Verlorene Seelen 11 - Vertraue niemandem! - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 11 - Vertraue niemandem! E-Book

Claudia Choate

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Beschreibung

Als einzige Überlebende eines feigen Mordanschlages skrupelloser Verbrecher erwacht die 13-jährige Charlene Fisher nicht nur schwer verletzt, sondern auch komplett auf sich allein gestellt mitten in einem einsamen Wald. Völlig verzweifelt und von Angst und Rachegefühlen getrieben, macht sie sich auf den langen Weg von Louisiana nach Texas - und das zu Fuß. Mit einem gebrochenen Bein, ein paar wenigen Utensilien aus dem Wagen ihrer Eltern und einem Lügenkonstrukt, um ihr Alter und ihre Identität zu verschleiern, sind Schwierigkeiten und Missverständnisse vorprogrammiert. Ob sie es jemals schaffen wird, den Mord an ihrer Familie zu rächen und die Schuldigen zu überführen?

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INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Mörderischer Ferienbeginn

Die Wayne-Farm

Junge Freundschaft

Fehlentscheidung

Liebeskummer

Spurensuche

Retter in der Not

Die Suche geht weiter

Genesung

Panikanfälle

Geschichten aus der Vergangenheit

In Gefahr

Auf der Flucht

Ein bunter Schmetterling

Im Untergrund

Mysteriöse Todesfälle

Ein neues Leben

Abwechslung

Abschiedsschmerz

Dornröschen

Neuanfang

Danksagung

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PROLOG

Charlene gehorchte sofort, als sie den Ruf ihres Vaters hörte: „Köpfe runter!“ Ihre Hand schoss vor und drückte den Kopf ihrer kleinen Schwester nach unten. Ashton weinte, aber darauf konnten sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Ihr Bruder Marlon tauchte ebenfalls in Sekundenschnelle ab. Dennoch hatte sie sich kaum bewegt, als die Scheibe neben ihr splitterte. Charlene spürte, wie etwas an ihr vorbeisauste. Ihr Vater stöhnte kurz auf und sie war sich sicher, dass er getroffen worden war.

Trotzdem fuhr er weiter, gab sogar noch mehr Gas und raste in halsbrecherischem Tempo über die gewundene Straße. Die drei Kinder wurden auf dem Rücksitz hin und her geschleudert, doch sie wussten, dass sie in Deckung bleiben mussten. Selbst die siebenjährige Ashton wusste genau, in welcher Gefahr sie sich alle befanden und dass es einzig und allein an ihrem Vater hing, ob sie das hier überstehen würden oder nicht.

Aus den Augenwinkeln konnte Charlene ihre Mutter sehen, die ihre Hand zwischen den Sitzen nach hinten streckte, um die ihrer Kinder beruhigend zu drücken. Das Mädchen ahnte, dass sie mindestens ebenso viel Angst hatte, wie sie. Selbst der 15-jährige Marlon war nicht so cool, wie er immer tat. Sie konnte fühlen, dass er zitterte. Oder waren es ihre eigenen Hände, die so stark zitterten, dass es sich nur so anfühlte? Die Kinder hielten sich an den Händen und im Stillen fing Charlene an zu beten.

Sekunden erschienen wie Minuten, Minuten wie Stunden – Das Mädchen hatte keine Ahnung, wie lange sie durch die Dunkelheit rasten oder wo genau sie eigentlich waren. Dann endlich wurde ihr Vater etwas langsamer. „Ich glaube, wir haben sie abgehängt“, sagte er mit einem Erleichterungs-Seufzer. „Seid ihr in Ordnung?“

Marlon richtete sich als erster wieder auf und auch Charlene ließ ihre kleine Schwester los, damit sie sich richtig hinsetzen konnte, während sie auf das Loch in der Fensterscheibe blickte. „Ich glaube schon“, antwortete Marlon. „Charly, hast du was von der Scheibe abbekommen?“

„Nur ein paar kleine Splitter, nichts Schlimmes“, antwortete sie mit immer noch zitternder Stimme. „Sind wir jetzt in Sicherheit?“

„Ich hoffe es zumindest“, sagte ihr Vater, doch sie bemerkte die besorgten Blicke, die er immer wieder in den Rückspiegel warf. Er war Profi genug, um zu wissen, dass sie erst dann wirklich in Sicherheit waren, wenn er am Treffpunkt ankam und seine Kollegen seine Familie in Schutzhaft nehmen konnten. Charles Fisher war Polizist mit Leib und Seele. Er arbeitete als verdeckter Ermittler und wurde immer wieder in Drogenkartelle oder Terroristenvereinigungen eingeschleust, um diese zu infiltrieren und Beweise zu sammeln, damit man sie zerschlagen konnte.

Doch nun hatte irgendjemand von diesen Leuten herausgefunden, wer er wirklich war und wollte ihn und seine ganze Familie auslöschen. Er wusste, wenn diese Leute sie erwischten, würden sie seine Familie einen nach dem anderen hinrichten, vielleicht sogar foltern – nur um ihm Schmerzen zuzufügen. Charles war ein harter Mann. Schläge und Folter konnten ihn nicht abschrecken, doch wenn es um seine Frau und Kinder ging, war er eben doch nur ein liebender Familienvater, der nicht zulassen würde, dass ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wurde.

„Charles, wir müssen irgendwo anhalten. Du bist verletzt“, sagte Charlenes Mutter Melissa gerade und legte ihm sanft die Hand auf die angespannten Muskeln seines Armes.

„Ist nicht so schlimm. Nur ein Streifschuss. Wir können nicht anhalten – nicht, bevor wir den Treffpunkt erreicht haben. Wir müssen zusehen, dass wir auf eine etwas belebtere Straße kommen, dort ist es schwieriger, uns zu folgen.“

„Glaubst du denn, sie sind noch immer hinter uns?“

„Ich weiß es nicht, Honey. Ihr kennt das Spiel: Vertraut niemandem und rechnet mit dem Schlimmsten! Es ist die einzige Chance, zu überleben.“

Ihr Vater hatte den Satz noch nicht richtig ausgesprochen, als Charlene plötzlich geblendet wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es taghell zu sein. Im nächsten Moment hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall und wurde durch den Wagen geschleudert. Dann wurde es dunkel – sie hatte das Bewusstsein verloren.

MÖRDERISCHER FERIENBEGINN

Eigentlich war es ein ganz normaler letzter Schultag gewesen. Charlene und ihre Geschwister waren mit dem Schulbus zur Schule gefahren, hatten in der Mittagspause wie immer zusammen in der Schul-Kantine gesessen und etwas gegessen. Die Fisher-Kinder saßen meistens zusammen in der Pause, trotz ihres unterschiedlichen Alters. Marlon war fünfzehn, Charlene dreizehn und die kleine Ashton erst sieben. Dennoch verband sie etwas ganz Besonderes. Sie waren gezwungen, sich aufeinander verlassen zu können. Alle drei wussten, was ihr Vater tat, wenn er nicht zu Hause war, und sie wussten auch, dass sie alle in Gefahr schwebten, sollte sich einer von ihnen irgendwie verplappern. Deshalb hatten sie keine Freunde, gingen nicht mit anderen zum Sport oder ins Kino und waren auch nicht bei den Pfadfindern, wie so viele andere ihrer Klassenkameraden. Dafür sorgte ihr Vater für regelmäßige sportliche Betätigung und manchmal gingen sie auch in den Wald zum Überlebenstraining, wie er es nannte. Den Kindern machte es Spaß und sie lernten dabei sogar etwas.

