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Verlorene Seelen 15 - Rätsel der Vergangenheit Der 15-jährige Sam ist sauer. Anstatt mit seinen Freunden nach Mallorca zu fliegen, wird er seine Sommerferien in einem gruseligen Haus an der Nordseeküste verbringen müssen. Und alles nur wegen seiner ein Jahr älteren, asthmakranken Schwester, die er manchmal am liebsten auf den Mond schießen würde. Doch dann entdeckt Sarafine einen Brief, der 37 Jahre lang darauf gewartet hat, entdeckt zu werden. Eine abenteuerliche Suche beginnt für die beiden Geschwister, die sie auf die Spur eines Verbrechens führt. Ob sie es schaffen können, die Rätsel der Vergangenheit zu lüften?
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Haus am Meer
Der geheimnisvolle Brief
Die Suche beginnt
Zwei plus Zwei macht vier
Höhen und Tiefen
Heimlichkeiten
Geisterjagd
Die Suche geht weiter
Ferienbeginn
Pressebesuch
In der Seehundstation
Ein Mord verjährt nie
Schlechter Scherz oder bitterer Ernst?
Der verschollene Bruder
Brüderchen und Schwesterchen
Verlorene Freundschaft
Danksagung
Weitere Titel von C.Choate
„Mann, ist das öde hier“, nörgelte Samuel bestimmt zum dritten Mal, während sie durch kleine Ortschaften fuhren, die beinahe ausgestorben schienen. „Was soll ich hier bloß acht Wochen lang machen? Totlangweilig!“
„Jetzt warte doch erst einmal ab, Sam“, versuchte ihn die Mutter zu beschwichtigen. „Das wird sicher spannend.“
„Was?“, schnaubte der gerade 15-Jährige verächtlich. „Zu beobachten, wie eine Qualle in der Sonne vertrocknet – oder wie Wattwürmer ihre Haufen hinterlassen? Na, vielen Dank auch. Ich kann mir spannendere Ferien vorstellen. Warum konnte ich nicht mit Lukas auf die Malediven fliegen oder wenigstens mit Thomas nach Malle? Stattdessen hocke ich hier in dieser Einöde fest.“
„Sam, bitte“, sagte der Vater streng. „Du weißt ganz genau, warum wir hier sind. Du willst doch auch, dass Fine wieder gesund wird.“
„Ja, schon“, gab der Junge zu und warf seiner Schwester einen Blick zu, die verzweifelt versuchte, ihre Tränen zu verbergen, indem sie aus dem Fenster starrte. „Aber dafür braucht sie mich doch nicht.“
„Wäre es dir lieber gewesen, die letzten zwei Wochen des Schuljahres noch in die Schule zu gehen? Immerhin hat dir Fine verlängerte Sommerferien beschert.“
„Na, ja, dass stimmt ja auch nicht so ganz. Ich bekomme doch Arbeitsaufträge und muss per Video-Chat mit den Lehrern sprechen.“
„Du kannst wenigstens in die Schule gehen“, kam es leise von dem Mädchen mit den dunkelblonden Haaren. „Ich gäbe viel dafür, wenn ich es könnte.“
„Finchen, sei nicht traurig. Nach den Ferien geht es dir bestimmt wieder gut genug, um am Unterricht teilzunehmen. Deshalb sind wir doch hier. Damit du wieder gesund wirst und alles machen kannst, was andere in deinem Alter auch machen.“
„Mama! Machen wir uns doch nichts vor. Ich werde niemals wie andere sein.“ Sie drehte den Kopf wieder zum Fenster und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln.
Sam senkte verlegen den Kopf und sagte nichts mehr. Er wusste, wie sehr seiner Schwester ihre Krankheit manchmal zu schaffen machte und wie sehr sie sich wünschte, Sport zu machen, zu tanzen oder einfach mal um die Wette zu laufen. Früher war sie eine leidenschaftliche Tänzerin gewesen. Als kleines Mädchen hatte sie mit Ballett angefangen und war dann zum Jazztanz in eine Kindergruppe gekommen. Damals zeigten sich die ersten Anzeichen ihrer Krankheit, die sie jedoch anfangs zu überspielen versuchte. Doch als die Anfälle immer häufiger und schlimmer wurden, musste sie das Tanzen komplett aufgeben. Seitdem war sie in Behandlung, doch die Symptome wurden eher schlimmer als besser. Bis sie vor wenigen Monaten schließlich mitten auf dem Schulhof zusammengebrochen war und mit einem Notarztwagen in die Klinik gebracht werden musste. Dann kam noch eine Lungenentzündung dazu, die sie zwang, lange in der Klinik zu bleiben. Die Ärzte rieten den Eltern, dass Sarafine dringend einen Luftwechsel benötigte. Sie müsste ans Meer, um wieder gesund zu werden.
Und deshalb fuhren sie nun durch diese Einöde und würden die nächsten zwei Monate hier verbringen müssen. Sam seufzte. Er liebte seine Schwester, doch manchmal wünschte er sich, es würde sich nicht immer alles um sie drehen müssen. Er hatte auch Wünsche und Bedürfnisse. Und im Moment wünschte er sich einfach nur ganz weit weg. Irgendwo, wo Action war, wo man was erleben und auf Partys gehen konnte und wo seine Freunde waren. Sprich: überall, außer hier!
Eine betretene Stille folgte, bis Vater Sven schließlich den Wagen anhielt. „Ich glaube, wir sind da. Ist das nicht toll?“
Die beiden Kinder warfen einen Blick auf das Gebäude, das vor ihnen aufgetaucht war und vor dem ihr Vater den Wagen geparkt hatte. Das Haus wirkte alt und verwittert, fast wie eine kleine Burg. Die grauen Mauern waren mit Efeu bewachsen, was es ein wenig lebendiger aussehen ließ. Der Vorgarten war gepflegt und zeigte bunte Blumen und Büsche. Sarafine konnte das Meer riechen. Es konnte nicht weit weg sein.
