Verlorene Seelen 3 - Stumme Schreie - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 3 - Stumme Schreie E-Book

Claudia Choate

0,0

Beschreibung

Auch fast ein Jahr nach einem schweren Schicksals-schlag hat die 20-jährige Deutsch-Amerikanerin Jessica Brown kein Interesse an einer neuen Beziehung und lehnt daher die Annäherungsversuche eines Bekannten kategorisch ab. Am liebsten verbringt sie ihre Freizeit mit ihren besten Freunden Mischa und Carolin Wagner, mit denen sie in den Urlaub fährt, kocht oder im Country-Club tanzen geht. Doch plötzlich verändert sich das sonst so offene, fröhliche Mädchen, zieht sich von den Freunden zurück und verkriecht sich in ihrer Wohnung. Mischa und Carolin machen sich große Sorgen und versuchen verzweifelt, ihr zerstörtes Vertrauen zurückzugewinnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALTSVERZEICHNIS

Wahre Freunde

Wanderurlaub mit Überraschungen

Ein folgenschwerer Unfall

Neue Bekanntschaften

Veränderungen

Schockzustand

Freundschaftsdienste

Panikattacke

Verliebte Blicke

Nacht des Grauens

Fahrerflucht

Die schreckliche Wahrheit

Entführt

Missbraucht

Rettung in letzter Sekunde

Die Macht der Liebe

Danksagung

Weitere Titel von C.Choate

WAHRE FREUNDE

Jessica drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete ihre Haustür. Sofort wurde sie von aufgeregtem Gezwitscher empfangen. Tilly und Teddy, die beiden bunten Wellensittiche, flogen aufgeregt in ihrem Käfig hin und her. Die junge Frau hängte ihre Tasche an die Garderobe und trat auf den Käfig zu. „Na, ihr beiden. So aufgeregt? Ach, ich sehe schon. Ihr habt schon wieder alles abgeknabbert.“ Sie öffnete die Tür des Unterschrankes, holte ein Paket Vogelstangen hervor und hängte sie in den Käfig. Sofort gaben die beiden Tiere Ruhe und fingen gierig an, die Stangen zu bearbeiten. Jessica lächelte, setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und beobachtete die beiden einen Moment. Dabei öffnete sie ihre langen, kastanienbraunen Haare, die bisher in einem ordentlich geflochtenen Zopf geordnet gewesen waren, und schüttelte den Kopf. Nun fielen ihr die Haare in leichten Locken über den Rücken.

Obwohl Jessica noch nicht einmal neunzehn war, lebte sie bereits seit fast drei Jahren in dieser kleinen, gemütlichen Wohnung, genaugenommen seit dem Beginn ihrer Ausbildung zur Reisebürokauffrau, nachdem sie ihren Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 1,8 gemacht hatte. Eigentlich hätte sie auch das Abitur machen können, aber da sie kein Interesse daran hatte, anschließend zu studieren, hatte sie es vorgezogen, von der Schule abzugehen und ihr eigenes Geld zu verdienen.

Früher hatte sie mit ihren Eltern in einer Militärwohnung in Wiesbaden, später dann in einer Eigentumswohnung im Taunus gelebt. Ihr Vater, Jason Brown, war lange Jahre Militärpolizist in der US-Armee gewesen. Er war damals bereits in Deutschland stationiert, als ihre Mutter Christine ihn kennengelernt hatte. Die beiden hatten geheiratet und viele Jahre in Deutschland gelebt. Dennoch war Jessica immer auf eine deutsche Schule gegangen, hatte aber auch viele Kontakte zu amerikanischen Kindern gepflegt.

Ihre Eltern hatten schon immer den Traum, eine kleine Pension an einem warmen Ort zu eröffnen und als Jessica ihnen mitteilte, dass sie eine Ausbildung machen wollte, hatten sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und waren nach Amerika ausgewandert. Inzwischen waren sie die stolzen Besitzer einer kleinen Familienpension mit Frühstück in der Nähe von San Antonio, Texas. Jessica besuchte sie regelmäßig einmal im Jahr und ihre Eltern kamen ihrerseits in der Weihnachtszeit oft nach Deutschland, um die Feiertage mit ihrer einzigen Tochter zu verbringen. Zusätzlich telefonierten sie mindestens einmal die Woche oder schrieben doch wenigstens Mails, wenn es mal nicht möglich war. So nahmen Jason und Christina Brown auch in über achttausend Kilometern Entfernung an dem Leben ihrer geliebten Tochter teil. Gleichzeitig lebte sie ihr eigenes Leben, verdiente ihr eigenes Geld und genoss ihre Freiheit.