Doch ihr Abschotten von Gleichaltrigen sowie die Tatsache, dass sie spätestens alle sechs Monate in eine neue Stadt oder gar einen neuen Bundesstaat zogen und auf eine neue Schule gingen, machte sie zu Au-ßenseitern. Charlene hatte aufgehört, zu zählen, das wievielte Zuhause ihr derzeitiges Häuschen war. Ihr Zimmer wirkte genauso unpersönlich, wie der Rest des Hauses. Wenn man immer wieder umziehen musste, lernte man, mit so wenig wie möglich zufrieden zu sein.

Nach der Schule waren Marlon, Charlene und Ashton nach Hause gefahren, hatten am Esstisch in der Küche noch ein paar Ferienaufgaben gemacht und anschließend ein wenig im Garten gespielt. Alles war wie immer, bis ihr Vater mit quietschenden Reifen in die Einfahrt fuhr und ihnen befahl, sofort ins Haus zu gehen. Die drei kannten diesen Ton bereits und gehorchten ohne Widerrede. Auf direktem Weg rannten sie in die Küche und stellten sich nebeneinander auf. Ashton blickte ängstlich zu ihrem Vater hoch. „Müssen wir schon wieder umziehen?“

Charles lächelte sie aufmunternd an. „Nicht nur das, mein Schatz. Diesmal ist es ernst. Ihr habt zehn Minuten, um die Evakuierung vorzubereiten. Mehr wäre nicht zu verantworten. Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Also los!“

Die drei Kinder flitzten in alle Himmelsrichtungen davon. Für diesen Ernstfall hatten sie oft genug trainiert. Jeder hatte seine ganz besondere Aufgabe. Charles fuhr den Wagen in die Garage und schloss das Garagentor. Dann ging er an den Waffenschrank und holte seine Dienstwaffe daraus hervor, die er in der Hand behielt, während er von Fenster zu Fenster lief und die Umgebung beobachtete.

Währenddessen packte Melissa in Windeseile ein paar Kleidungsstücke für die Familie in zwei große Sporttaschen, die sie anschließend in den Kofferraum des Fahrzeuges warf. Marlon war für die Verpflegung zuständig und hievte Wasserflaschen, Salzkräcker und ähnliches ins Auto, die zu eben diesem Zweck in der Garage lagerten und regelmäßig ausgetauscht wurden, damit sie nicht abliefen. Charlene war für Schlafsäcke und Decken zuständig und die kleine Ashton hatte die Aufgabe, aus einem Versteck im Schlafzimmer der Eltern den alten Angelkasten zu besorgen. In diesem befanden sich jedoch keine Angelschnüre, Haken oder Schwimmer, sondern ihre Notfallausrüstung: Taschenmesser, Lampen, kleines Werkzeug, ihre Ausweise und vor allem jede Menge Geld. Geld, das sie brauchten, um zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, indem sie Kreditoder Debit-Karten benutzten.

Noch vor Ablauf des Ultimatums saßen alle im Wagen, Charles öffnete das Garagentor und fuhr los. Seiner Frau fiel auf, dass er betont normal fuhr, um kein Aufsehen zu erregen. In passendem Tempo ging es durch die Stadt. Immer wieder fuhr er durch Seitengassen, wendete in einer Einfahrt und fuhr in die andere Richtung, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wurden. Doch alles schien in Ordnung. Schließlich fuhr er auf die Landstraße. Inzwischen war es bereits dunkel geworden.

Kaum hatten sie die Stadt verlassen, bemerkte er einen Wagen, der ihnen folgte, und gab Gas. Doch das Fahrzeug ließ sich nicht abschütteln. Über eine halbe Stunde lang folgte es ihnen, ohne von der Straße abzufahren, machte jedoch auch keine Anstalten, sie zu überholen oder das Fahrzeug von der Straße zu drängen.

Im Licht eines entgegenkommenden Fahrzeuges konnte Charles dann die Waffe im Rückspiegel aufblitzen sehen. Das war der Moment, in dem er seine Warnung ausstieß – gerade noch rechtzeitig, um das Leben seiner Tochter zu retten, der die Kugel sonst genau in den Kopf gedrungen wäre.

Charlene wusste nicht, wo sie war, als sie erwachte. Sie hatte Schmerzen und es fühlte sich an, als wenn sie jemand in einen Schraubstock gepresst hätte. Es roch nach Teppich und Gummi. Sie lag halb auf der Seite, halb auf dem Bauch und etwas drückte unangenehm von unten gegen ihren Unterleib. Sie wollte gerade versuchen, sich zu bewegen, als sie Stimmen hörte, die sich näherten. „Glaubst du wirklich, dass er noch lebt nach diesem Crash?“, fragte der eine und der zweite antwortete: „Weiß ich doch nicht, wie zäh diese Ratte ist, Guy. Aber du hast den Boss gehört: Keiner darf entkommen. Der Typ hat Aufzeichnungen mitgehen lassen. Wenn die in falsche Hände geraten, dann prost Mahlzeit.“

Das Mädchen wagte nicht, sich zu bewegen und hielt so gut es ging den Atem an. Da hörte sie eine Bewegung im vorderen Bereich des Wagens. Die beiden Typen standen noch vor der Tür, konnten es also nicht gewesen sein. Eine Pistole klickte und sie konnte die schmerzverzerrte Stimme ihres Vaters erkennen. „Ihr Mörder!“ In diesen beiden Worten steckte so viel Hass, Trauer und Verzweiflung, dass es seiner Tochter kalt den Rücken herunterlief. Doch der erwartete Schuss kam nicht – oder zumindest nicht aus der Waffe ihres Vaters, sondern aus der eines der Männer. Lautlos zuckte der Mann auf dem Fahrersitz zusammen und seine Waffe polterte in den Fußraum.

„Der hat’s bald hinter sich“, lachte einer der Männer. „Was ist mit dem Rest?“

„Die reden auch nicht mehr“, kam es zurück.

„Und wie finden wir in dem Blechhaufen jetzt die Aufzeichnungen?“

„Müssen wir gar nicht. Ich habe vorgesorgt. Wenn man den Wagen findet, wird nicht mehr viel von den Aufzeichnungen übrig sein. Ich stelle den Zünder auf ’ne viertel Stunde, bis dahin sind wir weit weg und sitzen in irgendeiner Bar. Komm’, lass’ uns verschwinden.“ Äste knackten und die beiden schienen sich zu entfernen.

Endlich traute sich Charlene, wieder zu atmen. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf ihre blutende Hand, in die sie gebissen hatte, um nicht laut aufzuschreien. Zum ersten Mal seit ihrer Ohnmacht versuchte sie, den Kopf zu bewegen. Es ging. Sie konnte einen Arm erkennen – den Arm ihrer Schwester. Marlon und Ashton lagen über ihr und schienen noch bewusstlos zu sein – sie selbst befand sich im Fußraum des Fahrzeuges. Sie hatte Schmerzen, doch die Angst, der Wagen könnte jeden Moment in die Luft fliegen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte und sie schaffte es schließlich, ihre Geschwister zur Seite zu schieben, sodass sie sich aufrichten konnte. Vorsichtig blickte sie aus dem Fenster, doch es war niemand zu sehen. Sie musste diesen Sprengsatz finden – nur so konnte sie ihre Familie vielleicht noch retten.

