Fabian ein wenig verwundert. „Ich habe im Oktober Geburtstag.“

„Was feierst du denn dann?“

Fabian war jetzt ein wenig irritiert. „Ja, weißt du denn nicht, was heute für ein Tag ist?“

„Nein, tut mir leid. Ich hab’s nicht so mit Daten. Was ist denn heute?“

„Heute vor genau einem Jahr haben wir uns kennengelernt. Und das möchte ich gerne mit dir feiern. Außerdem habe ich noch eine Überraschung für dich.“

„Ach so“, machte Cordula, doch ihre Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten. „Das trifft sich gut, ich wollte nämlich auch etwas besprechen.“ Fabian horchte auf. War sie vielleicht schwanger? Das würde den heutigen Tag ja noch besser machen. Als er Cordula den Wein einschenkte, stoppte sie ihn nach einem viertel Glas. „Das reicht, danke. Lieber nicht so viel.“

Ihr Freund nickte, in seiner Vermutung bestätigt, und schenkte sich ebenfalls ein halbes Glas ein, bevor er die Flasche wegstellte und zu seinen Töpfen zurückkehrte. „Wie war dein Tag?“, fragte er, während er ein paar letzte Handgriffe tat und schließlich das Essen auf Tellern anrichtete.

„Wie immer halt – anstrengend. Und bei dir?“

„Auch wie immer. Ich mache meinen Job und bin ansonsten Luft. Also nichts Besonderes. Magst du die Teller auf den Tisch stellen?“

„Ja, klar“, sagte Cordula, stand auf und brachte die Teller zum Esstisch. Fabian folgte ihr und wartete, bis sie sich gesetzt hatte, schob ihr den Stuhl zurecht und ging dann zu seinem eigenen Stuhl, um sich zu setzen. „Das sieht wirklich lecker aus“, stellte Cordula fest und tätschelte ihm kurz die Hand. „Du verwöhnst mich. Das werde ich bestimmt am meisten vermissen.“

Fabian horchte auf. „Wieso vermissen? Ich kann doch auch in Zukunft für dich kochen. Wenn du willst, sogar jeden Tag. Du müsstest nur...“

Er hatte eigentlich sagen wollen, dass sie dafür nur bei ihm einziehen müsste, doch seine Freundin unterbrach ihn, bevor er den Satz beenden konnte: „Wohl eher nicht. Es wäre doch ein bisschen weit, um zum Abendessen vorbeizukommen.“

„Weit?“, fragte Fabian verständnislos. „Wieso weit?“

Cordula nahm seine Hand in die ihre und hielt sie sanft fest. „Das ist meine Überraschung. Eigentlich wollte ich ja bis nach dem Essen warten, aber genaugenommen kann ich es dir auch gleich sagen.“

„Was denn?“, fragte der Mann und hatte irgendwie das Gefühl, im falschen Film zu sein. Cordula strahlte ihn glücklich an und sagte dann: „Ich habe einen Job bekommen – in Sydney.“

„In Sydney? Aber das... das liegt doch...“

„…in Australien, genau! Ist das nicht spitze? Davon habe ich schon immer geträumt. Das ist meine Chance, groß rauszukommen.“ Cordula kam richtig ins Schwärmen, als sie ihm nun von dem neuen Job erzählte, und merkte dabei gar nicht, dass Fabian immer stiller und das liebevoll gekochte Essen kalt wurde. Als die junge Frau endlich eine Pause einlegte, hob er den Kopf und fragte einfach nur: „Wann?“

„Du meinst, wann es losgeht? Na ja, Übermorgen. Das ist also unser letzter gemeinsamer Abend. Morgen muss ich Koffer packen und noch ein paar Dinge erledigen.“

Fabian stopfte die kleine Schatulle mit dem Ring noch ein wenig tiefer in seine Tasche. „Und wie stellst du dir das vor? Was wird aus uns?“ Erneut nahm Cordula seine Hand. „Fabian, es war eine schöne Zeit mit dir und wir hatten auch unseren Spaß, aber wenn du ehrlich bist, war uns doch beiden klar, dass es nichts von Dauer ist.“

Fabian konnte darauf nichts erwidern. Bis gerade eben hatte er geglaubt, sie würde ihn genauso lieben, wie er sie liebte. Dabei war er für sie nur eine Bettgeschichte gewesen und mehr nicht. Das wurde ihm langsam klar. „Ich habe dir also nie etwas bedeutet?“, fragte er leise.

„Bedeutet... das klingt so schnulzig. Natürlich hast du mir etwas bedeutet, Fabian. Du warst mit Abstand der beste Liebhaber, den ich je hatte. Die Stunden mit dir waren traumhaft, aber das hast du bestimmt schon oft gehört.“

Fabian stand auf, griff seine Krücken und humpelte in Richtung Schlafzimmer. „Nein, habe ich nicht“, sagte er dabei leise. „Du bist die einzige, mit der ich jemals zusammen war.“

Cordula verschlug es mit einem Mal die Sprache, als ihr klar wurde, dass ihre Beziehung für ihren Freund wohl mehr gewesen war als eine Affäre. Langsam stand sie auf und folgte ihm. Er hatte eine Sporttasche auf das Bett gestellt und fing an, ihre Wäsche, die sie für den Fall einer spontanen Übernachtung bei ihm deponiert hatte, hineinzuwerfen. Cordula trat von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände um den Brustkorb. Dann drehte sie ihn zu sich um, nahm ihm die Krücken ab und fing an, erst die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen und anschließend mit den Fingern über seine glatte Brust zu streicheln. „Was tust du da?“, fragte er irritiert.

„Nach was sieht es denn aus?“, lachte sie. „Nennen wir es doch einfach eine Verabschiedung.“ Sie schob ihm bei diesen Worten das Hemd über die Schultern, doch als sich ihre Lippen auf seine legen wollten, schob er sie plötzlich von sich weg.

„Das bringt doch nichts. Tue mir einen Gefallen: nimm’ deine Sachen und geh’ einfach. Je schneller, desto besser.“ Für eine Minute starrte ihn die Frau sprachlos an, dann ging sie ins Bad, griff ihre Toilettenartikel, die sie anschließend in die Tasche warf, und nahm diese dann an sich. „Bist du sicher, dass...“, begann sie, wurde aber durch ein unfreundliches „Geh’ einfach!“ unterbrochen. Wütend schnappte sie die Tasche und kurz darauf konnte er hören, wie die Wohnungstür ins Schloss geworfen wurde.

Fabian hatte sich noch keinen Millimeter bewegt, sondern starrte mit verschleiertem Blick in Richtung Tür. Wie hatte er sich nur so in Cordula täuschen können? Er war davon überzeugt gewesen, dass er ihr auch etwas bedeutete. Doch wenn es so gewesen wäre, hätte sie nicht einfach so einen Job auf der anderen Seite der Welt angenommen. Sie hätte wenigstens mit ihm reden können, ihn fragen, ob er mitkommen würde, aber für Cordula kam diese Option scheinbar gar nicht erst in Betracht. Ein deutliches Zeichen dafür, wie egal ihr der Mann im Grunde war. Fabian ließ sich auf die Bettkannte sinken, die Gehstöcke lehnte er an den Nachttisch. Während er vor sich hinstarrte, tropften ihm ein paar vereinzelte Tränen in den Schoß. Er konnte es nicht verhindern und genaugenommen war es ihm auch egal.