Einsam war sie deshalb noch lange nicht, denn sie traf sich regelmäßig mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Carolin, die von allen jedoch nur Caro gerufen wurde. Caro und sie waren seit der fünften Klasse die besten Freundinnen, unternahmen viel gemeinsam und kochten auch zusammen. Regelmäßig hatte einer von beiden bei der Freundin übernachtet, wodurch sie auch Carolins älteren Bruder inzwischen sehr gut kannte. Anfangs machte sich Mischa nicht viel aus der Gesellschaft der Mädchen. Immerhin war er drei Jahre älter als die beiden, doch als Jessica und ihre Freundin langsam aus dem Teeny-Alter herauswuchsen, stellte Mischa fest, dass es richtig lustig sein konnte, mit den beiden um die Häuser zu ziehen oder ins Kino zu gehen. Mit der Zeit entwickelte sich eine richtige Freundschaft zwischen den dreien und sie verbrachten jede freie Minute miteinander.

Und seit einem knappen Jahr hatten die drei sogar eine neue gemeinsame Leidenschaft. Jessicas Vater hatte seine Tochter schon als kleines Mädchen auf Country-Festivals mitgenommen und ihr viele der Tänze beigebracht. Als sie dann volljährig wurde, war er mit ihr bei einem Besuch in die amerikanischen Clubs gegangen und sie hatte später auch ihre Freunde für die Country-Musik begeistern können. Seitdem verbrachten die drei viele Wochenenden in einem der Country-Clubs im Rhein-Main-Gebiet. Jessica hatte ihnen die Grundschritte beigebracht und tanzte auch heute noch sehr gerne mit dem Freund. Mischa war groß und kräftig und man konnte sich in seinen Armen geborgen fühlen. Außerdem war der braunhaarige, junge Mann ein ausgezeichneter Tänzer, nachdem er erst einmal ein bisschen Übung im Two-Steps hatte. Und Carolin mit ihren langen, blonden Haaren, der schlanken Figur und den leuchtend blauen Augen hatte eigentlich nie Probleme, einen Tanzpartner zu finden. Sie war bald ebenfalls eine recht passable Tänzerin, bei der die Jungen regelmäßig Schlange standen.

Nachdem sich Jessica ein wenig von dem anstrengenden Arbeitstag ausgeruht hatte, ging sie in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Als sie gerade einen großen Topf mit Wasser auf den Herd gestellt hatte, klingelte ihr Telefon.

„Jessica Brown.“

„Hi, Jessy. Ich bin’s… Caro. Alles klar?“

„Sicher, nur ein bisschen verspannt vom langen Sitzen. Freue mich schon aufs Tanzen heute Abend. Ein bisschen Bewegung wird mir richtig guttun.“

„Ach ja, das Tanzen. Deshalb rufe ich an.“

„Was ist los, Caro? Willst du absagen?“, fragte Jessica mit enttäuschter Stimme.

„Nein, nein. Im Gegenteil.“

„Im Gegenteil?“

„Ja, also es ist so. Mischa hat doch schon öfter von seinem Freund erzählt, mit dem er viele Jahre lang die Schulbank gedrückt hat. Du hast ihn auch schon ein paarmal bei uns zu Hause gesehen.“

„Du meinst Christoph?“, fragte Jessica, „diesen gutaussehenden, dunkelhaarigen Jungen, der immer so zuvorkommend ist?“

Carolin lachte. „Ja, genau der.“

„Und? Was ist mit ihm?“

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir ihn heute Abend mitbringen?“

„Zum Essen?“, fragte Jessica.

„Ja, auch. Aber auch in den Club. Christoph hat gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht – oder besser: sie mit ihm. Und mein Bruder meint, er könnte ein wenig Ablenkung gut gebrauchen. Ein bisschen Tanzen, vielleicht was trinken und ein bisschen nette Gesellschaft. Und da hat er natürlich gleich an uns gedacht.“ Jessica konnte das breite Schmunzeln auf Caros Gesicht sogar an dem Klang ihrer Stimme erkennen.