Da – eine kleine Bewegung… ihr Vater hob die Hand, langsam und zögerlich. „Dad! Daddy! Gott sei Dank, du lebst“, rief sie dankbar.

Ihr Vater versuchte, etwas zu sagen, doch aus seinem Mund kam nur ein Röcheln. Sie konnte sehen, dass er seine letzten Kräfte zusammenraffte. Er hob den Arm und deutete auf das Armaturenbrett. „Bombe… Stecker… raus… ziehen“, brachte er mühsam hervor.

Charlene folgte seiner Hand und erschrak. Auf dem Armaturenbrett lag etwas, das wie ein Stück Ton oder Kinderknete aussah. Darin steckte ein Metallteil mit einem Kabel und einer kleinen Uhr, auf der noch nicht mal mehr 30 Sekunden standen. „Daddy! Was soll ich tun?“, rief sie in Panik.

„Zieh’… ihn… raus“, kam es leise und endlich begriff das Mädchen, kletterte über ihren verletzten Vater und schnappte sich den Metallstift. Sie zog daran, drehte sich um und schleuderte ihn von sich weg. Kurz darauf hörte sie einen kleinen Knall und ein Funken blitzte in der Dunkelheit auf. Doch er verschwand nicht – der Funken hatte ein paar trockene Zweige entzündet. Erneut rutschte Charlene das Herz in die Hose. Sie kletterte aus dem Wagen und humpelte zu der Stelle. Mit den Turnschuhen konnte sie die kleine Flamme austreten, bevor sie sich ausbreiten und den ganzen Wald in Brand setzen konnte.

Erschöpft ließ sie sich auf einen Baumstumpf sinken und stocherte im Boden herum, um sicherzugehen, dass es sich nicht erneut entzünden konnte. Da hörte sie die leise, erstickende Stimme ihres Vaters: „Charly!“

Sofort eilte sie zurück. „Daddy. Alles wird gut. Ich konnte das Feuer löschen.“

Charles ergriff ihre Hand. „Das Buch… Bring es… zu Butterfly.“

„Welches Buch?“

„Ashtons… Bär… - Vertraue… niemandem. Ich… liebe…“ Weiter kam er nicht mehr. Seine Hand sackte nach unten und sein Kopf kippte zur Seite. Noch immer hatte er die Augen geöffnet und starrte seine Tochter mit nun leerem Blick an.

„Daddy!“, schrie das Mädchen und schüttelte ihn leicht. Doch der Schmerz in ihrer Brust zeigte ihr deutlich, dass er ihr nicht mehr würde antworten können. Ihr Herz wusste bereits, dass er tot war – nur ihr Kopf wollte das einfach nicht akzeptieren. Immer wieder rief sie nach ihm, bis sie es schließlich aufgab und sanft seine Augen schloss. Dann erst fielen ihr die anderen wieder ein.

Die mussten doch endlich wieder aufwachen! Schnell ging sie zurück zu ihrem Bruder und ihrer kleinen Schwester. Ashtons Kopf war blutverschmiert, doch die große Wunde blutete nicht mehr. Charlene zog sie aus dem Wagen und legte sie sanft ins Gras. Verdammt, wie machten die das immer im Fernsehen? Sie nahm ihre Hand und fühlte an ihrem eigenen Hals, bis sie ihren Puls spüren konnte. Dann legte sie ihre Finger an dieselbe Stelle auf den Hals ihrer Schwester – doch da war nichts. Sie versuchte es, auf der anderen Seite – nichts. Sanft legte das Mädchen dem Kind die Hand auf die Brust, dann das Ohr. Nichts! Da war kein kleines, kräftiges Herz, das gegen die Rippen pochte, da war einfach nur Stille. Weinend zog sie das Mädchen in ihre Arme, legte sie dann sanft wieder ab und ging zu ihrem Bruder. Mit einem unguten Gefühl versuchte sie auch bei ihm, irgendein Lebenszeichen zu entdecken, doch auch Marlon hatte den Crash nicht überlebt – er hatte sich das Genick gebrochen.

Charlene fühlte sich schwindelig, als sie zur Beifahrertür ging und verzweifelt versuchte, diese zu öffnen. Doch sie war zu spät – als sie die Tür endlich aufstemmen konnte, musste sie feststellen, dass ihre Mutter genauso leblos in ihrem Gurt hing, wie der Rest ihrer Familie. Das war zu viel für das Mädchen – sie brach neben dem Auto zusammen und weinte, bis sie nicht mehr konnte. Die Sonne stand bereits am Himmel, als ihr Körper keinen Nachschub an Tränen mehr liefern konnte. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Das Adrenalin, das nach dem Unfall durch ihren Körper gejagt war, hatte sich verflüchtigt und seit einiger Zeit spürte sie die Schmerzen deutlicher, als am Anfang. Doch der Schmerz in ihrem Herzen war tausendmal schlimmer als der in ihren Gliedern und deshalb bewegte sie sich nicht von der Stelle. Auch wenn sie nicht mehr weinte, saß sie bewegungslos auf dem Waldboden und starrte ins Leere. Sie ignorierte die Hitze, die über dem Tal aufstieg, die sengende Sonne, die auf sie niederschien und ihr den Nacken verbrannte, und die Tiere, die hin und wieder um sie herumschlichen.

Irgendwann stemmte sie sich hoch, hielt sich am Wagen fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ihr Unterschenkel tat höllisch weh und wollte sie nicht halten. Ihre Kleidung war blutverschmiert und sie hatte keine Ahnung, ob es ihr eigenes oder das Blut ihrer Familie war. Ihr Blick fiel auf die Waffe, die ihr Vater hatte fallen lassen und für einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, sie zu benutzen. Doch dann blickte sie in das Gesicht ihres Vaters. Er hatte ihr eine Aufgabe gegeben; nun lag es ganz allein an ihr, ob die Männer, die ihre ganze Familie ausgelöscht hatten, dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Sie war die einzige, die die Aufzeichnungen ihres Vaters zu seinen Kollegen bringen konnte. Er verließ sich darauf, dass sie nicht aufgab und bisher hatte er sich noch immer auf sie verlassen können.

In diesem Moment fasste sie einen Entschluss: Sie würde ihren Vater nicht enttäuschen! Sie würde sich an den Männern rächen! Vorsichtig hangelte sie sich am Fahrzeug entlang zum offenstehenden Kofferraum. Das meiste Gepäck lag noch darin – scheinbar war der Deckel erst aufgegangen, nachdem der Wagen am Ende des Hügels aufgeschlagen war. Ein Teil der Wasserflaschen waren geplatzt, doch einige Flaschen waren heil geblieben.