Irgendwann wurde er vom Vibrieren seines Handys aus den Gedanken gerissen. Als er nach dem Telefon griff, das noch immer in seiner Hosentasche steckte, stellte er fest, dass er eine WhatsApp-Nachricht von Cordula bekommen hatte:

Es tut mir leid.

„Davon habe ich auch nichts mehr“, schimpfte der Mann laut und warf das Telefon auf sein Bett. Dann zog er es erneut zu sich, öffnete es und löschte Cordulas Kontaktdaten. Sie war für ihn gestorben! Das kleine Päckchen in seiner Hosentasche warf er achtlos in die Nachttischschublade – zusammen mit einem Bild von seiner Ex-Freundin, das bisher darauf gestanden hatte. Dann stand er auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Essen war inzwischen ungenießbar und er brachte die Teller in die Küche. Nachdem er ein wenig Ordnung gemacht hatte, schnappte er sich die angefangene Weinflasche und sein Glas und ließ sich auf die Couch sinken. Normalerweise trank er nie mehr als ein Glas, doch heute leerte er die komplette Flasche und schlief irgendwann auf dem Sofa ein.

BLACK FRIDAY

Als Fabian am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich noch schlimmer als am Abend zuvor. Er hatte Kopfschmerzen, dunkle Augenringe und fühlte sich einfach nur mies. Doch Fabian war niemand, der sich wegen so etwas krankmeldete, und machte sich daher für die Arbeit fertig. Früher als sonst verließ er die Wohnung, um mit dem Bus zu fahren, da er sich aufgrund seines Katers und auch der Menge an Wein, die er in der Nacht getrunken hatte, nicht in der Lage fühlte, sein Auto zu nehmen. Außerdem war er überzeugt davon, dass er vermutlich genau dann kontrolliert werden würde. Er kannte sein Glück und wollte nicht aufs Spiel setzen, seinen Führerschein abgeben zu müssen, weil er vielleicht noch Restalkohol im Blut hatte. Also schnappte er sich seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Ein Blick zum Himmel zeigte ihm, dass dieser genauso düster aussah wie sein Inneres. Deshalb ging er noch schnell an seinem Auto vorbei, um dort den Knirps herauszuholen und mitzunehmen. Beim Laufen konnte er ihn zwar nicht gebrauchen, aber wenigstens, falls er länger auf den Bus warten musste, da die Bushaltestelle nicht überdacht war.

Gerade, als er die Beifahrertür aufschloss, kam ein weiteres Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit um die Kurve geschossen und streifte dabei seinen Wagen. Doch anstatt anzuhalten, raste der Fahrer einfach weiter. Fabian konnte gerade noch einen Teil des Kennzeichens erkennen, bevor der Wagen um eine weitere Ecke verschwand. Nachdem er seinen ersten Schock überwunden hatte, zog er sein Handy hervor und schrieb sich die Nummer auf, bevor er schließlich die Polizei anrief: „Ja, guten Tag. Mein Name ist Wolkenstein. Ich möchte einen Unfall melden... in der Rubensstraße 27... nein, kein Personenschaden... ja, ich bleibe vor Ort. Vielen Dank.“ Fabian legte auf und rief anschließend noch bei der Arbeit an, um Bescheid zu geben, dass er sich verspäten würde. Anschließend betrachtete er den Schaden und setzte sich dann auf den Beifahrersitz, um auf die Beamten zu warten, die eine halbe Stunde später endlich auftauchten.

Einer der beiden Männer kam zu Fabian, der andere begutachtete die Beschädigungen und machte Fotos. „Guten Tag“, grüßte der Polizist freundlich. „Können Sie mir sagen, was passiert ist?“ Fabian nickte und erzählte ihm, was er gesehen hatte. Dabei betrachtete der Beamte ihn misstrauisch und als der junge Mann seinen Bericht beendet hatte, fragte er: „Haben Sie Alkohol getrunken, Herr Wolkenstein?“

Irritiert blickte Fabian ihn an. „Ja, ich habe gestern etwas getrunken. Aber was hat das mit meinem Wagen zu tun?“

„Nur so viel, dass Sie den Schaden auch selbst verursacht haben könnten, wenn Sie betrunken gefahren wären.“

„Ich bin aber nicht gefahren... weder gestern, nachdem ich etwas getrunken habe, noch heute Morgen. Ich fahre grundsätzlich nie, wenn ich etwas trinke. Auch heute wollte ich mit dem Bus fahren und war lediglich am Wagen, um einen Schirm rauszuholen, falls ich an der Haltestelle im Regen warten muss. Mein Wagen wurde nicht bewegt, weder von mir noch von jemand anderem.“

„Dennoch sollten wir zur Sicherheit einen Atem-Alkoholtest machen.“

Fabian glaubte, sich verhört zu haben. „Sagen Sie, hören Sie mir überhaupt zu?“, brauste er auf. Langsam wurde er richtig wütend, weil die Polizei ihn verdächtigte, irgendwelche Lügengeschichten zu erfinden.

„Lass’ mal stecken, Klaus“, kam ihm da der zweite Polizist zur Hilfe. „Der Herr sagt die Wahrheit. Der Wagen hat hier gestanden, als er getroffen wurde. Das belegen die Splitter auf dem Boden eindeutig.“

„Natürlich sage ich die Wahrheit! Für wen halten Sie mich?“

„Es tut mir leid, Herr Wolkenstein, aber Sie müssen auch meinen Kollegen verstehen. Sie wären überrascht, was wir manchmal für Märchen aufgetischt bekommen. Wären Sie so freundlich und würden uns zum Streifenwagen begleiten, damit wir die Anzeige aufnehmen können?“ Fabian nickte. Er war noch immer sauer auf den ersten Polizisten, der nun ebenfalls um das Fahrzeug ging, um sich die Spuren anzusehen. Da Fabian seine Gehstöcke hinter dem Sitz verstaut hatte, während er auf die Polizei warten musste, zog er diese nun hervor, stemmte sich hoch und warf seinen Rucksack auf den Rücken. Dann schloss er das Fahrzeug ab und humpelte hinter dem netten Polizisten her. Dieser blickte ihn leicht irritiert an und da Fabian sowieso schon recht ungehalten war, sagte er zynisch: „Bevor sie fragen... ja, ich habe einen Führerschein und darf am Straßenverkehr teilnehmen, solange es sich bei meinem Fahrzeug um ein Automatikgetriebe handelt. Sie können das gerne nachprüfen, wenn sie wollen.“

„Nein, danke“, antwortete der Beamte schnell. „Nicht nötig. Aber hätten Sie vielleicht Ihre Fahrzeugpapiere dabei... nur wegen der Anzeige?“

„Ja, sofort“, kam es etwas freundlicher zurück und kurz darauf reichte er dem Polizisten seine Papiere. Während dieser die Anzeige aufnahm, kam auch der zweite zurück zum Einsatzfahrzeug, hielt es aber nicht für nötig, sich zu entschuldigen. Stattdessen fragte er immer noch misstrauisch: „Können Sie den Wagen irgendwie beschreiben, der den Unfall verursacht hat?“

„Es war ein dunkelgrüner Ford Fokus mit roten Felgen, hiesigem Kennzeichen und die Kombination F-F-3-7- irgendwas. Bei der letzten Ziffer bin ich mir nicht ganz sicher. Das könnte eine Sechs oder auch eine Acht gewesen sein. Der Fahrer sah blutjung aus, höchstens 19 und hatte eine Pumuckl-Frisur.“

„Eine was?“

„Einen roten Lockenkopf, vermute ich mal“, half sein Kollege ihm auf die Sprünge und Fabian nickte. „Vielen Dank. Mit diesen Angaben kommen wir bestimmt weiter. Sie bekommen dann Bescheid. Können wir Sie irgendwo absetzen?“

„Nein danke. Ich komme ganz gut allein klar.“ Damit steckte er den Zettel, den der Polizist ihm reichte, in seinen Rucksack und ging langsam in Richtung Bushaltestelle davon. Als er diese erreichte, konnte er gerade noch den Bus um die nächste Ecke biegen sehen, was nicht gerade dazu beitrug, seine Laune zu heben. Der nächste Bus fuhr erst in 30 Minuten.