„Klar könnt ihr ihn mitbringen. Dann sind die Verhältnisse endlich mal ausgeglichen. Sonst ist dein Bruder immer in der Minderheit. Kann er tanzen?“

„Du, ich habe keine Ahnung. Aber darum geht es vermutlich auch gar nicht. Also gut. Wir kommen dann wie besprochen um sieben zu dir. Vergiss nicht, ein weiteres Gedeck aufzulegen.“

„Werde ich schon nicht. Bis gleich, Caro.“ Jessica legte auf und fing an, den Tisch zu decken. Da heute auch noch der Freund von Mischa kommen würde, gab sie sich besondere Mühe und stellte sogar eine Kerze auf den kleinen Esstisch – etwas, das sie normalerweise nur an Weihnachten oder Geburtstagen tat. Chris sollte sich wohl fühlen und seinen Kummer möglichst vergessen. Sie wusste selber, wie es war, wenn man eine Trennung hinter sich hatte. Auch sie war schon einmal verliebt gewesen, das hatte aber nur wenige Wochen gehalten und mehr als Küsschen war damals eigentlich auch nicht passiert. Dennoch war sie anschließend nicht wirklich gut drauf gewesen, doch Caro und Mischa hatten ihr geholfen, darüber hinwegzukommen und heute war sie richtig froh, dass sie nicht mehr mit dem Jungen zusammen war. Er war ein Idiot gewesen und es nicht wert, ihm nachzutrauern. Allerdings hatte es eine Weile gedauert, bis sie das endlich kapiert hatte.

Nachdem Jessica das Wasser angestellt hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer und zog den Kleiderschrank auf. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über ihre Countryblusen gleiten und entschied sich schließlich für eine blaue Jeans und eine lange Jeansbluse mit Pferdemotiven und weißen Nähten. Dazu würde sie ihren weißen Cowboyhut tragen sowie ein paar weiße Cowboystiefel. Sie drehte sich vor dem großen Spiegel und war mit ihrem Aussehen zufrieden.

Frisch gestylt ging sie zurück in den Wohnbereich und hängte den Hut an die Garderobe. Dann kümmerte sie sich um das Abendessen: Spaghetti mit Käse-Sahne-Soße. Pünktlich um sieben klingelte es an der Tür. „Moment!“, rief sie aus der Küche, da sie gerade dabei war, die Nudeln in ein Sieb zu gießen. Dann ging sie zur Haustür und öffnete. „Hallo, ihr Lieben. Pünktlich auf die Minute. Bin gerade mit dem Kochen fertig. Kommt rein.“

Sie umarmte Caro und Mischa kurz, wie sie es immer tat, und reichte dann ein wenig unschlüssig Christoph die Hand, der seinerseits ebenfalls ein wenig unschlüssig in der Tür stand. „Hallo Christoph. Willkommen in meinem kleinen Reich. Schön, dass du uns heute begleiten willst.“

„Ich weiß nicht. Mischa hatte die Idee, aber ich möchte euch eigentlich nicht die gute Laune verderben“, antwortete der junge Mann ein wenig schüchtern.

„Keine Bange“, lachte Jessica. „Uns verdirbt man nicht so schnell die Laune. Du wirst sehen, es wird eher so sein, dass unsere gute Laune ansteckend wirkt. Komm‘, setz’ dich.“

Mischa warf Jessica einen dankbaren Blick zu. So kannte er das Mädchen: immer gut gelaunt, offen und freundlich. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, warum er früher immer einen großen Bogen um sie gemacht hatte. Okay, sie war drei Jahre jünger als er, aber Jessica wirkte älter und reifer als seine kleine Schwester. Und sie war ein toller Kumpel, das wusste er inzwischen nur zu gut.

Jessica schien Recht zu behalten. Christoph taute bereits während des Essens ein wenig auf, ging auf die kleinen Kabbeleien der drei Freunde ein und beteiligte sich an der angeregten Unterhaltung. Schließlich machten sich die vier jungen Leute auf den Weg in den Country-Club. Als Jessica ihren Hut aufsetzte und die Stiefel anzog, pfiff Christoph anerkennend durch die Zähne. „Schick. Trägt man das so, wo ihr immer hingeht?“

„Manche schon. Aber nicht alle. Also mach‘ dir keine Gedanken. Mischa geht immer so wie heute – mit Jeans und Hemd kann man eigentlich nichts verkehrt machen. Ich versuche schon eine geraume Zeit, ihn zu einem Cowboy-Hut zu überreden. Das steht ihm, er traut sich aber noch nicht. Na immerhin haben wir ihn schon zu den Stiefeln überredet, wie ich sehe. Heute Premiere?“ Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.