Charlene nahm sich eine davon und löschte ihren Durst. Dann fing sie an, die Sachen zu sortieren. Ihre eigene Kleidung stopfte sie in einen Rucksack, der vorher leer im Wagen gelegen hatte. Dieser lag immer für Notfälle im Kofferraum und bot genügend Platz. Auch einige der Wasserflaschen sowie ein paar Pakete der Salzkräcker stopfte sie hinein. Sie wusste ja nicht, wann und wo sie etwas zu essen finden würde. Während sie arbeitete, bemerkte sie, wie ihr Shirt sich immer dunkler färbte. Auch wurden die Schmerzen an ihrem Körper immer intensiver und sie musste sich hin und wieder ausruhen. Mühevoll zog sie den alten Angelkasten hervor, der zwar ein wenig verbeult, aber noch intakt war und öffnete ihn. Sie zog das Messer heraus und legte es neben sich. Dann suchte sie nach dem Verbandskasten und stellte ihn neben sich auf den Kofferraumboden. Vorsichtig zog sie sich das Shirt über den Kopf und warf es auf den Boden. Ihr Oberkörper sah schlimm aus und leuchtete in schillernden Blautönen. Mehrere kleine Schnitte versuchte sie mit Wasser und einem T-Shirt ihres Vaters zu säubern und mit Pflastern zu versorgen, damit sie ihre frischen Klamotten nicht erneut verdreckten. Am Arm hatte sie eine größere Wunde, die sie ebenfalls versuchte, zu reinigen. Sie blutete noch immer und war zu tief für ein einfaches Pflaster. Also nahm sie einen Verband aus dem Erste-Hilfe-Kasten und wickelte ihn um den Arm. Ihr Vater hatte ihnen auf seinen Feld-Trips einiges über Erste-Hilfe beigebracht, sodass sie sogar daran dachte, ein weiteres Verbandspäckchen eingepackt zwischen die Wickel zu klemmen, damit so ein Druckverband entstand, der die Blutung hoffentlich stoppen würde. Sie musste die Zähne zusammenbeißen und lehnte sich anschließend erschöpft an die Seitenwand, um wieder klar zu werden, bevor sie es wagte, auch ihre zerrissene Jeans abzustreifen.

Offene Wunden konnte sie hier keine erkennen, doch auch ihre Beine sahen aus, als wenn sie verprügelt worden wäre. Vorsichtig befühlte sie den Unterschenkel, der sie am Laufen gehindert hatte. Deutlich konnte sie einen Hubbel erkennen und mit den Fingern konnte sie die Bruchstelle genau fühlen. Verdammt – sie hatte sich das Schienbein gebrochen. Glücklicherweise schien das Wadenbein nicht beschädigt zu sein, weshalb sie auch hatte gehen können, wenn auch mit starken Schmerzen. Charlene kramte in ihrem Kopf. Was hatte ihr Vater ihr über Brüche gesagt? ‚Du musst versuchen, den Bruch auszurichten, damit er heilen kann und dann muss er geschient werden.‘ Na großartig, wie sollte sie das denn anstellen? Es gab niemanden, der ihr Bein strecken und damit die Bruchstücke ausrichten konnte. Wie sollte sie das nur hinbekommen?

Irgendwann hatte sie eine Idee, schnitt aus ihrer verdreckten Jeans ein Seil und band es um einen stabil wirkenden Baum. Das andere Ende legte sie um den Knöchel, hockte sich auf den Boden davor und stützte ihren gesunden Fuß gegen einen weiteren Baumstamm. Dadurch konnte sie Zug auf ihr Bein ausüben und hoffte, dass sie die Kraft haben würde, den Bruch an die richtige Position zu bringen. Da lag sie nun – nur mit Unterwäsche bekleidet auf dem Waldboden und starrte zwischen Bein und Baum hin und her. Sie hatte Angst… Angst vor den Schmerzen und Angst davor, etwas falsch zu machen. Aber es war ihre einzige Chance und schließlich trat sie mit ihrem gesunden Bein und ihrer ganzen Kraft gegen den Baum.

Der Schmerz fühlte sich an wie ein Messerstich mit einer rotglühenden Klinge. Gleichzeitig stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, der einige Vögel aufschreckte, die wild keifend davonflogen. Doch das bekam Charlene gar nicht mehr mit. Sie war auf dem Boden zusammengesackt und hatte die Augen geschlossen.

Als sie wieder zu sich kam, wusste sie nicht genau, wo sie war. Noch immer halb nackt lag sie auf weichem Boden. Ihr Bein pochte, aber ansonsten fühlte sie sich ganz gut. Vorsichtig richtete sich das Mädchen auf und befühlte ihr Bein. Es war geschwollen, doch die Bruchstelle konnte sie nicht mehr ertasten. Ihre wahnwitzige Idee schien tatsächlich funktioniert zu haben. Jetzt musste sie das Bein unbedingt stabilisieren, bevor der Bruch sich wieder verschieben konnte. Auf dem anderen Bein hüpfend kehrte sie zum Kofferraum zurück und zog ein weiteres T-Shirt ihres Vaters aus der Sporttasche sowie zwei Nylonstrumpfhosen ihrer Mutter. Mit dem weichen Baumwollstoff umwickelte sie das Bein. Dann schnitt sie den stabilen Pappkarton, in dem sich die Kräcker befunden hatten, in passende Stücke, um ihn darum legen zu können und umwickelte alles zum Schluss mit den elastischen Strumpfhosen, die das ganze zusammenzogen. Zugegeben, es war wohl nicht der beste Gipsverband, aber es hielt.

Nachdem alle ihre Wunden und Verletzungen versorgt waren, zog sie sich frische Kleidung an und fühlte sich gleich viel besser. Aus dem Angelkasten zog sie die Taschenlampen, die Ausweise und das Geld hervor. Die Lampen kamen in den Rucksack, den Rest stopfte sie in eine kleine Stofftasche, die immer zum Einkaufen im Wagen lag. Dann machte sie sich auf die Suche nach dem Stoffbären ihrer Schwester. Sie fand ihn schließlich im Fußraum der Beifahrerseite. Vorsichtig tastete sie das Kuscheltier ab und konnte tatsächlich einen Reisverschluss finden, von dem sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Sie öffnete ihn und zog ein Notizbuch hervor. Traurig blickte sie darauf – das also war der Grund, warum ihre Familie hatte sterben müssen.

Erneut traten ihr Tränen in die Augen und tropften auf den Ledereinband. Eine unbändige Wut stieg in ihr auf – sie wollte jemanden schlagen, ihm die Nase brechen oder ihm dahin treten, wo es richtig wehtat. Doch der Verantwortliche war nicht hier und würde sich wohl kaum von einer 13-Jährigen aufhalten lassen. Aber da hatte er sich getäuscht. Sie würde schon dafür sorgen, dass dieses Buch in die richtigen Hände kam. Entschlossen kam sie auf die Beine, wischte sich die Tränen ab und zog eine Karte aus dem Handschuhfach. Sie wusste, dass der vereinbarte Treffpunkt gut dreihundert Meilen entfernt, ja sogar in einem anderen Bundesstaat lag, und die Karte würde ihr helfen, in die richtige Richtung zu laufen. Charlene hatte zwar keine Ahnung, wie weit ein Mensch am Tag laufen konnte, aber irgendwann würde sie ankommen – und wenn es Jahre dauern würde.