Also stellte er sich an die Haltestelle und wartete. Dabei ließ er seinen Blick über die Straße schweifen.

Er blieb schließlich an einem Werbeplakat für eine Autoversicherung hängen. ‚Lächele und sei froh – es könnte schlimmer kommen‘, stand dort in großen Buchstaben neben einem demolierten Fahrzeug. Fabian ließ die Worte auf sich wirken und genaugenommen trafen sie auch auf ihn ein kleines bisschen zu. Immerhin hatte er ein großes Glück gehabt, dass er auf der Beifahrerseite gestanden hatte. Hätte er den Schirm über die Fahrerseite greifen wollen, wäre er vermutlich angefahren und vielleicht sogar schwer verletzt worden. Mit einem weiteren Blick auf das Plakat lächelte er und war froh – und es kam schlimmer!

.

Um sich die Zeit zu vertreiben, setzte sich Fabian auf eine kleine Mauer neben der Bushaltestelle, lehnte die Geh-Hilfen daran und zog die Post, die er am Morgen beim Verlassen seiner Wohnung aus dem Briefkasten geholt hatte, aus seiner Tasche. Vor Aufregung wegen des bevorstehenden Essens mit Cordula hatte er am Vortag vergessen, diese mit hochzunehmen. Langsam blätterte er durch die Briefe und Prospekte. Das meiste war Werbung, die er auf der Arbeit direkt entsorgen konnte. Doch ein Brief erregte seine Aufmerksamkeit; er war von seinem Vermieter.

Hoffentlich wollte der nicht wieder die Miete erhöhen. Mit einem unguten Gefühl öffnete er den Umschlag und überflog das Schreiben. Um eine Mieterhöhung handelte es sich zwar nicht, doch die wäre ihm jetzt deutlich lieber gewesen. Nein, es war die Kündigung seines Mietvertrages wegen Eigenbedarf, wie er so schön schrieb. In drei Monaten musste er aus der Wohnung raus. Fabian war inzwischen käseweiß im Gesicht. Was sollte er jetzt nur tun? Aufgrund seiner Behinderung konnte er nicht einfach so hingehen und eine neue Wohnung finden. Bezahlbare Wohnungen waren sowieso Mangelware, aber er brauchte auch noch eine im Erdgeschoss oder zumindest mit Fahrstuhl. So schnell würde er kaum etwas Neues finden können.

Während er noch auf den Brief starrte, fielen die ersten Tropfen auf den Zettel, den er hastig in seine Tasche stopfte. Und dann fiel ihm ein, dass sein Knirps noch immer im Wagen lag. Den hatte er in der Aufregung völlig vergessen.

Bis der Bus endlich vor der Haltestelle hielt, war der junge Mann bereits ziemlich durchnässt und obwohl die Sachen auf der Fahrt wieder etwas trockneten, sah er bei seiner Ankunft in der Firma bei weitem nicht so ordentlich aus, wie sonst. Auch sein übernächtigtes Gesicht trug nicht dazu bei, einen souveränen Eindruck zu machen. Doch das war ihm heute herzlich egal. Schweigend setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann mit der Arbeit. Inzwischen war es bereits 11:00h geworden. Die Anzeige und die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln hatte mehr Zeit in Anspruch genommen als geplant.

Kurz vor Feierabend kam eine Kollegin auf ihn zu. „Du sollst bitte mal zum Chef kommen, Fabian.“

Der junge Mann blickte auf. ‚Ausgerechnet heute‘, dachte er, ‚wo ich sowieso einen Scheißtag habe‘.“ Er nickte der Frau zu und sperrte dann seinen Bildschirm, während er darüber nachdachte, was sein Chef von ihm wollen könnte. Die ersten Kollegen machten sich bereits auf den Heimweg, als Fabian an der Bürotür von Herrn Umbach klopfte. „Herein!“, rief es von drinnen und Fabian betrat das Büro. „Ach hallo, Herr Wolkenstein. Gut, dass Sie da sind. Setzen Sie sich doch. Ich muss etwas mir Ihnen besprechen.“

„Geht es um meine Verspätung heute Morgen?“, fragte der Angestellte nervös.

„Nein, nein. Das hat damit gar nichts zu tun. So etwas kann schon mal vorkommen. Es geht um die Übernahme der Firma Supertrans.“ Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Sakkos und schob ihm diesen zu. „Es können leider nicht alle Mitarbeiter übernommen werden, da die Firma bereits eigene Leute hat. Ein Teil wird als Fahrer oder Lagerarbeiter umgeschult und dem Rest muss ich leider die Kündigung aussprechen. Natürlich werden wir Ihnen eine kleine Abfindung zahlen und ein anständiges Zeugnis ausstellen. Ich bin mir sicher, dass sie ganz schnell etwas Neues finden.“

Fabian starrte seinen Chef sprachlos an. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er den Umschlag, steckte ihn in seine Hemdtasche und ging aus dem Büro des Vorgesetzten. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Computer herunterzufahren, sondern schnappte sich lediglich seinen Rucksack und seine Jacke, die immer noch etwas feucht waren, und verließ die Firma. Vor der Tür atmete er erst einmal tief durch.

Langsam reichte es ihm! Wie viel konnte innerhalb von 24 Stunden eigentlich passieren? Erst die Sache mit Cordula, dann der Unfall, als nächstes fährt ihm der Bus vor der Nase weg und schließlich verliert er nicht nur seine Wohnung, sondern auch noch seinen Job. Das war eindeutig zu viel für einen Tag! Mit hängenden Schultern humpelte er die Straße entlang, ohne eigentlich zu wissen, wohin ihn sein Weg führen würde. Der Himmel zog sich wieder zu und es wurde immer dunkler. Doch das störte Fabian nicht. Genaugenommen war ihm inzwischen alles egal. Sollte es doch anfangen zu regnen. Vielleicht holte er sich ja eine Lungenentzündung oder wurde vom Blitz getroffen – dann hatte er wenigstens Ruhe vor weiteren Katastrophen.

Irgendwann fand sich Fabian auf einer einsamen Fußgängerbrücke wieder, die über eine Schnellstraße führte. Er hatte keine Ahnung, wo genau er sich befand oder wie er hierhergekommen war. Trotz des Trainings taten ihm die Arme von der langen Strecke weh und er blieb einen Moment stehen, um ihnen ein wenig Ruhe zu gönnen. In diesem Moment kamen ein paar Jugendliche mit Lederjacken, Sonnenbrillen und Springerstiefeln auf ihn zu.

„Kohle her, sonst setzt’s was!“, zischte ihm einer der drei jungen Männer zu.

„Was soll das?“, fragte Fabian irritiert.

„Wie? Krüppel und blöd?“, kam es gehässig zurück. „Dann muss ich wohl deutlicher werden, oder?“ Der Jugendliche schnappte sich Fabians Geh-Hilfen und schleuderte sie weit weg. Sie landeten irgendwo neben der Fahrbahn unter ihnen. Fabian hatte durch den Ruck das Gleichgewicht verloren und stürzte. Sofort stand ein weiterer Angreifer mit einem Messer über ihm. „Dein Geld! Wo hast du es?“, fragte er drohend.