„Ist das nicht toll?“, wiederholte ihr Vater und schien ein wenig verwundert über die zurückhaltende Begeisterung seiner Familie.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Mutter Sandra vorsichtig.
„Natürlich bin ich das. Ich wusste es sofort, als ich das Bild gesehen habe. Dieses Haus hat etwas, das mich sofort angesprochen hat. Ich habe keine Ahnung, warum, aber es fühlt sich an… wie ein Zuhause?“
Samuel konnte sich das Kichern nicht verkneifen. „Wessen Zuhause meinst du? Graf Dracula?“
Sarafine und ihre Mutter fielen in das Kichern ein, doch Vater Sven blieb todernst. „Denk’ doch mal daran, wie toll man hier verstecken spielen kann. So viele Zimmer und Gänge. Wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?“
„Sorry, Paps. Den muss ich wohl zu Hause vergessen haben“, gab sein Sohn trocken zurück und öffnete den Kofferraum des Wagens. „Also los, Leute. Gehen wir in die Höhle des Löwen. Wer weiß, vielleicht erwartet uns ja wirklich Frankenstein. Dann wäre hier wenigstens mal was los.“
Seine Schwester boxte ihn in die Seite und nahm eine der Taschen von ihm in Empfang, um sie ins Innere zu tragen. Währenddessen hatte ihr Vater bereits geklingelt und wurde von einer älteren Dame begrüßt, die eine Schürze trug. Sie wirkte irgendwie traurig, sogar verbittert und warf einen strengen Blick auf die beiden Kinder, die ihren Eltern nun folgten. „Mein Name ist Smilla. Ich bin die Haushälterin.“
„Guten Tag, Smilla“, antwortete der Vater freundlich und reichte ihr die Hand, die sie für einen Moment skeptisch betrachtete, bevor sie sich dazu herabließ, sie ihm zu schütteln. „Wir sind die Schweigers. Wir kommen aus Hessen. Das ist meine Frau…“ Er deutete auf Sandra. „…und das sind unsere beiden Kinder Samuel und Sarafine.“
„Ich bin informiert. Folgen Sie mir bitte. Ich zeige Ihnen das Haus.“
Sarafine warf ihrem Bruder einen Blick zu. Das konnte ja heiter werden. Nicht nur, dass sie im Schloss von Frankenstein gelandet waren – es gab sogar einen Hausdrachen.
Samuel seufzte und zuckte die Schultern. Das würden die schlimmsten Ferien werden, die er je erlebt hatte.
Unter der Führung von Smilla lernten sie das Haus kennen. Sie führte sie durch die Wohnräume im Erdgeschoss und schärfte den Kindern ein, dass sie nichts im Keller oder in ihren Privaträumen zu suchen hätten. Diese waren sogar mit einem Zutritt verboten-Schild gekennzeichnet. ‚Für wie blöd hält die uns eigentlich? ‘, dachte Sarafine, sagte aber nichts. Doch sie konnte an den Blicken ihres Bruders sehen, dass er nicht abgeneigt war, mal einen Blick in die verbotenen Räume zu werfen. Warnend schüttelte sie den Kopf in seine Richtung. Doch Samuel grinste nur zurück.
Die steile Treppe zum oberen Stockwerk bereitete dem Mädchen Schwierigkeiten. Sie geriet schnell aus der Puste und brauchte daher länger als die anderen, denen Smilla bereits die Schlafzimmer zeigte. Dadurch hatte ihr Bruder die Möglichkeit, sich das Beste auszusuchen: „Ich nehme das hier!“, stellte er entschieden fest und Sarafine dachte nicht mal daran, ihm zu widersprechen. Er musste bereits auf so viel verzichten, nur weil sie krank war und die Seeluft benötigte. Da würde sie ihm gerne den Vortritt lassen. „Du kannst das Zimmer nehmen, Fine“, sagte er und deutete auf einen Raum, der seinem gegenüberlag. Sie nickte und stellte ihre Tasche in die Tür, ohne sich groß umzusehen, da Smilla und die Eltern bereits weitergegangen waren. Es gab noch ein Doppelschlafzimmer für das Ehepaar, zwei Bäder, ein Bügelzimmer und eine weitere Tür mit dem Vermerk Zutritt verboten.
„Was liegt dort?“, fragte Samuel neugierig.
Smilla warf ihm einen strengen Blick zu. „Kannst du lesen?“
„Klar. Wieso fragen Sie?“, kam es irritiert zurück.
„Weil dort klar und deutlich steht, dass du dort nichts zu suchen hast. Also kann es dir doch egal sein, was dahinter verborgen liegt, oder?“
„Sicher“, gab der Junge kleinlaut zu, doch seine Schwester konnte ihm ansehen, dass er jetzt erst richtig neugierig geworden war. Verbotene Räume schienen eine magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Sie schnappte sich seinen Arm und zog ihn ein wenig von den anderen weg. „Lass’ es lieber!“, mahnte sie mit leiser Stimme. „Ich möchte mich ungerne mit ihr anlegen. Immerhin müssen wir die nächsten zwei Monate mit ihr auskommen.“
„Mann, Fine. Gönne mir doch wenigstens ein wenig Abenteuer, wenn ich schon in dieser Einöde versauern muss.“
Sarafine seufzte. „Aber halt’ mich da raus“, bat sie.
Ohne ihr eine Antwort zu geben, rief der Junge zu den Eltern, dass er die Sachen aus dem Auto holen würde. Seine Schwester folgte ihm langsam die Treppe hinunter. Sie konnte zwar die schweren Koffer nicht tragen – schon gar nicht die Treppe rauf – doch es gab auch ein paar Kleinigkeiten, bei denen sie durchaus helfen konnte.