Mischa lief ein wenig rot an. „Na ja, ich dachte, ich könnte es mal versuchen, auch wenn es noch ein wenig ungewohnt ist, Absätze zu tragen. Ich dachte immer, das wäre nur etwas für euch Mädels.“

„Für deine Schwester vielleicht. Ich hasse Absätze…“, gab Jessica zu und ergänzte dann kichernd: „wenn sie nicht gerade unter den Cowboystiefeln hängen.“

„Also los, Leute. Hört auf, rumzualbern und lasst uns endlich fahren. Ich will tanzen“, forderte Caro den Rest der Truppe auf. Sie zog sich die Spange, mit der sie ihre langen, blonden Haare beim Essen zusammengehalten hatte, aus der Mähne und schüttelte sie auseinander. Sie bildeten zu der dunklen Bluse, die sie zu einem schwarzen Minirock trug, einen schönen Kontrast. Jessica wusste, dass im Auto noch ein ebenfalls schwarzer Hut liegen würde, der ihr Outfit abrundete. Im Gegensatz zu Jessica, die ihren natürlichen Look liebte, trug Caro auch ein wenig Makeup, aber sehr dezent, sodass es kaum auffiel.

Sie fuhren in Mischas Wagen zum Rainbow-Club nach Darmstadt, bezahlten den Eintritt und suchten sich einen kleinen Tisch an einer der Wände. Es war noch recht früh und infolgedessen war nicht viel los. Mischa stand auf und wandte sich an die anderen. „Cola, wie immer? Oder wollt ihr heute mal was für Erwachsene?“

Christoph folgte Mischa zur Bar und stand ein wenig unschlüssig davor. „Was ist los, Kumpel? Zu große Auswahl?“

„Nee“, gab sein Freund zu. „Du weißt doch, dass ich eigentlich selten etwas trinke. Aber die Mädels halten mich sicher für einen Waschlappen, wenn ich mit Cola oder so wieder auftauche.“

„Jessy und Caro? Bestimmt nicht. Ich verrate dir mal etwas. Seit wir zusammen tanzen gehen, habe ich Jessy und Caro nur zweimal gesehen, dass sie etwas Alkoholisches zu sich genommen haben. Normalerweise trinken die immer nur Cola. Und die beiden Male, wo sie etwas getrunken haben, haben sie sich den Cocktail sogar geteilt. Du brauchst also keine Angst zu haben. Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn du dich abschießen willst. Das mögen die zwei nämlich nicht so sehr. Ich bin hier der einzige, der hin und wieder mal ein Bier trinkt, aber dann steige ich meist auch wieder auf Cola um. – Also vier Cola?“

Christoph nickte erleichtert und kehrte wenig später mit Mischa an den Tisch zurück. Solange die anderen am Tisch saßen und sich unterhielten, wirkte Christoph aufgeschlossen und fröhlich. Doch wenn die drei auf der Tanzfläche verschwanden, schien er seinen Gedanken nachzuhängen. Wie immer wurde Caro von einer Unmenge an jungen Männern zum Tanzen aufgefordert, sodass Jessica mit Mischa tanzte, so wie sie es schon oft getan hatten. Bei einem langsamen Lied legte das Mädchen ihre Arme auf seine Schultern und er hielt sie an den Hüften, während sie sich zu den langsamen Klängen wiegten. Keiner von beiden hatte dabei ein ungutes Gefühl; sie waren Freunde und vertrauten einander und niemand nutzte die Situation in irgendeiner Weise aus, wie es manch anderer vielleicht getan hätte, den sie auf der Tanzfläche bemerkten: völlig fremde Menschen, die ihre Finger nicht von dem Tanzpartner oder der Tanzpartnerin lassen konnten. Jessica und Mischa ging es einfach nur um das Tanzen selber. Doch heute näherte sich Mischas Gesicht ihrem Ohr, während sie tanzten und Jessica überlegte schon, was er vorhatte, als er anfing zu sprechen: „Jessy, tust du mir einen Gefallen?“

„Was denn?“

„Meinst du, du könntest auch mal mit Chris tanzen? Er sieht so traurig aus und ich glaube, ein Tanz mit einem… mit dir würde ihm guttun.“

„Wenn du meinst. Natürlich.“

„Danke. Du bist ein Schatz.“

Als sie wenige Minuten später zurück an den Tisch kamen, setzte sich Mischa hin und trank einen großen Schluck aus seinem Becher. Jessica trank ebenfalls einen Schluck, blieb aber neben dem Tisch stehen. „Willst du dich nicht setzten?“, fragte Christoph irritiert.