Sie packte das Buch zu den Papieren in die Stofftasche und verstaute alles ganz unten in ihrem Rucksack. Das Messer wanderte in die Hosentasche und die Reste des Verbandskastens passten noch in die Seitentasche. Schließlich rollte sie noch eine Decke und einen Schlafsack zusammen und band beides mit Gurten, die sie im Kofferraum gefunden hatte, in ein Paket. Nun hatte sie alles, was sie brauchte. Doch etwas hielt sie zurück. Sie wollte ihre Familie nicht verlassen. Was, wenn niemand sie finden würde? Sie konnten doch nicht einfach hierbleiben. Schließlich zog sie Ashton zurück ins Fahrzeug und setzte sie auf einen der Sitze. Das kleine Mädchen war leicht zu bewegen, bei ihrem Bruder war es schon schwieriger. Es dauerte lange, bis sie ihn schließlich ebenfalls im Wagen hatte, aber sie wollte nicht zulassen, dass irgendwelche Raubtiere sich an ihren Geschwistern vergingen, während sie auf dem Waldboden lagen. Ihre Eltern waren ja noch im Fahrzeug. Sie nahm die Hand ihres Vaters und legte sie in die ihrer Mutter. Das gleiche tat sie mit ihren Geschwistern und setzte den Stoffbären ihrer Schwester auf deren Schoß. Schließlich gab sie jedem einen Kuss auf die Stirn und deckte sie mit Schlafsäcken und Decken zu. Dann schloss sie die Türen des Wagens. Mehr konnte sie nicht tun.

Erneut rannen ihr die Tränen über das Gesicht, als sie den Rucksack schulterte, die Decke unter den Arm klemmte und auf einen langen Ast gestützt in den Wald lief. Es war bereits später Nachmittag und die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Doch die Bäume boten ein wenig Schutz vor den sengenden Strahlen.

Sie musste aufpassen, um nicht zu stolpern, da ihr Blick immer wieder verschwamm. Auch merkte sie die Erschöpfung immer mehr, da sie inzwischen seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen hatte. Aber sie hatte Angst davor, sich auszuruhen. Immer, wenn sie kurz die Augen schloss, sah sie die leblosen Körper ihrer Familie vor sich, hörte die letzten Worte ihres Vaters und sofort wurde ihr übel. Auch hatte sie seit dem Mittagessen in der Schule nur ein wenig Wasser zu sich genommen.

Es war bereits seit einiger Zeit dunkel, als sie an einen Bach kam und dort anhielt, um etwas zu trinken, sich ein wenig auszuruhen und eine der Flaschen aufzufüllen, die sie inzwischen geleert hatte. Während sie ihre erhitzten Füße in dem kühlen Wasser erfrischte, merkte sie, wie ihr immer wieder die Augen zufielen. Sie hatte das Gefühl, keinen Meter mehr gehen zu können. Seufzend wickelte sie die Decke aus und legte sich den Schlafsack als Kopfkissen unter den Kopf. Kaum berührte sie ihn, war sich auch schon eingeschlafen.

Charlene war so erschöpft gewesen, dass sie nicht einmal mehr im Stande gewesen war, zu träumen, sodass sie sich tatsächlich etwas erholen konnte. Erst Stunden später kamen die Alpträume, vor denen sie sich gefürchtet hatte. Immer wieder hörte sie, wie die Kugel durchs Auto schoss. Immer wieder spürte sie, wie der Wagen sich überschlug. Und immer wieder tauchte ein Gesicht vor ihren Augen auf – ein Gesicht mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen, als dessen Besitzer auf ihren Vater schoss. Schweißgebadet wachte sie schließlich auf. Es war bereits heller Tag und ihrer Armbanduhr, die den Unfall überdauert hatte, konnte sie entnehmen, dass es bereits fast Mittag war.

Vorsichtig setzte sie sich auf. Ihre Prellungen taten weh, aber sonst ging es ganz gut. Vorsichtig löste sie den Druckverband von ihrem Arm. Die Wunde blutete nicht mehr und sah auch nur leicht gerötet aus. Im Bach kühlte sie den Arm eine Weile, bevor sie ihn trocknen ließ und anschließend die Wunde wieder ordentlich verband. Auch ihrem verstauchten Handgelenk hatte die Kühlung gutgetan. Anschließend zog sie die Hose aus und öffnete ihren provisorischen Schienen-Verband am Unterschenkel. Auch über das Bein ließ sie das kalte Wasser rieseln, ließ es dabei jedoch flach auf dem Boden liegen, um es nicht unnötig zu bewegen. Die Schwellung war ein kleines bisschen zurückgegangen. Wirkliche Schmerzen hatte sie keine, solange sie nicht auftrat.

Nachdem sie auch ihr Bein wieder geschient und die Hose angezogen hatte, zwang sie sich, ein paar Kekse zu essen. Sofort wurde ihr wieder schlecht und sie gab es nach wenigen Kräckern auf. Wenn das so weiterging, würde sie niemals den Treffpunkt erreichen können.

In den folgenden Tagen schwankte das junge Mädchen zwischen ohnmächtiger Trauer und einem unbändigen Lebenswillen hin und her. Sie bekam Fieber, das sie noch mehr schwächte, als es ohnehin schon der Fall war. Als sie dieses endlich überstanden hatte und wieder etwas klarer im Kopf wurde, fasste sie einen Entschluss: Sie verbannte alles, was mit dem Tod ihrer Familie zu tun hatte, aus ihrem Gedächtnis. Immer wieder sagte sie sich selbst, dass sie eine Rucksackwanderung nach Texas machen würde und sie dort ein Preis erwartete. Sie wusste, dass es völliger Schwachsinn war, was sie da tat, doch irgendwann glaubte sie selbst daran. Außerdem half es ihr, ihre Alpträume im Zaum zu halten und nachdem sie endlich wieder etwas Schlaf bekam, fühlte sie sich bald wenigstens ein bisschen besser.

Zwei Wochen nach dem Anschlag ging sie das erste Mal wieder in einen Supermarkt und besorgte sich ein paar Lebensmittel und Toilettenartikel, da sie wusste, dass ihre Periode bald fällig wäre. Auch ein paar Platzdeckchen aus Plastik sowie Klettband besorgte sie in dem Geschäft. Anschließend gönnte sie sich eine Nacht in einem billigen Motel, dessen Besitzer sie vorschwindelte, sie wäre sechzehn, gerade mit der Schule fertig und hätte mit Freunden eine Wette laufen, dass sie es zu Fuß nach Texas schaffen würde.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Charlene froh, dass bei ihr die Pubertät bereits mit elf begonnen hatte. Seit dem Beginn ihrer Menstruation hatte sich ihr Körper sehr verändert. Bereits jetzt mit knapp vierzehn konnte man deutlich ihre Brüste erkennen, die sich unter dem T-Shirt abzeichneten. Die langen, rotblonden Haare, die normalerweise weich über ihren Rücken fielen, ließen sie ebenfalls älter wirken, als dreizehn. Daher wunderte es sie nicht, dass der Mann ihr ihre Geschichte ohne Schwierigkeiten abnahm. Sie bezahlte das Zimmer, fragte noch, ob es hier eine Waschmaschine gab und verschwand dann mit einem komischen Gefühl. Der Mann hatte sie so merkwürdig gemustert. Ob er ahnte, wer sie in Wirklichkeit war?