Dennoch bekam sie einen leichten Anfall von Atemnot, als sie das letzte Mal die Treppe hinaufging und eine Tasche auf den Boden stellte. „Finchen, was machst du denn? Das können doch Papa und Sam machen. Du weißt, dass du dich nicht überanstrengen darfst“, sagte die Mutter besorgt und eilte ihrer Tochter zu Hilfe, um sie in ihr Zimmer zu bringen und ihr mit dem Asthmaspray zu helfen.
„Mutti, bitte. Es geht schon wieder. Kannst du nicht verstehen, dass ich auch mal was machen möchte?“
„Doch, natürlich. Aber du musst Geduld haben. Wir sind gerade erst angekommen. Gib deinem Körper die Zeit, um sich an die Luft hier zu gewöhnen. Du wirst sehen, dann bist du ganz schnell wieder in der Lage, Dinge zu tun, die du jetzt nicht machen kannst. Komm’, Schatz. Lege dich aufs Bett und ruhe dich ein wenig aus. Und wenn es dir besser geht, machen wir einen schönen Spaziergang an der frischen Luft. Das wird dir bestimmt guttun.“
„Sicher“, antwortete das Mädchen ohne rechte Überzeugung. Doch sie wusste auch, dass ihre Mutter nicht lockerlassen würde, falls sie sich weigern sollte, ihre Anweisungen zu befolgen. Also ließ sie sich auf das Himmelbett fallen, das in der Mitte an einer Wand stand und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Braves Mädchen“, lächelte die Mutter und wandte sich zur Tür. „Rufe mich, falls etwas sein sollte.“
Damit verschwand sie aus dem Zimmer und Sarafine hatte erstmals die Gelegenheit, sich richtig in ihrem neuen Zuhause umzusehen, in dem sie die nächsten zwei Monate verbringen sollte. Sie fing an zu verstehen, warum ihr Bruder das andere Zimmer vorgezogen hatte. Dies hier war ein typisches Mädchenzimmer. Allein die kleinen, geblümten Vorhänge am Himmelbett deuteten darauf hin, dass hier mal ein Mädchen gelebt hatte. An der Wand hing ein Spiegel und davor stand ein kleines Tischchen aus altem Holz. Es wirkte wie ein Schminktisch oder ein sehr kleiner Schreibtisch. Der Kleiderschrank war ebenfalls aus massivem Holz. Auf dem Boden lag ein Plüschteppich.
Alles war sauber und es roch, als wenn vor kurzem gewischt worden wäre. Ein Hauch von Zitrone lag in der Luft. Doch die Möbel waren alt und abgenutzt und standen mit Sicherheit schon viele, viele Jahre in diesem Raum.
Sarafine stand auf und ging zu den beiden kleinen Fenstern, die rechts und links von dem riesigen Bett lediglich ein klein wenig der Mittagssonne hereinließen. Sie öffnete die ebenfalls geblümten Vorhänge vollständig, um so viel Licht wie möglich hereinzulassen. Dadurch wirkte das Zimmer gleich ein wenig freundlicher. Neugierig öffnete sie das Fenster und sog die Luft in ihre angegriffenen Lungen. Sie schmeckte irgendwie salzig und das Mädchen glaubte sogar, Fisch zu riechen. Aber vielleicht bildete sie sich das auch einfach nur ein. Das Meer konnte sie allerdings nicht sehen, da die Fenster nach vorne zur Straße hinausgingen.
Doch sie spürte sofort, dass ihr das Durchatmen leichter fiel, als es zu Hause in der Großstadt der Fall war. Sollten die Ärzte tatsächlich Recht behalten und sie würde hier wieder gesund werden? Und was wäre dann, wenn sie zurück nach Hause gehen würden? Würde es dann wieder schlimmer werden? Musste sie vielleicht für immer hierbleiben?
Das konnte sie ihrem Bruder nicht antun. In dieser Beziehung waren sie doch recht unterschiedlich. Während die knapp 16-jährige Sarafine auch gerne mal auf der Wiese lag, die Vögel beobachtete, vor sich hinträumte oder einfach mal ein Buch las, war ihr zehn Monate jüngerer Bruder, der gerade seinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert hatte, eher der Draufgänger. Er brauchte Action, war viel mit dem Fahrrad unterwegs, traf sich mit Freunden, um zu zocken oder ins Kino zu gehen, oder konnte stundenlang am PC hängen.
Seufzend riss sie sich von dem Fenster los und fing an, ihren Koffer auszupacken und ihre Sachen wegzuräumen. Dabei stolperte sie versehentlich über eine lockere Bohle des alten Holzbodens, die ein paar Millimeter hochstand. Sie konnte sich gerade noch an einem der Stützbalken des großen Bettes festhalten, um nicht zu stürzen. Mit dem Fuß trat sie auf die Stelle, um das Brett wieder in Position zu bringen.
Nachdem ihre Sachen alle einen Platz gefunden hatten, schnappte sie sich ihr Handy und machte sich auf den Weg nach unten. Sie fand ihre Eltern im Gespräch mit Smilla vor. „Mama? Paps? Ich gehe mal ein wenig nach draußen.“
„Warte, Kind. Wir wollten doch sowieso ein bisschen spazieren gehen. Wir kommen gleich.“
„Eigentlich wollte ich…“, fing das Mädchen an, doch als sie den besorgten Blick ihrer Mutter bemerkte, brach sie mitten im Satz ab. Das kannte sie inzwischen seit Jahren. Immer waren die Eltern besorgt, dass etwas passieren könnte. Wenn sie mal allein nach draußen ging, dann wurde vorher immer abgefragt, ob sie ihre Medikamente dabeihatte und ihr Telefon, falls sie einen Anfall haben sollte. Obwohl ihr bei einem schweren Anfall das Telefon auch nicht wirklich helfen konnte, denn dann war sie nicht mehr in der Lage, den Notruf zu wählen. Sie konnte ihre Eltern ja auch irgendwie verstehen, doch sie war immerhin fünfzehn, in zwei Monaten sogar sechzehn, kam sich jedoch vor wie ein Kleinkind, das nicht allein irgendwas machen durfte.