„Eigentlich wollte ich gerne tanzen“, lächelte das Mädchen.

„Ach so. Na dann viel Spaß.“

„… mit dir, Christoph.“

Der junge Mann starrte sie ein paar Sekunden lang ungläubig an. „Wieso mit mir?“

„Wieso nicht? Oder hast du was gegen mich?“

„Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur… ich hab noch nie…“

Jessica lächelte ihn auffordernd an und hielt ihm ihre Hand hin. „Komm’! Ich zeige es dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Es gibt viele hier, die das noch nicht können. Aber niemand wird dich auslachen.“

Ein wenig zögernd folgte Christoph dem Mädchen auf die Tanzfläche. Sie stellte sich an den Rand, um die anderen Tänzer nicht zu behindern. „Es ist ganz einfach: Eins, zwo – eins – zwo – eins, zwo – eins – zwo. Siehst du? Ich fange mit dem rechten Fuß an, du mit dem linken. Und jetzt im Takt.“ Jessica führte ihn über die Tanzfläche und Christoph stellte sich gar nicht so schlecht an, für das erste Mal. Er hatte ein gutes Taktgefühl und passte sich ihren Bewegungen an. Bald hatte er den Dreh raus und übernahm die Führung. Im Laufe des Abends tanzten sie noch ein paar Mal zusammen und auch mit Mischas Schwester versuchte er sein Glück. Zum Schluss konnte er sogar die ein oder andere Drehung.

Der Abend hatte Wunder bewirkt. Christoph war auf andere Gedanken gekommen und Caro und Jessica hatten einen neuen Freund gewonnen. Von diesem Tag an waren die vier ständig zusammen, aus ihrem Trio war über Nacht ein Quartett geworden, das fast alles miteinander teilte, zusammen ins Kino ging, kochte und regelmäßig zum Tanzen fuhr. Binnen weniger Monate machten Caro und Jessica aus den beiden Jungen richtige Cowboys, die regelmäßig Aufsehen erregten und bei den weiblichen Gästen der Clubs hoch im Kurs standen. Zu mindestens so lange, bis diese bemerkten, dass keiner von beiden auf einen One-Night-Stand aus war.

Das änderte sich erst, als Mischa seine neue Freundin Silvia im Architekturbüro kennenlernte, wo er inzwischen arbeitete. Anfangs hatte er versucht, das Mädchen mitzunehmen, aber irgendwie passte die Chemie zwischen ihr und den anderen nicht. Silvia nörgelte herum, war am liebsten mit ihrem Mischa alleine und der junge Mann musste sich schließlich entscheiden. Da Silvia jedoch ebenfalls einen eigenen Freundeskreis hatte, mit dem Mischa nicht so wirklich warm werden wollte, einigten sie sich darauf, dass er mindestens einmal die Woche mit seinen Freunden etwas unternehmen durfte, während sie mit ihren Freundinnen unterwegs war. Das klappte eigentlich recht gut und ein paar Monate später, kurz nach Jessicas neunzehntem Geburtstag Anfang März, zog Mischa von zu Hause aus in die Wohnung seiner Freundin. Das hatte den Vorteil, dass er sich nun sogar wieder öfter mit seinen Freunden treffen konnte, da er und Silvia ja bereits jeden Abend nach der Arbeit zusammen sein konnten.

Mit der Zeit wurde aus den vier Freunden ein unzertrennliches Kleeblatt, das sich blind vertraute. Deshalb nahm es Mischa der Freundin auch nicht übel, als sie eines Abends das Gespräch mit ihm suchte. Mischa war ein bisschen früher gekommen, als Christoph und Carolin und sie setzten sich zusammen auf Jessicas Couch. „Darf ich dich mal etwas fragen, Mischa?“

„Klar, was immer du willst.“

„Bist du glücklich?“

„Was meinst du?“

„Ich rede von Silvia. Bist du glücklich mit ihr?“

„Ja, doch, ich denke schon“, antwortete Mischa, doch für Jessica wartete er ein bisschen zu lange mit der Antwort, um nicht hellhörig zu werden.

„Wirklich überzeugt klingt das aber nicht“, teilte sie ihm daher mit.