Fabian zog mit zitternden Fingern seine Geldbörse aus der Gesäßtasche und hielt sie ihm hin. „Das ist alles, was ich habe.“ Der dritte schnappte sich das Portemonnaie und zog das Geld heraus. Den Rest warf er ins Gebüsch. Neugierig blickte der Mann mit dem Messer zu seinem Kumpel hinüber und stand dann auf. Fabian atmete erleichtert auf, doch im nächsten Moment bekam er einen Faustschlag ins Gesicht. „Das ist dafür, dass du so wenig Kohle dabeihast. Und das...“ Er hob das Messer, woraufhin sein Opfer reflexartig die Hände hochriss, um sein Gesicht zu schützen. Dabei zog er sich einen tiefen Schnitt am Unterarm zu.

„Komm’! Lass’ uns abhauen“, zischte einer seiner Kumpel und zog ihn von Fabian weg. „Der hat genug.“ Fabian hörte mehr, als dass er es sah, wie die drei abzogen. Er war wieder allein. Weit weg von jemandem, der ihm helfen konnte, verletzt und ohne seine Krücken. Dadurch war es ihm unmöglich, hier weg zu kommen und sein Handy lag noch immer auf seinem Schreibtisch im Büro. Das hatte er vorhin vergessen einzustecken, als er so übereilt die Firma verlassen hatte.

Auf Händen und Knien krabbelte er zum Geländer, um sich hochzuziehen. Sein rechtes Auge begann bereits zuzuschwellen und er hatte Schwierigkeiten, etwas zu sehen. Als er wieder aufrecht stand und sich an dem Geländer festhielt, konnte er die vorbeirasenden Fahrzeuge sehen. Doch niemand von denen würde sehen können, dass er verletzt war und Hilfe benötigte. Dazu war es bereits zu dunkel. Eine Ewigkeit stand er dort oben und dachte darüber nach, ob er vielleicht einfach über die Brüstung klettern sollte. Der Sturz wäre tief genug und würde nur wenige Sekunden dauern. Alles wäre ganz schnell vorbei und er müsste sich keine Gedanken mehr über irgendwelche Katastrophen machen. Während er noch darüber nachdachte, fühlte er sich ein wenig schwummrig und klammerte sich noch fester am Geländer fest. Er merkte gar nicht, dass sein Unterarm stark blutete und er deshalb schwächer wurde. Auch das näherkommende Blaulicht bemerkte er nicht mehr. Eine Notärztin, zwei Sanitäter und zwei Polizisten kamen vorsichtig näher, den Mann immer im Auge behaltend. Dann hob die Ärztin den Arm, um die Männer zurückzuhalten, trat noch zwei Schritte weiter auf Fabian zu und sprach ihn vorsichtig an. Anfangs begriff der junge Mann gar nicht richtig, was sie von ihm wollte, doch dann dämmerte ihm, dass sie davon ausging, er wolle sich das Leben nehmen. Und obwohl er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hatte, hatte er diesen bereits wieder zur Seite geschoben. „Sie irren sich“, sagte er mit schwacher Stimme. „Ich will doch gar nicht… da waren diese Jungen… ich brauche meine Krücken…“ Fabian wollte über die Brüstung deuten, um den Leuten zu zeigen, wo seine Geh-Stöcke gelandet waren, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf das Geländer. Sofort wurde er von mehreren starken Armen ergriffen und zurückgezogen. Erschöpft ließ er es geschehen. Vorsichtig wurde er auf eine Trage gelegt und jetzt erst konnte sich die Ärztin um ihn kümmern.

„Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Suizidversuch zu tun haben“, sagte sie zu den beiden Polizisten, die in der Nähe blieben, um den Mann notfalls fixieren zu können. „Pulsadern aufschneiden und springen ist eher ungewöhnlich. Und sehen Sie das Monokel-Hämatom? Außerdem sieht die Schnittwunde mehr nach einer Abwehrverletzung aus. Er scheint viel Blut verloren zu haben.“

„Er sagte etwas von seinen Krücken. Könnte es sein, dass er überfallen wurde und man ihm die Geh-Hilfen abgenommen hat?“, fragte einer der Polizisten.

„Ich geh‘ mal die Böschung runter und sehe nach, ob ich was finde“, sagte sein Kollege. „Schau’ du dich bitte mal hier oben um, ob du irgendwelche Spuren entdecken kannst.“

Zehn Minuten später war Fabians Wunde verbunden, er bekam eine Infusion mit Flüssigkeit und die beiden Polizisten hatten sowohl seine Papiere als auch seine Geh-Stöcke gefunden und gaben sie der Besatzung des Notarztwagens mit. Allerdings war der junge Mann noch zu schwach, um die Fragen der Polizisten zu beantworten. Bevor die Ersthelfer abfahren konnten, bat einer der Polizisten die Ärztin nochmal um ein kurzes Gespräch. „Tun Sie mir den Gefallen und behalten Sie den Mann gut im Auge. Auch wenn alles nach einem Überfall aussieht, wäre es dennoch möglich, dass der Mann suizidgefährdet ist.“ Er reichte der Ärztin einen Brief. „Den habe ich auf dem Boden gefunden. Scheinbar hat er heute seinen Job verloren. Und im Rucksack war noch ein Kündigungsschreiben seiner Wohnung mit Datum von vor zwei Tagen. Es könnte sein, dass er den ebenfalls heute bekommen hat. Außerdem noch eine Anzeige von heute Morgen bei Kollegen von mir bezüglich einer Beschädigung an seinem Fahrzeug.“

„In Ordnung. Ich werde die Kollegen informieren, damit er unter Beobachtung bleibt und vielleicht einem Psychologen vorgestellt werden kann, bevor wir ihn wieder entlassen.“

POST AUS DEM NORDEN

Fabian musste zwei Tage in der Klinik bleiben, um den Blutverlust wieder auszugleichen. Die Schnittwunde wurde genäht und verbunden, tat aber nicht allzu sehr weh, sodass er seine Krücken weiterhin benutzen konnte. Das Gespräch mit einem Psychologen hatte zwar ergeben, dass er deprimiert war, jedoch nicht hochgradig suizidgefährdet. Der kurze Moment der Schwäche oben auf der Brücke war wohl eher dem Umstand geschuldet, dass einfach alles auf einmal auf ihn eingestürmt und die Brücke gerade da war. Doch Fabian war sich sicher, dass er nicht dorthin gegangen wäre, nur um sich umzubringen. Es war einfach ein dummer Zufall gewesen, dass er nach dem Überfall ausgerechnet auf einer Brücke stand.

Noch im Krankenhaus hatte Fabian Besuch von den beiden Polizisten erhalten, die ihn zusammen mit dem Notarztteam von der Brücke geholt hatten. Ihnen berichtete er, was genau geschehen war, und gab auch eine möglichst genaue Beschreibung der drei Jugendlichen zu Protokoll. Am Montag früh kehrte er in seine Wohnung zurück, war jedoch noch für diese Woche krankgeschrieben, damit seine Verletzungen heilen und sein Körper sich von dem Blutverlust erholen konnte. Um sich die Zeit zu vertreiben, fing er an, sich die Wohnungs- und Stellenanzeigen anzusehen. Er ging sogar zum Arbeitsamt, doch aufgrund der Abfindung würde er erst einmal keine Leistungen von dort erhalten. Außerdem fand er seine Befürchtungen bestätigt, dass es gar nicht leicht werden würde, eine passende Wohnung zu finden. Schon gar nicht in den nächsten drei Monaten und auch, weil er keine Ahnung hatte, ob er demnächst noch einen Job haben würde.