„Na gut“, gab sie sich geschlagen. „Aber vor der Tür warten darf ich doch, oder?“
„Finchen, verstehe doch bitte…“, fing ihre Mutter an, doch ihre Tochter unterbrach sie.
„Schon gut, Mama. Ich weiß schon.“ Mit hängenden Schultern verschwand sie durch die Tür in den Garten, der von Zäunen eingefasst war und in dessen Mitte ein riesiger Ahorn stand, unter dem man sich bestimmt toll ausruhen konnte. Er spendete viel Schatten und war von einem ordentlichen Rasen umgeben. Am hinteren Ende des riesigen Gartens stieg dieser steil an und an einer Seite war eine Treppe in den Boden eingelassen. Neugierig lief sie in diese Richtung, während sie hin und wieder einen Blick zum Haus warf, um zu sehen, wann ihre Eltern kamen. Als sie die Treppe erreicht hatte, traten die Eltern gerade aus dem Gebäude. Doch sie folgten ihr, sodass sie langsam weiterging und die klare Luft durch ihre Lungen strömen ließ. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie das Gefühl, dass sie es sogar wagen könnte, ganz tief einzuatmen, ohne gleich einen Anfall zu bekommen. Doch die Angst saß ihr zu tief in den Knochen, als dass sie es versuchen wollte. Sie wollte ihre Lungen langsam daran gewöhnen, wieder mehr Volumen aufzunehmen, als es normalerweise der Fall war, denn sie atmete meist nur recht flach, weil sie dadurch nicht ganz so oft unter den Asthmaanfällen litt.
„Na, hast du unseren ganz persönlichen Zugang zum Meer bereits entdeckt?“, fragte ihr Vater grinsend, als er mit seiner Frau die Tochter erreichte. Man konnte ihm ansehen, wie ihm all das hier gefiel.
Sarafine lächelte, als sie es bemerkte. Dann warf sie ihm einen fragenden Blick zu und deutete mit der Hand auf den Hügel, der sich vor ihr auftürmte. „Du meinst, dass das Meer direkt dahinter ist?“
„Sieh doch einfach mal nach“, forderte sie der Vater auf, woraufhin das Mädchen neugierig die ersten Stufen hinaufging, immer darauf bedacht, sich nicht zu überanstrengen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie die circa fünfzehn Stufen überwunden hatte, doch als sie schließlich auf der Düne angekommen war, klappte ihr vor Erstaunen der Mund herunter. Das Meer war nur wenige Meter von ihnen entfernt – zumindest, wenn es denn da gewesen wäre. Doch zurzeit schien Ebbe zu sein, deshalb konnte sie das Wasser lediglich in der Ferne glitzern sehen. Vor ihr lag ein schmaler Weg, umgeben von Sand und Schilfpflanzen, der direkt an den Strand führte, der sich zwischen der Düne und dem Ufer ausbreitete. Auf der Düne entlang führte ein schmaler, geteerter Weg in beide Richtungen. Als sich das Mädchen umdrehte, bemerkte sie ein kleines Schild, das direkt am Beginn der Treppe stand. PRIVATWEG – ZUTRITT VERBOTEN. Also war der geteerte Weg wohl für alle freigegeben und es könnte sein, dass hier Touristen oder Einheimische den lieben langen Tag entlanglaufen würden. Doch das sollte die Familie nur geringfügig stören, solange die nicht einen Heiden-Lärm veranstalteten, denn bis auf die Treppe war der Hang mit Büschen bepflanzt, die die Sicht auf den Garten ein wenig einschränkten – und somit auch den Blick vom Garten auf den Weg.
„Und? In welche Richtung wollen wir gehen?“, fragte die Mutter nun, die inzwischen ebenfalls oben angekommen war.
„Können wir zum Watt gehen?“, fragte das Mädchen hoffnungsvoll.
„Schaffst du das denn durch den Sand?“, war die Gegenfrage ihres Vaters.
„Bestimmt“, gab Sarafine mit Überzeugung zurück. Doch nach wenigen Minuten musste sie sich selbst eingestehen, dass es gar nicht so einfach war, durch den weichen Sand zu laufen. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und genoss das Gefühl der Wärme zwischen ihren Zehen. Doch es war auch sehr anstrengend, sich seinen Weg zu bahnen, und sie atmete schwer, als sie endlich den festeren Sand erreichten.
„Vielleicht sollten wir eine kleine Pause machen“, schlug Sven besorgt vor. „Es ist ganz schön anstrengend, so durch den Sand zu laufen. Ich bin das nicht mehr gewöhnt.“
Sarafine konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Ihr war natürlich klar, dass er es nur auf sich schob, in Wirklichkeit jedoch wegen ihr die Pause vorschlug. Dennoch hatte sie nichts dagegen einzuwenden und ließ sich in den warmen Sand fallen. Es war ziemlich heiß, doch durch den Wind, der hier wehte, war es gut auszuhalten. Neugierig beobachtete das Mädchen die kleinen Boote, die in der Ferne vorbeifuhren. Dabei fiel ihr auf, dass das Wasser zurückzukommen schien, denn der Streifen Watt wirkte nicht mehr so weitläufig, wie noch vor einer halben Stunde, als sie ihn das erste Mal erblickte.