„Jessica, das ist auch nicht so ganz einfach. Silvia ist so ganz anders als ihr.“

„Hübscher?“, grinste das Mädchen.

„Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt. Du bist doch auch ein hübsches Mädchen, nur eben anders. – Nein, ich würde es eher… eleganter nennen. Du bist natürlich, rein, ein richtiger Kumpel. Silvia dagegen ist… wie soll ich das sagen? Ein richtiges Mädchen eben, mit allen Vor- und Nachteilen. Ich denke, ich liebe sie, aber mit ihr kann ich eben nicht Quatsch machen oder über gewisse Dinge reden, wie ich das mit dir oder Caro kann. Ich kann dir nicht sagen, ob die Beziehung von Dauer sein wird oder nicht, manchmal möchte ich Silvia am liebsten auf den Mond schießen und dann ist sie wieder so liebenswürdig, dass sie mich um den Finger wickelt. Kannst du das verstehen?“

„Möchtest du eine ehrliche Antwort?“

„Klar“, sagte Mischa, „ich war doch auch ehrlich zu dir.“

„Also gut. Ich denke, du weißt, dass ich von Silvia nicht allzu viel halte. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie mit dir zusammen ist, weil du gut aussiehst und alles machst, was sie will. Ich möchte nicht, dass sie dich ausnutzt und wegwirft, wenn sie genug von dir hat – möchte nicht, dass sie dir wehtut. Tu mir bitte den Gefallen und sei auf der Hut.“

Mischa gab ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte. „Du bist süß, Jessy. Aber mach‘ dir keine Sorgen. Ich weiß schon, was ich tue.“ Damit war das Gespräch beendet, doch Mischa hatte es nie wirklich vergessen – auch nicht, als sie einige Monate später wieder einmal zusammen in Jessica Wohnung beisammen saßen.

WANDERURLAUB MIT ÜBERRASCHUNGEN

„Ich kann es kaum erwarten, dass es losgeht“, stelle Jessica mit einem Seufzen fest.

„Endlich einmal ein paar Tage ausspannen, die Natur genießen und vor allem, weg aus dem Alltag“, stimmte Carolin ihrer besten Freundin zu.

„Ihr habt doch keine Ahnung“, warf Christoph mit einem Grinsen ein, „das Beste wird definitiv, vierundzwanzig Stunden mit den tollsten Menschen zusammen zu sein, die es auf der Welt gibt.“

Mischa klopfte ihm auf die Schulter. „Hey, Junge. Jetzt werde mal nicht sentimental. – Aber eigentlich hast du ja Recht. Die Zeit mit euch wird bestimmt klasse. Wir sind eben ein Spitzen-Team, wir vier – ein richtiges Kleeblatt halt.“ Der große, junge Mann blickte von einem zum anderen.

Da Silvia zwei Monate auf einer Fortbildung war, würde Mischa den Urlaub mit seinen besten Freunden verbringen und eine Reise machen. Die vier hatten einen Wanderurlaub in Österreich geplant und heute war der letzte Abend vor der Abfahrt. Deshalb hatten sich die vier noch einmal in Jessicas Wohnung getroffen, um durchzugehen, ob sie an alles gedacht hatten. Morgen früh würden sie dann mit Mischas Auto auf die Reise gehen. Sie hatten sich für zwei Wochen ein kleines Appartement gemietet, das über drei Schlafzimmer verfügte – zwei Einzel- und ein Doppelzimmer. Die Mädchen hatten beschlossen, das Doppelzimmer zu nehmen und die beiden Jungen würden jeder ein kleines Zimmer für sich alleine haben.

„Sag’ mal, hat eigentlich irgendjemand an Verbandszeug gedacht?“, fragte Christoph plötzlich. „Ich meine, immerhin wollen wir wandern gehen, da sollten wir wenigstens ein paar Blasenpflaster und vielleicht was zum Verbinden mitnehmen, falls jemand umknickt.“

„Nee, verdammt. Das haben wir vergessen“, antwortete Carolin erschrocken. „Jessy, hast du zufällig noch was im Haus? Oder müssen wir morgen auf dem Weg etwas besorgen?“

„Ich bin mir nicht sicher. Lass’ mich mal nachsehen.“ Jessica ging zum Badezimmer, um zu schauen, was sie vorrätig hatte. Als sie nach einigen Minuten immer noch nicht wieder da war, folgte Christoph ihr, um eventuell behilflich zu sein.