Am Ende der Woche war er körperlich wieder stark genug, um auf die Arbeit zu gehen. Diese verrichtete er wie immer, sprach aber darüber hinaus mit niemandem ein Wort in den drei Wochen, die er noch arbeitete. Aufgrund seines Resturlaubes und zuvor gemachter Überstunden verließ er die Firma bereits einige Zeit vor dem eigentlichen Kündigungstermin. Inzwischen hatte er bereits dutzende Bewerbungen geschrieben, jedoch immer eine Absage erhalten. 'Wer will schon einen Krüppel einstellen', dachte er wütend, als er wieder einmal eine Absage in den Händen hielt. Auch mit einer neuen Wohnung hatte er bisher keinen Erfolg und überlegte schon, irgendwo auf dem Land nach etwas Geeignetem zu suchen. Langsam wurde die Zeit knapp, denn das Ende des Mietverhältnisses rückte unaufhaltsam näher.

Etwa eine Woche nach seinem letzten Arbeitstag zog Fabian einen offiziell wirkenden Briefumschlag aus seinem Briefkasten. 'Rechtsanwalt und Notar Steffen Angelmann & Partner' stand als Absender; dazu eine Anschrift in Norden.

Fabian wunderte sich darüber, was ein Rechtsanwalt von ihm wollte. Konnte es mit dem Unfall zusammenhängen? Aber es wäre doch sehr verwunderlich, wenn ein Anwalt aus Norddeutschland sich um den Fall kümmern würde, wo doch beide Unfallbeteiligten – nämlich Fabian als Halter des beschädigten Wagens und der Fahrer des anderen Fahrzeuges – aus seiner Gegend stammten. Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Vielleicht noch eine Katastrophe? Hatte er irgendetwas angestellt, von dem er nichts wusste? Hatte ihn jemand angezeigt? ‚Blödsinn!‘, dachte er bei sich. ‚Wer sollte mich schon anzeigen. Und vor allem… warum?‘

Schließlich fasste er sich ein Herz und schlitzte den Umschlag auf. Vorsichtig öffnete er das Blatt Papier, das dabei zum Vorschein kam, als wenn es ihn sonst beißen könnte. Dann überflog er den Betreff:

Fabian stutzte. Er kannte niemanden mit diesem Namen. Wieso sollte er dann ein Schreiben diesbezüglich bekommen? Und der Ortsname klang alles andere als existent. Sofort dachte er an irgendeine Abzocke, von denen man immer mal wieder in den Nachrichten hörte. Doch der Brief wirkte irgendwie überzeugend und so las er erst einmal weiter. Sehr viele Informationen enthielt er jedoch nicht, lediglich die Angaben, dass eine Frau mit dem Namen Anita Baldun aus Rechtsupweg vor kurzem gestorben sei und ihn in ihrem Testament berücksichtigt hätte. Fabian wurde gebeten, einen Termin mit der Kanzlei zu vereinbaren, wann er sich mit dem Anwalt treffen könnte.

Verwirrt drehte er den Brief in den Händen. Da war keine Aufforderung, irgendwelche Web-Seiten aufzurufen oder die Bitte, notwendige Kosten vorab zu begleichen, wie er es erwarten würde, wenn es sich um eine Abzocke handelte. Neugierig setzte er sich an seinen Computer und gab den Namen des Anwaltes in die Suchmaschine ein. Er fand mehrere Einträge mit Anschrift, Telefonnummer und sogar eine Website mit Bildern des Anwaltes und seiner Mitarbeiter. Alles wirkte recht authentisch, doch Fabian wusste natürlich, dass man auch einen Web-Auftritt manipulieren konnte. Deshalb gab er den Namen der angeblichen Verstorbenen ebenfalls in die Suchmaschine ein und war überrascht, was er damit fand. Es gab einen Telefonbuch-Eintrag, ein Facebook-Account und er fand sogar die Todesanzeige in einer regionalen Zeitung aus Norddeutschland. Sollte es diese Frau tatsächlich gegeben haben? Doch warum wurde ausgerechnet er in ihrem Testament erwähnt?

Fabian überlegte, ob er vielleicht irgendwelche Verwandten in Norddeutschland haben könnte. Viel wusste er nicht über entfernte Verwandte. Seine Mutter war eine Waise gewesen und in einem Kinderheim in Bayern aufgewachsen. Von ihrer Verwandtschaft lebte mit Sicherheit schon lange niemand mehr. Auch seine Mutter war schon seit vielen Jahren tot. Sie starb bei einem Badeunfall, als Fabian gerade einmal acht gewesen war. Sein Vater war im Taunus aufgewachsen. Dessen Eltern hatten ihn recht spät bekommen, sodass sie bereits alt waren, als Fabian noch ein kleines Kind war, und irgendwann waren sie gestorben. Geschwister hatte sein Vater auch nicht gehabt und von anderen Familienangehörigen wusste er ebenfalls nichts. Er konnte seinen Vater aber auch nicht fragen, da dieser vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. Genaugenommen hatte er niemanden mehr. Wie also kam diese Frau auf seinen Namen? Er hatte nicht einmal irgendwelche Freunde gehabt, die ihn vielleicht bedacht haben könnten.

Irgendwie kam ihm die ganze Geschichte immer unwirklicher vor. Wenn sie eine Verwandte von ihm gewesen wäre, warum hatte sie dann nie Kontakt mit ihm aufgenommen, ihn besucht oder wenigstens geschrieben? Dann hätte er wenigstens jemanden gehabt, nachdem sein Vater gestorben war.

Fabian suchte weiter und fand schließlich einige Bilder von einer Frau auf einem Pferd. Sie sah nett aus, war nicht sehr groß, aber durchtrainiert und wirkte richtig glücklich auf dem Tier. Das Bild war laut Bezeichnung etwa zwei Jahre alt und wurde auf einem Reitturnier in Hamburg aufgenommen. Er konnte eine gelbe Schleife am Halfter des Tieres erkennen, wusste aber nicht, was das bedeutete. Mit Pferden und Reitsport kannte er sich nun einmal überhaupt nicht aus – hatte sich auch nie dafür interessiert. Er klickte weiter und fand schließlich weitere Bilder mit derselben Frau, meist in Reitdress und mit irgendwelchen Pferden. Sie schien eine recht erfolgreiche Reiterin gewesen zu sein.

Fabian rief sich noch einmal die Todesanzeige auf. Die Frau war gar nicht so alt gewesen – gerade einmal Anfang vierzig. Ob sie bei einem Reitunfall gestorben war? Mit Sicherheit konnte man sich bei einem Sturz schwer verletzen und da er sie auf den Bildern immer in Begleitung oder auf dem Rücken von Pferden gefunden hatte, lag die Vermutung natürlich nahe. Die Todesanzeige gab darüber keine Auskunft. Dann wurde der junge Mann plötzlich stutzig. Frau Baldun war bereits seit knapp drei Monaten tot. Warum bekam er jetzt erst einen Brief von dem Notar? Warum nicht schon viel früher? Das Ganze wurde immer merkwürdiger. Erneut griff er den Brief, nahm sein Telefon und wählte die Nummer auf dem Schreiben.

„Kanzlei Angelmann und Kollegen, Schultheiß, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Tag. Mein Name ist Fabian Wolkenstein. Ich rufe aus Frankfurt an.“

„Guten Tag, Herr Wolkenstein. Um was geht es bitte?“, fragte die Frau am anderen Ende freundlich.