Ihre Atmung wurde wieder ruhiger, während sich ihre Lungen wieder und wieder mit der frischen Meeresluft füllten. Schließlich stand sie auf und drehte sich zu ihren Eltern um. „Ich gehe mal ein bisschen runter ins Watt... Wattwürmer suchen.“
Ihr Vater lächelte. „Tue das. Wir bleiben solange hier sitzen. Aber gehe nicht zu weit raus, die Flut kommt.“
„Weiß ich. Aber danke für den Hinweis. Ich bleibe in der Nähe des Strandes.“ Sie ließ ihre Sandalen bei den Eltern und kletterte über eine kurze Treppe ins Watt hinunter. Der nasse Sand fühlte sich merkwürdig an, kühl und glitschig. Doch das störte Sarafine nicht wirklich. Sie lief weiter auf das Meer zu und beobachtete dabei den Boden. Überall waren winzige Sandhäufchen zu sehen, auf die man zwangsläufig treten musste, da es kaum einen Zentimeter gab, der nicht mit ihnen bedeckt war. Die Würmer hatten scheinbar ganze Arbeit geleistet. Dennoch fand sie keinen einzigen dieser regenwurmartigen Tierchen im Sand. Dafür hätte sie vermutlich richtig graben müssen.
Doch einem anderen Meeresbewohner begegnete sie, als sie über den feuchten Boden wanderte. Nur wenige Zentimeter von ihrem Fuß entfernt bemerkte sie eine Bewegung. Zuerst dachte sie an eine große Spinne, die über den Sand lief, doch dann erkannte sie, dass es sich um einen winzigen Krebs handelte, nicht viel größer als der Fingernagel ihres Daumens. Sie folgte ihm wenige Meter, bis dieser in einer kleinen Pfütze verschwand und sich dort im Sand eingrub.
Grinsend ging sie weiter. Als sie nach dem Meer sehen wollte, stellte sie fest, dass es schon wieder nähergekommen war. Sie warf einen Blick zurück, doch sie war nach wie vor nur etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Es bestand daher keine Gefahr, solange sie nicht hinter einen der Priele gelangte. Und die gab es an dieser Stelle nicht.
Sie konnte erkennen, wie ihre Eltern zusammen auf einer Bank saßen und ihre Mutter den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelegt hatte. Es war schön, sie mal nicht mit Sorgenfalten, sondern mit einem Lächeln im Gesicht entspannt am Strand sitzen zu sehen. Auf dem Weg konnte sie einen Fahrradfahrer erkennen, der auf die beiden zufuhr und neben ihnen zum Stehen kam.
Langsam machte sich Sarafine auf den Weg zurück zum Strand und erkannte, dass es ihr Bruder war, der dort vom Rad stieg. „Hallo, Sam. Wo hast du denn das Fahrrad her?“, fragte sie, als sie den Weg erreichte und die Stufen hinter sich gebracht hatte.
„Ach das… das gehört zum Haus. Im Schuppen sind mehrere Fahrräder, die von den Gästen benutzt werden dürfen. Für dich ist da auch was Passendes dabei.“
„Was soll ich denn mit einem Fahrrad anfangen? Ich kann doch eh nicht fahren.“
„Quatsch. So etwas verlernt man nicht und früher sind wir doch auch gefahren. Komm’ mal her und versuche es. Ich halte dich schon, bevor du umfällst.“
Er grinste sie aufmunternd an, doch sein Vater schüttelte besorgt den Kopf. „Sam, lass’ mal. Das ist doch viel zu anstrengend für Fine.“
„Paps, sie soll doch keine Tour de France fahren, sondern nur ein paar Meter auf dem Weg entlang. Wir könnten zusammen üben, bis sie wieder etwas länger fahren kann. Die Ärzte haben doch gesagt, dass sie leichten Sport machen soll, spazieren gehen, schwimmen, gemütliches Radfahren, solche Sachen halt. Und je schneller wir anfangen, desto schneller können wir gemeinsam durch die Gegen ziehen.“
„Sam hat Recht, Paps. Ich kann es doch wenigstens mal versuchen. Ich verspreche auch, Bescheid zu geben, falls es zu anstrengend wird.“
„Vielleicht haben die beiden Recht. Fine muss lernen, selbst auf ihren Körper zu hören. Wir können schließlich nicht 24 Stunden am Tag ihre Hand halten. Sie wird immerhin bald sechzehn. Also gut. Aber du treibst es nicht zu wild, Sam. Und bringe mir deine Schwester wieder heil nach Hause.“
„Zu Befehl, Frau Schweiger“, rief Samuel lachend und salutierte vor seiner Mutter.
Da am Strand zu viele Menschen unterwegs waren, ließ sich Sarafine erst einmal von ihrem Bruder schieben, bis sie den offiziellen Fahrradweg erreicht hatten. Dort durfte sie es dann allein versuchen. Am Anfang wackelte sie ganz schön stark, als wenn sie gegen Sturmböen ankämpfen müsste, und Samuel lief im Dauerlauf neben ihr her, um sie ein wenig in der Spur zu halten. Doch schon nach wenigen Minuten wurde es besser. Sarafine fühlte sich sicherer und konnte das Gleichgewicht besser halten als zuvor. Samuel hatte Recht behalten: Fahrradfahren verlernte man nie ganz – selbst wenn man es einige Jahre lang nicht machen konnte.