„Jessy? Brauchst du Hilfe?“, fragte er, als er in die Tür trat.

Jessica hatte gerade auf einem Stuhl gestanden, um im obersten Regal im Badezimmerschrank herumzukramen, in dem sie das Gewünschte vermutet hatte. Sie war schließlich auch fündig geworden und gerade im Begriff, wieder herunterzusteigen. „Nein, danke. Hab’s schon gefunden“, grinste sie ihn an und deutete auf den Rand des Waschbeckens, wo sie das Verbandsmaterial abgelegt hatte, bevor sie vom Stuhl geklettert war. Gleichzeitig griffen sie nach der Verbandstasche und seine Hand war nur ein Bruchteil langsamer als ihre. Daher griff er nicht nach der Tasche, sondern nach Jessicas Hand.

Für ein paar Sekunden ruhte sie auf ihrem Handrücken und Jessica durchzuckte ein Kribbeln, als sie es bemerkte. Langsam zog sie ihre Hand unter der seinen hervor, während Christoph eine Entschuldigung murmelte.

Kurz darauf kamen sie gemeinsam zurück ins Wohnzimmer. Jessica schwenkte die Verbandstasche in der Hand. „Gefunden!“, rief sie und stopfte die Tasche in ihren kleinen Koffer.

„Haben wir sonst noch was vergessen?“, fragte Mischa in die Runde und alle schüttelten den Kopf. „Dann brauchen wir morgen früh nur noch ein paar Getränke und was zum Essen für die Fahrt einpacken, bevor es losgeht.“

„Und vergiss die Straßenkarte nicht, Chris. Wer weiß, wo wir sonst landen“, lachte Carolin. „Wenn mein Bruder am Steuer sitzt, weiß man ja nie.“

Das Mädchen erntete einen Knuff in die Seite für diese Bemerkung, bevor sich Mischa wieder zurück auf die Couch fallen ließ. „Jemand noch Lust auf ein Video?“, fragte er dann. Allgemeine Zustimmung war die Antwort und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie sich auf einen Film geeinigt hatten. Zusammen setzten sie sich auf das große Sofa in Jessicas Wohnzimmer. Zu viert war es fast ein wenig eng, doch die vier kannten sich lange genug, um keine Berührungsängste zu haben. Sie hatten schon oft hier zusammengedrängt gesessen und Filme geschaut. Auch diesmal setzte sich Jessica zwischen die beiden Jungen und dachte sich überhaupt nichts dabei.

Christoph hob die Arme auf die Rückenlehne und legte sie den beiden Mädchen um die Schultern. Mischa grinste ihn an: „Du fühlst dich wieder pudelwohl, zwischen unseren beiden Mädels, Chris. Kann das sein?“

„Mann, Mischa! Gönn‘ mir doch auch mal was. Immerhin hast du als einziger von uns eine feste Freundin. Lass’ mir doch auch mal meinen Spaß.“ Zwei Ellenbogen trafen ihn gleichzeitig in die Seite. Christoph krümmte sich spielerisch zusammen. „Oh, tut das weh. Ich glaube, ich sterbe, wenn ihr mich nicht wiederbelebt.“ Die Mädchen lachten vergnügt und gaben ihm jede einen Kuss auf eine der Wangen. Lächelnd richtete er sich wieder auf. „Ihr habt mich gerettet, meine Engel.“

Mischa beobachtete das Schauspiel von einem Ohr zum anderen grinsend. „Meinst du nicht, dass du dich dann mal für eine entscheiden solltest?“

„Wozu denn? Ich kann doch beide haben“, antwortete Christoph mit ernstem Gesicht.

„Sei mir nicht böse, Chris“, lachte Carolin, „aber du bist leider nicht mein Typ.“

„Schade. Dann muss ich eben mit Jessy vorlieb nehmen.“ Er drehte sich zu dem Mädchen um und wollte ihr einen Kuss auf die Wange drücken, was auch kein Problem gewesen wären, hätte sie sich nicht im gleichen Moment zu ihm umgedreht. Dadurch traf sie sein Kuss mitten auf den Mund. Erschrocken fuhren die beiden auseinander und blickten sich an. Dann fingen sie zusammen mit den beiden anderen an, aus vollem Halse zu lachen.

Nach dem Film verabschiedeten sich Christoph, Mischa und Carolin von ihrer Gastgeberin, da sie am nächsten Morgen recht früh losfahren wollten. „Macht‘s gut, ihr drei. – Und verschlaf’ nicht wieder, Chris“, sagte Jessica zum Abschied und schloss die Tür hinter ihnen.