„Ehm. Ich vermute mal, um ein Missverständnis“, gab Fabian zu. „Ich habe heute einen Brief von Ihnen erhalten. Darin geht es um das Testament einer Frau namens Anita Baldun.“

„Anita Baldun. Ja, ich erinnere mich. Aber wieso denken Sie, dass es dabei um ein Missverständnis geht? Sie sind doch Fabian Wolkenstein, geboren am 10. Oktober 1990?“

„Ja, schon“, gab Fabian zu. „Aber ich kenne niemanden mit dem Namen Baldun. Und ich habe auch keine Verwandten oder Bekannten in Norddeutschland. Da muss irgendetwas durcheinander geraden sein.“

„Warten Sie einen Moment. Ich schau’ mal nach, ob ich Herrn Angelmann erreiche“, bat die Frau und Fabian konnte einen Augenblick Musik hören, während sie ihn in die Warteschleife legte.

„Angelmann“, meldete sich kurz darauf eine Männerstimme.

„Guten Tag, Herr Angelmann. Mein Name ist Fabian Wolkenstein.“

„Schön, dass Sie sich so schnell melden, Herr Wolkenstein. Wir haben leider etwas länger gebraucht, um Sie ausfindig zu machen. Die Behörden sind da manchmal ein wenig stur. Sie wissen schon. Aber jetzt haben wir Sie ja gefunden. Wäre es Ihnen möglich, in nächster Zeit nach Norden zu kommen, damit wir den Papierkram erledigen können?“

„Papierkram? Ich glaube, Sie missverstehen mich. Vermutlich ist irgendwo ein Fehler geschehen, denn ich kenne niemanden in Norden oder Rechtsupweg und den Namen Anita Baldun habe ich ebenfalls noch nie gehört.“

Für einige Sekunden herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, bevor sich der Mann erneut meldete. „Sie wissen es gar nicht?“

„Was soll ich denn wissen?“, fragte Fabian.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen das am Telefon erklären sollte. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie informiert sind und es einen anderen Grund gab, warum sie nie nach Frau Baldun gesucht haben. Ich würde Sie wirklich bitten, hierher zu kommen, wenn Sie es einrichten können.“

„Ich… ich weiß nicht so recht“, gab Fabian zu.

„Bitte, Herr Wolkenstein. Es ist wirklich sehr wichtig. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich besorge Ihnen ein Zimmer in Norden. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen sogar ein Zugticket am Bahnhof hinterlegen.“

„Danke, aber das ist nicht notwendig. Ich habe einen Wagen. Also gut, wenn es unbedingt sein muss, werde ich kommen.“

„Das freut mich, Herr Wolkenstein. Ich kümmere mich um ein Zimmer für Sie. Irgendwelche besonderen Wünsche?“, fragte der Anwalt.

„Genaugenommen schon. Ich kann leider nicht sehr gut Treppen steigen.“

„Das ist kein Problem. Ich besorge Ihnen etwas im Erdgeschoss oder mit Aufzug. Benötigen Sie eine besondere Ausstattung?“

„Nein danke. Nicht nötig.“

„In Ordnung. Wann wollen Sie kommen?“, fragte der Jurist nun.

„Von mir aus gleich morgen. Ich werde hier sowieso im Moment nicht gebraucht“, gab Fabian zurück, blieb dem Anwalt jedoch eine Erklärung schuldig.

„Alles klar. Dann reserviere ich für morgen ein Zimmer für Sie. Wann können Sie da sein?“

„Ich weiß nicht genau. Das müssten so um die 500 Kilometer sein, wenn ich mich nicht täusche. Sagen wir gegen 14:00h? Dann habe ich ein bisschen Luft, falls ich im Stau stehe.“

„Gerne. Das passt ganz gut. Wir sehen uns also morgen. Ich freue mich, Herr Wolkenstein.“

„Gleichfalls“, sagte Fabian und legte, immer noch ein wenig verwirrt, auf. Er war sich nicht sicher, ob diese Entscheidung die richtige war. Aber was hatte er schon zu verlieren? Die Benzinkosten nach Norddeutschland und im schlimmsten Fall eine Übernachtung in einem Hotel. Einen Job hatte er eh nicht und vielleicht erfuhr er so ja, was es mit dieser mysteriösen Frau auf sich hatte.

Kurz entschlossen stand er auf, ging ins Schlafzimmer und zog seinen Koffer unter dem Bett hervor. Während er Wäsche für wenige Tage zusammenpackte, zermarterte er sich noch immer den Kopf darüber, welche Verbindung er mit dieser Frau haben könnte und warum er nach ihr hätte suchen sollen. Doch er fand einfach keine Lösung auf diese Fragen und musste sich wohl oder übel bis zum nächsten Tag gedulden.

Schon früh am nächsten Morgen machte er sich mit dem Auto auf den Weg. Um nicht mitten in den größten Berufsverkehr zu kommen, verließ er seine Wohnung bereits um sechs Uhr morgens, tankte seinen Wagen noch einmal voll und fuhr in Richtung A3. Anfangs kam er ganz gut voran, doch als er sich Köln näherte, wurden die Straßen immer voller. Nachdem er die Großstadt endlich hinter sich hatte, ging es in Richtung Duisburg und dann weiter auf der A31 bis Emden. Dort verließ er die Autobahn und fuhr auf der Landstraße weiter, bis er schließlich in Norden ankam.

Inzwischen war es kurz vor eins. Er hatte noch etwas Zeit, fuhr daher bis Norddeich und suchte sich einen Parkplatz, um in einem kleinen Restaurant eine Kleinigkeit zu essen. Gegen kurz vor zwei traf er dann vor der Kanzlei Angelmann & Partner ein, parkte seinen Wagen und betrat das Büro.

„Guten Tag“, grüßte er freundlich. „Mein Name ist Fabian Wolkenstein. Ich habe einen Termin mit Herrn Angelmann.“

Die Frau am Tresen betrachtete ihn neugierig, doch irgendwie glaubte er nicht, dass dies mit seiner Behinderung zu tun hatte. Vielleicht war sie einfach nur neugierig auf den mysteriösen Mann, den die Klientin in ihrem Testament bedacht habe. „Guten Tag, Herr Wolkenstein. Wir hatten gestern zusammen telefoniert. Nehmen Sie doch bitte kurz Platz; ich sage Herrn Angelmann Bescheid.“ Sie deutete auf ein kleines Sofa in einer Ecke und Fabian ließ sich darauf nieder, während die Sekretärin an eine Tür klopfte. Kurz darauf kam sie mit einem Mann zurück, der um die Mitte vierzig sein mochte. Er war etwas größer als Fabian, hatte dunkelblonde Haare und ein freundliches Gesicht. „Herr Wolkenstein?“, fragte er überrascht über die Gehstöcke neben dem Mann. „Ich bin Steffen Angelmann. Herzlich Willkommen in Norden. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?“

„Ja, es ging. Die üblichen Staus halt. Aber sonst okay.“

„Das freut mich. Folgen Sie mir bitte in mein Büro.“ Fabian nickte, stemmte sich hoch und humpelte vor dem Rechtsanwalt her, der ihn nachdenklich betrachtete. „Jetzt weiß ich auch, warum sie ein Zimmer ohne Treppen haben wollten. Es tut mir leid, dass Sie den langen Weg bis zu uns auf sich nennen mussten.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich lebe schon lange mit dieser Einschränkung und habe mich angepasst.“

Herr Angelmann bot ihm einen Sitz an und ließ sich dann hinter seinem Schreibtisch nieder. „Darf ich fragen, was passiert ist?“, fragte er mitfühlend.