Charlene nahm sich vor, ihr Zimmer gut zu verriegeln, während sie hier war. Sie traute dem Kerl nicht über den Weg. Doch jetzt freute sie sich erst einmal auf eine anständige Dusche. Sie betrat das Zimmer, das nichts Besonderes war, aber wenigstens sauber, verschloss die Tür sorgfältig und packte ihre Tasche aus. Die Waschmaschine war direkt am Ende des Ganges und so zog sie sich aus, wickelte sich ihre Decke um den Körper und brachte ihre Wäsche in die Maschine. Für sie war das nichts Besonderes, zu Hause war sie sogar hin und wieder mal nackt über den Gang gelaufen. Daher wunderte sie sich ein wenig über die Blicke der anderen Gäste, kümmerte sich aber nicht weiter um sie. Als die Maschine lief, ging sie zurück in ihr Zimmer, löste den Schienen-Verband von ihrem Bein und hüpfte dann auf dem gesunden Bein ins Bad, um in die Dusche zu steigen.

Das warme Wasser war eine richtige Wohltat. Sie wusch ihre Haare mindestens dreimal, bis sie das Gefühl hatte, sie wären wieder richtig sauber. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr aus der Dusche gestiegen, doch es half nichts. Sich am Waschbecken abstützend kletterte sie wieder heraus und trocknete sich ab. Nachdem sie sich die Haare geföhnt und gekämmt hatte, fielen sie ihr wieder genauso locker über den Rücken wie immer. Nun arbeitete sie an ihrer neuen Schiene für ihren Unterschenkel. Wenig später lief sie erneut über den Flur und packte ihre Wäsche in den Trockner um. Diesmal begegnete ihr niemand. Erst, als sie ihre Wäsche schließlich aus dem Trockner holte und zurück in ihr Zimmer wollte, traf sie auf einen offensichtlich betrunkenen Mann, der sie ansprach. „Na, schönes Kind? Möchtest du mir nicht ein wenig Gesellschaft leisten?“

Charlene wich erschrocken zurück. „Nein, danke“, sagte sie schnell. „Ich habe mein eigenes Zimmer.“ So schnell sie konnte eilte sie davon, wobei sie etwas von der Wäsche verlor. Als sie sich bückte, um es wieder aufzuheben, verrutschte ihr das Handtuch ein wenig und gab den Blick auf eine ihrer Brüste frei, woraufhin der Mann noch größere Stielaugen bekam. Das Mädchen bemerkte es jedoch nicht einmal und eilte davon. Erst, als sie im Zimmer den Arm voll Wäsche auf das Bett fallen ließ, rutschte ihr das Handtuch vollständig vom Körper und sie fing an zu ahnen, warum der Mann sie angestarrt hatte. Doch sie konnte nicht verstehen, warum manche Männer es erotisch fanden, eine nackte Brust zu sehen. Das war doch etwas völlig Natürliches!

In Charlenes Familie war – wie in vielen anderen amerikanischen Familien auch – das Thema Sexualität bisher ein Tabu gewesen. In der Schule hatten sie es noch nicht durchgenommen und von ihrer Mutter hatte sie lediglich eine unzulängliche Erklärung für die monatlichen Blutungen erhalten. Sie hatte dem Mädchen nur gesagt, dass sie sich langsam in eine Frau entwickeln würde und dieser Vorgang einfach dazugehörte, um alte Dinge aus ihrem Körper zu spülen. Sie würde sich damit abfinden müssen, dass sie in Zukunft damit leben musste.

Bis heute hatte das Mädchen keine Ahnung, was die Veränderung an ihrem Körper tatsächlich bedeutete. Genauso wenig hatte sie eine Ahnung, wie Ashton vor über sieben Jahren in den Bauch ihrer Mutter gekommen war oder warum ihre Eltern hin und wieder im Schlafzimmer nicht gestört werden wollten.

Hätte Charlene Freundinnen gehabt, hätte sie mit Sicherheit inzwischen das ein oder andere diesbezüglich mitbekommen, doch durch ihre Abgeschiedenheit war sie noch genauso unwissend, wie es ihre kleine Schwester gewesen war. Deshalb zog sie auch lediglich einen ihrer gewaschenen Slips an, legte ihre Wäsche ordentlich zusammen und verstaute sie wieder im Rucksack. Nur die Sachen, die sie am nächsten Tag anziehen würde, ließ sie draußen. Dann packte sie ihre Einkäufe ebenfalls in die Tasche und machte es sich schließlich auf dem Bett bequem. Es war nicht das gemütlichste Bett der Welt, doch nach zwei Wochen auf Waldboden, Feldern und Felsen, schlief sie wie auf Wolken.

DIE WAYNE-FARM

Früh am nächsten Morgen machte sich Charlene fertig und verschwand, bevor die meisten Gäste überhaupt erwachten. Sie hatte am Abend zuvor ihre Finanzen geprüft und daher beschlossen, dass das Geld nicht bis zu ihrem Ziel reichen würde. Sie musste zusehen, dass sie irgendwoher Geld bekam. Sie befand sich inzwischen an der Grenze zwischen Louisiana und Texas, doch bis zu ihrem Ziel würde sie noch Wochen unterwegs sein. Sie wusste, dass es etliche Farmen in Texas gab und auf dem Land stellte man nicht allzu viele Fragen. Vielleicht konnte sie für eine Weile auf einer dieser Farmen helfen und sich etwas verdienen, bevor sie weiterlief. Nur einige Wochen… bis sie genug Geld gespart hatte, um ihren Weg fortzusetzen.

Da es im Motel so gut funktioniert hatte, legte sie sich eine Geschichte zurecht. Sie würde weiterhin behaupten, dass sie bereits sechzehn und mit der Schule fertig wäre. Ihre Eltern hätten ihr erlaubt, sich eine Auszeit zu nehmen und jetzt wollte sie versuchen, eine Weile allein klar zu kommen und die Welt kennenzulernen. ‚Ja, das klingt ganz plausibel‘, dachte das Mädchen. ‚Damit sollte ich es doch schaffen, allzu vielen Fragen auszuweichen.‘

Entschlossen ging sie weiter und fand bereits nach kurzer Zeit eine große Farm. Doch als sie sich endlich zu jemandem durchgefragt hatte, der etwas zu sagen hatte, musste sie feststellen, dass es wohl doch nicht so einfach war. Der Mann wollte Papiere haben und als sie keine vorweisen konnte, da in ihrem Ausweis ja ein anderes Alter stand, schickte er sie fort. Bei zwei weiteren Farmen in der kommenden Woche lief es ganz ähnlich ab. Deshalb beschloss sie, lieber nach kleineren Farmhäusern Ausschau zu halten und gelangte so schließlich an den kleinen Familienbetrieb der Familie Wayne.

Ein junger Mann von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren war gerade dabei, einige Kühe in einen Pferch zu treiben. Die Euter der Tiere sahen aus, als wenn sie gleich platzen würden. Charlene lief das Wasser im Mund zusammen, als sie an ein schönes Glas Milch dachte, wie ihre Mutter es ihr oft zum Frühstück gegeben hatte. Sofort legte ihr sich eine Schlinge um ihr Herz und sie schluckte die Tränen weg, die sich ihrer bemächtigen wollten.