„Zu Befehl, schöne Frau“, hörte sie seine Antwort noch durch die Wohnungstür und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Am Ende einer achtstündigen Autofahrt erreichten die vier Freunde ihr Ziel in Österreich, ein kleiner, idyllischer Ort in den Bergen. Das Wetter war herrlich; der August lief noch einmal zur Höchstform auf. Die Sonne schien von einem strahlend, blauen Himmel und die jungen Leute waren froh, endlich aus dem heißen Auto rauszukommen. Etwas erschöpft, aber gut gelaunt, nahmen sie ihre Taschen und Koffer aus dem Kofferraum, betraten ihr Feriendomizil und bezogen ihre Zimmer.

„Toll ist das hier“, seufzte Mischa mit einem Blick auf die Terrasse.

„He, habt ihr gesehen, dass es am Ende des Weges ein Schwimmbad gibt?“, fragte Christoph, der nochmal kurz am Auto gewesen war, um ein paar CD’s zu holen.

„Das stand doch im Prospekt, du Dödel“, lachte Mischa, „hast du das denn nicht gelesen?“

„Wieso denn? Ihr habt doch gesagt, dass es genau das Richtige ist. Da muss ich mir doch nicht die Mühe machen“, antwortete der Freund schlagfertig und grinste.

„Du bist nicht mehr zu retten, Chris“, stellte Carolin fest, die in der Tür ihres Zimmers lehnte und die beiden Jungen beobachtete.

„Hey, was haltet ihr von einem Bummel durch den Ort? Dann können wir gleich nach einem Restaurant Ausschau halten. Und wo es uns gefällt, essen wir einfach etwas. Ich hab‘ nämlich ehrlich gesagt keinen Bock, heute Abend noch einkaufen und kochen zu müssen.“

Jessicas Idee wurde erfreut angenommen. Auch die Freunde hatten wenig Lust aufs Einkaufen. Also schnappten sie sich die beiden Wohnungsschlüssel und gingen hinaus in den lauen Sommerabend. Arm in Arm schlenderte das Kleeblatt durch die Straßen des verschlafenen Nests, bis sie die Ortsmitte erreichten, in der es einige Geschäfte, eine Bank und zwei Restaurants gab. Neugierig betrachteten sie den Aushang der Speisekarten.

„Worauf habt ihr Lust? Italienische oder österreichische Küche?“, fragte Mischa die Freunde.

„Österreichisch“, antworteten drei Stimmen im Chor.

„Also dann, auf zur Linzer Stube.“

Nach dem Essen gingen sie noch eine Runde spazieren, doch als Carolin einen Migräneanfall bekam, hielt Jessica es für besser, zur Wohnung zurückzugehen. „Jessy, lass’ mal. Ich muss mich einfach nur hinlegen. Geht ihr ruhig noch eine Runde und schaut euch den Rest des Ortes an. Ich werfe mir eine Migränetablette ein und bis ihr nach Hause kommt, bin ich bestimmt wieder fit.“

Mischa sah seine Schwester besorgt an. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich den ganzen Weg alleine laufen lasse. Ich bringe dich natürlich nach Hause, kleine Schwester. – Hast du den zweiten Schlüssel, Chris?“

Christoph klopfte auf seine Hosentasche. „Hab‘ ich. – Komm’, Jessy, wir schauen mal, was der Ort sonst noch so zu bieten hat.“

„Soll ich nicht besser mitkommen, Caro?“, fragte das Mädchen mit einem Blick auf die beste Freundin.

„Ach quatsch. Mischa ist doch da.“

Also machten sich Mischa und seine Schwester auf den Weg zurück zur Ferienwohnung, während die zwei anderen in die entgegengesetzte Richtung gingen. Inzwischen wurde es bereits dunkel. Jessica drehte sich noch einmal um und Chris legte ihr den Arm um die Schulter. „Die wird schon wieder. Spätestens morgen früh ist sie wieder fit und rennt uns allen davon den Berg rauf.“

„Du hast ja Recht. Vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen.“

Der Junge drückte sanft ihre Schulter. „Genauso kenne ich dich, Jessica Brown. Immer um die anderen besorgt. Nur vergisst du dabei manchmal dich selbst.“

Jessica blickte ihn fragend an. „Wie meinst du das?“