„Ein Geburtsdefekt. Mein Unterschenkel und der Fuß sind deformiert. Deshalb kann ich das Bein nicht belasten.“

„Und da kann man nichts machen?“

„Doch, es gäbe eine Möglichkeit, aber die ist sehr schwierig und beinhaltet mehrere Operationen und lange Zeiten im Rollstuhl. Das kann man nicht einfach so neben einem Job erledigen. Obwohl sich das ja jetzt eh erledigt hat.“

„Sie haben Ihren Job gekündigt?“

„Wurde wegrationalisiert trifft es wohl besser“, antwortete Fabian missmutig.

„Das tut mir leid. Aber ich möchte, dass Sie wissen, dass Ihre Behinderung nichts mit der Entscheidung Ihrer Mutter vor so vielen Jahren zu tun hatte. Sie wusste gar nichts davon.“

„Meine Mutter? Die ist doch schon viele Jahre tot. Was hat meine Mutter denn mit dem hier zu tun? Ich dachte, es geht um eine Frau namens Anita Baldun.“

„Tut es auch. Ich glaube, ich muss Ihnen erst einmal etwas erklären und es tut mir leid, dass Sie es von mir erfahren müssen. Angelika Wolkenstein war nicht Ihre leibliche Mutter, genauso wenig wie Herrmann Wolkenstein Ihr leiblicher Vater war. Die beiden haben Sie adoptiert, als Sie nur wenige Stunden alt waren.“

„Das kann nicht sein!“, sagte Fabian vollkommen verwirrt. „Sie müssen sich irren. Meine Eltern haben mir nie etwas gesagt vor ihrem Tod. Nicht einmal mein Vater, und der starb erst vor zwei Jahren.“ Steffen Angelmann zog ein paar Papiere aus einer Akte hervor und schob sie Fabian zu. Dieser nahm sie und las sie durch. Es waren die Adoptionsunterlagen von Oktober 1990, in denen stand, dass Angelika und Hermann Wolkenstein einen kleinen Jungen adoptierten und ihm den Namen Fabian gaben. Verwirrt ließ er das Blatt sinken. „Aber wer ist denn dann…“, begann er, brach jedoch ab, als ihm endlich ein Licht aufging.

Der Anwalt schob ihm ein Foto zu. „Das ist ihre leibliche Mutter, Herr Wolkenstein.“ Fabian erkannte auf dem Foto die Frau wieder, deren Bilder er im Internet gefunden hatte. „Anita Baldun. Sie war damals noch sehr jung, als sie Sie zur Adoption freigab. Und sie hatte gute Gründe dafür, die Sie gleich erfahren werden. Ich habe Ihre Mutter viele Jahre gekannt, bin sogar mit ihr zusammen zur Schule gegangen und ich kann Ihnen versichern, dass ihr das im Nachhinein sehr leidtat. Sie hat versucht, Sie zu finden, aber in Deutschland ist es noch immer so, dass die leiblichen Eltern kein Recht auf Auskunft haben. Sie hat so gehofft, dass Sie irgendwann nach Ihren Wurzeln suchen und dann hier auftauchen würden. Aber das ist nie geschehen und jetzt weiß ich auch, warum.“

„Moment“, bat Fabian. „Sie wollen mir also sagen, dass diese Frau sich hat schwängern lassen, mich dann weggegeben hat und irgendwann gemerkt hat, dass es vielleicht doch ganz nett wäre, einen Sohn zu haben?“ Er stand auf und griff seine Krücken. „Es tut mir leid. Aber ich habe kein Interesse daran, ihr diesen Gefallen zu tun. Sie wollte mich damals nicht haben und jetzt will ich sie nicht haben.“

„Bitte, Herr Wolkenstein. Gehen Sie nicht, bevor Sie nicht die ganze Geschichte kennen. Was haben sie denn schon zu verlieren?“

„Meine Selbstachtung?“, warf Fabian ihm an den Kopf.

„Würden Sie die nicht auch verlieren, wenn Sie nie erfahren, was vor 26 Jahren geschehen ist? Ich bitte Sie lediglich um eine halbe Stunde Ihrer Zeit. Wenn Sie dann immer noch gehen wollen, werde ich Sie nicht aufhalten. Sie können ins Hotel gehen und morgen wieder nach Hause fahren.“

Fabian blickte den Anwalt nachdenklich an. Er hatte Recht. Es würde ihm keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn er noch blieb. Um heute noch zurückzufahren, war es sowieso zu spät und er war auch zu müde für die lange Fahrt. Und wo er schon mal hier war, könnte er sich auch anhören, was der Mann zu sagen hatte. Schließlich nickte er und ließ sich wieder auf den Sessel fallen. „Also gut. Was möchten Sie mir sagen?“

„Ich danke Ihnen und ich bin mir sicher, dass Sie es nicht bereuen werden.“ Er zog einen Briefumschlag aus der Akte hervor. „Diesen Brief hat Anita für Sie hinterlassen, als sie merkte, wie es zu Ende ging.

Davor hatte sie immer gehofft, es Ihnen persönlich erklären zu können, aber die Zeit lief ihr davon. Bitte lesen Sie ihn in Ruhe. Ich werde mich so lange entfernen.“ Er stand auf, legte den Umschlag vor den jungen Mann und verließ dann das Büro. Fabian blickte ihm unschlüssig hinterher und starrte dann eine Weile auf den Umschlag auf dem Tisch. Darauf stand in einer leicht zittrigen Handschrift: Für mein verlorenes Kind.

‚Großartig‘, dachte Fabian. ‚Sie bezeichnet mich nicht einmal als ihren Sohn. Das lässt ja schon tief blicken.‘

Schließlich nahm er den Umschlag aber doch in die Hand und öffnete ihn. Zum Vorschein kamen ein paar Zettel in der gleichen Handschrift, wie er sie auf dem Umschlag gesehen hatte.

EINE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE

Fabian strich die Blätter sorgfältig glatt. In der oberen Ecke entdeckte er ein Datum, das etwa ein halbes Jahr zurücklag. Frau Baldun war vor knapp drei Monaten gestorben, hatte den Brief an ihn also nicht lange vor ihrem Tod verfasst. Nach den Worten des Anwaltes zu urteilen, war sie auch nicht an einem Reitunfall gestorben, wie Fabian anfangs vermutet hatte, sondern schien eine Krankheit gehabt zu haben.

Er atmete tief durch und fing schließlich an zu lesen:

Fabian starrte noch lange auf die Zeilen in seinen Händen. Er wusste gerade nicht so genau, was er fühlen sollte. Sein Innerstes schwankte zwischen Mitleid und Verständnis für diese Frau und gleichzeitig würde er ihr gerne sagen, wie schrecklich er es fand, dass sie ihn einfach so weggegeben hatte.

Er stellte sich vor, was für ein Leben das gewesen sein musste, immer mit der Angst zu leben, so etwas könnte wieder passieren. Und dann wurde ihm schließlich bewusst, dass einer dieser Männer sein biologischer Vater war. Plötzlich konnte er seine Mutter ein bisschen besser verstehen, denn auf einmal fühlte er sich selbst schrecklich.