Entschlossen richtete sie sich auf, streckte die Brust raus, um größer zu wirken und schritt schließlich auf den jungen Mann zu. „Hey“, sagte sie einfach, woraufhin er sich zu ihr umdrehte.

Er schloss das Gatter und kletterte von innen am Zaun hoch. Weich landete er wenig später vor ihren Füßen. „Hey. Wo kommst du denn her? Hast du dich verlaufen?“

Das Mädchen kicherte, als wenn er etwas Unmögliches gesagt hätte. „Nee, habe ich nicht“, sagte sie dann. „Ich mache eine Tour durch Texas. Will mir die Welt ansehen, Menschen kennlernen und so… du weißt schon.“

„Und da verschlägt es dich ausgerechnet in diese Einsamkeit?“, lachte der Junge.

„Auch“, gab sie mit ernster Miene zurück.

„Na gut. Und wie kann ich dir helfen?“

„Na ja, ich habe bei meiner letzten Station mein Geld verloren. Vielleicht wurde es mir auch gestohlen, keine Ahnung. Auf jeden Fall muss ich zusehen, ob ich nicht irgendwo Arbeit finde, um etwas zu verdienen.“ Sie machte eine kurze Kunstpause und fuhr dann in verschwörerischem Ton fort: „Ich will meine Eltern nicht informieren. Dann denken die doch, ich kann nicht auf eigenen Füßen stehen. Sie glauben nämlich nicht, dass ich es allein schaffe.“

Der Junge nickte verstehend und runzelte die Stirn. Jetzt erst traute sich Charlene, ihn etwas genauer zu betrachten. Er war kaum größer als sie selbst, aber kräftig gebaut. Bestimmt arbeitete er bereits sein ganzes Leben hier. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten und sein Gesicht gesprenkelt. Die dunklen Augen betrachteten sie ebenso, wie sie ihn betrachtete, und das freundliche Gesicht verzog sich zu einem offenen Lächeln. „Na gut, ich frage meine Eltern mal, ob du hierbleiben kannst. Aber viel bezahlen können sie dir nicht, das sage ich dir gleich.“

„Ist nicht schlimm. Über ein paar Dollar wäre ich schon froh und vielleicht könnte ich ja in der Scheune schlafen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Schauen wir mal“, meinte der Junge und ergriff ihre Hand, um sie mit sich in Richtung Haus zu ziehen. „Ach, ich bin übrigens Alex – Alex Wayne. Die Farm gehört meinen Eltern. Wir züchten Milchkühe und verkaufen Milch und Milchprodukte sowie die Eier unserer Hühner. Und wie heißt du?“

„Charlene“, sagte das Mädchen nur. „Ich bin Charlene.“

„Ein schöner Name. Und wie alt bist du?“

„Sechzehn. Bin grade mit der Schule fertig und werde nach meiner Tour anfangen zu arbeiten.“

„Als was?“, fragte er weiter.

Charlene überlegt kurz, was sie sagen sollte. Doch so schnell fiel ihr nichts ein, was sie irgendwann einmal machen wollte. „Das weiß ich eben noch nicht. Das ist mit ein Grund, warum ich das hier mache. Vielleicht bekomme ich ja ein paar Ideen.“

Alex blickte sie ein wenig skeptisch an, sagte aber nichts. Am Haus angekommen, öffnete er eine schwere Holztür. „Mum! Dad! Seid ihr hier?“

„Ja, komme gleich. Hast du die Kühe alle drin?“

„Ja, das auch. Aber hier will dich jemand sprechen.“ Stille. Dann hörte Charlene, wie sich schwere Schritte näherten und zuckte erschrocken zusammen, als ein Mann den Raum betrat. Auf den ersten Blick wirkte er gigantisch – fast zwei Meter groß und gebaut, wie ein Kleiderschrank. Seine Hände hätten beinahe Charlenes Kopf umfassen können und die braungebrannte Haut gab ihm etwas Verwegenes. Doch seine Augen blickten genauso freundlich wie die seines Sohnes. Erschrocken wich das Mädchen ein paar Schritte zurück, doch Alex’ Hand hielt sie fest. „Du brauchst keine Angst zu haben. Er sieht nur so gefährlich aus.“

In diesem Moment betrat auch eine Frau den Raum, die ganz anders aussah. Sie war nur so groß wie Charlene. Ihre Haare steckten unter einem Tuch und sie trug eine Schürze über ihrem rundlichen Bauch. „Erschreckst du wieder junge Mädchen, Frank?“, tadelte sie ihren Mann und trat auf Charlene zu. „Hallo. Ich bin Jessica Wayne, Alex’ Mutter. Und das Riesenbaby dort ist mein Mann Frank. Herzlich willkommen auf der Wayne-Farm. Möchtest du etwas trinken?“ Sie schob das perplexe Mädchen auf einen der Stühle am Esstisch.

Charlene versuchte, ihren knurrenden Magen zu verbergen, doch die Frau schien äußerst hellhörig zu sein. Bevor das Mädchen antworten konnte, wandte sie sich an ihren Sohn: „Alex. Hol’ doch bitte mal ein Glas frische Milch. Ich glaube, das wird unserem Gast guttun.“

Der Junge nickte und verschwand in der Küche. Verlegen blickte Charlene auf den Boden und wirkte plötzlich viel jünger, als zuvor. Jessica ließ sich auf einen weiteren Stuhl nieder und auch Frank setzte sich, was ihn etwas weniger gefährlich aussehen ließ. „Na, dann erzähl’ doch mal, was dich zu uns führt“, bat er dann und das Mädchen wiederholte ihre Geschichte, die sie dem Sohn bereits aufgetischt hatte. Die beiden Erwachsenen warfen sich einen Blick zu. Sie glaubten nicht alles, was das Mädchen sagte, sondern vermuteten eher, dass sie von zu Hause weggelaufen war und sich nun allein durchschlagen wollte. Doch die Art und Weise, wie sie sprach und wie sie sich gab, ließen sie ihr angegebenes Alter immerhin glauben. Hätten sie gewusst, wie alt Charlene wirklich war, hätten sie vermutlich die Behörden eingeschaltet. Doch warum sollte eine 16-Jährige nicht auf eigenen Füßen stehen dürfen? Viele in dem Alter kapselten sich von zu Hause ab und begannen zu arbeiten.

„Tja, wir könnten schon jemanden gebrauchen“, sagte Frank schließlich. „Hast du schon mal eine Kuh gemolken?“

Charlene schüttelte den Kopf. „Nein, aber das lerne ich bestimmt schnell, wenn Sie mir eine Chance geben. Und ich kann auch mit den Hühnern helfen oder im Haushalt, das ist ganz egal. Ich esse auch nicht viel – und schlafen kann ich in der Scheune oder auch draußen, wenn Ihnen das lieber ist.“

„Also, um das gleich mal klar zu stellen…“, sagte Jessica streng. „Wer anständig arbeiten will, muss auch anständig essen. Und wenn ich dich so ansehe, könntest du ein wenig was auf die Rippen ganz gut vertragen. Ich begreife nicht, warum ihr Mädels von heute immer aussehen müsst, als wenn wir in einer Hungersnot leben würden. Das kann doch nicht gesund sein.“

Das Mädchen hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen und sagte: „Ich mache keine Diät oder so. Ich hab einfach keinen Hunger.“

„Na, wir werden sehen, wenn du erst einmal richtig mit angepackt hast.“

„Heißt das, ich darf für Sie arbeiten?“, fragte Charlene hoffnungsvoll.