Nach ein paar hundert Metern waren jedoch beide Kinder ziemlich außer Atem. Samuel, weil er die ganze Zeit gerannt war, und seine Schwester aufgrund ihrer Krankheit. Sie fing an zu husten und bremste abrupt ab, um wieder zu Atem zu kommen. Ihr Bruder wollte schon in ihre kleine Umhängetasche greifen, um das Asthmaspray zu holen, als sie vom Rad stieg und den Kopf schüttelte. „Nein, lass’ mal. Es geht schon wieder.“
Und das stimmte auch. Es fiel ihr leichter, wieder von allein Luft zu bekommen, kaum dass sie aufgehört hatte, sich anzustrengen. Zu Hause hätte sie erst einmal ihr Medikament benötigt, bevor sie überhaupt wieder hätte reden können. Scheinbar tat ihr die Seeluft tatsächlich gut, selbst in der kurzen Zeit, die sie erst hier waren.
Samuel blickte sie verwundert an. „Bist du sicher?“
„Klar. Ich kann schon wieder fast normal atmen. Ist das nicht toll?“
„Ja, das ist es. Vielleicht ist ja doch etwas dran, was die Ärzte gesagt haben. Bisher dachte ich die ganze Zeit, das kann gar nicht stimmen. Aber schau’ doch mal, wie weit du eben gefahren bist. Das waren bestimmt fünfhundert Meter. Das hättest du in der Großstadt nie geschafft. – Weißt du was? Wir üben jetzt jeden Tag zusammen. Immer ein Stückchen mehr. Und vielleicht können wir dann sogar irgendwann kleinere Ausflüge machen. Zum Beispiel zur Eisdiele fahren oder zum Minigolfplatz. Glaubst du, dass wir das schaffen?“
„Keine Ahnung. Aber ich will es gerne versuchen. Ich würde gerne wieder mehr mit dir unternehmen. Aber erwarte bitte keine Wunder.“
„Schon klar. Komm’, lass’ uns zum Haus zurückgehen. Oder soll ich dich auf dem Gepäckträger mitnehmen?“
Zehn Minuten später trafen die beiden wieder an dem alten Haus ein. Ihre Eltern waren ebenfalls bereits da – sie hatten den Weg über den Strand zurückgenommen und saßen nun bei einer Tasse Tee auf der Terrasse.
„Na, wie war eure Fahrstunde?“, fragte Vater Sven neugierig, als sie das Rad zurück in den Schuppen gebracht hatten und nun über den Garten zur Terrasse kamen.
„Super. Es war richtig schön, mal wieder etwas zu machen, was ich so lange nicht konnte. Ich würde gerne mehr Fahrradfahren. Sam will mit mir üben, damit wir vielleicht ein paar Ausflüge machen können. Ihr müsst ja sowieso arbeiten.“
„Das bleibt leider nicht aus, Finchen. Wir können leider keine zwei Monate Urlaub nehmen. Aber wenigstens hat Papa die Erlaubnis bekommen, von hier aus zu arbeiten. Es lebe das Homeoffice. Eine tolle Erfindung.“
„Du musst es ja wissen. Genaugenommen arbeitest du ja schon die ganze Zeit im Homeoffice. Über was schreibst du denn im Moment?“ Samuels und Sarafines Mutter war Journalistin und arbeitete freiberuflich für verschiedene Zeitschriften.
„Ich würde gerne einen Artikel über den Tourismus hier oben schreiben. Ich dachte, wenn ich schon hier bin, kann ich das gleich mal ausnutzen. Ich werde Montag ein wenig umherfahren und ein paar Leute interviewen, vielleicht ein paar Geheimtipps für nette Lokale bekommen und solche Sachen.“
„Au fein. Und da man Recherchen immer überprüfen muss, könnten wir diese dann alle ausprobieren“, rief Samuel begeistert.
„Sicher“, lachte Sandra amüsiert. „Und nach den zwei Monaten sind wir alle rund und dick und fett.“
„Dafür fahren wir ja dann wieder mit dem Fahrrad“, konterte der Sohn und grinste. „Aber jetzt will ich erst einmal ausprobieren, ob es hier eine WLAN-Verbindung gibt. Bis später.“ Damit verschwand er durch die Terrassentür.
„Ich werde auch mal in mein Zimmer gehen und mich ein wenig ausruhen“, sagte das Mädchen und schloss sich ihrem Bruder an, der bereits die Treppe hinaufgerannt war. Sarafine folgte ihm um einiges langsamer und ging dann auf das Himmelbett zu, um sich dort ein wenig hinzulegen. Sie hätte es zwar nie zugegeben, aber sie fühlte sich gerade wie nach einem Marathon. Zwar gab ihr das auch ein gewisses Gefühl der Freude, etwas erreicht zu haben, doch nun brauchte sie einfach ein wenig Ruhe. Erneut blieb sie mit der Sandale an der defekten Bohle hängen und verlor das Gleichgewicht, landete jedoch recht sanft mitten auf dem großen Bett.
„Blödes Ding!“, schimpfte sie und trat erneut auf die Ecke, um sie wieder auf die gleiche Höhe zu bringen. Doch nur Sekunden später ploppte sie wieder etwas hoch. Sie trat ein weiteres Mal auf die Ecke und schob anschließend den Plüschteppich über die Stelle, damit sie nicht wieder darüber stolperte, wenn sie gedankenverloren durch das Zimmer ging.
Dann endlich konnte sie sich auf dem breiten Bett ausstrecken und schloss für ein paar Minuten die Augen. Sie konnte beim Einatmen den Geruch von altem Holz vernehmen, auch ein leicht modriger Duft umgab das Gebäude. Von draußen kam die Meeresluft herein, gepaart mit einem leichten Hauch von frisch gemähtem Gras. Sie liebte es, mit geschlossenen Augen die unterschiedlichen Gerüche zu orten und sich die Dinge, die sie roch, bildlich vorzustellen. Es schien sie zu beruhigen, wenn sie sich darauf konzentrierte und gleichzeitig sorgte diese Übung dafür, dass sie tief einatmete.
Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte, nahm Sarafine ihr Buch, in dem sie derzeit las, und ging wieder nach draußen in den Garten, wo sie sich unter dem großen Ahorn in den Schatten setzte, um zu lesen. Trotz der Touristen, die am Strand ihren Tag verbrachten, war es relativ still im Garten. Daher versank sie bald darauf in der Abenteuergeschichte in ihren Händen und bemerkte kaum, wie die Zeit verging.
„Finchen! Abendessen!“, rief es schließlich aus dem Gebäude und das Mädchen blickte erschrocken von ihrem Buch auf. War es bereits so spät? Sie streckte ihre eingeschlafenen Beine und stand dann auf, um ins Haus zu gehen. Das Buch legte sie einfach auf eine der Treppenstufen, damit sie nicht noch einmal rauf und wieder runter laufen musste. Anschließend suchte sie das Gäste-WC auf, um sich die Hände zu waschen.
„Fine?“, rief es erneut aus dem Esszimmer.
„Ich komme gleich“, rief sie zurück. Als sie schließlich vor dem gedeckten Tisch stand, staunte sie nicht schlecht. „Wo kommen denn die ganzen tollen Sachen auf einmal her?“, fragte sie erstaunt, bevor sie sich auf dem freien Platz niederließ.
„Papa und ich waren vorhin nochmal einkaufen. Hast du das gar nicht mitbekommen? Wir haben es dir doch zugerufen.“
„Du kennst doch Fine, Mama. Wenn die in ihre Bücher vertieft ist, kann neben ihr eine Bombe hochgehen – sie zuckt nicht mal mit der Wimper und liest einfach weiter.“
Sarafine warf ihm einen bösen Blick zu, doch sie wusste, dass er gar nicht so Unrecht hatte. Sie liebte es, in die Geschichten mit Haut und Haaren einzutauchen, mit den Hauptfiguren durch die Gegend zu rennen, um die Wette zu schwimmen, Abenteuer zu bestehen und Rätsel zu lösen. Dann fühlte sie sich frei und gesund, konnte alles machen, was sie sich wünschte, und vergaß für ein paar Stunden ihre Krankheit.
„Kommt, Kinder. Streitet euch nicht. Es ist unser erster Abend in diesem tollen Haus“, bat der Vater.
Sein Sohn und seine Tochter warfen sich erneut einen Blick zu. Doch diesmal grinsten sie sich an. „Ähm, Papa? Was genau findest du eigentlich an diesem alten Kasten?“, fragte Sam leise, damit Smilla, die in der Küche arbeitete, ihn nicht hören konnte.
„Samuel!“, mahnte die Mutter streng und der Vater erwiderte: „Das ist kein alter Kasten, sondern ein Haus mit Charakter, mein Sohn.“ Die Kinder kicherten leise. „Das ist überhaupt nicht witzig. Dieses Haus hat mit Sicherheit schon viel gesehen und kann viel erzählen. Ich wusste sofort, dass es etwas ganz Besonderes ist, als ich es im Internet entdeckt habe. Es zog mich sozusagen magisch an. Denkt doch nur mal daran, was hier in den Jahren alles geschehen ist, wer hier vielleicht gelebt hat oder gestorben ist. Als Kind habe ich immer von so einem Haus geträumt – ein Haus mit Geheimnissen, versteckten Nischen unter dem Fußboden oder hinter Wandpaneelen oder auch Räumen und Geheimgängen, die man auf den ersten Blick gar nicht sieht… eben mit einer Geschichte. Nicht diese Null-Acht-Fünfzehn-Häuser, die sie überall aus dem Boden stampfen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so ein Romantiger bist, Sven“, lächelte seine Frau und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
„Tja, das ist eben meine geheime Seite“, grinste er zurück. „Aber wenn du willst, können wir das Thema gerne vertiefen… später.“
„Mama! Papa! Hier sind Kinder anwesend“, gab Sam ein wenig angewidert zurück.
„Jetzt tue mal nicht so, als wenn du nicht aufgeklärt wärst. Vor allem, wenn du hin und wieder die Bravo unter deinem Kopfkissen versteckst“, gab die Mutter schlagfertig zurück und die verlegene Röte im Gesicht des Jungen deutete darauf hin, dass sie nicht ganz Unrecht hatte mit ihrer Vermutung.
Fine war erstaunt darüber, dass ihr Bruder sich tatsächlich schon für Mädchen zu interessieren schien. Bisher hatte sie immer gedacht, er fände die meisten Mädchen einfach nur langweilig. Sam wandte den Blick ab, als sie ihn erstaunt anstarrte und sagte für die nächsten zehn Minuten kein Wort mehr, während er sich ein Brot schmierte und es verzehrte. Nach dem Essen verschwand er als erstes in den oberen Stock, während Fine noch beim Abdecken half. Smilla war mehr dafür zuständig, das Haus sauber zu halten und die Küche aufzuräumen, doch das Kochen würden sie selbst übernehmen.
Nachdem sie die Lebensmittel weggeräumt hatte, sagte Fine gute Nacht und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben, nahm ihr Buch mit und legte es vor ihre Zimmertür. Dann klopfte sie leise an die Tür ihres Bruders. „Ja?“, kam es von drinnen und sie öffnete die Tür. Sam saß an seinem Laptop und spielte irgendeines von seinen idiotischen Spielen, wie Fine fand. „Was willst du?“, fragte er unfreundlicher, als es eigentlich geplant war.
„Stimmt das?“, fragte Fine leise.
„Was?“
„Das, was Mama gesagt hat. Dass du Mädchen doch nicht so schrecklich findest, wie du immer vorgibst.“
„Und wenn es so wäre? Was interessiert dich das?“, gab er unfreundlich zurück. Seine Schwester war die letzte, mit der er über seine Gefühle sprechen wollte.