Er war das Produkt eines Vergewaltigers, vielleicht war er sogar noch etwas Schlimmeres. War er deshalb behindert auf die Welt gekommen? Als Strafe für die Taten seines Vaters? Oder hatte es vielleicht mit den Versuchen seiner Mutter zu tun, sich und ihn umzubringen? Fabian wusste es nicht, doch das Gefühl in seiner Brust ließ ihn die Frau, die ihn geboren hatte, ein bisschen besser verstehen. Tränen der Scham und der Verzweiflung traten ihm in die Augen und er zog ein Taschentuch aus einer Box auf dem Schreibtisch des Anwaltes, um sich die Nase zu putzen. Er fühlte sich gerade, wie nach einem Marathon, obwohl er sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt hatte.

Fabian hatte gar nicht bemerkt, dass der Anwalt zurückgekommen war und abwartend in der Bürotür stand, um ihn nicht zu stören. Erst, als der junge Mann den Brief schließlich zusammenfaltete und ihn zurück in den Umschlag steckte, räusperte er sich leise. „Ist es Ihnen Recht, wenn ich eintrete?“

„Es ist Ihr Büro“, stellte Fabian daraufhin fest und straffte die Schultern.

Doch der Anwalt hörte deutlich das leichte Beben seiner Stimme. Er trat näher und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Möchten Sie immer noch gehen oder hat Ihnen der Brief geholfen, Ihre Mutter ein wenig zu verstehen?“, fragte er leise und einfühlsam.

„Ich weiß noch nicht so ganz, was ich von der ganzen Geschichte halten soll. Sie sagten, Sie kannten meine Mutter ganz gut?“

„Das stimmt. Ich war mit ihr befreundet, als wir in die Schule gingen. Auch wenn ich nie begriffen hatte, dass sie damals in mich verliebt war. Sie hatte das geschickt verborgen und ich war zu jung, um ihre heimlichen Blicke zu bemerken. Dafür könnte ich mich heute noch ohrfeigen. Wenn ich damals nicht auf dieses Mädchen hereingefallen wäre, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.“

Plötzlich wurde Fabian etwas klar. „Sie waren der Junge, der damals im Kino mit dieser Vanessa rumgemacht hat, richtig?“

Herr Angelmann senkte verlegen den Kopf. „Na, ja. Rumgemacht trifft es jetzt nicht wirklich, aber sie hat sich an mich rangeschmissen und ich fühlte mich geschmeichelt. Das stimmt schon. Doch ich merkte schnell, dass sie das nur gemacht hatte, um Anita zu ärgern und eigentlich gar kein Interesse an mir hatte. Das erfuhr ich jedoch erst, als wir in dem Restaurant angekommen waren. Ich war unendlich wütend auf sie und vor allem auf mich, dass ich Anita nicht begleitet hatte. Deshalb verließ ich die anderen und bin ihr nachgegangen. Bei uns war noch nie etwas passiert und wirklich Sorgen, dass etwas passieren könnte, habe ich mir deshalb eigentlich nicht gemacht. Aber ich wollte gerne mit ihr sprechen, mich entschuldigen, dass ich der einzige in der Clique gewesen war, der ihre Gefühle nicht begriffen hatte. Noch heute wird mir übel, wenn ich daran denke, dass Sie ganz in meiner Nähe gewesen war und ich ihr dennoch nicht helfen konnte. Als sie krank wurde, habe ich sie jeden Tag besucht, doch sie wollte nichts mehr von mir wissen. Ich dachte natürlich, dass das mit Vanessa zu tun hatte, und habe erst viel später den wahren Grund erfahren, warum sie mich nicht mehr an sich ranließ.“

„Lassen Sie mich raten: Sie haben sich von ihr abgewendet und sie ihrem Schicksal überlassen. Und heute sind Sie glücklich verheiratet und haben mindestens zwei Kinder.“

„Sie irren, Herr Wolkenstein. Ich bin weder verheiratet, noch habe ich Kinder. Es gab nur eine Frau, die ich geheiratet hätte, doch die war zu traumatisiert, um meine wiederholten Anträge anzunehmen. Nach Anitas Krankenhausaufenthalt habe ich ihr geholfen, einen Job zu finden und wir haben es irgendwann geschafft, so etwas wie eine Freundschaft aufzubauen. Solange ich sie nicht berührt habe, haben wir uns gut verstanden. Zu mehr war sie leider nicht fähig. Erst auf ihrem Sterbebett durfte ich ihre Hand halten. Ihre letzten Worte galten Ihnen.“

„Sie waren dabei, als sie…?“, fragte Fabian überrascht. Damit hätte er nun am allerwenigsten gerechnet. Der Mann nickte und nun konnte Fabian deutlich das Glitzern in dessen Augen erkennen. Der Anwalt hatte seine Mutter wirklich geliebt, das wurde ihm nun bewusst. „Es… es tut mir leid, Herr Angelmann. Ich wusste nicht…“, fing er eine Entschuldigung an.

Sein Gegenüber straffte die Schultern. „Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich nicht aufgeben wollte, bis Sie die ganze Geschichte kennen. Ich war es ihr schuldig, alles dafür zu tun, dass ihr Sohn zurückkehrte. Nach ihrem Tod habe ich mich mit den Behörden in Verbindung gesetzt. Die Auskunft, die zu ihren Lebzeiten nicht gegeben werden durfte, konnte ich nun bekommen, da es um eine Erbschaft ging. So habe ich Sie schließlich ausfindig machen können. Ich hatte die Vermutung, dass Sie kein Interesse an ihrer Mutter hätten, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Sie gar nichts von ihr wussten. Deshalb war ich so erstaunt, als Sie anriefen und mit dem Namen überhaupt nichts anfangen konnten. Jetzt hatte ich endlich den Menschen gefunden, der mein Kind hätte sein können, wenn ich damals nicht so blind gewesen wäre. Das Kind der Frau, die ich noch heute liebe, und dann wusste dieser Mensch nicht einmal, wer Anita war.“

„Vielleicht können Sie mir ja helfen, sie ein bisschen kennenzulernen, Herr Angelmann“, sagte Fabian nun und bemerkte sofort, dass er seinem Gegenüber keinen größeren Wunsch hätte erfüllen können.

„Das würde ich gerne tun, Herr Wolkenstein. Sehr gerne sogar. Aber möchten Sie nicht vorher wissen, was genau Anita Ihnen hinterlassen hat?“

„Wenn ich ehrlich bin, nein. Nicht, weil es mich nicht interessiert, sondern weil ich im Moment das Gefühl habe, dass ich das heute nicht mehr verkrafte. Sind Sie mir sehr böse, wenn wir einen anderen Termin ausmachen? Ich würde gerne erst einmal das verarbeiten, was ich heute erfahren habe.“

„Bedeutet das, dass Sie bleiben?“, fragte der Anwalt erfreut.

Fabian nickte. „Ich denke, ein paar Tage kann ich bleiben. Vielleicht bietet sich dann auch die Gelegenheit, meine Vergangenheit kennenzulernen.“

„Bestimmt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Es ist jetzt gleich vier. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, wie Sie zu ihrem Hotel kommen, und Sie dann heute Abend um sechs zum Abendessen abhole. Beim Essen können wir uns in Ruhe unterhalten und Sie können mir gerne alle Fragen stellen, die Ihnen auf der Seele brennen. Morgen Vormittag habe ich einen Gerichtstermin, der jedoch gegen 11:00h beendet sein müsste. Danach liegt nichts an und ich könnte Sie dann mit dem Testament von Anita vertraut machen.“

„Klingt wie ein Plan, Herr Angelmann. Danke für Ihr Verständnis. Und ich würde gerne heute Abend mit Ihnen Essen gehen.“