Frank nickte. „Wir versuchen es. Du bekommst fünfzig Dollar in der Woche, wenn du fleißig bist, außerdem freie Kost und kannst in der Kammer schlafen. Das ist zwar kein Luxus, aber immerhin bequemer als die Scheune.“ Er hielt ihr seine Pranke hin. „Haben wir einen Deal?“

Erfreut schlug Charlene ein. Fünfzig Dollar! Wenn sie nur vier Wochen hierblieb, würde sie erst einmal wieder etwas Guthaben haben, um ihren Weg fortzusetzen. „Vielen, vielen Dank! Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Wo kann ich anfangen?“

„Langsam, langsam mit den jungen Pferden. Erst einmal trinkst du deine Milch und danach kann dir Alex dein Zimmer zeigen. Und wenn du Lust hast, kann er dich dann zum Melken mitnehmen und du kannst ein bisschen zusehen oder von mir aus auch mal selbst Hand anlegen. Später gibt es dann Abendessen und morgen um sechs kannst du dich dann richtig in die Arbeit stürzen.“

In diesem Moment drückte Alex dem Mädchen einen großen Becher mit frisch gezapfter Milch in die Hand. „Danke“, sagte sie und setzte das Gefäß an die Lippen. Es schmeckte herrlich. Die Milch war noch lauwarm und um Welten besser als die haltbar gemachte Milch aus dem Supermarkt. Sie füllte ihren Bauch und ihre Seele mit Wärme und einem wohligen Gefühl. Nicht mal zwei Minuten später war der Becher leer und sie ließ ihn auf den Tisch sinken. „Die ist richtig gut“, stellte sie fest.

„Das will ich auch hoffen“, lachte Frank und erhob sich, um an die Arbeit zu gehen.

Auch Jessica stand nun auf. „Alex, kannst du Charlene bitte die Kammer zeigen? Und dann kannst du sie mit zum Melken nehmen. Sie soll sich das schon mal ansehen und wenn sie will, kann sie auch mal selbst probieren. Aber gib’ ihr eine von den lieben für den Anfang.“

„Für wen hältst du mich, Mum? Ich würde doch niemanden unnötig in Gefahr bringen. Und schon gar nicht ein junges Mädchen, das noch dazu...“

„Ja?“, fragte die Mutter mit einem Grinsen.

„Nichts. Schon gut. Komm’ Charlene, ich zeige dir dein Zimmer.“ Das Mädchen nickte, nahm ihren Rucksack und folgte dem Jungen. Sie hatte bemerkt, dass Alex rot geworden war, konnte sich aber nicht erklären, warum das so war. Als sie noch darüber nachdachte, öffnete der Junge ein kleines Zimmer, in dem ein Feldbett und eine Kommode standen. Er öffnete die untere Schublade der Kommode und zog Bettzeug daraus hervor, das er ihr auf die Liege legte. „Lass’ deine Sachen einfach hier, dann zeige ich dir noch, wo das Bad ist, bevor wir zum Melken gehen.“

„Gute Idee. Ich müsste mal auf die Toilette, wenn ich darf“, antwortete das Mädchen.

Alex lachte. „Natürlich darfst du. Ist direkt hier drüben.“ Er deutete auf eine weitere Tür, hinter der sich ein WC und ein Waschbecken befanden, und reichte ihr ein Handtuch. „Hier! Du kannst es auf einen der Haken dort hängen.“ Das Mädchen nickte und verschwand kurz hinter der Tür.

Wenig später traten die beiden zusammen wieder nach draußen und gingen zurück zu dem Pferch, in dem die Kühe bereits ungeduldig wurden. Jetzt erst bemerkte Charlene, dass sich an einer Seite des Pferches eine Art Gang befand, der aus Stangen und Zäunen gebaut war und der in einen weiteren Pferch führte, nachdem er sich geteilt hatte. So führten ein Gang heraus und in den zweiten Pferch zwei Gänge hinein.

„Wofür ist das?“, fragte das Mädchen neugierig und deutete auf das Konstrukt.

„Das zeige ich dir gleich“, antwortete Alex und schob zwei Stangen durch die Stäbe – eine kurz vor dem Pferch, in den der Gang führte, die andere kurz hinter der Stelle, an der sich der Gang teilte. Anschließend zog er eine weitere Stange direkt am ersten Pferch heraus, sodass der Gang nun offen war. Sofort drängten sich die ersten Kühe in die Öffnung. Alex wartete, bis die erste Kuh an der Absperrung war und schob die Stange hinter ihr wieder zwischen die Gitter, damit die restlichen nicht nachdrängen und sie einquetschen konnten. Nun hatte er ein Tier von dem Rest separiert und trat neben es, zog einen Eimer näher, der neben dem Gitter stand und eine Flüssigkeit sowie ein Stofftuch enthielt.

„Das hier brauchen wir, um die Zitzen zu säubern, Charlene. Es muss regelmäßig erneuert werden – nach etwa acht bis zehn Tieren. Dadurch verhindern wir, dass Keime in die Milch gelangen. Verstanden?“

„Klar, ich bin doch nicht blöd“, sagte das Mädchen und Alex lachte.

„Das habe ich auch nicht behauptet. Aber es kann gefährlich sein, wenn man schlampig arbeitet. Also schreib’ dir das gut hinter die Ohren.“ Er zog einen weiteren Gegenstand hervor, der wie ein Messbecher mit einem Filterschwamm aussah. „Bevor wir die Kuh melken können, müssen wir schauen, ob die Milch in Ordnung ist. Die ersten zwei, drei Spritzer kommen daher hier rein. So können wir Verunreinigungen leichter erkennen. – So, das sieht gut aus“, stellte er fest, nachdem er einige Spritzer in den Becher gespritzt hatte. „Anschließend werden die Zitzen gereinigt. Der Lappen darf aber nur feucht sein – er soll nicht triefen, okay?“

Das Mädchen nickte und beobachtete neugierig, wie er den Lappen auswrang und damit die Zitzen und das Euter reinigte. Anschließend warf er den Lappen wieder in den Eimer. „Am besten schaust du erst einmal zu.“ Er hockte sich auf einen kleinen Schemel direkt neben das Tier, schob einen Eimer unter das Euter und fing an, die Zitzen mit seinen Händen zu bearbeiten. Sofort spritzte die frische Milch in Strömen aus den jeweiligen Zitzen, die er in den Händen hielt. Fasziniert beobachtete das Mädchen, wie seine Hände sanft, aber kraftvoll den Euter bearbeiteten. Ihr Blick wanderte zu dem Tier, das völlig entspannt zwischen den Stangen stand und die Behandlung sichtlich zu genießen schien. Gute fünf Minuten lang bearbeitete er das Tier, bis er die Hände schließlich sinken ließ und den Eimer zurückzog, um Charlene ihre Ausbeute zu zeigen.

„Wow“, machte das Mädchen. „Ich hätte nicht gedacht, dass da so viel rauskommt. Ist das bei allen so?“