„Du bist immerhin mein kleiner Bruder“, gab sie zurück.
„Ja, ich weiß. Aber zehn Monate geben dir noch lange nicht das Recht, dich als mein Beschützer aufzuführen. Aber um dich zu beruhigen… Mädchen sind langweilig, zickig, eigebildet und vollkommen uninteressant. Beantwortet das deine Frage? – Gut, dann kannst du ja gehen.“ Er drehte sich demonstrativ zu seinem Computer um, um ihr damit zu verstehen zu geben, dass er keine Lust mehr hatte, sich mit ihr über dieses Thema zu unterhalten.
Niedergeschlagen drehte Fine um und verließ das Zimmer. Erst, als er die Tür hörte, wandte sich Sam zu dieser um. In seinen Augen glitzerte es ein wenig. Er wusste, dass er seiner Schwester wehgetan hatte, was er eigentlich gar nicht wollte. Langsam stand er auf, ging zu seinem Nachtschrank und öffnete die Tür. Er zog eine Zeitschrift hervor, hockte sich auf die Bettkante und blätterte darin herum, bis er zu der Rubrik kam, in der Teenager Fragen stellen konnten, die mit Beziehungen, Sex oder Küssen zu tun hatten. Neugierig las er jede einzelne Frage und die dazugehörigen Antworten durch, stellte sich bildlich vor, was dort angesprochen wurde und schob die Zeitung schließlich unter sein Kopfkissen. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und dachte an ein Mädchen in seiner Klasse, bei deren Anblick ihm regelmäßig heiß wurde. Sie hieß Sophia und war in seinen Augen das hübscheste Mädchen der ganzen Schule.
Doch er hatte sich bisher nicht getraut, sie zu fragen, ob sie mal etwas mit ihm unternehmen würde. In seiner Fantasie lief er mit ihr zusammen über den Strand, lag neben ihr in der sengenden Sonne und ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten, der bis auf einen Bikini vollkommen nackt war. Er dachte wieder an die Fragen in der Zeitschrift und spürte, wie sich etwas in seinem Unterleib regte, als er in Gedanken das Gesicht des Mädchens zu sich heranzog und es leidenschaftlich zu küssen begann. Erschrocken riss er die Augen auf und starrte auf seine Schlafanzughose, die seine Erektion nicht wirklich verbergen konnte.
Sam sprang zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und blickte vorsichtig auf den Flur. Er war leer. Mit schnellen Schritten sprang er darüber hinweg zum Badezimmer und verschloss die Tür sorgfältig hinter sich, bevor er sich die Hose von den Beinen streifte und angewidert auf seinen Penis starrte. Er wollte das nicht und er hasste, wenn es passierte. Hin und wieder wachte er morgens mit einer Erektion auf, die jedoch immer schnell wieder verging. Doch diesmal war es anders. Er spürte den Druck, der sich im Inneren aufzubauen schien, während er mit den Beinen in der Badewanne auf deren Rand hockte und nach unten starrte. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als die Dusche anzustellen und sich das eiskalte Wasser über den Unterleib laufen zu lassen. Sofort zog sich alles in ihm zusammen und nach wenigen Minuten fühlte er sich besser, trocknete sich ab und ging zurück in sein Zimmer, froh darüber, dass niemand etwas mitbekommen hatte.
Während ihr Bruder versuchte, die natürlichen Funktionen seines Körpers auszuschalten, war Fine zurück zu ihrem Zimmer gegangen. Sie fühlte sich traurig, dass ihr Bruder sie so angefahren hatte, und wie er über Mädchen sprach, ließ vermuten, dass er auch mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte. Dabei hatte sie nach dem vergangenen Nachmittag geglaubt, sie wären noch immer ein tolles Team. Mit hängenden Schultern ging sie zu dem Himmelbett, zog sich um und legte sich auf die Tagesdecke. Sie dachte darüber nach, was ihr Vater über alte Häuser erzählt hatte, über Geheimgänge, Verstecke und Geheimnisse. Sie lächelte innerlich. Wenn es in diesem alten Kasten ein Geheimnis gäbe, hätte es der hauseigene Drachen längst entdeckt. So nannte sie insgeheim Smilla, die ihr alles andere als sympathisch war. Die Frau hatte etwas an sich, das dem Mädchen sagte, ihr lieber aus dem Weg zu gehen.
Dennoch ließ sie die Vision ihres Vaters nicht mehr los und als sie einnickte, träumte sie von einem Schloss mit verborgenen Türen und Geheimgängen, die von Raum zu Raum führten. Es war stockdunkel, als sie wieder erwachte und feststellte, dass sie noch immer auf der Tagesdecke lag. Seufzend stand sie auf, um die Decke wegzuziehen und sich vernünftig ins Bett zu legen. Dabei trat sie mit dem nackten Fuß auf die Kante des losen Bohlenbrettes, das sie trotz des Teppichs spüren konnte. Von ihrem Traum angespornt, zog sie den Teppich von der Stelle, schnappte sich ihre Taschenlampe und leuchtete auf den Boden. Sie konnte deutlich sehen, dass die Bohle nicht richtig lag und eine der Ecken erneut ein wenig hochstand.
Mit den Fingern versuchte sie, das Brett vollständig zu lösen. Ein leises Geräusch ertönte durch den Raum, woraufhin das Mädchen in der Bewegung innehielt und lauschte. Doch nichts im Haus regte sich. Vorsichtig zog sie die Planke vollständig heraus, betrachtete sie kurz und blickte dann in eine Öffnung am Boden. Ihr Vater hatte Recht gehabt. In diesem Haus gab es tatsächlich geheime Nischen, auch wenn in dieser nicht das Geringste versteckt zu sein schien.
